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1Einführung in die Gruppenpsychologie

Menschen aller bekannten Populationen leben in Gruppen; die Fähigkeit, Gruppen zu bilden ist eine Universalie der Spezies Mensch. Im Vergleich zu den meisten anderen sozialen Lebewesen ist das Gruppenverhalten des Menschen ausgesprochen vielfältig und differenziert. Menschen können zu vielen unterschiedlichen Gruppen gehören, in diesen Gruppen unterschiedliche Rollen und Positionen einnehmen, ihre Gruppenzugehörigkeiten wechseln und eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppenziele verfolgen. Im Folgenden werden wir zunächst einige grundlegende Begriffe der sozialpsychologischen Forschung zu Gruppenprozessen und Intergruppenverhalten erläutern.

1.1Begriffsbestimmung

Der Gruppenbegriff wird in der Sozialpsychologie je nach Forschungstradition unterschiedlich definiert. Die meisten Sozialpsychologinnen und -psychologen stimmen aber darin überein, dass es für das psychologische Verständnis von Gruppenprozessen entscheidend ist, inwieweit sich Personen selbst als Gruppe definieren. Sie gehen daher von einem Gruppenbegriff aus, der die subjektive Sicht der Gruppenmitglieder, Teil einer Gruppe zu sein, zum zentralen Definitionskriterium erhebt (Tajfel/Turner 1986).

Soziale Gruppe: Eine Menge von Individuen, die sich selbst als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahrnehmen und ein gewisses Maß an emotionaler Bindung bezüglich dieser gemeinsamen Selbstdefinition teilen. Die Gruppe, zu der ein Individuum sich zugehörig fühlt, wird als „Eigengruppe“ bezeichnet, eine im sozialen Kontext relevante Vergleichsgruppe als „Fremdgruppe“.

Der sozialpsychologische Gruppenbegriff lässt sich sowohl auf Kleingruppen anwenden, in denen die Möglichkeit direkter („Face-to-Face-“)Interaktionen zwischen allen Gruppenmitgliedern besteht (Arbeitsgruppen, Teams etc.), als auch auf soziale Kategorien, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht (Männer, Psychologen, Deutsche etc.). In der Sozialpsychologie werden die Begriffe „soziale Kategorie“ und „Gruppe“ daher typischerweise synonym verwendet.

Der Begriff „Entitativität“ bezieht sich darauf, inwieweit eine Ansammlung von Personen vom sozialen Beobachter als kohärente soziale Einheit wahrgenommen wird (bzw. seinem „prototypischen“ Bild einer Gruppe entspricht). Im Allgemeinen werden Gruppen, bei denen ein hohes Maß an Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern besteht, als besonders entitativ angesehen – z. B. Familien oder Teams (Lickel et al. 2000).

Der Begriff „Gruppenkohäsion“ bezieht sich auf den inneren Zusammenhalt einer Gruppe (das „Wir-Gefühl“), der u. a. durch die Intensität und emotionale Qualität der Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander zum Ausdruck kommt. Gruppenkohäsion ist eine variable Eigenschaft einer Gruppe: Sie kann zwischen Gruppen, zwischen unterschiedlichen sozialen Kontexten und über die Zeit hinweg variieren.

Der Begriff der „sozialen (oder auch kollektiven) Identifikation“ bezieht sich wiederum auf die psychologische Beziehung zwischen einem einzelnen Gruppenmitglied und der Gruppe. Soziale Identifikation wird als ein Konstrukt aufgefasst, das aus mehreren Komponenten besteht (Leach et al. 2008). Auf abstraktem Niveau reflektieren diese Komponenten:

welchen Stellenwert die Gruppenmitgliedschaft für die Selbstdefinition einer Person hat und

wie viel eine Person emotional in ihre Gruppenmitgliedschaft investiert.

Aufgrund unterschiedlicher individueller Erfahrungen können sich einzelne Gruppenmitglieder unterschiedlich stark mit ihrer Gruppe identifizieren; die Stärke dieser Identifikation kann außerdem mit dem sozialen Kontext variieren. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die psychologische Beziehung zwischen Individuum und Gruppe ist, ob die Gruppenzugehörigkeit selbst gewählt worden ist (z. B. die Mitgliedschaft in einer Freizeitsportgruppe oder einer politischen Partei) oder ob sie durch soziale Strukturen oder die Behandlungen anderer Personen vorgegeben ist (z. B. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie basierend auf dem Geschlecht, der Ethnie oder der sexuellen Orientierung).

