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Der Wolf und mein Schicksal
ОглавлениеSobald meine Arme kräftig genug waren, um eine Axt schwingen zu können, ließ ich mich auf einen aufstrebenden Jarl ein. Er war jung und breitschultrig. In seinem Blick loderte eine Flamme, die er bestens mit seinen Worten weitergeben konnte. Damals versammelte Thortryg, so sein Name, ein Heer von hunderten Männern, um gegen seinen Bruder Thjodrec in den Krieg zu ziehen. Ihr Vater war den Folgen einer Schlacht erlegen. Verletzt und schwach ging er in seinem Bett von dieser Welt. Ein trauriges Ende für einen großmütigen und gerechten Herrscher.
Seine beiden Söhne beanspruchten das Land, Halid genannt, nun für sich. Vor etwa neun Wintern war es ein kleines Herrschaftsgebiet. Es bestand aus dem Hafendorf Ferthdan, der Burg Halidborg, die majestätisch auf einem Hügel thronte, und einer weiteren Stadt namens Karpgat.
Am Rande dieser Stadt wuchs ich auf. Mein Vater war ein Bauer, konnte aber auch kämpfen. Früher hat er einem Jarl gedient und gegen die Horden der Rus gekämpft. Er wusste also um die Dringlichkeit für einen Mann ein Schwert führen zu können. Er lehrte es mich früh. Sehr schmerzlich lernte ich, was es heißt, ein Krieger zu sein. Ich war schon immer hitzköpfig, hatte aber im Vergleich zu meinen Altersgenossen einen scharfen Verstand und flinke Füße. Wenn mein Vater mit mir zum Markt ging, machten wir Jungen öfter einen Wettkampf daraus, wer die meisten Waren stehlen konnte, ohne entdeckt zu werden. Während die anderen oft erwischt wurden und die Strafen sich dann schmerzlich in ihren Gesichtern abzeichneten, gelang es mir öfter, die Händler davon zu überzeugen, mir manch kleine Ware umsonst zu geben. Mal war meine Schwester krank, obwohl ich keine hatte, mal umschwärmte ich die Verkäuferin so sehr, dass sie mir ein kleines Geschenk gab und mir liebevoll den Kopf tätschelte. Ich ging oft als Gewinner hervor. Der Neid der anderen Jungen führte auch mal zu kleineren Schlägereien, aber ich konnte mich stets behaupten, indem ich sie müde machte. Ich wich ihren Schlägen aus und tänzelte um sie herum, bis sie nur noch schwer atmen konnten. Dann war es ein Leichtes, sie zu besiegen.
Doch manchmal versteckte sich mein Verstand vor meinem Drang, mich zu beweisen. So habe ich bereits in meiner Kindheit viel Zeit damit verbracht, Jungen zu verprügeln, die größer waren als ich.
Mit ungefähr dreizehn Jahren schickte mich mein Vater von Zuhause fort, damit ich die Welt entdeckte und zu ihm zurückkehren könnte mit vielen abenteuerlichen Geschichten. Allerdings bestanden meine ersten Abenteuer darin, zu stehlen, zu arbeiten und mich zu prügeln, damit ich nicht verhungerte.
Ich kam bei der einen oder anderen leichten Dame unter, die mich in ihre Annehmlichkeiten einweihte. Dies fand ich allerdings nur zeitweise angenehm, da ich viel Geschwätz schon immer etwas lästig fand. Und bei Thors Arsch, wenn diese Weiber nicht gerade einem Freier dienten, konnten die reden, bis mir die Ohren bluteten. Nach einigen Tagen langweilten sie mich alle, sodass ich immer wieder weiterzog. So vergingen drei Winter.
An einem Frühlingsmorgen streifte ich durch das Hafen- und Handelsdorf Ferthdan. Auf dem Markt herrschte reges Treiben. Händler boten ihre Waren an und Sklaven standen zur Fleischbeschau bereit. Um die Frauen standen gierige Männer herum, sie feilschten mit den Händlern, während sie in ihren Gedanken bereits die Schenkel mit ihrem Speichel beflecken. Ihre verschwitzten Finger grabschten nach der Haut der Jungen und Mädchen, die angsterfüllt in Ketten vor ihnen standen. Mir waren diese ekelhaften Trottel immer zuwider. Sie verdeckten ihre eigene Schwäche mit groben Taten gegen Menschen, die sich nicht wehren konnten.
Beliebt auf dem Sklavenmarkt waren auch die jungen Burschen. Man konnte sie gut für jede Arbeit gebrauchen, für die sich diese fetten Säcke zu fein waren.
Ich bog vom Sklavenmarkt in eine weitere Marktstraße ab, in dem Fischer lauthals ihren frischen Fisch anpriesen. Damals mochte ich keinen Fisch. Er stank und ich hasste die Gräten, die sich zwischen den Zähnen verfingen. Doch man aß, was man bekam. »Dieser Fisch ist der frischeste Fisch, den Ihr jemals essen werdet«, schallte es von so ziemlich jedem Stand.
Es tummelten sich alle Arten von Menschen auf dem Markt und mir war es, dank der Stehl- und Marktplatzwettkämpfe mit den anderen Jungen, ein Leichtes, das ein oder andere Münzbeutelchen zu entwenden. So bekam ich genug Geld zusammen, um mir etwas Warmes zu essen zu kaufen und das ein oder andere Bier zu trinken.
Die Sonne erreichte bereits ihren höchsten Punkt und mein Beutezug war zu Ende. Gerade wollte ich an einem Stand nahe dem Marktplatz etwas geräucherten Fisch kaufen, als ich zu meiner Rechten eine Ansammlung von Männern bemerkte, die wie gebannt in eine Richtung schauten. Ich drängte mich zwischen sie und hörte bereits eine laute Stimme.
»… der sich mein Bruder nennt. Er hat sich noch nie um die Belange der Bauern und hart arbeitenden Menschen geschert. Möchtet ihr wirklich solch einen Jarl?«
Die Zuhörer um ihn herum brummten verächtlich und einzelne »Nein!«-Rufe waren zu hören. Ich drängte mich durch die Menge, um den Mann besser zu sehen, der da sprach. Ich schob mich an breiten Schultern vorbei und stand plötzlich genau vor ihm.
Er war viel größer als ich und die langen schwarzen Haare fielen auf seinen Rücken. Er hatte eine Stimme, die selbst einen Berg hätte zum Erbeben bringen können, und doch war er gerade mal ein bis zwei Jahre älter als ich. Er hatte einen wilden und entschlossen Ausdruck im Gesicht und gestikulierte viel mit seinen Fäusten. »Männer von Ferthdan! Gerade in diesem Moment holt mein Bruder sein Pack zu sich, um den Thron zu rauben. Er holt den schlimmsten Abschaum in sein Heer, der genauso gierig und arrogant ist wie er selbst. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich fordere, dass das freie Volk frei bleibt. Das Vermächtnis meines Vaters muss bewahrt werden und nicht beschmutzt. Doch dafür müsst ihr euch mit mir erheben!«
Er sah mich mit seinen braunen Augen an. Dieser Blick ließ in mir ein Gefühl der Unbesiegbarkeit aufkommen. Seine Hände umfassten meine Schultern und sein Griff war fest. »Steht Ihr mir zur Seite?«
Jeder Muskel spannte sich in meinem Körper und aus tiefster Überzeugung schrie ich ihm meine Gefolgschaft entgegen. Die Männer um mich herum zeigten große Begeisterung für den jungen Jarl. Immerfort riefen sie seinen Namen. Von der Freude an Kampf und Abenteuer ließ ich mich mitreißen und rief ebenfalls seinen Namen. Meine Gefolgschaft war ihm sicher. Mit mir schlossen sich siebzig andere Männer an. In dem Glauben, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, zogen wir in den Krieg.
So kam ich das erste Mal in den Dienst von Thortryg, dem Wolf, wie man ihn auch bis heute noch so manches Mal nennt. Um in seine Haustruppe zu kommen, musste jeder Krieger eigenhändig einen Wolf erlegen und sich als Beweis für diese Tat dessen Fell über die Rüstung ziehen. Nur die härtesten und grausamsten Männer waren in der Wolfshorde. Sie bildeten eine Eliteeinheit, die im Notfall auch Kommandos unter den gewöhnlichen Kriegern verteilen konnten. Sie übernahmen Führung und spezielle Kriegsaufträge in Thortrygs Namen.
Ich gehörte nicht dazu. Ich hatte eine billige und kümmerliche Rüstung, einen Schild, der mit Eisen beschlagen war, und eine Handaxt. In einer Rüstungskammer bekam ich Beinschienen, die ich allerdings nur einmal trug. Während der Kampfübungen rieb ich mir die Knie auf und meine Bewegungsfreiheit wurde damit eingeschränkt. Ich hasste diese Dinger, also gab ich sie einem anderen Krieger, der keine bekommen hatte, da nicht genug für alle vorrätig waren. Dennoch war es für mich eine Ehre, in Thortrygs Heer kämpfen zu dürfen.
Wir zogen bereits mehrere Wochen durch das Land, um Thortrygs Bruder zu finden und zu stellen. Als gewöhnlicher Soldat erfuhr ich nicht viel über den Bruder. Man erzählte sich im Lager, dass er nach dem Tod ihres gemeinsamen Vaters versucht hat, Thortryg zu töten, während Thortryg ihm vorgeschlagen hatte, gemeinsam zu herrschen. Weiterhin versuchte er wohl, das ganze Land in den Krieg zu stürzen, nur um an weitere Besitztümer heranzukommen. Ich weiß von meinem Vater, dass der alte Jarl wohl alles dafür getan hatte, um sein Land zu beschützen und Handel zu treiben. Natürlich überfiel auch er andere Länder, aber er hatte wohl nie versucht, seine Grenzen auszuweiten. Thortryg mochte diesen Weg beibehalten und so versuchte er, seinen Bruder zu stoppen, bevor das Land vollkommen im Blut ertrank. Ich hielt das für ein ehrenwertes Ziel.
In dieser Jahreszeit waren die Nächte oft regnerisch und kalt. Um meine Hände wenigstens kurz aufzuwärmen, musste ich kurz vor dem Einschlafen meinen Schwanz festhalten. Das war das einzige Körperglied, das warm blieb. Danach konnte ich zwar meine Eier auf meinen kleinen Finger legen, aber immerhin war die Hand kurz warm. Jeden Morgen übten wir uns im Schildwall und im Zweikampf. Danach wurde gegessen, sofern man diesen Fraß als Essen bezeichnen konnte, und wir zogen weiter. Die Versorgung der Männer war wegen der mangelnden Nahrung, dem schlechten Wetter und fehlender Rüstteile wie Armschienen für die Bogenschützen eher schlecht. Versorgungswägen blieben stets im Schlamm stecken und verzögerten unseren Marsch häufig. Erst nach mühsamen Befreiungen ging der Marsch weiter. Die Rationen waren so eingeteilt, dass die Männer bereits an Gewicht verloren. Einige waren bereits sehr schwach auf den Beinen. Die Nahrungslieferungen blieben oft wegen des schlechten Wetters stecken. Manchmal brachten unsere Jäger gute Beute mit, die direkt mit Beifall und Jubel in Empfang genommen wurde.
Mir machte das alles wenig aus. Ich war es gewohnt, wenig zu haben und trotzdem stark zu sein. Allerdings wünschte ich mir manchmal eine Frau in mein Bett. Die ganze Zeit unter Männern, die sich gegenseitig herausforderten und ihre Stärke unter Beweis zu stellen mochten, war ebenso ermüdend wie ein Weibsbild, das die ganze Zeit schnattert wie eine Gans.
