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Wirtschaft
ОглавлениеBrasilien, dem Raum nach weitaus der größte Staat Südamerikas, eine weitere Fläche umfassend, als selbst die Vereinigten Staaten Nordamerikas umspannen, ist heute eine der wichtigsten, wenn nicht vielleicht die wichtigste Zukunftsreserve unserer Welt. Hier ist unermeßlicher Reichtum an Scholle, die noch nie Anbau und Pflug gekannt, und unter ihr Erze, Mineralien und Bodenschätze, die nicht im entferntesten ausgenützt und kaum annähernd entdeckt sind. Hier besteht Siedlungsmöglichkeit in einem Umfang, den ein Phantast vielleicht richtiger errechnet als der übliche Statistiker: schon die Verschiedenheit der Kalkulationen, ob dies Land, das heute etwa fünfzig Millionen zählt, fünfhundert, siebenhundert oder neunhundert bei normaler Dichtigkeit beherbergen könnte, gibt einen Anhaltspunkt für die fachmäßigen Schätzungen, was Brasilien in einem Jahrhundert, vielleicht schon in Jahrzehnten in unserem Kosmos sein könnte. Und man unterschreibt gerne die knappe Formulierung von James Bryce: »Kein großes Land der Welt, das einer europäischen Rasse gehört, besitzt ähnliche Fülle der Erde für die Entwicklung menschlichen Daseins und einer schöpferischen Industrie.«
Von Gestalt eine riesige Harfe, kurioserweise mit ihrer Grenzlinie das Profil ganz Südamerikas genau nachzeichnend, ist dieses Land alles zugleich, Bergland, Küstenland, Flachland, Waldland, Flußland und fruchtbar in fast allen seinen Gliederungen. Sein Klima vereint alle Übergänge vom Tropischen zum Subtropischen und Europäischen, seine Luft ist hier feucht und dort trocken, hier ozeanisch und dort alpin, es wechseln regenarme mit regenreichen Zonen und damit die Möglichkeiten für die verschiedenartigste Vegetation. Brasilien besitzt oder speist die mächtigsten Ströme der Welt, den Amazonas und den La Plata, seine Gebirge gemahnen in manchen Partien an die Alpen und steigen mit dem höchsten Gipfel, dem Itatiaia, dreitausend Meter hoch zu Schneezonen auf. Seine Wasserfälle, der Iguassú und der Sete Quedas übertreffen den ungleich berühmteren Niagara an Gewalt und zählen zu den größten hydraulischen Elektrizitätsreserven der Welt, seine Städte wie Rio de Janeiro und São Paulo können schon heute, noch inmitten eines phantastischen Wachstums, mit den europäischen an Luxus und Schönheit rivalisieren. Alle Formen der Landschaft wechseln vor dem immer wieder faszinierten Blick, und die Vielfalt ihrer Fauna und Flora gewährt seit Jahrhunderten den Forschern noch immer neue Überraschungen: allein das Verzeichnis seiner Vogelarten füllt ganze Bände von Katalogen, und jede neue Expedition bringt hunderte neuer Spezies heim. Was aber unterhalb dieser Erde an latenten Möglichkeiten, an Mineralien und Erzen noch verborgen liegt, wird erst die Zukunft enthüllen. Gewiß ist nur, daß die größten Eisenvorräte der Welt hier unangetastet warten, allein schon ausreichend, um unseren ganzen Erdball für Jahrhunderte zu versorgen, und daß im geologischen Bilde kaum ein Erz-, ein Stein-, eine Pflanzenart diesem gewaltigen Imperium fehlt. Soviel in den letzten Jahren an erster ordnender Übersicht auch geleistet worden ist, die eigentliche Feststellung und Bewertung steht hier noch im Anfang und sogar vor dem entscheidenden Beginn. So muß man es immer wieder sagen: dies ungeheure Land bedeutet für unsere überdrängte, vielfach schon ermüdete, ausgeschöpfte Erde dank einer Unverbrauchtheit und Weiträumigkeit heute eine der größten Hoffnungen und vielleicht sogar die berechtigste Hoffnung unserer Welt.
Der erste Eindruck von diesem Lande ist der einer verwirrenden Üppigkeit. Alles ist vehement, die Sonne, das Licht, die Farben. Das Blau des Himmels schmettert hier stärker, das Grün ist tief und satt, die Erde dicht und rot, kein Maler kann auf seiner Palette glühendere, blendendere, schillerndere Farbtöne finden als hier die Vögel auf ihrem Gefieder, die Schmetterlinge auf ihren Schwingen tragen. Immer erreicht die Natur ihren Superlativ, die Gewitter, die mit krachenden Blitzen den Himmel aufreißen, die Regen, die wie Wildbäche niederstürzen, die Vegetation, die in ein paar Monaten zu gewaltigen grünen Wildnissen wuchert. Aber auch die Erde, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden unberührt und zur vollen Leistung noch nicht herausgefordert, gibt hier auf jeden Anruf Antwort mit einer fast unglaubhaften Kraft. Erinnert man sich an die Mühe, die Qual, die Geschicklichkeit, die Zähigkeit, mit der man in Europa einem Garten oder einem Feld Blumen oder Früchte entringen muß, so begegnet man hier im Gegenteil einer Natur, die man eher bändigen muß, nicht zu wild, nicht zu ungestüm sich zu entfalten. Hier muß man Wachstum nicht fördern, sondern bekämpfen, damit es mit seinem barbarisch wilden Wuchern nicht die menschliche Pflanzung überflute. Allein und ohne Pflege schießen hier die Bäume und Sträucher auf, die einem Großteil der Bevölkerung die Nahrung frei in die Hand reichen, die Banane, der Mango, der Mandioca, die Ananas. Und jede neue Pflanze, jede Frucht, von einem anderen Erdteile gebracht, gewöhnt und verwöhnt sich sofort in diesem jungfräulichen Humus.
Diese Impetuosität und Bereitwilligkeit, diese – fast möchte man sagen: Generosität, mit der dieses Land auf jedes Experiment, das man mit ihm versucht, Antwort gibt, ist ihm paradoxerweise sogar in seiner Wirtschaftsgeschichte mehrmals zur Gefahr geworden; in regelmäßiger Folge entstanden hier Krisen der Überproduktion einzig darum, weil alles zu rasch und zu leicht ging, immer mußte – die Versenkung der Kaffeesäcke ins Meer im zwanzigsten Jahrhundert ist das letzte Beispiel – Brasilien, sobald es etwas zu produzieren begann, sich selbst zurückdämmen, nicht zu viel zu produzieren. Deshalb ist die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens voll überraschender Umstellungen und vielleicht sogar dramatischer als seine politische Geschichte. Denn in der Regel ist der wirtschaftliche Charakter eines Landes von Anfang an eindeutig bestimmt, jedes spielt gleichsam auf einem einzigen Instrument, und der Rhythmus verändert sich nicht wesentlich in den Jahrhunderten. Das eine Land ist ein Gartenland, das andere gewinnt seinen Reichtum aus Holz oder Erz, das dritte von Viehzucht. Die Linie der Produktion mag in einzelnen Aufstiegen und Abstiegen schwanken, aber die Richtung bleibt im allgemeinen dieselbe. Brasilien dagegen ist ein Land der ständigen Wandlungen und brüsken Umstellungen. Eigentlich hat jedes Jahrhundert hier ein anderes wirtschaftliches Charakteristikum gezeitigt, und in dem dramatischen Ablauf hat jeder Akt seinen Namen, Gold oder Zucker oder Kaffee oder Gummi oder Holz. In jedem Jahrhundert, eigentlich jedem halben Jahrhundert, offenbarte Brasilien bisher von seinem Reichtum immer eine andere und neue Überraschung.
Im allerersten Anfang, im sechzehnten Jahrhundert, war es das Holz, das pau-brasil, das dem Lande seine wirtschaftliche Marke und sogar ein für allemal seinen Namen gab. Als die ersten Boote an dieser Küste anlegten, waren die Europäer zunächst arg enttäuscht. Sie fanden nichts zu holen und zu rauben, Brasilien hatte nichts für sie als seine Natur, die sich den Menschen noch nicht unterworfen hatte. Nem oiro, nem prata, diese knappe Formel des ersten Berichts genügte, um den kommerziellen Wert des neuen Landes zunächst auf Null herabzusetzen. Man konnte den Eingeborenen, die neugierig auf die fremden, bekleideten, weißen Wesen blickten, nichts nehmen, weil sie nichts besaßen außer ihrer eigenen Haut und ihrem eigenen Haar. Nicht wie in Peru oder in Mexiko hatte hier eine nationale Kultur vorgearbeitet, die Fasern zu Stoffen verwebte, Erze aus den Tiefen der Erde holte und zu Schmuck und Waffen verhämmerte. Die nackten Kannibalen der Terra de Santa Cruz hatten noch nicht einmal die primitivste Stufe der Zivilisation erreicht, sie wußten weder die Erde zu bebauen, noch Vieh zu züchten, noch Hütten zu bauen. Sie griffen und schlangen einzig, was sie auf den Bäumen und im Wasser fanden und zogen weiter, sobald sie einen Bezirk abgegrast hatten. Wer aber nichts hat, dem kann man nichts nehmen; enttäuscht kehrten die Matrosen auf ihre Schiffe zurück aus einem Land, von dem nichts mitzunehmen lohnt, denn selbst diese Menschen dort erwiesen sich nicht als brauchbare Ware. Fing man sie als Sklaven ein und trieb man sie zur Arbeit an, so verbrauchten sie sich unter der Peitsche gewöhnlich nach ein paar Wochen, legten sich hin und starben.