Für das Erleben der Gruppenzugehörigkeit ist ferner relevant, ob es sich bei der Gruppe um eine soziale „Minoritätsgruppe“ oder um eine „Majoritätsgruppe“ handelt. Minoritäten haben (mit Ausnahmen von Eliten) typischerweise einen niedrigeren sozialen Status innerhalb der Gesellschaft als Majoritäten und verfügen nicht selten über eingeschränkte gesellschaftliche Rechte oder Ressourcen. Forschungsergebnisse zeigen, dass Minoritätsangehörigen im Vergleich zu Majoritätsangehörigen ihre Gruppenzugehörigkeit in sozialen Situationen häufiger präsent ist, wobei sie gleichzeitig in geringerem Maße positive Gefühlszustände aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit erleben (Lücken/Simon 2005).

1.2Grundlegende theoretische Perspektiven der Gruppenforschung

Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen – und angesichts des Zweckes des vorliegenden Buches notwendigerweise selektiven – Überblick über einflussreiche theoretische Perspektiven der sozialpsychologischen Gruppenforschung.

1.2.1Persönlichkeit und individuelle Differenzen

Die historische Entwicklung der sozialpsychologischen (Inter-)Gruppenforschung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von zwei unterschiedlichen Perspektiven dieser Zeit geprägt: einerseits von Forschungsarbeiten, die kollektive Phänomene wie Kultur, Massen, Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Gruppen in den Mittelpunkt stellten; andererseits von Forschungsarbeiten der experimentellen Psychologie, die sich auf die Erforschung individueller Phänomene beschränkte.

Letzter Ansatz geht davon aus, dass sich das Verhalten von Menschen in Gruppen (wie das Verhalten von Menschen allgemein) unmittelbar aus ihren individuellen Eigenschaften, Präferenzen und Interessen ableiten lässt. Um es mit Floyd Allport, dem Verfasser eines der ersten Lehrbücher für Sozialpsychologie auszudrücken: „There is no psychology of groups which is not essentially and entirely a psychology of individuals“ (Allport 1924, 4).

Die sozialpsychologische Forschung hat eine Vielzahl von Persönlichkeitseigenschaften und individuellen Differenzen identifiziert, die einen Beitrag zur Erklärung von Gruppenverhalten leisten (➔ z. B. in Kapitel 3: individuelles Selbstwertgefühl als Moderator der Effekte der Anwesenheit anderer Personen auf die eigene Leistung; in Kapitel 5: soziale Dominanzorientierung als Determinante von Vorurteilen; in Kapitel 7: politische Selbstwirksamkeitserwartung als Erklärung interindividueller Differenzen politischer Partizipation). Persönlichkeits- oder eigenschaftsbasierte Ansätze erklären allerdings nur unzureichend, warum sich Menschen als Mitglieder von Gruppen häufig anders verhalten als es ihre persönlichen Eigenschaften erwarten lassen (z. B. kooperativer und freundlicher gegenüber Mitgliedern ihrer Eigengruppe und wettbewerbsorientierter und feindseliger gegenüber Mitgliedern einer Fremdgruppe). Tatsächlich legt die empirische Forschung, entgegen dem Allport’schen Postulat, eine Diskontinuität zwischen individuellem Verhalten und Gruppenverhalten nahe, sodass man nicht einfach von den Eigenschaften von Individuen auf ihr Verhalten in Gruppensituationen extrapolieren kann (Sherif 1962, 5).

1.2.2Austausch und Interdependenz

„Austausch- oder Interdependenztheorien“ sehen in der wechselseitigen Abhängigkeit von Menschen in sozialen Interaktionen und Beziehungen den Schlüssel zum Verständnis von Interaktionen in Gruppen (z. B. Blau 1964; Thibaut/Kelley 1959). Die Kernannahmen dieser Perspektive sind wie folgt: Menschen sind im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse voneinander abhängig (interdependent). Die Bildung von relativ zeitstabilen Gruppen ermöglicht einen sicheren und vorhersehbaren wechselseitigen Austausch von materiellen und immateriellen Ressourcen. Durch Kooperationen mit anderen Gruppenmitgliedern können zudem Ziele erreicht werden, die individuell nicht erreicht werden könnten. Da Menschen in Gruppen ihre Beziehungen, Regeln und Ziele aufeinander abstimmen und gemeinsam definieren müssen, lassen sich ihre Verhaltensweisen nicht einfach aus ihren individuellen Eigenschaften ableiten; eine Gruppe selbst verhält sich dementsprechend typischerweise auch anders als die Summe ihrer Mitglieder.