Im Lager war ich eher ein Einzelgänger. Ich freundete mich nur mit einem Mann an: Borg. Borg war so alt wie ich, dafür aber um einiges größer und stärker. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er nur aus einem einzigen großen Muskel bestand. Leider konnte ich nicht viel mit ihm sprechen, da er auch dumm war wie ein leerer Becher Bier. Erstaunlicherweise hatte er dafür ein großes Geschick. Oder Glück. Wir würfelten oft, und das Glück ist ja bekanntlich mit den Dummen.
An einem nebligen Morgen waren wir gerade dabei, uns etwas zu essen zu holen. Borg und ich mussten nicht weit laufen bis zur Feuerstelle, an der die Tage zuvor ein magerer Kerl gestanden und den widerlichen Haferbrei gerührt hatte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn dieses Stinkgesicht in den Brei gepisst hätte, um ihn zu strecken. Wobei, dann hätte es vielleicht besser geschmeckt. Auf dem Weg dorthin fiel mir auf, dass kein Vogel zu hören war. Das Essen wurde auch heute wieder von diesem Stinkgesicht zubereitet. Die anderen Köche nahmen die Rationen aus dem Lagerwagen und verteilten sich auf die Feuerstellen im Lager. Es gab insgesamt zwanzig größere Feuerstellen, sodass der Andrang der Krieger beim Essen nicht zu groß war. Man bemerkte in der letzten Zeit, dass unsere Horde gereizter wurde. Die Männer fuhren schneller aus der Haut, wenn ihnen etwas nicht passte. Schlägereien waren an der Tagesordnung und manchmal half es nur, wenn ein Krieger der Wolfshorde dazwischenging.
Meine Holzschüssel wurde mit nur einem Schöpflöffel gefüllt. Ich rümpfte meine Nase und ging mit hängendem Kopf zu meinem Platz zurück. Dort saß bereits Borg mit seinem Essen in der Hand. Er winkte mich zu sich und deutete auf den Platz ihm gegenüber. Zwei unserer Späher kamen durch den Nebel zurück ins Lager. Sie wirkten abgehetzt und eilten zu Thortryg. Ich dachte mir nichts weiter dabei, obwohl sich ein ungutes Gefühl in mir breitmachte. Es war nicht ungewöhnlich, dass Späher sich abhetzen. Eine Situation muss schnell übermittelt werden, bevor sie vorbei ist.
Langsam setzte ich mich zu Borg und hielt meine Schüssel an den Mund. Diesen verdammten Haferbrei konnte ich bald nicht mehr sehen. Also schlang ich das Zeug so schnell wie möglich herunter.
Ich schob mir gerade den Rest der Schüssel in den Mund, als ein Hornsignal mich blitzartig aufschnellen ließ. Die Schüssel flog im hohen Bogen auf Borgs Kopf und ich packte instinktiv meinen Schild.
»Schildwall!«, schrie Thortryg, der gerade aus seinem Zelt herausgestürmt kam. Er zeigte mit seinem Schwert in die Richtung, in die wir uns ausrichten sollten.
Genau in diesem Moment begann es in der Luft zu zischen und zu surren. Pfeile flogen auf unser Lager zu und sorgten für unsere ersten Toten. Wildes Gebrüll und ein reges Treiben herrschten. Bereits bei Thortrygs Befehl waren die meisten Männer auf den Beinen, doch man merkt einer Armee immer an, wie erfahren die Männer sind. Wir waren es bis dahin noch nicht. Die Wolfshorde verteilte sich im Lager und trieb all jene an, die sich, in Panik verfallen, verstecken wollten. Laute Schreie gellten durchs Lager. Die Befehlshaber brüllten Befehle, andere brüllten vor Schmerz, als sich Pfeile in sie gruben. Ich blickte zu Borg, der nun neben mir stand, wie ich mit erhobenem Schild. Ein Pfeil krachte mit lautem Klang in meine geschützte Front, woraufhin wir uns in Bewegung setzten. In mir brodelten die Gefühle. Auf dem Weg zum Schildwall konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Meine Beine schienen von allein zu rennen.
Die erste und die zweite Reihe des Schildwalls standen schon bereit und wir hasteten darauf zu. Ein Pfeil schwirrte direkt an meinem Kopf vorbei und hinter mir hörte ich einen Aufschrei. Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen. Mein Körper befahl mir, weiterzurennen, um den Schildwall nicht in Gefahr zu bringen und um mich selbst zu schützen. Im Wall übersteht ein Mann den Pfeilhagel besser als auf freiem Feld.
Borg und ich schlossen in die vierte Reihe auf und hoben unsere Schilde über den Kopf unserer Vordermänner. Ein Mann trat hinter mich und deckte mit seinem Schild meinen Kopf. So funktioniert der Schildwall. Jeder ist für den anderen da, um ihn zu schützen. Gibt es nur eine Schwachstelle, ist das Gemetzel grauenvoll.
Immer noch hörte ich überall Schreie und Gebrüll. Pfeile donnerten auf unsere Schilde. Ich drehte meinen Kopf und sah, dass weitere fünf Reihen sich dem Schildwall angeschlossen hatten.
Auf einmal war alles ruhig. Meine Ohren rauschten vom Blut, das in meinem Körper pulsierte. Das Stöhnen der Verwundeten war zu vernehmen und das schwere Atmen der Männer um mich herum. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
In der Luft lag der eiserne Geruch des Blutes. Dieser Duft bekam plötzlich einen stinkenden Zusatz. Ich blickte an meinem Vordermann herab und sah, dass er sich eingeschissen hatte. Niemand spottete darüber, denn es ging vielen so. Jeder einzelne von uns hatte Angst. Wir mussten nur die Angst in Wut umwandeln. Ich hatte meinen Arsch unter Kontrolle, allerdings stieg die Angst in mir nach oben, sodass ich nicht mehr an mich halten konnte, und meinem Vordermann über die Schultern spie.
Borg konnte sich ein Kichern nicht verkneifen und sagte: »Der Arme stirbt mit Scheiße und Kotze auf seinem Körper. Da hast du ja das ganz große Los gezogen.«
Gelächter machte sich breit unter den Kriegern und selbst mein Vordermann musste etwas lachen.
Wir verstummten jäh, als wir plötzlich ein Donnern hörten, gefolgt von Schritten. Der Nebel war so dicht, dass Borg und ich höchstens einen Speerwurf weit sehen konnten. Das Donnern wurde lauter und lauter. Der Feind schlug auf seine Schilde und Unruhe machte sich unter unseren Männern breit. Ein Name drang immer und immer wieder aus dem Nebel hervor, gerufen von Thjodrecs Männern, die bereit waren für den Kampf: »Thjodrec! Thjodrec!«
Aus dem Nebel wurden Umrisse von Männern mit ihren Schilden sichtbar. Der Schildwall von Thjodrecs Männern stand nun direkt vor unserem. Sie blieben stehen und verstummten.
Da war sie wieder. Diese Ruhe. Nervosität staute sich in mir auf. Ich hatte den Drang, loszustürmen und zu kämpfen. Andererseits spürte ich große Furcht, sodass ein Rückzug auch in Frage käme. Dieses Hin und Her drohte meinen Geist zu zerreißen. Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt und obwohl ich mich nicht bewegte, rann der Schweiß von meiner Stirn und von meinem Rücken. Einige Männer wankten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ob es wohl unseren Feinden auch so erging? Ich war erleichtert, als Thortryg die Ruhe mit seiner Stimme durchbrach.
»Kämpfe gegen mich, Bruder! Dann werden deine Männer verschont. Heute muss nur einer von uns sterben. Dies ist deine letzte Gelegenheit.«
Ein spöttisches Lachen war vom anderen Wall aus zu hören. »Ich soll dieses Bauerngesindel ziehen lassen, nachdem ich dich ausgeweidet habe? Das glaube ich nicht. Ich bringe Halid Reichtum und Macht. Doch zuerst müssen du und deine Brut hier sterben.«
Langsam zog Thjodrec sein Schwert aus der Scheide. Meine Augen weiteten sich und mein Atem wurde schneller.
Mit erhobenem Schwert brüllte er uns entgegen: »Tötet sie alle!«
Mit diesen Worten bewegte sich der Schildwall des Feindes langsam auf unseren zu. Männer gingen im Gleichschritt. Auch wir klopften auf unsere Schilde und schritten der feindlichen Formation langsam entgegen. Der Schildwall ist kein Sturmangriff. Die Männer bewegten sich im Gleichschritt vorwärts und sobald die zwei Wälle gegeneinander trafen, fing das Gedrücke und Geschiebe an.
Jeder Schritt, den es nach vorne ging, war ein Gewinn. Die Wälle versuchten sich gegenseitig zu zermalmen. Schilde hämmerten an Schilde. Klingen suchten ihre Ziele. Immer wieder versuchte eine Axt, mir den Schild zu entreißen, doch ich hielt ihn fest. Ein ohrenbetäubender Lärm ringsum sorgte dafür, dass ich nicht mehr wusste, wo auf dieser Welt ich eigentlich war. Es wirkte alles so unecht. Ich sah Fratzen hinter den Schilden hervorkommen. Manche waren verzerrt vor Anstrengung, andere vor Schmerz. Immer wieder spritzte mir Blut auf die Rüstung oder ins Gesicht. Manchmal sah ich eine abgetrennte Hand über die Köpfe der anderen hinweg fliegen. Der Boden wurde immer weicher von dem Blut, das in Strömen zwischen meinen Füßen floss.
Ich dachte nicht nach. Ich beschützte nur meinen Vordermann, der wie wild hackte und zustach. Immer wieder bewegten wir uns ein paar Schritte zurück und dann wieder vor.
Wenn wir nach vorne kamen, stiegen wir über Leichen hinweg. Ihre angstvollen und erschrockenen Gesichter, sofern sie noch eins besaßen, zeigten die Schrecken des Krieges sehr deutlich. Ich musste aufpassen, dass ich nicht auf Eingeweiden ausrutschte, wenn ich mich bewegte. Borg kämpfte ebenfalls erbittert. Sein Vordermann war gefallen und er rückte bereits in die zweite Reihe vor. Von dort aus sah ich ihn hacken und schneiden. Er brachte vielen Männern den Tod.
Hinter mir hörte ich Rufe laut werden: »Aus dem Weg! Achtung!«
Auf diesen Befehl hin öffneten wir den Wall einen Spalt weit und ich sah, dass hinter mir einige Männer eine Art Rammbock zwischen sich trugen. Sie stürmten an mir vorbei und brüllten, als sie auf die Schilde der Feinde trafen. So brachen sie durch den Wall und die Männer, die hinter dem Rammbock warteten, stürmten in die Bresche. Das gab uns Kraft, den Kampf noch erbitterter fortzusetzen.
Auch mein vollgekotzter Vordermann stürmte los, um durch die Bresche zu kommen, und ich folgte ihm. Doch er kam nur wenige Schritte weit. An der feindlichen Linie, wo vereinzelt Soldaten, die vorher vom Rammbock überrannt wurden, wieder versuchten, auf die Beine zu kommen, traf ihn ein Schwert von der Seite am Hals. Röchelnd ging er zu Boden. Borg hatte Recht gehabt. Der Mann starb vollgekotzt und eingeschissen auf dem Schlachtfeld.
Ich hackte direkt nach der Schwerthand, die meinen Vordermann niedergestreckt hatte, und zerteilte Fleisch und Knochen. Der Mann, dem die Hand gehörte, ging unter Schmerzensschreien zu Boden und wand sich in Blut und Gedärm.