Das einzige, was diese ersten Schiffe heimbrachten, waren Kuriositäten, ein paar hurtige Äffchen und jene wunderbar vielfarbigen Papageien, wie sie die vornehmen Damen Europas gern als Luxustiere in Käfigen hielten, und um derentwillen man das Land manchmal auch Terra dos Papagaios nannte. Erst bei der zweiten Reise entdeckte man ein Fertigprodukt, das allenfalls einen Handel mit diesem entlegenen Lande lohnen konnte, das Brasilholz. Dieses Holz, Brasil genannt von brasa, schwelen oder glühen, weil es in seiner Schnittfläche rötlich leuchtet, war eigentlich als Holz nicht so verwertbar wie als Färbemittel, aber als solches, da man andere Farbstoffe nicht kannte, wie jede exotische Ware im Handel sehr gesucht.
Einen regulären Export des pau-brasil selbst zu übernehmen, ist die portugiesische Regierung zu beschäftigt. Für sie, die ihre ganze militärische und maritime Kraft einsetzt, die Schatzkammern der indischen Fürsten aufzusprengen, bedeutet das Holzmonopol ein zu kleines und andererseits mühsames Geschäft. Der Umschlag ist zwar lohnend. Für ein Quintal dieses Färbholzes, das sich in Lissabon mit allen Frachtspesen und Risiken auf einen halben Dukaten stellt, kann man in Frankreich oder auf den holländischen Märkten zweieinhalb oder drei Dukaten lösen. Aber die Krone braucht für ihre größeren und großartigen Unternehmungen rasch ausmünzbaren Gewinn. So zieht sie es vor, das Holzmonopol an einen der reichsten unter den cristãos novos, an Fernando de Noronha gegen Barzahlung zu verpachten, der dann gemeinsam mit seinen geflüchteten Glaubensbrüdern in Pernambuco den Handel organisiert. Aber auch unter seiner Führung bleibt es ein Handel in kleinen Dimensionen und kann keinesfalls einer werden, der zu geregelter Kolonisierung und zur Etablierung großer Faktoreien anreizen könnte. Ein bloßer Färbstoff reicht nicht aus, um eine Besiedlung dieses immerhin weitabgelegenen Landes in Schwung zu bringen. Soll sich Brasilien als produzierender Faktor im Weltmarkt entwickeln, so muß man zuvor ein neues und ergiebigeres Absatzprodukt finden und der kurze Zyklus des pau-brasil von einem geschwinder und gewichtiger umlaufenden abgelöst werden.
Ein solches Produkt besitzt nun Brasilien – oder vielmehr jener schmale Streifen an der Küste, der bisher erforscht ist zur Zeit seiner Entdeckung noch nicht. Um fruchtbar zu werden für die europäische Wirtschaft, muß dieses Land zuerst von Europa befruchtet werden. Alles was in seinen üppigen Zonen wachsen und gedeihen soll an Pflanzen und Produkten, muß erst umgesiedelt und angesiedelt werden, und dazu bedarf es überdies noch eines besonderen Düngers, des Menschen. Von der ersten Lebensstunde an ergibt sich für Brasilien der Mensch, der Kolonist, der Siedler in der Form des belebenden, befruchtenden Elements als die notwendigste aller Notwendigkeiten. Was Brasilien hervorbringen soll, muß ihm von Europa gebracht und gelehrt werden. Aber alles, was ihm dieses leihen wird an Pflanzen und Menschenkräften, gibt die neue Erde dann mit tausendfacher Verzinsung dem alten Erdteil zurück. Indes also die überseeischen Länder des Orients, in denen aufgestapelte Schätze zu holen, zu rauben, zu greifen sind, für Portugal zunächst ein Eroberungsproblem darstellen, erweist sich dieses noch völlig unorganisierte Land von Anfang an als ein Kolonisationsproblem, ein Investitionsproblem.
Als ersten Versuch einer solchen Überpflanzung und Anpflanzung eines in Brasilien nicht heimischen Produkts bringen die Portugiesen von Cap Verde das Zuckerrohr herüber. Und gleich dieses früheste Experiment gelingt vollkommen – immer vollbringt die Natur in Brasilien in überschwenglicher Weise jede ihr zugemutete Leistung. Das Zuckerrohr bedeutet ein absolut ideales Produktionsobjekt für ein noch unorganisiertes Land, weil seine Pflanzung und Ausbeutung nur die allergeringste manuelle Arbeit erfordert und keinerlei Vorbildung. Kaum in die Erde gepflanzt, schießt hier die Staude, ohne weitere Wartung zu verlangen, doppel-daumendick empor, und dies sechsmal und zehnmal im Jahr; mit den einfachsten, leichtesten Methoden entpreßt man ihr den kostbaren Saft. Es genügt, das Zuckerrohr zwischen zwei Holzrollen zu legen; zwei Sklaven – da ein Ochse zu teuer wäre – umwandern in einer Art Tretmühle den waagerechten Schwengel. Ihr unermüdlicher Rundgang preßt immer wieder und wieder die Rollen zusammen, bis die letzte Unze Sirup dem Stengel entrungen ist. Dieser weiße, klebrige Ausfluß wird dann verkocht und zu Klumpen und Zuckerhüten geformt, die ausgelaugten Stengel dienen dann noch als Maische, die verbrannten Blätter als Asche der Landwirtschaft. Diese erste und primitivste Fabrikationsmethode verbessert sich in vielfachen Versuchen; bald werden die engenhos, solche kleine Fabriken, an Wasserläufen angelegt, um statt der menschlichen Kraft die hydraulische zu verwerten. Aber in allen Formen bleibt die Zuckergewinnung ein Prozeß bequemster Art und überdies der denkbar ergiebigste. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit verwandelt sich der weiße Zucker, den die schwarzen Sklaven aus den braunen Stangen mit den grünen Blättern pressen, in gelbes, schweres Gold. Denn in Europa ist, seit es auf den Kreuzzügen die erste Berührung mit der verfeinerten und raffinierten orientalischen Welt erfahren hat, eine ungestüme Gier einerseits nach scharfen, stimulierenden Spezereien und anderseits nach Süßigkeiten und Leckereien ausgebrochen. Reich geworden durch den aufblühenden Handel, will es nicht weiterhin seine spartanisch karge, monotone Kost und sucht nach feinerer und nuancierterer Gaumenlust. Die matte Süßung, die man bisher einzig dem Honig entlockte, genügt ihm nicht mehr. Seit es einmal von diesem neuen starken Süßstoff, dem Zucker, gekostet, verlangt es mit kindischem Starrsinn immer mehr von dieser lukullischen Speise. Und da es noch drei Jahrhunderte dauern wird, ehe Europa – zur Zeit der Kontinentalsperre – sich Zucker aus der heimischen Rübe gewinnen wird, muß er vorerst als Luxusprodukt von exotischen Zonen geholt werden, und die Kaufleute, einer immer steigenden Kundschaft gewiß, zahlen für diese neue Ware jeden Preis. Mit einem Schlage wird Brasilien nun auf dem Weltmarkt wichtig. Da die Spesen dieser primitiven Fabrikation beinahe gleich Null sind, denn die Erde kostet nichts, die Pflanze kostet nichts, und die Sklaven in den engenhos sind die billigsten aller Arbeitstiere, schießen die Gewinne wild empor und der Reichtum, den Brasilien – oder vielmehr Portugal – aus diesen Betrieben zieht, wird unermeßlich. Von Woche zu Woche erweitert und steigert sich die Produktion; durch drei Jahrhunderte ist Brasiliens Vormacht-und Monopolstellung auf diesem Gebiet nicht mehr zu erschüttern; was für gigantische Ziffern der Export schließlich erreicht, zeigt das eine Beispiel, daß in manchen Jahren Brasilien Zucker im Verkaufswert von drei Millionen englischer Pfund exportiert, eine Summe, die höher war als der gleichzeitige Gesamtexport Englands. Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnen die Gewinne abzusinken, weil Brasilien sich durch Überproduktion den Kaufpreis seines weißen Goldes verdirbt. Wie alle anderen Kolonialprodukte, der Pfeffer, der Tee, der Gummi, wird, was zuerst durch Seltenheit eine Kostbarkeit gewesen, infolge der Überproduktion zur Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit. Die Einführung des Rübenzuckers gibt der großen Konjunktur dann den letzten Stoß, aber der »Zyklus« des Zuckers hat seine ökonomische Aufgabe in der Wirtschaftsgeschichte Brasiliens glänzend erfüllt und der Niedergang des Hauptprodukts kommt schon zu spät, um die bereits auf andere Produkte umgestellte Wirtschaft zu gefährden. An dem einen schwachen Rohr, das die ersten Schiffe von der alten Welt herüberbrachten, ist Brasilien aufrecht durch drei Jahrhunderte geschritten und genügend erstarkt, um ohne diese Stützung seinen Weg weiter zu gehen.
Ein zweites Exportprodukt schließt sich bald an, in gewissem Sinne ähnlich dem andern, weil gleichfalls einem neuen europäischen Laster dienend: der Tabak. Schon Columbus hatte die ersten Eingeborenen rauchend gefunden, und andere Seefahrer haben die sonderbare Gewohnheit mit nach der Heimat hinübergebracht. Den Europäern scheint dies Kauen und Schmauchen und Schnupfen eines braunen Krautes zunächst eine barbarische Sitte. Man verhöhnt und verachtet die Matrosen, wenn sie zwischen den Zähnen diese dicken Rollen schmatzen und den braunen schmutzigen Saft wegspucken. Man verlacht als Narren die wenigen Amateure, die mit ihren Tonpfeifen die Luft verqualmen, und in guter Gesellschaft, vor allem bei Hofe, herrscht strenges Verbot. Es geschieht darum nicht aus Lust oder modischer Nachäfferei, daß sich Europa plötzlich an den Tabak gewöhnt, sondern aus Angst. In den Schreckenstagen, da die großen Seuchen in rascher Folge die verschiedensten Städte Europas heimsuchen und entvölkern, glauben viele – da sie von Bazillen noch nichts ahnen – sich am besten vor Ansteckung zu schützen, indem sie fortwährend schmauchen und durch ein Gift das andere paralysieren. Aber wie dann die Seuche und mit ihr die Angst vorüber ist, haben sich die Menschen ähnlich wie beim Cognac, der vorher nur als Heilmittel dosiert wurde – an den Tabak durch das ständige Rauchen bereits gewöhnt und wollen ihn ebensowenig entbehren wie Essen und Trinken. Von Jahr zu Jahr begehrt Europa größere Massen, und auch für diesen Großbedarf etabliert sich Brasilien als Großlieferant, denn der Tabak wächst hier wild, und seinen Blättern wird die beste Qualität zuerkannt. Ebenso wie sein Bruder, der Zucker, erfordert der Tabak keine umständliche Pflege und Wartung. Man braucht nur die Blätter von dem ohne weitere Bemühungen aufwachsenden Strauch abzureißen, zu trocknen, zu rollen, und das hier fast Wertlose wandert als wertvolle Ware zum Schiff.