Im Einklang mit „Theorien der rationalen Entscheidung“ („Rational-Choice Theories“) gehen Vertreter von Austausch- oder Interdependenzansätzen zudem davon aus, dass Menschen Interaktionen, die instrumentell für die individuelle Zielerreichung sind, als positiv empfinden und sie dementsprechend wiederholen. Sie schließen sich daher Gruppen an und verbleiben in ihnen, wenn sie erwarten, dass die Interaktionen innerhalb von Gruppen zu positiven Ergebnissen für sie führen; sie verlassen die Gruppe, wenn die Bedürfnisbefriedigung unter den Erwartungen bleibt und sich positivere Alternativen für die Realisierung individueller Ziele bieten. Die Annahme der wechselseitigen Abhängigkeit als einer zentralen psychologischen Grundlage für Gruppenprozesse findet sich in zahlreichen Ansätzen der Forschung zu zwischenmenschlichen Interaktionen innerhalb von Gruppen. So basieren Erklärungsansätze zum sozialen Einfluss (➔ Kapitel 2) beispielsweise auf der Prämisse, dass sich Menschen von anderen Menschen beeinflussen lassen, da sie im Hinblick auf die Validierung ihres Bildes von der Realität (informationaler Einfluss) oder auf ihr Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit (normativer Einfluss) auf andere Gruppenmitglieder angewiesen sind.

Die Interdependenzannahme spielt auch eine zentrale Rolle bei der Erforschung von Kooperationsverhalten in Gruppen (➔ Kapitel 3). Darüber hinaus liefert sie auch einen Ausgangspunkt für die Erklärung intergruppalen Verhaltens. So postuliert die in Kapitel 5 dargestellte „Theorie des realistischen Gruppenkonfliktes“ von Sherif et al. (z. B. Sherif 1966) beispielsweise, dass Vorurteile und Konflikte zwischen Gruppen dann entstehen, wenn innerhalb der Gruppen die Wahrnehmung vorherrscht, sie seien im Hinblick auf ein Ziel negativ interdependent (d. h., wenn eine Gruppe eine Ressource nur zulasten der anderen Gruppe nutzen kann).

1.2.3Soziale Kategorisierung und soziale Identität

Der „soziale Identitätsansatz“, der die „Theorie der sozialen Identität“ (Tajfel/Turner 1986) und ihre Weiterentwicklung in Form der „Selbstkategorisierungstheorie“ (Turner et al. 1987) umfasst, betont die kognitiven Grundlagen der Gruppenbildung. Diesem Ansatz zufolge ist Interdependenz zwar eine hinreichende, nicht aber eine notwendige Bedingung dafür, dass Menschen Gruppen bilden und sich entsprechend ihrer Gruppenzugehörigkeit verhalten. Notwendig ist vielmehr, dass Personen sich selbst und andere Personen als gleiche (austauschbare) Elemente einer sozialen Kategorie wahrnehmen. Ausgangspunkt der Entwicklung des sozialen Identitätsansatzes waren Ergebnisse der Experimente mit minimalen Gruppen von Tajfel und Mitarbeitern (z. B. Tajfel et al. 1971).