Ich stürmte weiter und versuchte, jeden Schlag von links mit meinem Schild abzuwehren, während ich mit der rechten Hand blind in die Menge schlug, die an mir vorbeizog. Ich glaubte, es sei sinnvoll, einfach so schnell wie möglich hinter die feindlichen Linien zu kommen, um von dort zu kämpfen
Weiter und mehr verzweifelt als wissentlich stürmte ich an den Männern vorbei. Als der Widerstand geringer wurde, hörte ich auf und spähte über meinen Schild. Ich stand auf einer Fläche, die mir etwas Platz bot, hinter dem feindlichen Schildwall. Der schlammige Untergrund, aufgeweicht durch Feuchtigkeit und Bewegung, machte es mir nicht leicht, mich zu bewegen.
Ich drehte mich wieder dem Getümmel zu und sah, wie ein großgewachsener Mann mit sehr breiten Schultern und prachtvoller Rüstung aus dem Gemenge auf mich zukam. Er war bereits älter und erfahren im Kampf. Das sah ich an der Rüstung und an seiner Art, sich zu bewegen. Er stürmte nicht einfach los, sondern behielt bedächtig seine Umgebung im Auge und schätzte mich ab.
Da schwang er sein Schwert von oben, dem ich auswich. Aus der Drehung heraus hämmerte ich meine Axt in Richtung seines Halses. Er war schnell genug, um zu reagieren. Sein Schild schnellte nach oben und meine Axt prallte am eisernen Schildbuckel ab. Die Wucht ließ mich zurückfallen und nun kam der Krieger mit weit geöffneten Augen und einem Wutschrei auf mich zu. Mit all seiner Kraft versuchte er, mir den Schädel zu spalten, doch nun war ich schnell genug, um meinen Schild schützend vor mich zu halten. Die Kraft des Kriegers war beeindruckend. Nach diesem Schlag hörte ich das eisenbeschlagene Holz knacken und mein Arm wurde taub von dem Aufprall. Ich spähte über meine Deckung und sah gerade noch den Krieger ein weiteres Mal ausholen. Ich drehte mich zur Seite, sodass sein Schlag ins Leere ging. Hastig kam ich wieder auf die Beine. Dieser Krieger war sowohl stärker als auch schneller als ich. Kampfbereit stand er mir gegenüber.
Ich wagte einen Angriff. Mit erhobenem Schild ging ich auf ihn zu und schwang meine Axt von unten. Er wehrte den Schlag mit seinem Schild ab und stieß seinen Oberkörper gegen meinen. Ich kam ins Straucheln und fand mich ein weiteres Mal auf dem Boden wieder. Etwas Warmes lief meinen Hinterkopf hinunter. Der Krieger kam lächelnd auf mich zu. Die Welt um mich herum verschwamm vor meinen Augen und ich war nicht fähig, meinen Schild zu heben. Ich begrüßte den Tod bereits, während ich meinem Feind in die Augen sah.
Er hob sein Schwert, um mir den tödlichen Stoß zu verpassen, als ein Surren durch die Luft ging. Das Schwert meines Gegners fiel hinter ihm zu Boden und er sank auf die Knie. Blut lief über seine Brust und seine Hände umklammerten einen Holzstiel, der ihm im Hals steckte. Mit schreckhaftem Blick versuchte er, Luft zu holen, doch nur ein Röcheln war zu vernehmen. Er streckte eine Hand nach mir aus, bevor er zu Boden fiel und sein Leben aushauchte.
Ich war immer noch benommen von dem Schlag auf meinen Kopf. Ich kam auf die Knie und ließ meinen Blick über die Schlacht gleiten, während ich versuchte, wieder klar zu werden.
Die Männer der Wolfshorde kämpften wie die Helden aus den Sagas. Jeder stand für den anderen ein, und auf einen toten Wolf folgten vier tote Feinde. Überall sah ich Körperteile abgetrennt werden und Männer sterben.
Mein Blick traf Thortryg, der sich gerade mit seinem Bruder einen erbitterten Zweikampf lieferte. Thortrygs Bein war verletzt und in seiner Schulter steckte ein Pfeil. Dennoch kämpfte er wie Tyr persönlich. Aber auch Thjodrec war ein bemerkenswerter Kämpfer. Er verstand viel vom Kampf. Thortryg schwang sein Schwert von oben herab, doch sein Bruder sah seinen Hieb kommen und parierte den Angriff, um dann seinerseits zu versuchen, ein paar Treffer zu landen. Thortryg hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine verletzte Schulter machte es ihm schwer, seinen Schild zu heben, während seine Beinwunde anscheinend dafür sorgte, dass ihm die Kraft ausging. Das Schwert seines Bruders schlug in kurzen Abständen auf seinen Schild ein. Eine geschickte Finte und ein darauffolgender Schwerthieb gegen den Arm ließen Thortryg schließlich zu Boden gehen.
Thjodrec stand triumphierend auf dem Schlachtfeld. Ich musste handeln. Ohne lange zu überlegen, rannte ich los und sprang über zwei ringende Männer, wich einem Schwerthieb seitlich aus und hackte diesem Angreifer meine Axt in die Kniekehle.
Ich sah, wie Thjodrec zum letzten Streich ausholte. Meine Hände machten alles wie von selbst. Ich warf im vollen Lauf die Axt in Thjodrecs Richtung. Sie traf ihn im Rücken und vor Schmerz wirbelte er herum und sah mich mit hasserfüllter Fratze auf ihn zukommen. Thjodrec bereitete sich vor, sein Schwert zu schwingen, als wollte er mir den Kopf abschlagen. Ich ließ meinen Schild fallen und wollte unter dem Schwert durchrutschen, doch Thjodrec erkannte meine Absicht und machte eine geschickte Drehung, sodass er sich mit mir bewegte. Mit seinem Schwert erwischte er mich und fügte mir von der Hüfte bis zu den Rippen eine klaffende Wunde zu.
Ich rollte mich auf dem Boden, damit ich etwas Abstand gewann. Unfähig wieder aufzustehen, musste ich zusehen, wie Thjodrec sich langsam auf mich zubewegte. In seinem Gesicht war ein höhnisches Grinsen zu erkennen.
»Eben auch nur ein Bauerntölpel. Fühl dich geehrt. Du stirbst durch einen Jarl.«
Er holte mit dem Schwert aus und ließ es herabschnellen. In letzter Sekunde griff ich nach einem Schild, der neben mir lag, und schob ihn über mein Gesicht, sodass sein Schwert ins Holz schnitt und den Schild durchbohrte. Ein stechender Schmerz machte sich in meinem Unterarm breit und Blut sickerte auf meine Brust.
Doch es geschah nichts weiter. Ich schob den Schild beiseite und sah Thjodrec vor mir knien. Hinter ihm stand Thortryg mit meiner Axt in der Hand. Er zog sie seinem Bruder aus dem Rücken, und dieser Schmerz hatte dafür gesorgt, dass Thjodrec seinen tödlichen Schlag gegen mich nicht hat ausführen konnte. Er schaute mich erschrocken an.
Thortryg lächelte zufrieden. »Das ist mein Land.«
Mit diesen Worten ließ er meine Axt auf den Kopf seines Bruders schnellen. Blut und Hirnmasse quollen heraus und der unrechtmäßige Jarl ging zu Boden.
So starb Thjodrec und Thortryg wurde Herrscher von Halid.
Einige von Thortrygs Männern, die gesehen haben, dass er seinen Bruder erschlagen hat, liefen los und riefen das Ende der Schlacht aus. Nach und nach ebbten die Kämpfe ab und Stille breitete sich auf dem Schlachtfeld aus. Viele Männer sanken erschöpft zu Boden. Thjodrecs Männer ließen ihre Waffen fallen, und jene, die es nicht taten, wurden erschlagen. Bevor es so leise wurde, dass wir selbst die Toten hätten sprechen hören können, durchbrach die Wolfshorde die Stille. Sie stimmten einen Siegesschrei an, dem sich bald auch die übrigen Männer anschlossen.
Der neue Jarl stand auf dem Schlachtfeld und erhob sein Schwert und seine Stimme.
»Männer von Halid! Erhebt euch, ihr Treuen! Ein jeder soll wissen, dass nun die Zeit der Wölfe gekommen ist. Wir waren den Asen treu und sie halfen uns, diese Schlacht zu überstehen. Erhebt euch, ihr Wölfe von Halid! Erfreut euch am Leben! Wir werden nach Karpgat, unserer Hauptstadt, zurückkehren und unseren Sieg begießen. Wir werden dieses Land aufblühen lassen. Ihr Wölfe, erhebt euch! Die Zeit der Wölfe ist gekommen!«
Sogar Männer, die vorher aus purer Erschöpfung hingefallen sind, standen auf und feierten ihren neuen Herrscher, der in einer ehrenvollen Schlacht seinen Bruder besiegt hat. Sie jubelten und umarmten einander, manche tanzten oder beteten auf den Knien mit einem Lächeln im Gesicht. Sie lachten und weinten. Nach einer solchen Schlacht ist jeder froh, der überlebt hat. Ich aber konnte mich nicht erheben. Der Schmerz war zu groß. Ich starrte in den Himmel und um mich herum wurde alles still. Ich nahm keine Stimmen mehr wahr, also genoss ich es, denn ich wusste, dass nach dieser Stille kein Gemetzel mehr auf mich wartete, sondern Becher voll Met und gutes Fleisch.
Thortryg setzte sich zu mir und unterbrach meine Träumerei. Ich blickte ihn von unten herauf an, doch er sagte nichts. Eine Weile war es still.
Schließlich brach Thortryg die Stille. »Wie ist dein Name?«
Durch die Wunde fiel mir das Sprechen schwer. »Sigvart Horaldson, Herr«, sagte ich schwach.
»Danke, Sigvart Horaldson. Ohne dich würde ich nicht mehr leben und mein Bruder würde herrschen. Du hast gekämpft wie einer der gefährlichsten Wölfe, die ich je gesehen habe. Du bekommst von mir einen neuen Namen und einen neuen Posten.«
»Das ist eine große Ehre, Herr.«
»Nur, weil du noch nicht weißt, was auf dich zukommt«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. »Ab heute trägst du den Namen Fenris in meinem Wolfsrudel. Der gefährlichste und bösartigste Wolf, den wir kennen. Dein neuer Posten wird an meiner Seite sein. Du beschützt mich – und ich beschütze dich.«
Sein Blick war nun fest auf meine Augen geheftet. Er war begierig, meine Reaktion zu erfahren. Ich dachte eine Weile nach und verlor mich in Gedanken. Es wäre ein gefährliches Leben. »Es ist mir eine Ehre, Herr. Darf ich allerdings eine Bitte äußern?«
Er nickte.
»Ich möchte in wenigen Wochen zu meiner Familie zurückkehren, um ihr zu berichten, was geschehen ist. Ich möchte meinem Vater sagen, was ich vollbracht habe, und dass ich von nun an Euch diene.«
Thortryg grinste und klopfte mir auf den Oberschenkel. Er stand auf und rief nach Männern, die mich ins Lager tragen sollten. Mein sechzehnter Winter zog nun langsam auf und ich war bereits jetzt bei meinem Jarl beliebt.