Zucker, Tabak und in geringerem Umfang noch Schokolade, das dritte begehrliche Objekt neumodischer europäischer Geschmacklüsternheit, bleiben die drei Hauptpfeiler, die Brasiliens Wirtschaft bis ins achtzehnte Jahrhundert stützen. Ihnen gesellt sich, sobald Europa gelernt hat, Baumwolle zu verspinnen, noch der Coton, der algodão, als vierter Bruder hinzu. Die Baumwolle ist von Anfang an in Brasilien heimisch, sie wächst wild in den Wäldern des Amazonas und in anderen Provinzen, aber im Gegensatz zu den höher kultivierten Azteken und Peruanern wußten die Eingeborenen noch nicht die Fäden zu verspinnen; einzig im Kriege verwerteten sie die Flocken auf ihren Pfeilen, um damit fremde Niederlassungen in Brand zu setzen, und im Gebiet des Maranhão diente die Baumwolle kurioserweise sogar als Zahlungsmittel. Noch weniger weiß Europa zunächst mit der Baumwolle zu beginnen; obwohl schon Columbus einige Flocken dieser weißen Wolle nach Spanien mitbringt, wird niemand ihrer zukünftigen Bedeutung als Textilstoff gewahr. In Brasilien dagegen wissen die Jesuiten, offenbar durch Berichte aus Mexiko belehrt, schon 1549 um seine Eignung und unterweisen die Eingeborenen, ihn in ihren aldeias zu verspinnen. Wirklicher Großhandelsartikel kann der Coton aber erst durch die Erfindung der Spinnmaschinen werden (1770–1773), mit denen die sogenannte »industrielle Revolution« einsetzt. Vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an benötigt insbesondere England, das über eine Million Textilarbeiter beschäftigt, für seine Weltproduktion immer größere Quantitäten und zahlt immer bessere Preise. So wird Baumwolle, die früher wild in den Wäldern wuchs, jetzt in Brasilien systematisch angepflanzt; schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert stellt der Export an algodão beinahe die Hälfte der brasilianischen Gesamtausfuhr dar und damit die Rettung des Handelsequilibriums; der scharfe Preisrückgang des Zuckers wird durch diese gigantische Ausfuhr in einer jener raschen und glücklichen Umstellungen ausgeglichen, die für die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens so typisch sind.
Alle diese Rohstoffe, Zucker, Tabak, Kakao und Baumwolle, werden nur roh geliefert und im Lande selbst nicht weiterverarbeitet; es wird noch langer Entwicklung bedürfen, ehe Brasilien genug frei und genug reif sein wird für eine organisierte und mechanisierte Veredlungsindustrie. Seine ganze Leistung beschränkt sich auf Pflanzung, Pflückung und Verschiffung der sogenannten »Kolonialwaren«, also auf die primitiven Prozesse, die zu ihrer Verrichtung nichts anderes benötigen als Hände. Allerdings viele und billige Hände. Menschen sind darum der dringlichste Rohstoff, den dies an allen Stoffen der Natur überreiche Land in immer größeren Quantitäten einführen muß; es ist vielleicht die merkwürdigste Eigenheit seiner Wirtschaftsgeschichte, daß es Brasilien zu jeder Zeit an der jeweils besten motorischen Kraft fehlen wird und es sie importieren muß – in den früheren Jahrhunderten den menschlichen Arm, im neunzehnten die Kohle und im zwanzigsten das Benzin. Daß es in jenen ersten Jahren von dieser motorischen Kraft die billigste sucht, ist selbstverständlich. Zuerst bemühen sich die Kolonisten, die Eingeborenen zu versklaven; da diese sich infolge ihrer zarteren Konstitution als leistungsschwach erweisen und überdies die Jesuiten immer wieder auf die königlichen Edikte zum Schutz der eingeborenen Bevölkerung hinweisen, setzt von 1549 an ein regelrechter Import von »schwarzem Elfenbein« aus Afrika ein. In Tumbeiros – so genannt, weil auf diesen grauenhaften Schiffen immer die Hälfte der zusammengepferchten und geketteten Neger bei der Überfahrt zugrunde geht – werden Monat für Monat und bald Woche für Woche neue Ladungen dieses lebendigen Rohstoffs herübergebracht; in drei Jahrhunderten führt Brasilien mindestens drei Millionen Sklaven von den zehn Millionen ein, die der neue Weltteil aus dem geplünderten und entvölkerten Afrika bezieht; die genauen Zahlen (manche schätzen den Import sogar auf viereinhalb Millionen) werden nie mehr ganz zu rekonstruieren sein, da Rui Barbosa, um von der jungen Republik von 1890 diese Schmach der Vergangenheit zu tilgen, um einer edel-gemeinten Geste willen Auftrag gab, die Archivdokumente der Sklaveneinfuhr zu verbrennen.
Der Sklavenhandel gilt lange Zeit in Brasilien als das zwar nicht angesehenste, aber ergiebigste Geschäft; finanziert von London oder Lissabon, liefert er dem Verfrachter wie dem Verkäufer sicheren Gewinn dank des immer steigenden Bedarfs. Zunächst scheint der Negersklave, der im Durchschnitt mit fünfzig bis dreihundert Milreis auf dem Sklavenmarkt in Bahia gehandelt wird, verhältnismäßig teuer im Vergleich zum eingeborenen Sklaven, der bloß mit vier bis höchstens siebzig Milreis notiert wird.
Aber bei dem Erstehungspreis eines starkknochigen Senegal-oder Guineanegers müssen die Frachtkosten, der Abschlag für die auf der Fahrt lädierte und ins Meer geworfene Ware, der ungeheure Zwischengewinn der Sklavenjäger, der Sklavenhändler und Kapitäne eingerechnet werden und überdies noch der Einfuhrzoll von dreitausend bis dreitausendfünfhundert Reis (3 bis 3½ Milreis), den der allerchristlichste König von Portugal bei diesem dunklen Geschäft für jeden einzelnen Sklaven sofort bei der Alfandega, dem Zollamt einfordert und einkassiert. Trotz dieses hohen Preises bleibt doch für den Fazendabesitzer die Anschaffung von Negern ebenso unentbehrlich als die von Hacke und Pflug. Ein kräftiger Neger arbeitet, wenn ab und zu gründlich gepeitscht, zwölf Stunden, ohne dafür eine Entlohnung zu bekommen; außerdem stellt die Investition nicht bloß eine einmalige Kapitalanlage dar, sondern auch eine zinsenbringende, denn der Negersklave vermehrt selbst in seinen wenigen Mußestunden noch den Besitz des Herrn durch die Kinder, die er zeugt, und die selbstverständlich als neue kostenlose Sklaven in den Besitz des Herrn übergehen; ein Negerpaar, im sechzehnten Jahrhundert erworben, schafft der Familie seines Herrn in zwei oder drei Jahrhunderten ein ganzes Sklavengeschlecht. Diese Sklaven stellen die motorische Kraft dar, die den Betrieb der großen Fazenden in Schwung hält, und da die Erde selbst in dem ungeheuren Land fast wertlos ist, mißt sich der Reichtum eines Plantagenbesitzers ebenso an der Anzahl von Negern, wie man in der Feudalzeit Rußlands das Vermögen eines Gutbesitzers nach der Anzahl der »Seelen«, die er eignete, maß. Bis tief in das neunzehnte Jahrhundert sind die Sklaven in immer anwachsender Masse die eigentlichen Träger der Wirtschaft. Auf ihren Schultern lastet das ganze Gewicht der kolonialen Produktion, während die Portugiesen nur als Beamte, Aufseher oder Unternehmer den ständigen Lauf dieser von Millionen schwarzen Armen in Schwung gehaltenen Arbeitsmaschine überwachen und dirigieren.