In einem paradigmatischen Experiment von Tajfel et al. (1971, Exp. 2) wurden die Untersuchungspersonen (14- bis 15-jährige Schüler) auf der Basis ihrer angeblichen Präferenzen für einen von zwei abstrakten Malern (Klee oder Kandinsky) in zwei Gruppen eingeteilt – tatsächlich erfolgte die Einteilung nach dem Zufallsprinzip. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurden sie gebeten, kleinere Geldbeträge zwei anderen Personen zuzuteilen, von denen jeweils eine Person zur Eigen- und die andere zur Fremdgruppe gehörte. Sich selbst konnten die Untersuchungspersonen kein Geld zuteilen. Die Gruppen werden als „minimal“ bezeichnet, da zentrale Bedingungen, die üblicherweise in Gruppensituationen vorherrschen, durch das experimentelle Paradigma gezielt ausgeschlossen wurden. So bestand weder innerhalb noch zwischen den Gruppen Face-to-Face-Interaktion, die Untersuchungspersonen wussten nicht, wer in der Eigen- und wer in der Fremdgruppe war, es bestand keine rationale oder instrumentelle Verbindung zwischen der Gruppeneinteilung und der Art der Aufgabe und die Zuteilung brachte keinen persönlichen Vorteil (d. h., die Gruppenmitglieder waren nicht interdependent). Gruppenstiftend war allein die Kategorisierungsinformation.

Überraschenderweise war schon unter diesen minimalen Bedingungen und in Abwesenheit von Interdependenz eine systematische Tendenz zur Bevorzugung der Mitglieder der Eigengruppe gegenüber Mitgliedern der Fremdgruppe zu beobachten.

Das Herzstück der Erklärung für die in den Minimalgruppenexperimenten beobachteten Effekte aus der Perspektive des sozialen Identitätsansatzes ist das Konzept der sozialen Identität. Der „Theorie der sozialen Identität“ zufolge stellt die Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppen die psychologische Basis dafür dar, dass sich Personen nicht länger im Sinne ihrer individuellen Identität, sondern auf der Basis ihrer Gruppenzugehörigkeit hinsichtlich ihrer sozialen Identität definieren. Formen der sozialen Diskriminierung, wie sie in basaler Form in minimalen Gruppenexperimenten zu beobachten sind, lassen sich dieser Perspektive zufolge als eine Strategie verstehen, eine positive soziale Identität herzustellen.

Die „Selbstkategorisierungstheorie“ hat die Bedeutung des Konzeptes der sozialen Identität zur Erklärung von Verhalten innerhalb und zwischen Gruppen weiter ausgearbeitet. Der Begriff „personale Identität“ bezieht sich in diesem Forschungszusammenhang auf eine Definition einer Person als einzigartiges und unverwechselbares Individuum, die auf einer interpersonalen Differenzierung auf der Basis individueller Merkmale beruht („ich“ vs. „du“ oder „ihr“). Der Begriff der „sozialen Identität“ bezieht sich demgegenüber auf eine Selbstdefinition als austauschbares Gruppenmitglied, die aus einer intergruppalen Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdgruppe auf der Basis gruppentypischer Merkmale resultiert („wir“ vs. „die“). Relativ zur personalen Identität basiert die soziale Identität auf einer inklusiveren Selbstdefinition, da die Mitglieder einer Gruppe oder sozialen Kategorie, zu der die Person gehört (der Eigengruppe), in die Selbstdefinition eingeschlossen werden („wir Psychologen“, „wir Deutschen“ etc.).

Vertreter des sozialen Identitätsansatzes nehmen an, dass in dem Maße, in dem sich Menschen im Sinne ihrer sozialen Identität definieren, das Erleben und Verhalten dieser Person durch die in der entsprechenden Gruppe vorherrschenden Werte, Normen, Einstellungen etc. beeinflusst wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass personale und soziale Identität nicht als statische Konzepte zu verstehen sind, sondern als dynamisch und kontextabhängig. Eine Person kann sich also, je nach Kontextbedingungen in einer Interaktionssituation in erster Linie als Mann sehen (im Unterschied zu den anwesenden Frauen), in der nächsten als Psychologe (im Unterschied zu den anwesenden Biologen) und in der darauffolgenden als einzigartiges Individuum, wobei jeweils die entsprechenden identitätsspezifischen Werte, Normen und Einstellungen das Erleben und Verhalten bestimmen. Der soziale Identitätsansatz hat zu einer Vielzahl von Erklärungen für intragruppale Prozesse (➔ z. B. in Kapitel 2: sozialer Einfluss; in Kapitel 3: Führungsverhalten) oder intergruppale Prozesse beigetragen (➔ z. B. in Kapitel 4: Stereotype und Vorurteile; in Kapitel 5: Konflikte zwischen Gruppen).