Die Jungen, die der Jarl geholt hat, um mich zu retten, trugen mich auf einer Trage über das Schlachtfeld. Lautes Stöhnen und die Schreie sterbender Krieger konnte ich hören. Die Jungen legten mich auf einem Wagen ab, der sich holpernd in Bewegung setzte. Neben mir befanden sich auf diesem Wagen sieben weitere Verletzte. Unter ihnen war ein junger Krieger, der sich mir unter Schmerzen als Kalf vorstellte. Mit ihm sollte ich später noch so manche Schlacht schlagen. Der Wagen hielt mehrere Male an der Straße an, um die Krieger abzuladen, die ihre Verletzungen nicht überlebten. Warum sie allerdings nur auf den Wegesrand geworfen wurden, weiß ich nicht zu beantworten. In diesem Moment wollte ich es auch nicht hinterfragen. Ich versuchte nur, so viel wie möglich zu schlafen, um das Gerüttel des Wagens zu ertragen.
Nach einiger Zeit sah ich, wie wir durch einen Torbogen fuhren. Das geschäftige Treiben um mich herum ließ mich vermuten, dass wir Karpgat erreicht hatten. Die Stimmen von Marktschreiern und den Menschen, die bei ihnen einkauften, wurden aber schnell übertönt von Schmerzensschreien, und ein Geruch von faulem Fleisch umwogte meine Nase.
Ich verbrachte lediglich einen Tag im Krankenlager in Karpgat. Der Wundarzt hielt es für keine gute Idee, dass ich gehen mochte. Doch ich widersetzte mich seinem Willen, indem ich ihn beiseiteschob und wütend anknurrte. Dieses Sterben und Schreien um mich herum hielt ich nicht aus. Meine Wunden verheilten sehr gut, ich konnte mich selbst versorgen. Wie ich in der Stadt umherlief, hielt ich Ausschau nach einem Wirtshaus. Ich hatte noch keinen Schluck Bier oder Met getrunken nach der Schlacht und es wurde Zeit, dies nachzuholen. Man hatte mir meinen Sold ans Krankenbett gebracht und nun wollte ich ihn verprassen. Ich erinnere mich auch an eine Feier, die Thortryg versprochen hatte. Hoffentlich fand sie noch nicht ohne mich statt.
In einer Gasse, nicht weit vom Krankenlager, fand ich tatsächlich ein Wirtshaus. Der Wirt war ein dicker Mann mit einem kräftigen Bart und einer sehr unfreundlichen Art. Er sah mich schlechtgelaunt an. »Was willst du?«
Ich bestellte einen Krug Met und setzte mich so weit wie möglich von diesem Kerl weg. Trinkgeld gab ich natürlich nicht.
Mein Platz war draußen an der Straße auf einem Holzschemel, von wo ich die Menschen, die vorbeigingen, beobachtete. Die meisten hier haben nichts von dem erlebt, was ich die letzten Wochen erlebt habe.
Die Schlacht zog noch immer an mir vorbei. Jedes Detail. Jede Einzelheit spielte sich noch einmal ab. Mein Vordermann, der sich eingeschissen hat. Sein Blut, dass mir ins Gesicht spritzte, als er fiel. Ich erinnerte mich an meinen Drang, wegzulaufen, aber auch an meinen Mut, einfach weiterzukämpfen. All die verzerrten Fratzen der Männer. Manche blickten mich voller Hass an, andere voller Schmerz und Erschrockenheit. Diese Gesichter waren nun deutlich vor mir. Die Schmerzen, die ich erleiden musste, schossen mir in den Kopf. Das Gefühl der Angst umschloss mich wieder und meine Wunde schmerzte. Ich erinnerte mich an die Männer, die meinen Wagen begleiteten und nach und nach die Verwundeten hinauswarfen, die nicht überlebt hatten. Wieder ergriff mich Angst. Was wäre, wenn ich tot am Straßenrand geendet wäre? Wieso taten diese Männer das? Hatten die Krieger kein anständiges Begräbnis verdient?
Diese Gedanken machten mich verrückt und so trank ich.
Ich bestellte einen weiteren Krug, und als ich auch diesen fast geleert hatte, stand plötzlich ein schlanker Mann vor mir. Er hatte mich wohl schon mehrfach angesprochen, doch ich hatte nicht reagiert. Mein Körper war bereits nach den zwei großen Krügen Met in einem leicht wankenden Zustand. Normalerweise bin ich trinkfester, doch ich glaubte, die Wunden hielten mich sogar im Trinken schwach. Ich blickte an dem Mann hoch und musste etwas grinsen wegen seines Gesichts. Es sah aus wie das einer Ratte ohne Schnurrhaare. Er bemerkte mein höhnisches Grinsen, ging allerdings nicht darauf ein.
»Seid Ihr Sigvart Fenris?«, fragte er mit unsicherem Ton.
»Wer will das wissen?«, lallte ich mehr grummelnd als laut.
»Ich bin Rolf, ein Gesandter von Jarl Thortryg. Ich soll Euch suchen und zu ihm bringen.«
Ich schielte ihn an und verstand nur langsam, was er wollte. Ich lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.
»Na dann, Rolf Rattensohn, auf zu Jarl Thortryg.«
Ich stand auf und torkelte los. Ich wusste zwar nicht wohin, aber irgendwohin würde es schon gehen. Rolf holte tief Luft, als wollte er seinen Namen noch einmal richtigstellen, sah aber dann ein, dass es nutzlos war. Er lief neben mir her, leitete mir den Weg und achtete darauf, dass ich nicht allzu viele Menschen anrempelte. Er entschuldigte sich bei denjenigen, die ich streifte, und sah mich dabei jedes Mal vorwurfsvoll an.
Kurz vor der Halle des Jarls machte er abrupt neben einer Wassertonne Halt. »Tunk deinen Kopf in das Wasser, um klarer denken zu können. Der Jarl möchte mit dir reden und sich nicht mit dir betrinken.«
Ich ging einen Schritt auf ihn zu und blickte ihn ernst an. »Wie kommst du nur auf die Idee, mir sagen zu können, was ich machen soll?«, sprach ich langsam und mit tiefer Stimme.
Die Stille, die darauf folgte, bereitete Rolf etwas Unbehagen. Er war auch überrascht, dass diese Frage so klar aus meinem Mund kam, als hätte ich nichts getrunken.
Ich tätschelte etwas grob seine Wange und lachte. »Ich mache nur Spaß, Rolf Rattensohn! Du hast Recht. Ich sollte einen klareren Kopf behalten.«
Lachend steckte ich meinen Kopf in das kalte Wasser. Es fühlte sich so an, als würde mein Körper den ganzen Met auf einmal aussondern.
Als mein Kopf wieder aus der Tonne schnellte, sah mich Rolf nur mit runtergezogenen Mundwinkeln an. »Mein Name ist nicht Rolf Rattensohn«, sagte er.
»Nimm es nicht so schwer. Wenigstens nenne ich dich nicht Rolf Nervensägensohn. Und jetzt hör auf zu quatschen und bring mich zum Jarl.«
Rolf rollte mit den Augen und drehte sich um. Er ging mit schnellen Schritten voran. Vor einer großen Tür hieß er mich zu warten. Sie war kunstvoll geschnitzt und bestimmt noch einmal so hoch wie ich selbst. An den Seiten standen zwei Wachen, die starr nach vorne schauen. Die Halle für sich war außen eher einfach gehalten. Gut verarbeitetes Eichenholz in gepflegtem Zustand. Allerdings wurde auf prachtvolle Bilder im Holz verzichtet.
Als er hineinging, versuchte ich noch etwas klarer im Kopf zu werden, indem ich tief Luft holte und ebenso tief wieder ausatmete. Es schien zu funktionieren. Kurze Zeit später öffnete Rolf wieder die Tür und ich ging hinein. Die Halle des Jarls war einfach gehalten. Auch hier keine prachtvollen Bilder oder Schnitzereien an den Wänden, nur wie draußen gut gepflegtes Holz und Schilde an den Wänden. Auch Felle und bunte Tücher fanden ihren Platz an den Balken und dem Geländer im oberen Teil der Halle. In der Mitte des Saals befand sich eine Feuerstelle, die ringsum mit Decken und Fellen ausgelegt war. Ich ging an zwei langen Tischen vorbei, an denen Bänke standen, und dahinter saß Thortryg auf seinem Thron, der breit lächelnd aufstand, um mich zu begrüßen.
»Sigvart Fenris. Herzlich willkommen in meiner und in deiner Halle. Ich dachte eigentlich, dass ich dich noch nicht empfangen dürfe, da du noch verletzt bist. Aber ich hörte, du warst in einem Wirtshaus?«
Er umklammerte meinen rechten Unterarm mit seiner Hand. Wir blickten einander in die Augen. »Habe mich selbst entlassen. Ich fühlte mich unwohl so nah bei den Toten und bei denen, die es bald sein werden. Der Durst trieb mich ins Wirtshaus.«
Thortryg lachte und zeigte auf einen Stuhl etwas unterhalb seines Throns »Setz dich, bitte.«
Ich tat, was er sagte. Thortryg setzte sich wieder auf seinen Thron. Er ließ mir Bier einschenken von einer Sklavin, die ich noch nicht bemerkt hatte. Sie hatte in einer dunklen Ecke neben dem Thron gestanden. Nachdem sie mir eingeschenkt hatte, verschwand sie auch wieder im Dunkeln.
Thortryg beugte sich zu mir hinüber. »Heute Abend wird ein Fest gefeiert. Du wirst offiziell zu meiner Leibwache benannt und du wirst mir den Treueschwur leisten.«
»Ja, Herr.«
»Nun, ich habe dir oben in der Halle ein Bett bereiten lassen. Du siehst noch etwas müde aus, Sigvart. Geh und ruh dich aus. Ich brauche dich heute Abend fit und in Trinklaune.«
Ich stand auf und neigte kurz meinen Kopf vor Thortryg. Ich war mir unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Verneigen? Die Hand schütteln? Einerseits war er nun mein Jarl, andererseits wäre er das nicht, wenn ich ihn nicht gerettet hätte. Uns verband ein Band, das nur schwer zu durchtrennen war. Ich war mir sicher, dass er mir schon noch sagen wird, welche Verhaltensform er gerne hätte. Dann ging ich zu den hölzernen Stufen, die mich in mein Lager führten. Es war ein Bett aus Fellen, sehr gemütlich. Kaum lag ich darauf, schlief ich auch schon ein.
Ein Fußtritt weckte mich. Ich schreckte hoch und wollte auf den Eindringling einschlagen, als ich Borgs Gesicht erkannte. Er grinste mich an und auch ich musste lachen. Ich freute mich sehr, dass er überlebt hat. Nach der Schlacht habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er war wohl vor mir in die Stadt gekommen, da unser Wagen oft anhalten musste, um die Leichen loszuwerden. Ich verstand immer noch nicht, wieso das nötig gewesen war.
»Wie hast du es geschafft, mit deinem hohlen Schädel zu überleben?«, wollte ich wissen.
Er lachte und griff meine Schultern. »Ich erzähl es dir bei einigen Krügen Bier.«
Zusammen gingen wir die Stufen hinunter und besorgten uns von den Sklavinnen jeweils einen großen Krug Bier. Dann setzten wir uns auf eine Bank, zu anderen Kriegern, mit denen wir gekämpft hatten. Thortryg bemerkte trotz des Trubels in der Halle, dass ich unten in der Nähe war und prostete mir von seinem Thron aus zu. Ich erwiderte seine Geste. Die Feier hatte bereits begonnen, doch in meinem tiefen Schlaf hatte ich das nicht mitbekommen. Die Wolfshorde hatte ihren eigenen Tisch, ganz in der Nähe des Jarls. Der Jarl hatte meine Stellung noch nicht bekannt gegeben, also hatte ich dort noch nichts zu suchen.
