Читать книгу Ungeduld des Herzens - Stefan Zweig - Страница 9

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Am nächsten Morgen – ein blasser Nebel hängt noch über den Häusern, und die Fensterläden sind alle geschlossen, um den braven Schlaf der Bürger zu hüten, – reitet, wie jeden Morgen, unsere Eskadron auf das Exerzierfeld. In hottelndem Schritt geht es zuerst quer über das unbequeme Pflaster; noch ziemlich schlaftrunken, steif und verdrossen, schwanken meine Ulanen in ihren Sätteln. Bald haben wir die vier, fünf Gassen durchgetrottet, bereits auf der breiten Chaussee gehen wir über in einen leichten Trab und schwenken dann rechts ab gegen die offenen Wiesen. Ich kommandiere meinem Zug »Galopp«, und mit einem einzigen atmenden Stoß schnauben die anstürmenden Pferde los. Sie kennen schon das weiche, gute, weite Feld, die klugen Tiere; man muß sie weiter nicht antreiben, locker kann man die Zügel lassen, denn kaum daß sie den Schenkeldruck gespürt haben, legen die Gäule mit aller Kraft los. Auch sie fühlen die Lust der Erregung und der Entspannung.

Ich reite voran. Ich reite leidenschaftlich gern. Rieselnd spüre ich von den Hüften her das schwingende, schlingernde Blut im aufgelockerten Leib als lebendige Lebenswärme kreisen, indes einem sausend die kalte Luft um Stirn und Bakken fährt. Herrliche morgendliche Luft: den Tau der Nacht schmeckt man noch darin, den Atem der aufgelockerten Erde, den Ruch der blühenden Felder, und zugleich umfließt einen der warme, sinnliche Dampf der atmenden Nüstern. Immer begeistert mich von neuem dieser erste Morgengalopp, der den stockigen, schlaftrunkenen Leib so wohlig durchschüttelt und die Benommenheit wie dumpfen Nebel wegreißt; unwillkürlich dehnt das Gefühl der Leichtigkeit, die mich trägt, mir die Brust, und mit aufgetanen Lippen trinke ich die sausende Luft in mich ein. »Galopp! Galopp!« – ich spüre die Augen heller, die Sinne lebendiger werden, und hinter mir klingt in regelmäßigem Rhythmus das Klickern der Säbel, das stoßende Schnauben der Pferde, das weiche, knisternde Quellen und Quietschen der Sättel, der gleiche schlagende Takt der Hufe. Ein einziger centaurischer Leib ist diese sausende Gruppe der Männer und Pferde, von einem einzigen Schwung getragen. Vor, vor, vor, Galopp, Galopp, Galopp! Ah, so reiten, so reiten bis ans Ende der Welt! Mit dem heimlichen Stolz, Herr und Schöpfer dieser Lust zu sein, wende ich mich manchmal im Sattel zurück, um meine Leute anzuschauen. Und mit einemmal sehe ich, alle meine braven Ulanen haben andere Gesichter. Die schwere ruthenische Bedrücktheit, die Dumpfheit, die Unausgeschlafenheit ist wie Ruß weggewischt von ihren Augen. Straffer richten sie sich auf, da sie sich beobachtet fühlen, mit lächelndem Mund erwidern sie die Freude in meinem Blick. Ich spüre, auch diese dumpfen Bauernburschen sind durchdrungen von der Lust der sausenden Bewegung, diesem Vortraum menschlichen Flugs. Alle empfinden sie genau so beseligt wie ich das animalische Glück ihres Jungseins, ihrer angespannten und zugleich erlösten Kraft.