1.2.4Soziale Kognitionen

Eine weitere einflussreiche Perspektive im Kontext der Gruppenforschung, insbesondere der Erforschung von Intergruppenprozessen, ist die soziale Kognitionsforschung. Generalthema der sozialen Kognitionsforschung ist die Frage, wie Menschen Informationen über andere Menschen und Gruppen verarbeiten, wie diese Informationen mental organisiert, gespeichert und abgerufen werden und wie sich diese Verarbeitungsprozesse auf die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität auswirken (Bless et al. 2004; Fiske/Taylor 1991).

Die soziale Kognitionsforschung stellt kein einheitliches theoretisches Rahmenwerk für die Analyse von Gruppenprozessen dar; vielmehr basieren die unter dieser Forschungsperspektive entwickelten Erklärungsansätze und Modelle auf einer Reihe von gemeinsamen Prämissen. Eine dieser Prämissen ist, dass sich Informationsverarbeitungsprozesse dahingehend unterscheiden lassen, inwieweit sie automatisch oder kontrolliert verlaufen. Automatische Prozesse sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie wenig kognitive Ressourcen verbrauchen, nicht kontrolliert werden müssen (oder kontrolliert werden können) und unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen (z. B. Bargh 1999). Kontrollierte Prozesse benötigen demgegenüber erhebliche kognitive Ressourcen, sie erfordern aktive Regulation, die von einer Person (zumindest teilweise) bewusst gesteuert werden kann. Das Kontinuum-Modell von Susan Fiske und Steven Neuberg (z. B. Fiske/Neuberg 1990) – eines der einflussreichsten Modelle zur Frage, wie sich Menschen Eindrücke von anderen Menschen bilden – geht beispielsweise davon aus, dass die Eindrucksbildung stets mit einer automatischen Kategorisierung der fremden Person beginnt, die auf der Grundlage leicht beobachtbarer Merkmale erfolgt (z. B. der Hautfarbe, dem Geschlecht oder dem Alter). Die Zielperson wird also zunächst – ohne dass der Wahrnehmende dies beabsichtigt – im Sinne ihrer Kategorienzugehörigkeit und der damit assoziierten stereotypischen Eigenschaften wahrgenommen (z. B. als Schwarzer). Nur wenn die Motivation zu einer kontrollierten Form der Informationsverarbeitung vorhanden ist, wird die kategorien- oder stereotypenbasierte Informationsverarbeitung zugunsten einer eigenschaftsbasierten Informationsverarbeitung aufgegeben, bei der die wahrnehmende Person Schritt für Schritt die individuellen Eigenschaften und Merkmale der Zielperson bei der Eindrucksbildung berücksichtigt (z. B. Colin, ein 25-jähriger dunkelhäutiger Psychologiestudent, der gern über politische Themen diskutiert und gut Fußball spielt).

Die Unterscheidung zwischen automatischer und kontrollierter Informationsverarbeitung bei der Eindrucksbildung wird auch von der sozial-neurowissenschaftlichen Forschung unterstützt. Studien zeigen, dass bei einer subliminalen Darbietung von Bildern von (ethnischen) Fremdgruppenmitgliedern eine stärkere Aktivierung der Amygdala (einer mit Emotionen assoziierten Hirnregion) erfolgt als bei Bildern von Eigengruppenmitgliedern. Bei längerem (bewusstem) Betrachten von Fremdgruppenbildern scheinen hingegen Regionen, die für die Regulierung und Kontrolle von Reaktionen zuständig sind, vermehrt aktiviert zu sein (für einen Überblick: Ito/Bartholow 2009).

Die soziale Kognitionsforschung hat zahlreiche Modelle und empirische Befunde hervorgebracht, die für die Erklärung von Verhalten innerhalb und zwischen Gruppen von grundlegender Bedeutung sind (➔ z. B. in Kapitel 3: Verarbeitung von Minoritäts- oder Majoritätsargumenten; in Kapitel 4: reflexive Reaktionen auf Stigmata).

1.3Gruppensozialisation

Wie „funktionieren“ Gruppen? Welche Phasen der Gruppensozialisation lassen sich unterscheiden?