Ich drehte mich zu Borg. »Also? Erzähl, was passiert ist.«
Borg nahm einen beherzten Schluck. Er setzte ab und rülpste. »Wir haben also den Schildwall aufgebrochen. Dann ging alles sehr schnell. Ich hackte und hackte und hackte hier und hackte da. Fünfzig Männer, sage ich dir, fünfzig Männer habe ich umgebracht!«
»Fünfzig? Borg, du kannst nicht mal bis fünf zählen. Woher willst du das wissen?«, lachte ich.
Borg verzog das Gesicht. »Es waren jedenfalls sehr viele. Ich erkämpfte mir genügend Platz, um mal durchatmen zu können.«
Er machte eine Pause, als ob er auch jetzt durchatmen müsste. »Ich und viele andere Krieger sahen dich auf Thjodrec losgehen und euren Kampf. Wie du Jarl Thortryg das Leben gerettet hast und wie der Jarl dann wieder deins gerettet hat. Alle waren beeindruckt. Die Männer sagten, dass ihr beide ausgesehen habt wie Götter, die füreinander einstehen, um die Riesen zu bezwingen.«
Mir blieb der Mund offenstehen. Nun musste ich einen beherzten Schluck Bier zu mir nehmen.
Borg führte seine Geschichte fort: »Du bist ein Held und ein Vorbild für viele Männer geworden, weil du so mutig warst. Du hast uns gezeigt, was es heißt, für seinen Herrn einzustehen. Ich erzählte vielen, dass ich bereits zu Beginn der Schlacht neben dir stand und dass du dort bereits gekämpft hast wie ein wahrer Wolf von Thortryg.«
Stolz lehnte er sich mit seinem Becher ein Stück zurück und streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus.
Mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, wieso das heldenhaft war. Es war wohl eher dumm von mir gewesen, mein Leben für das eines anderen aufs Spiel zu setzen. Ich ließ mich vom Krieg leiten, ja. Doch bereute ich es auch zum Teil. Dieser Kampf hat mir zwar Ansehen und Ruhm beschert, nach Borgs Geschichte wohl mehr als ich dachte. Aber er bescherte mir auch Schmerzen und Bilder in meinem Kopf, die mich wohl nie wieder loslassen werden.
»Borg. Dieser Kampf hat mich schwer gezeichnet. Ich fühle mich momentan nicht wie ein Held.« Ich fasste seine Schulter und schenkte mit der anderen Hand Bier nach. »Komm, mein Freund. Wir wollen trinken und uns amüsieren. Skål!«
» Skål!«, stimmte er mit ein.
Die Halle füllte sich nach und nach. Krieger, die in der Schlacht gedient hatten, kamen und betranken sich. Sie strotzten vor Kraft und manche waren begierig darauf, erneut in die Schlacht zu ziehen. Auch ein paar Huren waren anwesend. Hier und da verschwanden einige Männer in die dunklen Ecken der Halle, um sich mit ihnen zu vergnügen. Immer wieder hörte man einen Aufschrei. Thortryg unterhielt sich mit einigen wohlhabenden Händlern, die ihm wohl zu seiner Herrschaft beglückwünschten.
Nachdem die Händler gegangen waren, stand Thortryg auf und erhob seine kräftige Stimme.
»Bürger und Krieger von Karpgat, herzlich willkommen zu meinem Herrschaftsfest.«
Die Menge jubelte und klopfte auf die Tische.
»Es gibt heute allerdings noch einen Mann, den wir feiern sollten. Er hat in der Schlacht gegen meinen Bruder heldenhaft gekämpft. Wie ein wahrer Wolf!«
Wieder hallten Beifall und Gejohle bis auf die Straßen Karpgats.
»Ohne ihn wäre ich heute nicht hier. Ohne ihn würde mein Bruder hier herrschen.«
Kurze Stille trat ein.
»Meine Freunde, hier ist Sigvart Fenris! Komm zu mir!«
Unter lautem Beifall stieg ich von der Bank auf und machte mich auf den Weg zu Jarl Thortryg. Männer klopften mir auf die Schulter und mir war es schon unangenehm, zu Thortryg gehen zu müssen. Als ich ihn erreichte, grinste er unablässig und schloss mich in seine Arme.
Er packte mich bei den Schultern und donnerte: »Sigvart, ich bin froh und stolz, dich zu meiner persönlichen Leibwache ernennen zu dürfen. Schwörst du mir ewige Treue, auf dass wir dieses Land beschützen und für das Volk einstehen?«
Ich schaute ihm fest in die Augen. Sie hatten wieder dieses unlöschbare Feuer, das jeden Mann ermutigte, ihm zu folgen.
Ich ging auf die Knie. »Ich schwöre, mein Herr.«
Der Jubel in der Halle war nun vollkommen losgelöst. Thortryg wies einen Mann der Wolfshorde an, ein Päckchen zu bringen, das er mir übergab. Es war ein Wolfsmantel von einem rein schwarzen Wolf. Thortryg beugte sich zu mir und sprach: »Ein Wolfsfell, das deiner würdig ist, Fenris.«
Ich verbeugte mich und streifte das Wolfsfell über. Thortryg zeigte auf einen leeren Platz neben dem Thron. »Setz dich, Sigvart Fenris. Setz dich und feiere mit deinem Wolfsrudel.«
Erneut brach Beifall aus, als ich mich hinsetzte und einen Krug Met bekam. Thortryg hob eine Hand und gebot der Menge zu schweigen. Seine Stimme erhob sich laut über alle anderen.
»Meine Freunde. Heute wollen wir feiern. Deshalb erhebt euer Horn mit dem Göttertrunk und leert mit mir die erste Runde.«
Die Männer stimmten in den Spruch mit ein:
»Das Horn soll im Sonnenlauf kreisen.
Ein Jeder soll sprechen und trinken..
Skål! Skål!
Erhebt das Horn dem Jarl zu Ehren!
Skål! Skål!
Erhebt das Horn den Göttern zu Ehren!
Skål! Skål!
Trinkt aus eure Hörner!
Skål! Skål!
Unbesiegt werden wir sein.«
Mit diesen Worten Schloss Thortryg den Trinkspruch und nahm einen kräftigen Schluck. Die Männer in der Halle und auch ich taten es ihm gleich. Die Männer nahmen wieder ihre Gespräche auf und es herrschte ein reges Treiben in der Halle. Becher und Hörner wurden gefüllt und geleert und erneut gefüllt. Die Sklavinnen hatten ihre Mühe, den Männern nachzuschenken. Große, schwielige Hände griffen immer wieder unter ihre Kleider und an ihre Brüste. Eine solche Tat wurde stets mit großem Gelächter belohnt. Hier und da entflammte ein Streit und dann rangen Männer miteinander, bis einer aufgab oder sich ein Krieger der Wolfshorde dazwischen stellte.
Ich beobachtete Borg, wie er wieder mal versuchte, seine Kraft zu beweisen, indem er jedermann zum Armdrücken herausforderte. Thortryg kam auf mich zu und setzte sich neben mich. Er grinste so breit, dass es so aussah, als würden nur noch die Ohren seinen Mund davon abhalten, einen Kreis zu schlagen. »Sigvart, mein Freund. Dies ist eine Heldennacht. Für alle, die in der Schlacht gefallen sind, und für alle, die als Helden aus ihr hervortraten.«
Er hob sein Horn in meine Richtung und wir stießen an.
»Ja, Herr. Eine schöne Nacht und ein tolles Fest.« Ich rutschte etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her. Ich war nervös, weil ich unbedingt etwas erfragen musste.
»Herr, mit Eurer Erlaubnis würde ich gerne morgen zu meiner Familie gehen, um ihr zu berichten, was geschehen ist. Sie sollen erfahren wer ich nun bin. Ich habe es damals meinem Vater versprochen und dieses Versprechen muss ich einhalten.«
Thortryg sah mich fragend an. Er runzelte die Stirn und überlegte wohl, was er sagen könnte. Sein nachdenklicher Blick verwandelte sich schließlich wieder in ein Grinsen und er trank einen Schluck.
Ich wurde bereits etwas ungeduldig, da er mir auf dem Schlachtfeld schon keine Antwort darauf gegeben hatte. Doch er drehte seinen Kopf in meine Richtung und sprach: »Du bist ein ehrenvoller Mann, und auch wenn ich dich nicht gerne ziehen lasse, sollst du deinen Wunsch erfüllt bekommen. Aber ich verlange etwas dafür.«
Meine Augen wurden groß. Was wollte er denn jetzt noch? »Was verlangt ihr, Herr?«, fragte ich unsicher.
»Sorg mit mir dafür, dass die Männer hier …« Er wies mit ausholender Geste in die Weite des Saals und sein Grinsen wurde noch breiter, »… diese Nacht nicht wieder vergessen.«
Ich erhob meinen Becher auf sein Wohl und wir stürzten beide den Met unsere Kehlen hinab.
An viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass Borg nicht besiegt worden ist und Thortryg mich eindeutig unter den Tisch gesoffen hat. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lagen zwei Frauen an meiner Seite. Auch wenn ich mich nicht mehr erinnerte, merkte ich doch, dass meine Leistengegend wohl hart gearbeitet hat in der Nacht. Sobald ich aufstand, brachte mir direkt eine Dienerin eine Wasserschüssel. Ich wusch mich und streifte mein Leinenhemd über die Schultern. Ich tat mir schwer bei meiner Hose, denn als ich mich bückte, spürte ich den Met in meinem Kopf herumwirbeln. Nachdem ich die Hose endlich bezwungen hatte, torkelte ich die Stufen hinab in die Halle.
Auf den Tischen und Bänken lagen schnarchende und furzende Männer, die es nicht mehr geschafft haben, die Halle zu verlassen. Auch Borg zählte zu ihnen. Ich nahm mir einen Becher dünnes Bier, um meinen Kopf wieder zu ordnen, und setzte mich zu ihm auf die Bank. Mein Blick wanderte in der Halle umher und ich entdeckte Thortryg schlafend auf seinem Thron. Es sah etwas unbequem aus, wie er da halb saß und halb lag, und ich vermutete, dass er wohl mit Rückenschmerzen aufwachen würde. In den am Abend dunklen Ecken zeigten sich nun die nackten Leiber der Männer und Frauen, die sich ihrer Lust ergeben hatten. Es bewegte sich kaum jemand in der Halle, und so trank ich meinen Becher aus und steckte mir noch ein Stück kaltes Fleisch in den Mund, ehe ich nach oben ging, um meine Sachen zu holen, bevor ich zu meiner Familie aufbrach.
Ich verließ gerade die Halle, als eine Stimme von hinten mich aufhielt.
»Wo willst du denn hin?«
Ich drehte mich um und sah Borg in der Tür stehen, noch leicht wankend.
»Ich darf für kurze Zeit zu meiner Familie gehen und ihr berichten, was geschehen ist.«
Borg taumelte auf mich zu und erhob seinen Finger dicht vor meinem Gesicht. Sein Atem roch nach Bier und Fleisch. In seinem Bart hingen noch Essensreste – oder Erbrochenes. Da war ich mir nicht ganz sicher.
»Und da willst du ohne mich hin? Was soll ich denn hier ohne dich?«
Ich legte ihm die Hand auf eine Schulter. »Wenn du willst, dann komm mit. Beeil dich. Der Marsch wird lang.«
Er grinste und drehte sich zur Tonne mit dem kalten Wasser um. Er steckte seinen Kopf hinein und als er ihn wieder herauszog, sah er direkt um einiges frischer aus.