Diese allzu scharfe Zweiteilung in Schwarz und Weiß, in Herren und Sklaven ist von allem Anfang an bedenklich, und sie hätte ohne die ausgleichende Gegenleistung der im Binnenland einsetzenden Kolonisation unaufhaltsam die Einheit Brasiliens zerspalten. Ohnehin entbehrt in den Anfangszeiten das weite Land noch seines statischen Gleichgewichts, denn im ersten und tief bis ins zweite Jahrhundert sammelt sich alle tätige Kraft und darum aller Blut-und Menschenzudrang im Norden. Für die damalige Welt bedeutete – sehr im Gegensatz zu dem Niedergang von heute – die tropische Zone Brasiliens die eigentliche Schatzkammer; dort staut sich die ökonomische Leistung solange zusammen, bis die erste und hastigste Gier Europas nach kolonialen Produkten gesättigt ist. Bahia, Recife, Olinda, Pernambuco entfalten sich aus bloßen Umschlagplätzen zu wirklichen Städten und bauen Kirchen und Paläste zu einer Zeit, da im Binnenland sich erst ganz schüchterne Hütten und hölzerne Kirchen erheben. Hier landen oder laden unablässig europäische Schiffe, hier strömt ständig der schwarze Rohstoff der Sklaven ein, hier werden neun Zehntel aller kolonialen Waren über den Ozean verpackt und verschifft, hier etablieren sich die ersten Kontore, und nah diesen tropisch aufwachsenden Städten schließen sich um des bequemeren Transports willen die ergiebigsten Engenhos und Plantagen zusammen. Wer 1600, 1650 und eigentlich noch um 1700 in Europa den Namen Brasilien ausspricht, meint damit nichts anderes als den Norden und dort eigentlich nichts als die Küste mit ihren schon weltbekannten Hafenstädten, ihrem Zucker, ihrem Kakao, ihrem Tabak, ihrem Handel, ihrem Geschäft. Daß inzwischen im Hinterland – unsichtbar der Neugier der Schiffahrer und Händler durch die hohe Bergkette – eine vielleicht kommerziell weniger ergiebige, aber ungleich gesündere Entwicklung eingesetzt hat, ahnt noch niemand in Europa und nicht einmal der König von Portugal. Diese planvolle und in zähem systematischem Eifer geförderte Besiedlung des Landes durch seine eigenen angestammten Bewohner ist die Großtat der Jesuiten für Brasilien. Um Jahrhunderte den königlichen Fiskalbeamten und habsüchtigen Maklern vorausblickend, für die nur Gewinn bedeutet, was sich rasch ausmünzen läßt, haben sie hellsichtig erkannt, daß das wirtschaftliche Fundament eines Volkes auf die Dauer nicht auf den unsicheren Konjunkturen einzelner Monopolartikel und nicht einzig auf der Helotenarbeit gekaufter Sklaven beruhen kann; ein Land, das sich aufbauen will, muß zuerst lernen, die Erde zu bebauen und sie als die eigene zu empfinden. Die Großartigkeit dieser Unternehmung kann nur von zwei Flächen aus richtig betrachtet werden: von ihrem Anbeginn aus dem Nichts und von ihrem endgültigen, heute der Welt offenbaren Resultat. Nur aus der tausendjährigen und ewigen Urform der Landwirtschaft und Viehzucht konnte eine gesunde Nationalökonomie sich entwickeln; daß gerade die noch völlig nomadischen Stämme zu dieser notwendigsten Arbeit erzogen werden konnten, bedeutet im Moralischen den wahren Anbeginn der brasilianischen Nation.
Diese Arbeit beginnt bei Null. Als Nóbrega und Anchieta ins Land kommen, fehlen außer der Erde, die niemand bebaut, außer den Eingeborenen, die noch nicht wissen, sie zu bebauen, die bindenden und verbindenden Kräfte. Nichts ist vorhanden, alles muß erst über das Meer gebracht werden, jedes Stück Vieh, jede Kuh, jedes Kalb, jedes Schwein, jeder Hammer, jede Säge, jeder Nagel, jeder Spaten, jeder Rechen und dazu noch die Pflanzen und die Samen, und dann erst müssen mühselig diese nackten und kindlichen Wesen gelehrt werden, wie zu pflügen, wie zu ernten, wie Ställe zu bauen für das Vieh und wie das Vieh zu behandeln. Ehe sie sie noch recht belehren können, Christen zu werden, müssen die Jesuiten die Eingeborenen zuerst in der Arbeit unterweisen und, ehe mit den Grundbegriffen des Glaubens, sie mit dem Willen zur Arbeit durchdringen. Was für die Jesuiten in der Ferne ein geistiger Plan größten Stiles gewesen, verwandelt sich zu einer kleinen und mühsamen Geduldsarbeit, wie sie nur die disziplinierte Kraft von Männern, die ihr ganzes Leben an eine Idee verschworen haben, durchzusetzen vermag: die Zivilisierung des Menschen durch die Kultivierung der Erde; nichts von alledem, was diese ersten Lehrer mit sich bringen an Büchern und Medizinen und Werkzeugen und Pflanzen und Tieren, ist von solcher belebender und tonischer Kraft für die Entwicklung gewesen als diese starre und doch glühende Energie dieses Dutzends Menschen. Rasch wie alles in Brasilien – wachsen und entfalten sich diese ersten aldeias, diese jungen Siedlungen, und mit gerechtem Stolz können die Jesuiten bald in ihren Briefen berichten, wie glücklich diese Bindung sich erfüllt, die Bindung der Erde mit den Menschen und die Mischung zwischen Weißen und Eingeborenen zu einem neuen tätigen Geschlecht. Schon glauben die Väter ihr Werk gelungen; São Paulo, erst die Stadt und dann die Provinz, besiedelt sich, immer weiter ins Land greifen die aldeias aus. Aber die eigentliche Eroberung des Landes wird nicht auf dem stillen, friedlichen und planhaften Wege vor sich gehen, den sie vorausgesehen, sondern auf einem anderen Weg. Immer liebt die Geschichte, wenn sie eine Idee erfüllen will, von dem vorbereiteten Menschenplan abzuweichen und ihren eigenen Weg zu gehen, und so auch diesmal. Die Jesuiten haben ein junges Geschlecht auf dem Boden angesiedelt mit dem Vorsatz, sie sollten ihn bebauen. Aber schon die neue Generation der Mamelucos, der Mischlinge, bricht aus den Grenzen, die die frommen Väter gesetzt haben, ungeduldig vor. Noch ist die nomadisch schweifende Lust ihrer braunen Voreltern und anderseits die zügellose Wildheit der ersten Kolonisten in ihrem Blut lebendig. Warum die Erde selbst bebauen, statt sie von andern, von Sklaven bebauen zu lassen? Bald werden die Halbbraunen die schlimmsten Feinde der Braunen, die Söhne der Eingeborenen, deren Väter die Jesuiten vor dem Sklaventum gerettet, die grimmigsten Sklavenhändler, und gerade in São Paulo, das die Jesuiten als eine Stelle der sittlichen Reinheit und der geistigen Einheit erträumt, entsteht das neue Conquistadorengeschlecht, die Paulistas, die bald die bittersten Feinde der Jesuiten und ihrer kolonisatorischen Bemühungen werden. Zusammengerottet zu einer kriegerischen Truppe, durchziehen diese bandeirantes (merkwürdig den afrikanischen Sklavenjägern ähnlich) auf ihren entradas das Land, zerstören die Niederlassungen, rauben sich Sklaven, nicht nur aus dem Urwald, sondern auch von Scholle und Pflug, und doch erfüllen sie – nur rascher und brutaler und gewalttätiger – das jesuitische Prinzip des radial nach allen Seiten Vordringens. Von jedem dieser zerstörenden Züge bleiben einige Paulisten an den Wegkreuzungen zurück, es bilden sich Niederlassungen und sogar Städte im Rücken der mit Tausenden von Sklaven heimkehrenden Raubtruppen. Der fruchtbare Süden beginnt sich mit Menschen und Viehstand zu beleben, der Typus der vaqueiros, des Viehzüchters und des gaucho formt sich heraus neben dem trägeren und gemächlicheren des Küstenmenschen, der Mann des Binnenlandes, der Mann mit einer wirklichen Heimat. Die erste der großen InnenImmigrationen mit ihrer ausgleichenden und bindenden Wirkung hat eingesetzt, halb durch den Plan der Jesuiten, halb durch die Gier der Paulisten, das Gute und das Böse schaffen in scheinbarer Gegenwirkung und doch tieferer Verbundenheit an einem gemeinsamen Werk. Im siebzehnten Jahrhundert bilden schon Landwirtschaft, Viehzucht und Ackerbau im Binnenlande ein gesundes Gegengewicht gegen die rasch aufgeblühte, aber auch rasch abwelkende, ständig den Schwankungen des Weltmarkts unterworfene Tropenwelt des Nordens. Und immer zielbewußter wird dieser Wille Brasiliens, aus einer bloßen Lieferungsstelle kolonialer Produkte ein sich selbst erhaltendes Land zu werden, ein sich nach eigenen Gesetzen entfaltender Organismus statt eines bloß abgelegten Schößlings seines Mutterlandes.
An der Schwelle des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wirtschaftlich bereits eine erträgnisreiche Kolonie, die für die portugiesische Krone im gleichen Maße wichtiger wird, als sie von ihrem einstigen indischen und afrikanischen Weltreich eine asiatische Kolonie nach der andern an die Holländer und Engländer verliert. Vorbei sind für Lissabon die goldenen Zeiten, wo, wie die Chronisten erzählten, der Tag meist nicht ausreichte, um die einströmenden Zolleinnahmen aus dem Indienhandel zu zählen und zu verbuchen. Brasilien aber ist schon im siebzehnten Jahrhundert kein Passivposten mehr für Portugal und längst vergessen die Nöte des Anfangs, wo flehend der Gouverneur um jeden Cruzado und Nóbrega in Lissabon um ein paar abgelegte Hemden für seine Täuflinge betteln mußte. Die Brasilianer sind gute Lieferanten, sie füllen die portugiesischen Schiffe mit kostbarer Ware, sie erhalten aus eigenem Gewinn die portugiesischen Beamten, und die Zolleinnehmer schicken bereits stattliche Summen an die königliche Kasse nach Portugal hinüber. Aber die Brasilianer sind außerdem auch gute Käufer und Besteller; manche dieser Zuckerkönige haben mehr Geld und Kredit als ihr eigener König, und für seine Weine, seine Textilien, seine Bücher hat Portugal unter all seinen Kolonien kein besseres Absatzgebiet. In aller Stille ist Brasilien eine große und ständig prosperierende Kolonie geworden und zugleich die Kolonie geblieben, die Portugal das wenigste Blut gekostet, die geringsten Belastungen bringt und am wenigsten Investitionen fordert. Weder in Bahia noch in Rio de Janeiro noch in Pernambuco sind große Garnisonen erforderlich, um die Ordnung zu erhalten. Die Bevölkerung steigt ständig mit den Jahren und hat nie, abgesehen von einigen kleinen Tumulten, eine ernstliche Auflehnung versucht. Es ist nicht nötig, kostspielige Festungen zu bauen, wie in Indien und Afrika, oder Geld für neue staatliche Investitionen hinüberzuschicken; längst verteidigt, längst erhält sich dieses Land aus eigener Kraft.