1.3.1Normen und Rollen

Das individuelle Verhalten der Gruppenmitglieder wird durch soziale Normen koordiniert. Soziale Normen sind von den Gruppenmitgliedern konsensual geteilte Erwartungen; sie beziehen sich darauf, wie man sich als Gruppenmitglied in bestimmten sozialen Situationen verhalten sollte (und wie nicht). Das Befolgen dieser Erwartungen wird in vorhersehbarer Weise positiv, die Abweichung negativ sozial sanktioniert. Normen sind sozial (gesellschaftlich oder kulturell) bedingt und variieren daher zwischen Gruppen (Gesellschaften oder Kulturen). Soziale Normen können sich sowohl auf das Verhalten der Mitglieder innerhalb der Gruppe beziehen als auch darauf, wie sich Mitglieder der jeweiligen Gruppe gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen verhalten sollen. Soziale Normen dienen u. a. den folgenden Funktionen (Cartwright/Zander 1968):

Gruppenlokomotion: Normen gewährleisten die Übereinstimmung der Gruppenmitglieder im Hinblick auf die Gruppenziele und die Zielerreichung.

Aufrechterhaltung der Gruppe: Normen führen zu einer Stabilisierung von Verhaltenserwartungen – eine wichtige Voraussetzung für befriedigende Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern.

Interpretation der sozialen Wirklichkeit: Normen kreieren und erhalten einen gemeinschaftlich geteilten Bezugs- und Interpretationsrahmen für die Bewertung von Ereignissen und Verhaltensweisen.

Definition der Beziehungen zur sozialen Umwelt: Normen dienen der Gruppe dazu, sich von anderen Gruppen abzugrenzen oder zu unterscheiden. Sie definieren die „Identität“ der Gruppe.

Bei der Untersuchung des Einflusses von Normen auf individuelles Verhalten hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen zwei Typen von Normen zu unterscheiden: „injunktive Normen“ und „deskriptive Normen“. Der Begriff „injunktive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung, welches Verhalten von anderen gebilligt wird und welches nicht („Man soll seinen Abfall nicht einfach herumliegen lassen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten durch die Antizipation von Belohnungen (oder Bestrafungen) für normatives (oder nicht normatives) Verhalten.

Der Begriff „deskriptive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung der Gruppenmitglieder, wie sich die meisten für gewöhnlich in einer Situation verhalten („Im Kino lassen die meisten ihren Abfall liegen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten dadurch, dass sie darüber informieren, was offenbar angemessen oder sinnvoll ist („Wenn alle es tun, wird es seine Richtigkeit haben.“). Je nach sozialer Situation können diese Normen gegensätzliche Verhaltensweisen stimulieren (Kallgren et al. 2000). An welcher Norm (injunktiv vs. deskriptiv) sich Menschen in einer konkreten sozialen Situation orientieren, hängt von der situativen Salienz der Norm ab. Die Forschung zeigt, dass sich Menschen über den Einfluss von Normen auf ihr eigenes Verhalten nur selten bewusst sind.

Während soziale Normen definieren, wie sich Gruppenmitglieder im Allgemeinen zu verhalten haben, definieren soziale Rollen, wie Menschen sich verhalten sollen, die eine bestimmte Position innerhalb einer Gruppe (oder im weiteren Sinne einer Gesellschaft) innehaben (z. B. Berufsrollen, Geschlechtsrollen, familiäre Rollen). Ebenso wie Gruppennormen erleichtern soziale Rollen das koordinierte Handeln innerhalb von Gruppen, da sie Handlungsroutinen und Skripte für soziale Interaktionen bereitstellen und soziale Interaktionen durch Standardisierung vorhersehbar machen.

1.3.2Phasen der Gruppensozialisation

Moreland und Levine (1982) haben ein Modell vorgestellt, das den Gruppensozialisationsprozess beschreibt und erklärt. Es wird angenommen, dass sich die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe über die Zeit hinweg systematisch verändert und dass sowohl Individuum als auch Gruppe als Agenten zu dieser Veränderung beitragen. Das Modell ist für die Analyse von Prozessen innerhalb von Gruppen konzipiert worden, die über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen, deren Mitglieder wechselseitig voneinander abhängig sind und direkt miteinander interagieren (z. B. Arbeits- oder Projektgruppen innerhalb von Organisationen oder Sportmannschaften). In dem Modell werden fünf Phasen der Gruppenmitgliedschaft unterschieden:

Erkundung: In dieser Phase suchen sich Gruppen Individuen, die einen Beitrag zur Erreichung der Gruppenziele leisten können. Individuen (als potenzielle zukünftige Gruppenmitglieder) suchen wiederum nach Gruppen, die ihre Bedürfnisse befriedigen können. Legen sich beide Parteien darauf fest, eine Beziehung einzugehen, kommt es zum Eintritt in eine Gruppe (der „Initiation“). Dieser Eintritt ist häufig durch einen Ritus, eine Zeremonie oder eine formalen Geste gekennzeichnet, die signalisiert, dass sich die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe verändert hat; er markiert den Übergang zur Sozialisationsphase.