»Ich gehe nur schnell meine Sachen holen. Wir treffen uns am Tor«, sagte er mit begeisterter Stimme. Ich nickte und ging weiter in Richtung Marktplatz. Dort war um diese Zeit noch nicht viel los. Einige der Händler, die ich dort sah, waren ebenfalls bei der Feier gewesen und sahen auch entsprechend mitgenommen aus. Mühsam bauten sie ihre Stände auf und verschnauften immer mal wieder, da ihr Kopf wohl noch nicht ganz auf ihren Schultern saß.
Ich ging am Marktplatz vorbei und weiter in Richtung Tor. An einer Seitenstraße hielt ich inne. Ich sah den dicken, unfreundlichen Wirt von gestern, wie er sich mit einer jungen Frau stritt. Während er sie anschrie und danach trachtete, sie zu schlagen, machte sie abwehrende Bewegungen und versuchte wimmernd, etwas zu erklären. Als ich ein paar Schritte näherkam, drehte der Wirt sich erschrocken um. Die junge Frau erschrak ebenfalls und ich konnte nun ihr Gesicht sehen.
Sie war wohl so alt wie ich und einen Kopf kleiner. Sie hatte braunes Haar, das zusammengebunden war. Ihr Kleid war an der Brust etwas aufgerissen und sie hatte einen roten Handabdruck auf der Wange. Ihre Hände hielt sie vor ihren Bauch, so, als ob er wehtäte.
Der Wirt höhnte: »Was willst du hier? Bist du ein edler Retter, der nun die Frauen von Karpgat schützt?« Er verschränkte seine Arme und sein Gesicht zeigte eine herausfordernde Miene.
Ich blickte von ihm wieder zu der jungen Frau und fragte sie: »Hat dieser Mann dir Gewalt angetan?«
Sie senkte ihren Blick und sagte nichts.
»Wie ich mit meiner Tochter verfahre, hat dich nicht zu interessieren«, schaltete der Wirt sich ein.
»Eure Tochter?« Ich glaubte nicht recht zu hören. Wie es aussah, schlug er seine Tochter und verlangte von ihr, sich zu entblößen. Wer weiß, was er noch mit ihr angestellt hat. Eine unsägliche Wut stieg in mir empor.
Ich baute mich nun direkt vor dem Wirt auf und funkelte ihn wütend an. »Ich werde für eine kurze Weile fort sein. Wenn ich wiederkomme, werde ich deine Tochter befragen und ich werde sie mir genau anschauen. Wenn ich eine neue Verletzung entdecke, werde ich deinen Körper über den gesamten Marktplatz verteilen.«
Diese Worte machten den dicken Wirt rasend vor Wut. »Wer glaubst du denn zu sein? Ich zerquetsche dich wie eine Schabe!«
Mit diesen Worten gab er mir einen Stoß und holte zu einem Schlag aus. Ich duckte mich darunter weg, griff seine Beine und schleuderte ihn zu Boden. Blitzschnell warf ich mich auf ihn und schlug ihm zweimal heftig ins Gesicht. Das genügte, ihn benommen zu machen, sodass ich mich gefahrlos zu ihm runterbeugen konnte.
»Mein Name ist Sigvart Fenris. Ich bin die Leibwache von Jarl Thortryg. Das solltet ihr im Gedächtnis behalten, fetter Mann«, sprach ich so drohend wie möglich.
Ich stellte mich wieder auf und ging zur Tochter des Wirts.
»Wie heißt du?«
Mit ängstlichem Blick schaute sie zu mir auf. »Wey… Weylef, Herr.«
»Ich bin nicht dein Herr. Mein Name ist Sigvart. Von heute an wird er dir nichts mehr tun, Weylef.«
Ich drehte mich, um und setzte meinen Weg fort. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und wandte meinen Kopf zurück. Mit ernster Stimme sprach ich: »Und falls doch … hast du ja gehört, was ich mit ihm mache.«
Ich ging weiter und blickte nicht mehr nach hinten.
Am Tor wartete Borg bereits. »Wo hast du gesteckt?«, wollte er etwas ungeduldig wissen.
Ich grinste nur und ging an ihm vorbei. Zusammen traten wir den Weg zum Hof meiner Eltern an. Der Weg führte uns durch ein kleines Waldstück und an einem Bachlauf entlang.
Wir waren bereits über die Mittagssonne hinweg gewandert und bekamen Hunger. Borg nahm etwas Trockenfleisch aus seiner Tasche und ich holte ein Stück Käse und Brot, das ich mir in der Halle eingesteckt hatte, aus meiner Tasche. Wir saßen auf einem Ast direkt am Wasser und genossen die Stille und das einfache Plätschern des Bachs.
Borg sah mich fragend an. Bereits nach wenigen Augenblicken hielt ich es nicht mehr aus. »Warum starrst du mich so an, Borg?«
Borg schien wie aus einem Traum herausgerissen. »Ähm, ich würde gern wissen, was du deiner Familie erzählen wirst? Erzählst du nur die schönen Sachen wie, dass wir gewonnen haben und du glorreich gekämpft hast? Oder erzählst du auch von deinen Schmerzen, den endlosen Märschen und dem schlechten Essen? Wirst du die Männer erwähnen, die du getötet hast und die du sterben sehen hast?«
Das war eine sehr gute Frage, über die ich mir noch keine Gedanken gemacht habe. Manchmal war ich von Borg wirklich überrascht. Ich schaute in das Wasser und dachte eine Weile darüber nach, während ich mir ein weiteres Stück Käse in den Mund schob und es langsam kaute.
Ich schluckte den Käse hinunter und drehte mich zu Borg. »Ich weiß es noch nicht. Ich glaube, mein Vater weiß sehr wohl Bescheid über die Schrecken des Krieges.«
Borg nickte. Wir packten wieder alles zusammen und machten uns weiter auf den Weg.
»Ich finde den Krieg gar nicht so schrecklich«, sprach Borg nach einer Weile. »Wenn man nicht darüber nachdenkt, was man tut, ist es auch nicht schwer.«
Ich grinste matt. »Der Schrecken liegt auch nicht in der Schlacht, Borg. Manche Männer haben ein Problem damit, die Stille nach der Schlacht zu bekämpfen. Wenn dir noch mal alles durch den Kopf geht und du die einzelnen Gesichter noch einmal siehst. Dir Gedanken machst um das Was-wäre-wenn. Diese Sachen lassen einen Mann nicht mehr schlafen und berauben ihn seiner guten Gefühle.«
Borg ging schweigend neben mir her. Es kam mir so vor, als ob ich ihn denken hören könnte. Nach einer längeren Strecke des Schweigens drehte er seinen Kopf und sah auf mich herab. »Da hilft wohl nur ein starkes Bier und eine gute Frau«, sagte er in vollkommen ernstem Ton.
»Ja«, lachte ich. »Das sind wohl die einzigen Dinge, die immer helfen.«
Die Bäume wichen einem lichten Hügel. »Wir müssen noch den Hügel hinauf«, sagte ich. »Von da aus sehen wir dann schon den Hof.«
Der Hügel war nicht steil und auch nicht sonderlich hoch. Es war ein Leichtes, ihn zu besteigen. Oben angekommen sah ich das Haus meiner Kindheit. Ich war nie weit weg gewesen und doch kam es mir vor, als hätte ich eine Reise an den Rand der Welt unternommen.
Vor dem Haus spielten zwei Kinder. Ich erkannte von weitem, dass einer von ihnen mein jüngerer Bruder Sigbart war. Bei den Göttern, der kleine Sigbart war gewachsen! Es dürfte nun sein dreizehntes Jahr sein. Den anderen Jungen kannte ich nicht. Schätzungsweise war er gerade mal fünf Winter jung.
Borg und ich näherten uns dem Haus, das auf einem kleineren Hügel stand. Dahinter fing ein Hain an. Sigbart entdeckte uns und wusste wohl nicht recht, wer wir waren. Er rannte ins Haus, wohl um Mutter und Vater zu holen. Der andere Junge rannte Sigbart sofort hinterher. Ich hieß Borg zu warten und auch ich blieb mit ein bisschen Abstand zum Hof stehen. Vielleicht erkannten sie mich nicht und hielten mich für einen Angreifer.
Mein Vater Horald kam aus dem Haus, mit einem Schwert in der Hand. Er ging ein paar Schritte auf uns zu, ohne etwas zu sagen. Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten.
»Vater!«, rief ich.
Horald ließ sein Schwert fallen und kam auf mich zu gelaufen. Auch ich ließ meine Tasche fallen und ging auf ihn zu.
Hinter meinem Vater sah ich Sigbart heranstürmen. Er hielt eine Axt in der Hand und wollte auf mich losstürmen. »Er ist ein Betrüger!«, rief er.
Er rannte an Vater vorbei und zielte mit der Axt auf meinen Kopf. Mein Vater konnte nicht mehr reagieren, also musste ich es tun. Ich wich zur Seite aus und versetzte Sigbart einen so harten Schlag an den Kopf, dass er zu Boden ging und die Axt aus der Hand verlor.
»Du Narr! Wäre ich ein Betrüger, dann wärst du jetzt tot!«, schrie ich ihm entgegen.
»Mein Sohn lebt«, sagte mein Vater unter Tränen und schloss mich in seine starken Arme.
Er betrachtete mich. In seinem Gesicht war eine Mischung aus Stolz und Unsicherheit zu erkennen. »Du bist kräftig geworden. Schau dich nur an.« Er musterte mich und nach einer kurzen Zeit ruhte sein Blick auf meinem. »Du bist ein Mann geworden. Ich sehe es an deinem Blick. Ja … dich hat eine Schlacht gezeichnet.«
Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen und ich nickte nur. Er umarmte mich erneut und hielt mich fest. Er wusste um die Qualen, die ein Krieg in der Seele eines Mannes auslöste. »Komm. Wir gehen ins Haus.« Horalds Blick erfasste nun auch Borg. »Wen hast du mitgebracht?«
»Das ist Borg. Ein Freund von mir und mein Schlachtenbruder.«
Nun schaute ich mich um. Ich sah Sigbart und das etwas kleinere Kind neben ihm stehen.
»Wo ist Mutter?«, wollte ich wissen.
Mein Vater ließ den Blick fallen, während er meine Schultern hielt. »Sie starb vor vier Jahren, bei Halefs Geburt.«
Mein Herz wurde schwer und auch ich nahm meinen Vater bei den Schultern. »Das tut mir leid, Vater. Du hast sie sehr geliebt. Sie hat dir noch einen Sohn geschenkt?«
Er richtete seinen Blick wieder auf. »Komm, wir gehen alle ins Haus. Lasst uns essen und trinken. Heute ist ein freudiger Tag.«
Er grinste und drehte sich um. Mit schnellen Schritten ging er ins Haus und im Vorbeigehen sagte er zu den zwei Jungs: »Begrüßt euren Bruder Sigvart. Er hat bestimmt viele Geschichten mitgebracht, die er uns heute beim Essen erzählen wird.«
Die beiden Burschen kamen auf mich zu. Sigbart, der mich erst nicht erkannt hatte, lief nun mit schnellen Schritten auf mich zu und umarmte mich. »Ich habe dich vermisst, Sigvart.«
Ich lachte und streichelte seinen Kopf. Er war groß und stark geworden. Damals war er ungefähr sechs. Auch er mochte Abenteuer erleben und vor allem Jungfrauen retten. Das wollte er schon immer.