Aber plötzlich kommandiere ich: »Haaalt! Trab!« Mit einem überraschten Ruck reißen alle die Zügel an. Der ganze Zug fällt wie eine scharf abgebremste Maschine in die schwerfälligere Gangart. Etwas verdutzt schielen sie zu mir herüber, denn sonst – sie kennen mich und meine unbändige Reitlust – preschen wir in einem einzigen scharfen Galopp über die Wiesen bis zum abgesteckten Exerzierfeld durch. Doch mir war, als hätte jählings eine fremde Hand meinen Zügel angerissen: ich habe mich plötzlich an etwas erinnert. Unbewußt muß ich am Rand des Horizonts links drüben das weiße Karree der Mauer, die Bäume des Schloßgartens und das Turmdach wahrgenommen haben, wie ein Schuß ist es in mich hineingefahren: vielleicht sieht dir jemand von dort zu! Jemand, den du mit deiner Tanzlust gekränkt hast und mit deiner Reitlust neuerdings kränkst. Jemand mit lahmen, gefesselten Beinen, der dir’s neiden könnte, dich so vogelhaft leicht hinsausen zu sehen. Jedenfalls, plötzlich schäme ich mich, so gesund, ungehemmt und rauschhaft hinzustürmen, ich schäme mich dieses allzu körperlichen Glücks als einer ungehörigen Bevorzugung. Langsam, in schwerem Hott und Trott, lasse ich hinter mir meine enttäuschten Burschen durch die Wiesen traben. Vergebens warten sie, ich spüre es, ohne sie anzusehen, auf ein Kommando, das sie neuerdings in Schwung setzt.

Freilich, im gleichen Augenblick, da diese sonderbare Hemmung mich überfällt, weiß ich auch schon, daß solche Kasteiung dumm und zwecklos ist. Ich weiß, daß es keinen Sinn hat, sich einen Genuß zu versagen, weil er andern versagt ist, sich ein Glück zu verbieten, weil irgendein anderer unglücklich ist. Ich weiß, daß in jeder Sekunde, während wir lachen und einfältige Scherze reißen, irgendwo einer in seinem Bette röchelt und stirbt, daß hinter tausend Fenstern sich Elend duckt und Menschen hungern, daß es Krankenhäuser, Steinbrüche und Kohlenbergwerke gibt, daß in Fabriken, in Ämtern, in Zuchthäusern Unzählige in Frondienst gespannt sind zu jeder Stunde, und keinem leichter Wird in seiner Not, Wenn noch ein anderer sich sinnlos quält. Wollte man beginnen, darüber bin ich mir klar, das gleichzeitige Elend dieser Erde sich auszudenken, es würgte einem den Schlaf ab und erstickte einem jedes Lachen im Mund. Aber immer ist es ja nicht das erdachte, das imaginierte Leiden, das einen bestürzt und zernichtet; nur was die Seele mit mitfühlenden Augen leibhaftig gesehen, vermag sie wahrhaft zu erschüttern. So nah und wesenhaft wie in einer Vision hatte ich inmitten meiner leidenschaftlichen Beschwingtheit plötzlich das blasse, verzerrte Gesicht zu erblicken vermeint, wie sie auf ihren Krücken sich durch den Saal schleppte, und gleichzeitig das Tocken und Tappen gehört und das Klirren und Quietschen der verborgenen Maschinen an den kranken Gelenken; gleichsam im Schreck, ohne zu denken, ohne zu überlegen, hatte ich die Zügel angerissen. Es hilft nichts, daß ich mir jetzt nachträglich sage: wem nützt du damit, daß du dummen schweren Trab reitest statt des mitreißenden, aufreizenden Galopps? Aber doch, der Stoß hat irgendeine Stelle meines Herzens getroffen, die nahe dem Gewissen liegt; ich habe nicht den Mut mehr, kraftvoll, frei und gesund die Lust meines Körpers zu genießen. Langsam, schläfrig trotten wir hin bis zur Lisière, die zum Exerzierfeld führt; erst wie wir völlig außer Blickweite des Schlosses sind, rüttle ich mich auf und sage mir: »Unsinn! Laß diese dummen Sentimentalitäten!« Und kommandiere: »Vorwärts! Gaa-lopp!«

Ungeduld des Herzens

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