Sozialisation: Gruppe und Individuum versuchen einander in wechselseitigen sozialen Einflussprozessen so zu verändern, dass ihre Beziehung für beide Seiten gewinnbringend ist. Die Einflussprozesse der Gruppe zielen darauf ab, den Beitrag des Individuums zum Erreichen der Gruppenziele zu fördern, indem ihm z. B. die Gruppennormen und -regeln sowie seine Position und Rolle in der Gruppe vermittelt werden („Assimilationsprozess“). Der Einfluss des Individuums ist hingegen darauf gerichtet, die Gruppe so zu verändern, dass sie seine Bedürfnisse optimal befriedigt. Neue Mitglieder können z. B. versuchen, bestehende Normen und Regeln gemäß ihren persönlichen Zielen zu verändern („Akkommodationsprozess“). Wenn sich beide Seiten infolge der Sozialisationserfahrungen weiterhin auf die Beziehung festlegen, kommt es zur wechselseitigen Akzeptanz und das Individuum wird zum Vollmitglied.

Aufrechterhaltung: Nach der Akzeptanz beginnt die Phase der Aufrechterhaltung der Gruppenzugehörigkeit. Gruppe und Individuum verhandeln über Veränderungen der Position des Individuums innerhalb der Gruppe oder die Übernahme neuer Rollen (z. B. Führungsrollen), die sowohl dem Erreichen der Gruppenziele als auch den Bedürfnissen des Individuums dienen. Die gruppale bzw. individuelle Festlegung („Commitment“) sollte umso höher sein, je erfolgreicher und gewinnbringender dieser Aushandlungsprozess ist.

Resozialisierung: Wenn ein Mitglied es nicht schafft, die Erwartungen der Gruppe zu erfüllen, kann die Festlegung der Gruppe auf das Mitglied nachlassen. Umgekehrt kann das Interesse eines Mitglieds an der Gruppe nachlassen, weil es mit seiner Rolle innerhalb der Gruppe unzufrieden ist oder weil es andere, für die Bedürfnisbefriedigung attraktiver erscheinende Gruppen gibt. Beide Prozesse können dazu führen, dass das Mitglied seine Rolle in der Gruppe verliert und von einem Vollmitglied zu einem randständigen Mitglied wird. Wenn Randständigkeit innerhalb der Gruppe als Abweichung von zentralen Gruppennormen oder Werten interpretiert wird, können „Abweichler“ erheblichem Druck ausgesetzt sein, sich wieder der Gruppe anzupassen („Resozialisierung“) oder aber die Gruppe zu verlassen.

Menschen reagieren auf den Ausschluss aus Gruppen in der Regel äußerst sensibel (Williams 2007). Wie neuropsychologische Untersuchungen zeigen, sind in Situationen, in denen sich Menschen sozial ausgeschlossen fühlen, offenbar dieselben Hirnareale aktiviert wie bei der Empfindung körperlichen Schmerzes (Eisenberger et al. 2003). Wenn die Zugehörigkeit zur Gruppe einen hohen Stellenwert für das Individuum hat, kann die Angst davor, ausgeschlossen zu werden, dazu führen, dass es sich den Normen anpasst, auch wenn es diese eigentlich nicht akzeptiert (➔ Kap. 2, Abschnitt 2.1). Andernfalls kommt es infolge der nachlassenden Festlegung zum Austritt aus der Gruppe.

Erinnerung: Nach dem Austritt aus der Gruppe bewerten das Exmitglied und die Gruppe rückblickend ihre Beziehung. Beide halten in gewissem Rahmen an der Beziehung fest, falls sie die Beziehung als positiv und gewinnbringend beurteilen.

Sozialpsychologie der Gruppe

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