So läßt sich keine bequemere Kolonie erdenken als Brasilien mit seinem stillen, ständigen Wachstum, seiner bescheidenen – und fast möchte man sagen: lautlosen – Entwicklung, die sich fast unbemerkt von der übrigen Welt vollzieht. Es ist nichts in diesem Land, das still und ständig nach innen wächst und nach außen bloß Zucker produziert oder Tabak in großen braunen Ballen an die Handlungskontore verschickt, was auf die Phantasie oder auch nur die Neugier Europas stimulierend wirken könnte. Die Eroberung Mexikos, die Goldkammern der Inkas, die Silbergruben von Potosi, die Perlen des Indischen Ozeans, die Kämpfe der amerikanischen Farmer mit den Rothäuten, die Kämpfe mit den Flibustiern des karibischen Meers lockt die Dichter und die Chronisten zu romantischen Erzählungen und fasziniert den nach Abenteuern ständig ausspähenden Unruhegeist der Jugend. Brasilien dagegen liegt Jahrzehnte, ja eigentlich zwei Jahrhunderte lang im Schatten der Weltaufmerksamkeit. Aber gerade diese lange Verborgenheit und Abseitigkeit war im letzten Brasiliens Glück. Nichts ist seiner ruhigen, organischen Entwicklung förderlicher gewesen, als daß seine münzbaren Schätze, daß sein Gold, seine Diamanten bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts unentdeckt unter der Erde lagen. Wäre dieses Gold, wären diese Diamanten im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert schon gefunden worden, so hätten die großen Nationen in einem rasenden Wettkampf auf diese Beute sich gestürzt. Von Peru, von Venezuela, von Chile wären die Rotten der Conquistadoren unaufhaltsam hereingebrochen, Brasilien wäre zum Schlachtfeld geworden aller schlimmen Instinkte, aufgewühlt, zerrissen und zerstückelt. Aber 1700, da Brasilien sich mit einem Schlage als das reichste Goldland der damaligen Welt offenbart, ist die Zeit der Abenteurer und Conquistadoren, der Villegaignons, der Walter Raleighs, der Cortez, der Pizarros schon endgültig vorbei, die wilde, nie mehr wiederkehrende Epoche des Wagemuts, da ein paar entschlossene Abenteurer mit vier oder fünf Schiffen und ein paar hundert Soldaten ganze Länder massakrieren und unterjochen konnten. 1700 ist Brasilien schon eine Einheit und eine Kraft; es hat seine Städte, seine Festungen, seine Häfen, und – was immer entscheidender ist als dies alles – es bildet bereits eine nationale Gemeinschaft und in ihr eine unsichtbare Armee, die bis zum letzten Manne gegen jeden fremden Einbruch sich wehren würde und sogar dem eigenen Mutterland über dem Meer nurmehr unwillig Zoll und Tribut zubilligt. Es braucht nur noch eines: mehr Zeit und mehr Menschen. Auf die Dauer wird der Stille und der Geduldige gerade der Stärkste sein.
Die Entdeckung des Goldes in der Provinz Minas Gerais ist mehr als ein nationales Ereignis für Brasilien und Portugal. Es ist ein Weltgeschehnis, das die ganze ökonomische Gestaltung der damaligen Wirtschaft entscheidend beeinflußt hat; nach der Feststellung Werner Sombarts wäre die kapitalistische und industrielle Entwicklung Europas zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unmöglich gewesen ohne den gewaltigen und stimulierenden Einstrom des brasilianischen Goldes in die sofort rascher pulsenden Adern des europäischen Wirtschaftslebens. Was Brasilien, dieses bisher unbeachtete Land, an Gold mit einemmal auf den Markt wirft, ist für die damalige Zeit eine kaum vorstellbare Summe. Nach den verläßlichen Schätzungen Roberto Simonsens ist in dem einen Bergtal von Minas Gerais in diesem halben Jahrhundert mehr Gold gefördert worden, als in ganz Amerika zusammengenommen bis zur Entdeckung der kalifornischen Goldgruben im Jahre 1852. Die Beute Perus und Mexikos, die das sechzehnte Jahrhundert in einen Ausbruch von Tollheit versetzte und mit einem Schlage den Sachwert, den Geldwert aller Dinge verdoppelte und verdreifachte (wie Montesquieu in seiner berühmten Studie »Les Richesses de l’Espagne« so großartig geschildert hat), stellen kaum ein Fünftel, vielleicht nur ein Zehntel dessen dar, was die lange mißachtete Kolonie ihrem Mutterlande bringt. Das eingestürzte Lissabon ist aus diesem Golde neu aufgebaut worden, das gigantische Kloster Mafra aus dem »Quinto«, dem an den König abzuliefernden gesetzlichen Fünftel errichtet; die plötzliche Blüte der englischen Industrie konnte nur so großartig aufschießen aus diesem gelben Dünger, Handel und Wandel Europas geraten durch diesen plötzlichen Zustrom in beschleunigten Schwung. Für eine Weltstunde, für fünfzig Jahre, ist Brasilien die Münzkammer der alten Welt und die ergiebigste, beneidetste Kolonie, die ein europäischer Staat besitzen kann. Für einen Augenblick will es scheinen, als sei der Traum der Conquistadoren erfüllt und das sagenhafte Eldorado gefunden.
Diese Episode des Golds – denn es wird nicht mehr als eine Episode in der Geschichte Brasiliens sein – ist dermaßen dramatisch in Aufstieg, Ablauf und Ausklang, daß man sie am besten wie ein Theaterstück mit einzelnen Akten in Szenen schildert.
Der erste Akt spielt knapp vor 1700 in einem Bergtal von Minas Gerais, das damals noch keine Provinz ist, sondern ein menschenleerer Humus ohne Städte und Wege. Eines Tages ziehen von Taubaté, einer kleinen Niederlassung der Paulisten, ein paar Männer zu Pferd und zu Maultier gegen die Hügel, die der kleine Rio das Velhas in vielen Krümmungen und Windungen durchbricht; wie tausend andere vor ihnen sind diese Männer ausgezogen nach einem Irgendwohin, ohne einen Weg zu wissen und eigentlich ohne bestimmtes Ziel. Sie wollen nur etwas finden und heimbringen, vielleicht Sklaven, vielleicht Vieh, vielleicht ein kostbares Metall. Dann kommt der unvermutete Fund: einer von ihnen, man weiß nicht, ob auf geheime Kunde hin oder durch bloßen Zufall, entdeckt im Sand die ersten Körner angeschwemmten Goldes und bringt sie in einer Flasche nach Rio de Janeiro. Und wie immer genügt der erste Blick auf dieses geheimnisvoll neidfarbene Metall, und eine wilde Völkerwanderung setzt ein. Von Bahia, von Rio de Janeiro, von São Paulo hasten die Leute heran, zu Pferd, zu Esel, zu Maultier, zu Fuß und in Barken den São Francisco empor. Matrosen verlassen – hier hat der Regisseur die Massenszenen einzusetzen – ihre Schiffe, die Soldaten ihre Garnisonen, Kaufleute ihre Geschäfte, Priester ihre Kanzeln, und in schwarzen Herden werden die Sklaven herangetrieben in diese Wildnis. Für den ersten Augenblick droht der scheinbare Glücksfall eine beispiellose Wirtschaftskatastrophe für das ganze Land zu werden. Die Zuckerfabriken, die Tabakplantagen stocken, weil ihre Leiter sie verlassen und die Sklaven mitgetrieben haben, um dort in einer Woche, in einem Tag soviel zu raffen, wie bei geduldiger, zielbewußter Arbeit in einem Jahr. Die Schiffe können nicht verladen, die Transporte nicht geführt werden. Alles stockt und steht still, und die Regierung muß eigene Gesetze erlassen, um die Desertion der arbeitenden Kräfte ins Innere zu verhindern. Aber während in den Küstenstädten eine Katastrophe droht durch die plötzliche Entvölkerung, so droht umgekehrt dem Golddistrikt durch die plötzliche Übervölkerung das ewige Midasschicksal der Hungersnot bei goldenen Schüsseln. Es gibt Goldstaub und Goldkörner in Fülle, aber es gibt kein Brot und keinen Mais und keinen Käse und keine Milch und kein Fleisch, um die Zehntausende, die vielleicht Hunderttausende zu verköstigen in dieser Bergwildnis ohne Vorräte, ohne Viehstand und ohne Frucht. Glücklicherweise treibt die Aussicht, ihre Ware zum fünffachen, zum zehnfachen Preis und diesen noch in barem Gold bezahlt zu bekommen, die Kaufleute zu verzehnfachter Anstrengung. Immer größere Mengen von Lebensmitteln und anderen Waren wie Hacken und Schaufeln und Siebe werden zu Fluß und zu Land in die Wildnis befördert. Im Lande bahnen sich Wege, der bishin stilliegende, blau vor sich hinträumende Fluß São Francisco, der sonst in Monaten kaum ein Segel gesehen, wird eine belebte Straße. Hinauf und hinab fahren, von Sklaven getrieben, die Boote; die Ochsen schleppen die Karren dann weiter, und zurück strömt in kleinen Ledersäcken lose oder schon halb gemünzt das erträumte Gold. Eine fieberhafte Tätigkeit ist plötzlich über dies ruhige und beinahe schläfrig arbeitende Land gekommen. Aber es ist wie immer ein böses Fieber, das Goldfieber. Es erregt die Nerven, es erhitzt das Blut, es macht die Augen gierig und die Sinne verwirrt. Bald beginnen erbitterte Kämpfe; die ersten Entdecker, die Paulistas, wehren sich gegen die Spätergekommenen, die Emboabas. Was einer mühsam gerafft, holt der andere mit einem Dolchstich an sich, und in das Tragische mischt sich grotesk das Lächerliche. Menschen, die gestern noch Bettler waren, stolzieren in lächerlichen Prunkgewändern herum, an den Spieltischen verlieren Deserteure und Lastträger beim Würfelspiel ganze Vermögen und – opernhafter Abschluß des ersten Aktes – bei diesem wilden Durchwühlen der Erde gleichzeitig an tausend Stellen wird in der Nähe von Diamantina gefunden, was noch kostbarer ist als das Gold: der Diamant.