»Ich habe dich auch vermisst, Sigbart. Sei so gut und hilf Borg mit den Sachen. Dann können wir schnell essen.« Er nickte und lief zu Borg, um meine Tasche zu holen, und bat Borg hinein.
Währenddessen ging ich auf den kleinen Halef zu und kniete mich vor ihm hin. »Hallo Halef. Ich bin Sigvart, dein ältester Bruder. Es freut mich, dich kennenzulernen.« Ich streckte ihm eine Hand hin. Etwas schüchtern nahm er sie in seine kleine Hand.
»Hallo«, piepste er.
Wir gingen ins Haus. Horald hatte bereits einen Kessel aufgesetzt, in dem Wildfleisch kochte. Es gab Eintopf. Den hat Vater immer gemacht, wenn er eine gute Jagd hatte oder es etwas zu feiern gab. An diesem Tag war wohl beides der Fall. Vater holte ein paar Flaschen selbstgebrauten Bieres und Mets hervor und Sigbart verteilte die Becher auf dem Tisch. Borg roch genüsslich am Topf. Er liebte Eintopf fast noch mehr als Braten.
Wenig später saßen wir alle am Tisch, aßen und tranken. Ich erzählte Vater von meinen Erlebnissen auf der Straße und im Krieg. Er machte große Augen, als ich ihm erzählte, dass ich nun der Leibwächter von Jarl Thortryg dem Wolf war. Erst wollte er es nicht glauben, also zeigte ich ihm den schwarzen Wolfsmantel. Sein Gesicht verriet mir Stolz und Besorgnis. Besorgnis darüber, dass er vielleicht seinen ältesten Sohn begraben müsste, bevor er selbst sterben würde. Meine Brüder hingen wie gebannt an meinen Lippen. Sie wollten jede Einzelheit wissen. Ich erzählte nicht viel von der Schlacht. Nur, wie ich Jarl Thortryg gerettet habe und Thjodrec mich verletzt hat.
Mein Vater sah mir allerdings an, dass diese Schlacht meinen Geist sehr schwer belastete. Um das Thema zu wechseln, fragte er mit einem schelmischen Grinsen: »Wie sieht es mit einer Frau aus?«
Ich musste schmunzeln. »Tatsächlich rettete ich erst heute früh eine junge Frau vor ihrem grausamen Vater. Aber das war es auch schon. Für mehr habe ich momentan keine Zeit. Borg und ich müssen bald wieder zurück sein, um Jarl Thortryg zu dienen.«
Es war nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich ging mir das Gesicht von Weylef nicht mehr aus dem Kopf. Zwar sprach ich mit Borg viel über den Krieg, doch die Augen der schönsten Frau ließen meinen Geist nicht in Ruhe. Sie überdeckten die schrecklichen Bilder des Krieges.
Mein Bruder Sigbart zeigte großes Interesse daran, den Jarl kennenzulernen. Vater verwies ihn allerdings auf nächstes Jahr. Es war ein schöner Abend mit vielen Gesprächen und ausgelassener Stimmung.
Halef schlief schon lange, als Borg in sein Lager ging, das lediglich eine Überdachung neben dem Haupthaus war, um ebenfalls zu schlafen. Sigbart, mein Vater und ich gingen noch kurz nach draußen, um den Abendhimmel zu genießen.
Während mein Vater zum Mond blickte, sprach er: »Ich bin froh, nicht mehr kämpfen zu müssen. In vier Schlachten habe ich gekämpft für Thortrygs Vater. Alle vier waren grausam. Nur mit viel Glück habe ich sie überlebt.«
Auch ich hatte nicht vor, ewig zu kämpfen. Ich wollte irgendwann auch einen Hof haben und die Ruhe des Lebens genießen. Aber ich sagte nichts dazu.
Ein Feuerschein durchdrang die Nacht am gegenüberliegenden Hügel. Mein Vater und mein Bruder sahen es ebenfalls. Es sah aus, als hielte jemand eine Fackel. Dann landete sie auf dem Boden und eine Gestalt fiel neben daneben.
Mein Vater war der erste auf dem Hügel und beugte sich bereits über die Gestalt. Ich ging an seine Seite und erkannte ihr Gesicht.
»Wer ist sie?«, fragte mein Vater.
»Das ist Weylef. Die Frau, die ich heute vor ihrem Vater beschützt habe«, antwortete ich vollkommen erstaunt über ihr plötzliches Auftauchen.
Da sie bewusstlos war, trugen mein Vater und ich sie ins Haus und legten sie auf mein Lager, direkt rechts neben der Feuerstelle.
»Lass sie ausruhen, mein Junge«, sprach mein Vater, während seine Hand auf meiner Schulter ruhte. Er spürte meine Unsicherheit. Was sollte ich nur tun? In diesem Moment war mein Vater mein Schiff. Er gab mir Sicherheit und so ließ ich sie schlafen.
Am Morgen schreckte sie aus ihrem tiefen Schlaf hoch. Verwirrt schaute sie sich um.
»Ganz ruhig, Weylef. Du bist in Sicherheit«, sagte ich zu ihr. Ihr Blick verriet mir Erleichterung. Offenbar war sie auf der Suche nach mir gewesen.
»Sigvart.« Ihre Stimme überschlug sich. »Mein Vater war schrecklich wütend, nachdem Ihr ihn in der Gosse habt liegen lassen«, sprach sie weiter. »Er schlug mich erneut und meinte, Ihr könntet es ja versuchen, ihn zu töten. Ich stieß ihn fort und rannte, so schnell ich konnte. Am Tor griff ich schnell nach einer Fackel an der Holzwand. Die Wachen riefen mir zwar nach, doch ich beachtete sie nicht. Einzig das Glück führte mich hierher. Auf dem Hügel war ich allerdings zu erschöpft …« Ihre Stimme war weiterhin ganz aufgeregt.
Ich legte sie wieder hin. »Schhh … Ist ja gut. Du hast mich gefunden und ich passe auf dich auf. Dein Vater wird ein späteres Problem sein. Ruhe dich aus und komm zu Kräften. Ich schaue später nochmal nach dir.«
Sie legte sich hin und fiel direkt wieder in den Schlaf. Vor dem Haus hörte ich wie mein Vater Holz hackte. Also stand ich auf und ging hinaus zu meinem Vater.
»Ein wirklich schönes Mädchen ist das«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Ich hatte für so etwas keine Zeit. »Vater, ich muss nach Karpgat und ein Versprechen einlösen. Der Vater des Mädchens hat ihr wieder Gewalt angetan. Ich habe versprochen, ihn zu töten, wenn er es noch mal tut.«
Mein Vater stand aufrecht vor mir. »Ich verstehe. Aber lass dich nicht hinreißen zum Zorn. Handle bedacht und lass niemals das Gefühl der Rache über deinen Geist siegen.«
Nachdem ich ihn noch einmal umarmt habe, nahm ich mein Wolfsfell, meine Tasche und meine Axt.
Borg kam von dem Platz, an dem wir einen Tag zuvor stehen geblieben waren, auf mich zu. Der Hüne stolperte noch über einen Erdhaufen, der im höheren Gras versteckt sich erhob, bevor er den Fuß des Hügels erreichte. »Was ist los?«
»Ich muss jemanden töten. Komm, ich erkläre dir alles auf dem Weg«, antwortete ich.
Borg nahm ohne weitere Worte sein Schwert und kam mit mir.
Am späten Nachmittag kamen wir in Karpgat an. Ohne Umwege suchte ich Jarl Thortryg auf. Dieser empfing mich direkt. »Sigvart? Ich dachte, du seist bei deiner Familie?«, fragte er.
»Ja, Herr. Ich möchte Euch um Erlaubnis bitten, den Wirt in der Nähe des Krankenlagers herauszufordern, der seine Tochter misshandelt hat und dem ich versprochen habe, ihn zu töten, falls er es nochmal tut. Seine Tochter ist nun bei meiner Familie in Sicherheit und nun möchte ich diesen fetten Wirt töten. Er soll sich allerdings wehren dürfen.«
Thortryg runzelte die Stirn. »Hast du vor, diese Frau zu ehelichen?«
Ich dachte darüber einen kleinen Moment nach. »Ja«, war meine Antwort.
Thortryg stand auf. »Du bist meine Leibwache und du hast mein Vertrauen, weil du mir das Leben gerettet hast. Ich danke dir, dass du vorher zu mir gekommen bist. Es geht hier in diesem Fall um Ehre. Du hast dich schützend vor eine Frau gestellt, die du, wie du sagst, auch ehelichen möchtest. Der Täter hat sein Wort gebrochen und sein Opfer weiter misshandelt, obwohl du ihm versprochen hast, ihn zu töten, wenn er es noch einmal tut. Dass du ihn herausfordern willst und ihn nicht einfach getötet hast, ist ehrenhaft von dir. So gibst du den Göttern die Möglichkeit, über Recht und Unrecht zu urteilen«, sagte er.
»Ich glaube aufrichtig, dass er unrecht handelt und den Willen der Götter verdient, indem er mit mir in den Zweikampf geht.«
Thortryg wartete einen Moment. Schließlich befahl er: »So sei es. Holt diesen Wirt und bereitet die Kampffläche vor!«
Zwei Männer schwärmten aus, um den Wirt zu holen. Andere Männer kündigten einen Zweikampf an. Das Volk erfuhr, dass die Götter über einen Streit urteilen würden, wenn die Sonne ihren Niedergang antrat, am Fuß der Halle. Ich holte meinen Schild und überprüfte die Schärfe meiner Axt. Dann setzte ich mich vor die Halle und wartete. Borg saß in dieser Zeit in der Halle und bekam von einer drallen Dienerin etwas zu essen gereicht. Ich wunderte mich, wie diese Frau so kräftig werden konnte, bekamen Dienerinnen doch weniger zu essen und bewegten sich die ganze Zeit. Borg klopfte ihr auf den Hintern, als sie sich von ihm abwandte. Er starrte ihr lüstern hinterher.
Der Kampfplatz vor der Halle war rasch gefüllt. Die ganze Stadt wollte einen Zweikampf auf Leben und Tod sehen. Der Wirt wurde in den Kampfring geschleudert. Er wehrte er sich vehement dagegen.
»Hallo, Wirt«, rief ich. »Erkennst du mich noch?«
Ungläubig trat der Wirt ein paar Schritte fort von mir.
»Ich habe dir gesagt, dass ich dich töten würde, wenn du deiner Tochter … meiner baldigen Frau etwas antust.«
»Baldige Frau?«, fragte er verständnislos.
»Nimm deinen Schild und dein Schwert. Dann kämpfen wir.«
Der Wirt bekam einen Schild und ein Schwert in die Hand gedrückt. Er war sprachlos und wusste nicht, wie ihm geschah.
Thortryg stand am Eingang seiner Halle und erhob das Wort: »Bürger von Karpgat. Heute werden die Götter über Gerechtigkeit entscheiden. Diese beiden Männer kämpfen auf Leben und Tod.«
Währenddessen war Rolf aus der Halle getreten und stellte sich neben den Jarl. Ich sah, wie Rolf versuchte gegen dieses Urteil zu protestieren. Ich wusste nicht, wieso. Was wollte er von dem Wirt?
Meine Gedanken verloren sich kurz, was dem dicken Wirt auffiel. Er stürmte auf mich los, ohne dass Jarl Thortryg das Kommando zum Kampf gegeben hatte. Das war ein Zeichen seiner Niedertracht, die ich nur allzu gerne bestrafte. Rechtzeitig duckte ich mich unter seinem Schwert weg, doch dann zeigte er eine erstaunliche Geschwindigkeit.