Zweiter Akt: eine neue Hauptfigur tritt auf, der portugiesische Gouverneur als Wahrer des Kronrechts. Er ist gekommen, um die neuentdeckte Provinz zu überwachen und vor allem, um das dem König zustehende Recht auf ein Fünftel zu sichern; hinter ihm marschieren die Soldaten, reiten die Dragoner, um Ordnung zu schaffen. Ein Münzhaus wird eingerichtet, in dem alles gefundene Gold zum Schmelzen abgeliefert zu werden hat, damit genaue Kontrolle geübt werden kann. Aber die wilde Rotte will keine Kontrolle; ein Aufstand bricht aus, der mit unerbittlicher Hand niedergeschlagen wird. Nun wird langsam aus dem wilden Abenteuer eine geregelte und von der königlichen Autorität streng überwachte Fabrikation. Nach und nach entwickeln sich in dem kleinen Goldgebiet weiträumige Städte, Vila Rica, Vila Real und Vila Albuquerque, die in ihren Hütten und hastig aus Lehm aufgerichteten Häusern hunderttausend Menschen sammeln, mehr als New York und mehr als jede amerikanische Stadt zu jener Zeit, Städte, von denen heute kaum mehr jemand weiß, und Städte, von denen auch die damalige Welt kaum mehr als eine ungewisse Ahnung hatte. Denn Portugal ist entschlossen, seinen Schatz zu hüten und keinen Ausländer auch nur eine Stunde an diese goldene Quelle heranzulassen. Das ganze Gebiet wird gewissermaßen mit einem eisernen Gitter umschlossen; an allen Straßenkreuzungen werden Schlagbalken aufgerichtet, überall patrouillieren Tag und Nacht Soldaten, kein Reisender darf die Zone betreten, kein Goldgräber sie verlassen, ohne nicht vorher sorgfältig untersucht worden zu sein, ob er nicht etwa Goldstaub mit sich führe, den er ungerechtfertigterweise dem Schmelzhaus und der Tesouraria entzogen; fürchterlich sind die Strafen, mit denen jede Übertretung geahndet wird. Niemand darf Nachricht geben über das Land, Brasilien und seine Schätze, kein Brief wird herausgelassen, und ein Buch, das Antonil, ein italienischer Jesuit, über die »Reichtümer Brasiliens« geschrieben, von der Zensur unterdrückt. Kaum daß Portugal bewußt geworden ist, welches Wertobjekt es an Brasilien besitzt, bringt es alle Künste der Überwachung ins Spiel, um die gefährliche Eifersucht und Habgier der anderen Nationen fernzuhalten. Nur der Hof und die Beamten der Tesouraria dürfen wissen, an welchen Stellen Gold und an welchen Stellen Diamanten gefördert werden, und wie hoch der Anteil der Krone ist, und noch heute vermag eigentlich niemand die Ausbeute dieses Jahrhunderts verläßlich zu errechnen. Aber darüber, daß sie ungeheuer gewesen sein muß, kann kein Zweifel herrschen, denn nicht nur jenes Fünftel strömt in die längst seicht gewordenen Kassen, sondern jeder Diamant über zweiundzwanzig Karat hat ohne Entschädigung abgeliefert zu werden, und dazu kommt noch der Gewinn aus den Warenbeständen, die für die plötzlich reichgewordene Kolonie eingeführt werden, und der gesteigerte Ertrag an dem Umschlagszoll auf die Sklaven, die in verdoppelter Anzahl zur rascheren Ausbeutung importiert werden müssen. Nun erst ist Portugal gewahr geworden, daß es, als es alle seine indischen und afrikanischen Reiche verlor, doch die wertvollste seiner »überseeischen Provinzen« gerade mit dem Lande behielt, das seine »Lusiaden« nicht besungen und das nur seine Ärmsten und Ausgestoßenen besiedelt.
Der dritte Akt dieser Tragikomödie des Golds spielt ungefähr siebzig Jahre später und bringt die tragische Wendung. Die erste Szene ist Vila Rica und Vila Real, verändert und doch unverändert. Unverändert die Landschaft mit ihren dunkelgrünen oder nackten Bergen, mit dem unwillig durch die engen Täler sich vorstoßenden Fluß. Verändert aber die Stadt; hohe, helle, mächtige Kirchen, innen mit Bildwerk und Skulpturen reich geschmückt, haben sich hoch auf den Hügeln erhoben, um den Palast des Gouverneurs sich stattliche Häuser geschafft; eine ansehnliche und vermögende Bevölkerung hat sich gesammelt, aber es ist nicht die verschwenderische, die fröhlich belebte mehr von gestern und vorgestern. Etwas ist fort, was den Straßen und Tavernen und Geschäften die lebendige Regsamkeit gab, etwas ist fort, das die Blicke der Menschen erleuchtete, ihre Bewegungen frischer und lebendiger machte, etwas ist fort, was die Atmosphäre hier feurig und fiebrig machte. Und dieses Etwas ist das Gold. Noch immer strömt und schäumt der Fluß und wirft in seinem Lauf zerriebenes Gestein als Sand an die Ufer, aber soviel man ihn auch schütteln mag in Sieben und gewässert durch Abläufe treibt, er bleibt nur wertloser Sand. Nicht mehr finden sich wie einst die schweren, glänzenden Körner darin, vorbei sind die Jahre, wo, um sich zu bereichern, es genügte, fünfzig oder hundert Sklaven hinzustellen, die in Holzschüsseln den Sand schwenkten und schwenkten und schwenkten und dann unten am Grunde jedesmal ein paar Unzen der vollwichtigen Körner blieben. Das Gold des Rio das Velhas war nur Schwemmgold gewesen, Oberflächengold und ist nun abgeschöpft. Um es aus den Tiefen des Berges zu holen, ist mühselige technische Arbeit vonnöten, der die Zeit und das Land noch nicht gewachsen ist. Und so kommt die Wendung: Vila Rica wird Vila Pobre, eine arme Stadt. Die Goldwäscher von gestern, verarmt und verbittert, ziehen ab mit ihren Maultieren und Eseln und Negern und ihrer kärglichen Habe, die Lehmhütten der Sklaven, zu Tausenden über die Hügel verstreut, werden weggeschwemmt vom Regen oder verfallen. Die Dragoner reiten weg, denn sie haben nichts mehr zu bewachen, die Casa de Fundação hat nichts mehr zu schmelzen, der Gouverneur nicht mehr viel zu verwalten; selbst das Gefängnis bleibt leer, weil kaum mehr hier einer dem andern etwas zu rauben oder zu stehlen hat. Der Zyklus des Goldes hat ausgeschwungen.
Vierter Akt dann in zwei gleichzeitigen Szenen, die eine in Portugal, die andere in Brasilien. Die erste Szene spielt im königlichen Palast von Lissabon. Der Kronrat ist versammelt. Die Berichte der Tesouraria werden verlesen, und sie sind erschreckend. Immer weniger Gold aus Brasilien und immer größer die Schulden im Land. Die industriellen Compagnien, die Pombai gegründet, stehen vor dem Zusammenbruch, weil man sie nicht mehr finanzieren kann, der Wiederaufbau Lissabons, so energisch begonnen, ist gehemmt. Wo Geld schaffen, seit das Gold nicht mehr aus Brasilien strömt, und wie Ersatz dafür? Die Austreibung der Jesuiten, die angeordnete Konfiskation ihrer Güter hat nichts geholfen; nach dem ersten Traumreich der »Lusiaden« ist nun auch das des ewigen Eldorados entschwunden. Tückisch wie immer hat das Gold nur Glückseligkeit versprochen und nicht gehalten. Und Portugal muß sich bescheiden, wieder zu werden, was es zuerst gewesen, ein kleines, stilles und eben um dieser stillen Schönheit willen liebenswertes Land.
Die andere, gleichzeitige Szene in Minas Gerais in vollkommenem Gegensatz: die Goldwäscher sind mit ihren Maultieren, Eseln, Sklaven und ihrer ganzen beweglichen Habe von der unwirtlichen Gebirgsgegend heruntergezogen und haben das fruchtbare Wiesenland entdeckt. Sie siedeln sich an, kleine Niederlassungen und Städte entstehen, den São Francisco entlang fahren die Schiffe, der Verkehr belebt sich, aus einem leeren unbewohnten, unbebauten Lande wird eine neue, tätige Provinz. Was für Portugal Verlust, wird für Brasilien Vorteil; für das entschwundene Gold hat es eine ungleich kostbarere Substanz gewonnen, ein neues Stück seiner Erde für tätige und fruchtbringende Arbeit.
Dieser Goldsturm nach Minas Gerais stellt in demographischer Hinsicht eigentlich die erste jener großen Innenimmigrationen dar, die für die nationale und wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens so entscheidend geworden sind. Ohne diese immer wiederholten Wanderungen im inneren Raum wäre das Phänomen unverständlich, daß ein Land von so ungeheurer Ausdehnung in einem solchen Maße national einheitlich geblieben ist, daß selbst die Sprache sich kaum in einzelne Dialekte umfärbte und vom Paranê hinauf bis zum Amazonas, vom Ozean bis in die fast unerreichbare Ferne von Goiaz dieselben Sitten obwalten und trotz aller klimatischen und beruflichen Verschiedenheiten der Volkstypus ein einheitlicher geblieben ist. Wie in allen großräumigen Ländern hat hier der Ansiedler ein anderes Verhältnis zur Scholle wie der Bauer der engen europäischen Gemarkung, der völlig seinem Haus wie seinem Grund verhaftet ist. In Brasilien, wo die Erde im ganzen Hinterlande frei war und jeder sie nehmen konnte, wo er wollte und wie er wollte, ist der Mensch wanderlustig und unternehmungsbereit. Es ergab sich hier ganz natürlich, daß der Ansiedler, weniger traditionell gebunden als der europäische Bauer, leicht seinen Wohnsitz tauschte und jeder neuen Gelegenheit willig folgte, die sich ihm bot. So prägen die großen Umschaltungen in der brasilianischen Wirtschaft von einem Monopolprodukt zum andern, die sogenannten Zyklen der Produktion, sich auch als Wanderungen und Verschiebungen des siedlerischen Gleichgewichts aus, und man könnte in gewissem Sinne diese Zyklen ebenso wie nach den Produktionsobjekten nach den Städten und Landschaften benennen, die sie geschaffen haben. Die Ära des Holzes, des Zuckers und Cotons hat den Norden besiedelt. Sie hat Bahia geschaffen, Recife, Olinda, Pernambuco und Cearê. Minas Gerais ist besiedelt worden durch das Gold. Rio de Janeiro wird seine Größe der Umsiedlung des Königs mit seinem Hofe danken, São Paulo seinen phantastischen Aufstieg dem Imperium des Kaffees, Manaus und Belém ihre plötzliche Blüte dem rasch ablaufenden Zyklus des Gummis, und noch wissen wir die Lage der Städte kaum, die der nächste Umschwung, die Erzgewinnung, die Industrie zu plötzlichem Wachstum bringen wird.
Dieser Prozeß der Gleichgewichtsverteilung, der noch heute in vollem Gang ist, – denn der Brasilianer ist dank seiner dunklen Erbschaft besonders beweglich von Natur –, und der dauernd gefördert wurde durch eine ständige Zumischung von erst der afrikanischen, dann der europäischen Immigration, hat verhindert, daß der organische Ausbreitungsprozeß jemals völlig ins Stocken geraten ist. Er hat eine allzu stabile soziale Schichtung verhindert, und statt des partikulären Elements das nationale stärker herausgearbeitet. Man hört noch hie und da sagen, daß dieser von Bahia stammt und jener aus Porto Alegre, aber bei näherer Nachfrage erfährt man, daß Vater oder Mutter fast immer von anderer Herkunft sind; dank dieser ständigen Transfusion und Transplantation hat sich dieses Wunder der brasilianischen Einheitlichkeit bis auf den heutigen Tag gerettet, wo durch die gesteigerten Verbindungsmöglichkeiten die bindenden Kräfte des Radios und der Zeitung eine nationale Zusammenfassung viel selbstverständlicher machen. Während das spanisch-südamerikanische Reich, das weder räumlich noch an Menschenanzahl dem ehemaligen portugiesischen Kronland überlegen ist, schon im Grundplan durch die Aufteilung in einzelne Gouverneursbezirke die Sonderheiten Argentiniens, Chiles, Perus, Venezuelas in dialektischen Formen, in Sitte und Habitus schärfer herausarbeitet, bereitete die zentralistisch geführte Regierungsform Brasiliens schon von Anfang an eine völlig einheitlich ökonomische und nationale Form vor, die, weil früh und organisch in der Seele des Volkes verankert, auch im wirtschaftlichen Sinne nicht mehr zu zerstören war.
Versucht man für die Epoche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Bilanz von Soll und Haben aufzustellen zwischen der Kolonie und dem Mutterland, zwischen Brasilien und Portugal, so findet man ein vollkommen verändertes Bild. Von 1500 bis 1600 ist Brasilien der nehmende, Portugal der gebende Teil: es muß Beamte und Schiffe, Waren und Soldaten, Kaufleute und Kolonisten hinüberschicken, und seine weiße Bevölkerungszahl übertrifft um das Zehnfache die junge Kolonie. Um 1700, also zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, dürfte die Waage auf gleich schwanken und sich eher zu Gunsten Brasiliens überneigen. Um 1800 hat sich die Proportion schon in phantastischer Weise verändert. Portugal mit seinen 91.000 Quadratkilometern erscheint winzig neben dem Land, das achteinhalb Millionen desselben Maßes umfaßt. Allein an schwarzen Sklaven beherbergt es mehr als Portugal mit all seinen Untertanen; an wirtschaftlicher Kraft ist das amerikanische Reich nicht mehr zu vergleichen mit dem verarmten, in ökonomischen Marasmus immer tiefer verfallenden europäischen Heimatland. Mit viel Gold oder wenig Gold, mit seinen Diamanten, seinem Zucker, seiner Baumwolle, seinem Tabak, seinem Viehstand, seinen Erzen und nicht zuletzt seinen von Jahr zu Jahr gewaltig wachsenden Arbeitskräften hat es sich längst von jeder Hilfeleistung emanzipiert. Das Kind erhält jetzt die Mutter und nicht mehr die Mutter das Kind. Beim Erdbeben von Lissabon schickt Brasilien nicht weniger als drei Millionen Cruzados zum Aufbau als Geschenk hinüber, und vermögend ist in Portugal nurmehr, wer Besitz hat in Brasilien oder Handel treibt mit seinen Häfen und Städten. Wie eine Welt steht Brasilien neben der pequena casa Lusitana.
Aber je kräftiger, je männlicher, je aufrechter Brasilien sich entfaltet, um so sichtlicher verrät das Mutterland die Sorge, sein allzu kräftig geratenes Kind könnte eines Tages seiner Obhut entlaufen. Immer wieder versucht es, das schon selbständig handelnde, selbständig denkende, selbständig wirkende Wesen, als ob es noch unmündig wäre und am königlichen Gängelband geführt werden müßte, in die Gehschule einzuschließen. Mit Gewalt soll seine wirtschaftliche Selbständigkeit verhindert werden. Während Nordamerika längst frei sein Schicksal bestimmt, darf Brasilien noch keine Waren erzeugen außer seinen Fertigprodukten. Es darf keine Stoffe weben, sondern soll sie auf dem Umweg über das Mutterland beziehen, es darf keine eigenen Schiffe bauen, damit einzig die portugiesischen Reeder verdienen. Für geistige Menschen, für Techniker, für Industrielle soll dort kein Raum sein und kein Tätigkeitsfeld. Kein Buch darf dort gedruckt werden, keine Zeitung veröffentlicht, und mit den Jesuiten nimmt man ihnen noch die einzigen, die dort ein wenig Bildung verbreiten. Nur keinen selbständigen ökonomischen Aufstieg, nur keine freie Verbindung mit den Weltmärkten! Brasilien soll Sklavenland bleiben, Fronland, abhängige Kolonie, und je unselbständiger, je ungeistiger, je unnationaler, desto besser. Jede Regung der Unabhängigkeit wird gewaltsam niedergeschlagen. Und die portugiesischen Truppen, die innerhalb Brasiliens stehen, haben längst nicht mehr wie einst den Sinn, die Kolonie gegen äußere Feinde zu schützen, – denn dies vermöchte das Land längst aus eigener Kraft –, sondern einzig die königliche Wirtschaftskaserne gegen das eigene Land zu bewachen.
Aber immer wiederholt sich das gleiche Phänomen in der Geschichte; was in Jahren und Jahren an Vernunft und Gleichgültigkeit versäumt wird, erzwingt dann die brutale Gewalt in einer einzigen Stunde. Es ist groteskerweise Napoleon, der Welttyrann Europas, der dieses amerikanische Land befreit. Denn indem er den König von Portugal durch den blitzartigen Vormarsch seiner Truppen zwingt, seine Residenzstadt Lissabon in überstürzter Flucht zu verlassen, zwingt er ihn auch, zum erstenmal das Land in Augenschein zu nehmen, das ihm seine Paläste gebaut und seiner Krone, seinem Lande durch Jahrzehnte und Jahrhunderte der treueste Helfer gewesen. Statt der Zolleinnehmer und der Gendarmerie erscheint nun zum erstenmal mit seinem ganzen Hof, dem Adel und der Geistlichkeit ein Angehöriger des Hauses Bragança, der König João VI., in seiner Kolonie.
Aber das neunzehnte Jahrhundert wird keine Kolonie Brasilien mehr kennen; König João bleibt keine andere Wahl, als das Kind, das ihn, den Geflüchteten, den kläglich Geschlagenen, in seine Arme nimmt und aufrichtet, feierlich für mündig zu erklären. Unter dem Titel des Vereinigten Königreichs wird Brasilien Portugal gleichgestellt, und für zwölf Jahre liegt die Hauptstadt dieses Doppelkönigreichs nicht am Tajo mehr, sondern in der Bucht von Guanabara. Mit einem Schlage sind die Schranken gefallen, die Brasilien vom Welthandel bisher abgeschlossen haben, vorbei ist die Zeit der Erlaubnisse und Verbote und strengen Dekrete. Fremde Schiffe dürfen seit 1808 hier landen, Waren ausgetauscht werden, ohne daß der Tribut abgeliefert werden müßte an die Tesouraria jenseits des Meers. Brasilien darf arbeiten und produzieren, darf sprechen und schreiben und denken, und so kann mit der wirtschaftlichen endlich auch die lange gewaltsam zurückgehaltene kulturelle Entwicklung beginnen. Zum erstenmal seit der flüchtigen Episode der holländischen Besetzung werden Gelehrte, Künstler, Techniker von hohem Rang ins Land berufen, um hier den Aufbau einer eigenen Kultur zu fördern. Völlig unbekannte Dinge wie Bibliotheken, Museen, Universitäten, Kunstakademien, technische Schulen werden eingerichtet und dem Lande volle Freiheit gegeben, seine Sonderpersönlichkeit im Kulturkreis der Welt zu zeigen und zu bewähren.
Aber wer einmal das Gefühl der Freiheit kennen-und lieben gelernt hat, der hält dann nicht mehr ein, ehe er nicht die volle, die schrankenlose Freiheit erlangt. Selbst dies gelockerte Band, das das neue Königreich mit dem alten jenseits des Ozeans verbindet, empfindet es als Hemmung und Bedrückung. Und erst, wie es sich 1822 selber zum Königreich krönt, beginnt seine wahre Unabhängigkeit.