Ich spürte nur, wie sein Schild mich wegdrückte. Mit seiner reinen Körpermasse war er mir überlegen. Eine Drehung von mir gegen seinen Druck brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er fiel. Sein Schild donnerte auf den Boden und auch sein Schwert ließ er fallen. Reine Kraft ist dem Verstand eines Mannes nicht gewachsen. Ich trat sein Schwert weg, denn dieses fette Wiesel sollte nicht nach Walhalla gehen. Er versuchte, sich zu seinem Schild zu schieben. Doch ich trat auf seinen Arm und ließ meine Axt auf seine Hand schnellen. Genau unter den Fingergliedern durchtrennte ich das Fleisch und die Knochen. Sein Schmerzensschrei war markerschütternd.
Ich griff nach den Fingern, hielt sie hoch, so dass jeder sie sehen konnte, und rief: »Mit diesen Fingern schlug er auf meine zukünftige Frau ein. Schlimmer noch. Es war seine eigene Tochter. Er fasste sie mit diesen Fingern an, um seine eigene Lust zu steigern.«
Die Menge raunte und ich warf die Finger in verschiedene Richtungen davon.
Währenddessen rutschte der dicke Wirt auf dem Boden herum, um mehr Abstand zu mir zu gewinnen. Doch ich kam mit schnellen Schritten und einem entschlossenen Blick auf ihn zu. Ich trat ihm ins Gesicht, so dass er das Bewusstsein verlor. Dann hackte ich ihm noch die andere Hand ab und warf auch diese in die Menge.
Durch den Schmerz gewann der geschändete Mann wieder das Bewusstsein und brüllte. Ich drückte meine Stirn auf seine und flüsterte ihm zu: »Ich sagte doch, dass ich euch hier in der ganzen Stadt verteile.«
Mein Blick war fest auf seine Augen gerichtet, die nun erschrocken zu mir aufblickten. Der Wirt spürte, wie seine Bauchdecke von meiner Axt durchschnitten wurde und ich sein Inneres nach außen riss. So ließ ich ihn ausbluten, bis kein Zucken oder Röcheln mehr von ihm zu sehen oder zu hören war.
Blutverschmiert stand ich in der Menge. Einige der Anwesenden sahen mich schockiert an, andere blickten ungläubig auf den toten Wirt. Es war still. Nicht einmal Thortryg vermochte etwas zu sagen.
»Bürger von Karpgat«, rief ich, »die Götter haben sich entschieden, diesen Mann sterben zu lassen. Sein Schicksal dient als Warnung. Solange ich in der Stadt umherstreife, wird es jedem Mann so ergehen, der sich an seiner Tochter oder Frau so vergreift, wie es dieser fette Wirt getan hat. Er wird nicht nach Walhalla gehen, sondern ohne Hände nach Helheim wandern. Verzweifelt wird er versuchen, seine Eingeweide festzuhalten, um vor dem Seelenverschlinger wegzulaufen.«
Thortryg stand von seinem Platz auf und kam zu mir. Als er neben mir stand, blickte auch er in die Menge. »Die Götter haben gesprochen. Sigvart ist der Sieger.«
Er hob meinen Arm in die Luft und die Menge fing an zu jubeln. Es war ein seltsames Gefühl. Ich bekam Zustimmung dafür, dass ich einen Mann getötet habe.
Ich hatte noch Zeit, mich an einem Wasserfass zu waschen, ehe Jarl Thortryg, Borg, ich und ein paar weitere Männer von der Wolfshorde wieder in der Halle saßen und Bier tranken. Rolf, der sich ebenfalls wieder in die Halle begeben hatte, schaute mich immer wieder aus den Augenwinkeln an. In seinem Blick lag etwas Verächtliches.
Jarl Thortryg beugte sich zu mir rüber. »Was hast du nun vor?«
»Ich werde Weylef heiraten und sie wird auf meinem Hof leben. Sie wird meinem Vater helfen und nach der Hochzeit kehre ich zu Euch zurück«, antwortete ich. Und ich fügte hinzu: »Wenn Ihr gestattet, Herr.«
Jarl Thortryg nickte und stieß mit mir an. Ich trank meinen Becher aus, stand auf und verbeugte mich zum Abschied. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich nicht wusste, wie ich mich dem Jarl gegenüber verhalten sollte. Er hat es mir noch nicht gesagt. Ich spürte Rolfs Blick auf meinem Rücken, aber ich drehte mich nicht um. Diese Nacht verbrachte ich noch in der Halle, bei meinem Freund Borg und meinem Jarl Thortryg. Er war mittlerweile auch so etwas wie ein Freund geworden.
Thortryg liebte es zu feiern. Stets war er der letzte, der sich im Suff erhob und in sein Bett fiel, während Borg eher ein trinkender Glücksspieler war. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würfelte er oder versuchte seine Kraft mit anderen Kriegern zu messen. Nicht selten endete das Ganze in einer Schlägerei, die Borg öfter gewann als verlor. Thortryg mochte es, den Schlägereien zuzusehen, doch wenn die Männer unfair kämpften, mit Tritten gegen die Eier oder durch Blendung der Augen, erhob der Jarl seine mächtige Stimme und brachte die Halle damit zum Schweigen. Wer ungerecht kämpfte, wurde aus der Halle geworfen.
Hier und da unterhielt ich mich mit den anderen Wölfen, doch überwiegend hielt ich mich bei Borg und dem Jarl auf, die sich auch gut miteinander verstanden. Witze wurden über ungeschickte betrunkene Männer gemacht, während wir selbst einen Krug nach dem anderen leerten.
Nachdem ich es geschafft hatte, dass die ganze Welt sich um mich drehte, landete mein Kopf hart auf dem Tisch und nichts mehr aus der Halle drang an mein Ohr.
Mit dem ersten Licht des Tages verließ ich Karpgat und machte mich wieder auf den Weg zurück zu meiner Familie.
Ich sah meinen Bruder Sigbart am Mittag holzhacken. Vater reparierte gerade das Dach des Wohnhauses und Weylef spielte mit meinem kleinsten Bruder Halef. Sie sahen mich kommen und begrüßten mich. Mein Vater schloss mich in die Arme, wie auch meine Brüder. Auch ich schloss meine Familie in die Arme, doch ich muss gestehen, ich hatte nur Augen für Weylef. Sie sah mich aus einiger Entfernung unsicher an mit ihren braunen Augen, die mich direkt jeden Schrecken vergessen ließen. Nachdem ich die Umarmung mit Sigbart gelöst hatte, ging zu ihr und nahm ihre Hände.
»Dein Vater ist tot. Ich tat, was ich ihm versprochen hatte«, sagte ich.
Sie senkte den Blick und verharrte kurz. Dann nickte sie und blickte mir wieder in die Augen. »Danke«, flüsterte sie.
»Das ist noch nicht alles.«
Fragend und neugierig sah sie zu mir auf.
»Ich musste dich als meine zukünftige Frau angeben, damit ich mit deinem Vater kämpfen konnte. Du wirst also bei mir bleiben. Mein Vater darf unser Band besiegeln.«
Sie lächelte leicht und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie drückte sich an mich und hielt mich fest. Ich flüsterte ihr zu: »Du wirst nie etwas tun müssen, was dir nicht gefällt, und ich werde dir niemals wehtun.«
Ich bemerkte, wie sie anfing zu weinen und mich noch fester drückte. Offenbar aus Dankbarkeit, dass ich diesen Schritt gewagt habe.
Wie doch das Leben sich in wenigen Tagen ändern kann. Ich schickte Sigbart nach Karpgat. Er sollte Jarl Thortryg einladen und ihm den Weg zu uns erklären.
Es verging eine Woche, bis Jarl Thortryg auf dem Hof meines Vaters eintraf, um bei der Hochzeit dabei zu sein. Er hatte sich herausgeputzt. Ein edles Gewand aus rotem Stoff und mit goldenem Saum bedeckte ihn. Er trug eine große Gürtelschnalle mit der Wolfsrune darauf.
An seiner Seite ritt eine junge Frau. Auch sie war in Rot und Gold gekleidet und trug ihr Haar zu einem Zopf geflochten. Er stellte sie als Riga vor. Seine zukünftige Frau. Sie sollten eine Woche später heiraten.
Mein Vater begrüßte alle Gäste. Er zeigte sich nervös in Anbetracht der Umstände. Dauernd lief er auf und ab. Verlangte von Sigbart ganz widersprüchliche Sachen. Einmal sollte er einen Eimer holen und schon beim nächsten Herzschlag sollte Sigbart eine Schnur holen. Wir wussten alle nicht, wofür er diese Sachen brauchte.
Als Weylef aus der Haustür trat, verschlug es mir den Atem. Sie trug ein einfaches, weißes Leinenkleid, das mit bunten Blumen geschmückt war. Ihr Haar trug sie offen und auch darin waren ein paar Blumen eingeflochten. Sie war so bezaubernd. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie glücklich und aufgeregt war. Sie hatte rote Wangen und ihr Blick ging von Gast zu Gast.
Ich streckte meine Hand aus und zusammen standen wir vor unseren Freunden und unserer Familie. Auch wenn es ein kleiner Kreis war, so war es ein Kreis der wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Mein Vater führte uns in den angrenzenden Wald und dort zu einer Lichtung. In ihrer Mitte stand eine mächtige Eiche. Ich war vorher noch nie an diesem Ort gewesen. Die Eiche sah aus wie ein Baum der Götter. Ebenso alt und ebenso kraftvoll.
Mein Vater wies uns unsere Plätze direkt vor der Eiche zu. Er hatte dort das Holz aus dem Wald so gestapelt und geschmückt, dass es wie ein Schrein aussah. Nachdem sich alle versammelt hatten, begann er zu sprechen.
»Hier an diesem Platz, auf dem eine Donareiche steht, besiegeln wir den Bund zwischen Sigvart Horalds Sohn, genannt Fenris, und Weylef aus Karpgat. Sie werden nach der Zeremonie als Mann und Frau weiterleben. Doch zuerst …«
Er nahm ein Leinentuch und band es um unsere Hände.
»Schwört ihr im Angesicht der Donareiche, die Natur zu ehren und im Einklang mit den Göttern zu leben, auf dass sie euch wohlgesonnen sind?«
Weylef und ich nickten gleichzeitig und sagten: »Ich schwöre.«
Mein Vater nickte zufrieden und sprach weiter: »Hiermit bestätigen alle hier Anwesenden den Bund zwischen Sigvart und Weylef.«
Mein Vater, meine beiden Brüder, Borg und Jarl Thortryg mit seiner Frau jubelten. Das Gefolge von Jarl Thortryg stand mit etwas Abstand zu uns. Es waren nicht viele, denn auch Jarl Thortryg legte großen Wert darauf, nicht wie ein großer Herrscher aufzutreten, sondern sich volksnah zu geben.
Und mein Vater fügte hinzu: »Und nun lasst uns feiern!«
Wir gingen wieder zurück zum Hof und feierten ein kleines, aber sehr schönes Fest. Am Abend verabschiedete sich der Jarl und ritt mit seinem Gefolge in die Nacht hinaus. Ich würde mich ihm bald anschließen, aber diese Nacht war nur für mich und Weylef bestimmt.
Ich durfte noch eine weitere Woche bei meiner Familie verbringen, bevor ich mit Borg aufbrach, um nach Karpgat zu gehen.
Es war an der Zeit, meinen Dienst bei Jarl Thortryg anzutreten.