Oder vielmehr, sie könnte beginnen. Denn nur im politischen Sinne gelingt es Brasilien, sich seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht aber im wirtschaftlichen. Im Gegenteil, bis tief in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gerät Brasilien eigentlich in schwerere ökonomische Abhängigkeit von England und den anderen Industriestaaten, als es vordem von Portugal gewesen. Brasilien hat – in seiner Entwicklung gehemmt durch die Verbote Lissabons – die industrielle Revolution verschlafen, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unsere Welt durchgreifend zu verändern begann. Bisher konnte es in der Lieferung seiner Kolonialprodukte jede Konkurrenz überwinden durch die Billigkeit seiner Arbeitskräfte, durch die Sklaverei, und im wirtschaftlichen Sinn den ersten Rang unter allen amerikanischen Kolonien behaupten. Noch zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung war es im Export gegenüber Nordamerika führend gewesen und hatte in seinen Absatzziffern in manchen Jahren sogar diejenigen Englands erreicht. Aber im neuen Jahrhundert ist ein neues Element in die Weltwirtschaft eingebrochen: die Maschine. Eine einzige Dampfmaschine in Liverpool oder Manchester leistet jetzt, von einem Dutzend Arbeiter bedient, mehr als hundert und bald tausend Sklaven in der gleichen Zeit, Handindustrie kann von nun an gegen organisierte Fabrikindustrie auf die Dauer ebensowenig ankämpfen, wie nackte Eingeborene mit ihren Pfeilen gegen Maschinengewehre und Kanonen. Dieses an sich schon verhängnisvolle Zurückbleiben gegen das Tempo der Zeit wird noch vermehrt durch ein besonderes Mißgeschick. In dem gewaltigen und fast vollständigen Katalog seiner Erze und Gesteine fehlt gerade jener Kraftstoff, der für das neunzehnte Jahrhundert als motorische Substanz entscheidend ist: die Kohle.
Brasilien hat in diesem entscheidenden Augenblick der Transport-und Kraftumstellung auf diese neue dynamische Substanz in seinem unübersehbaren Territorium nicht eine einzige Kohlengrube. Jedes Kilogramm muß viele Wochen weither verfrachtet und mit dem in seinem Wert rapid absinkenden Zucker überteuert bezahlt werden. Dadurch wird jeder Transport unrentabel, und durch die gebirgige Struktur des Landes verzögert sich der Bau von Eisenbahnen überdies noch um unersetzbare Jahrzehnte und setzt auch dann noch nur unzulänglich ein. Während sich der Umschlagrhythmus von Ware und Verkehr in den europäischen und nordamerikanischen Staaten von Jahr zu Jahr verzehnfacht, verhundertfacht, vertausendfacht, wehrt sich in Brasilien die Erde, Kohle herzugeben, stemmen sich die Berge und krümmen sich die Flüsse, als wollten sie sich weigern gegen das neue Jahrhundert. Bald zeigt sich das Resultat: von Jahrfünft zu Jahrfünft bleibt Brasilien immer mehr zurück in der modernen Entwicklung, und besonders der Norden mit seinen schlechten Verkehrsmitteln gerät in einen später kaum mehr aufzuhaltenden Verfall. Zu einer Zeit, da Schienenstränge in dreifachem und vierfachem Gürtel schon die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, von Süden nach Norden verbinden, sind hier auf einem gleich großen Terrain neun Zehntel des Landes Meilen und Meilen weit von jeder Schienenspur, und während den Mississippi und den Hudson und den San Lorenzo ständig die neuen Dampfboote auf-und niederfahren, erblickt man nur selten am Amazonas und São Francisco den Rauch eines Schornsteins. So kommt es, daß zu einer Zeit, da in Europa und Nordamerika die Kohlenminen und Eisenwerke, die Fabriken und Verkaufszentren, die Städte und die Häfen mit immer geringerem Zeitverlust zusammenarbeiten und sich die Potenz und Schlagkraft der Massenproduktion von Jahr zu Jahr übersteigert, Brasilien bis tief ins neunzehnte Jahrhundert bei den Methoden des achtzehnten, des siebzehnten und sechzehnten ohnmächtig stehenbleibt, immer nur dieselben Rohstoffe liefernd und dadurch im Absatz seiner Fertigwaren der Willkür des Welthandels wehrlos ausgeliefert.
So fällt und verfällt die Handelsbilanz; Brasilien tritt als dominierender Faktor aus der vordersten Reihe Amerikas in die zweite oder dritte zurück, und sein Wirtschaftsbild entbehrt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht einer gewissen Perversität. Denn gerade das Land, das mehr Eisen besitzt als vielleicht irgendein anderes der Erde, muß jede Maschine, jedes Werkzeug vom Ausland importieren. Obwohl es Baumwolle auf seinem Boden in unbeschränkter Fülle erzeugt, muß es den gewebten, den bedruckten Stoff aus England einführen. Obwohl seine Waldbestände unermeßlich und ungefällt sich dehnen, muß es Papier von auswärts kaufen und so jedes Objekt, das nicht mit unorganisierter, altväterlicher Handarbeit erzeugt werden kann. Wie immer in Brasilien würden großzügige Investitionen, die den Betrieb umorganisierten, hier Rettung bringen. Aber Brasilien fehlt es seit der Stockung des Goldes an Kapital, und so werden seine Eisenbahnen, seine ersten Fabriken, seine wenigen großzügigen Unternehmungen ausschließlich von englischen und französischen und belgischen Compagnien eingerichtet und das neue Kaiserreich als Kolonie anonymer Gruppen aller Weltausbeutung ausgeliefert. In einer Zeit, wo der Rhythmus der Bewegung, die lebendige Durchpulsung des Raums mit schöpferischen Energien für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines Landes entscheidend wird, ist Brasilien, das noch mit den alten Methoden und mit den alten Umsatzlangsamkeiten arbeitet, von einem vollkommenen Marasmus bedroht. Wieder einmal ist seine Wirtschaft bei einem Tiefpunkt angelangt.
Aber es gehört zur Besonderheit seiner Entwicklung, daß dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten jede seiner Krisen immer wieder durch eine plötzliche Umstellung überwindet, indem es, sobald sein Hauptexportartikel versagt, sich einen neuen und noch ergiebigeren findet. Wie das siebzehnte Jahrhundert durch den Zucker, das achtzehnte durch das Gold und die Diamanten, so zeitigt auch das neunzehnte ein solches Wunder des unvermuteten Aufstiegs durch den Kaffee. Nach dem Zyklus des Zuckers, des weißen Goldes, dem Zyklus des wirklichen Goldes setzt mit dem Kaffee der Zyklus des braunen Goldes ein, der dann noch für kurze Zeit durch den Zyklus des flüssigen Goldes, des Gummis, abgelöst wird, und es ist ein Triumphzug ohnegleichen. Denn mit dem Kaffee erschafft sich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in das zwanzigste hinein Brasilien ein absolutes Weltmonopol: wieder sind es die alten und so typischen Faktoren, die Ergiebigkeit der Erde, die Leichtigkeit der Anpflanzung, die Primitivität des Produktionsprozesses, die diesen neuen Artikel gerade Brasilen besonders gemäß machen. Die Kaffeebohne kann nicht mit Maschinen gepflanzt, nicht von Maschinen geerntet werden. Hier allein leistet der Sklave noch mehr als das eiserne Schwungrad. Und abermals ist es wie beim Zucker, beim Kakao, beim Tabak ein Qualitätsartikel, der an die verfeinerten Geschmacksnerven appelliert – eigentlich das notwendige Komplementprodukt zu diesen beiden früheren, denn als köstlicher Nachtisch bilden diese drei, die Zigarre, der Zucker, der Kaffee das ideale Trifolium.
Immer ist es seine Sonne und der Saft, die Kraft seiner Erde, die Brasilien retten. Was in der alten Heimat schon köstlich war, wird noch köstlicher auf dieser neuen Erde; nirgends gedeiht der Kaffee so üppig und mit solchem Aroma wie in dieser subtropischen Zone. Schon die früheren Jahrhunderte hatten diese Bohnen und ihre stimulierende Kraft gekannt. Aber wie der Kaffee 1730 ins Gebiet des Amazonas und 1762 nach Rio de Janeiro hinübergepflanzt wird, gilt er noch als Luxusartikel, und sein Absatz kann demgemäß für die Wirtschaft nicht entscheidend sein; in den statistischen Tabellen erscheint er zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch in den Quanten und wertmäßig weit hinter der Baumwolle, dem Leder, dem Kakao, dem Zucker und dem Tabak. Genau wie bei seinen älteren Brüdern, dem Tabak und dem Zucker, hilft erst die steigende, in immer breitere Schichten Europas und Nordamerikas eindringende Gewöhnung an dieses wundervolle Stimulans zu regerer Anpflanzung. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnen Produktion und Absatz dann plötzlich in Fieberkurven anzusteigen, und Brasilien wird der Kaffeelieferant der ganzen Welt. Immer hastiger muß es seine Produktion erweitern, um dem Bedarf nachzukommen, Hunderttausende und schließlich Millionen Arbeiter strömen in die Provinz São Paulo ein, die großen Häfen und Magazine von Santos werden ausgebaut, wo manchmal an einem einzigen Tage dreißig Frachtdampfer gefüllt mit Kaffeesäcken vor Anker liegen. Mit dem Export von Kaffee reguliert Brasilien für Jahrzehnte seine Wirtschaft, und welchen Wert dieser Export darstellt, zeigen die gigantischen Zahlen. Zwischen 1821 und 1900, in achtzig Jahren, liefert das Land für 270 Millionen und 835.000 englische Pfund, im ganzen bis heute für über zwei Milliarden englischer Pfunde; damit allein ist ein Großteil seiner Investitionen und seiner Einfuhr schon gedeckt. Aber anderseits wird durch diese Monopolproduktion Brasilien immer mehr von den Börsenpreisen abhängig und seine Währung an die Notierung des Kaffees verhängnisvoll gebunden; jeder Sturz der Kaffeepreise muß den Milreis mit sich reißen.
Und dieser Sturz der Kaffeepreise erweist sich schließlich als unaufhaltsam. Die Pflanzer, von den leichten Absatzmöglichkeiten angelockt, erweitern ständig ihre Fazendas, und da keine organisierte Planwirtschaft rechtzeitig dieser wilden Überproduktion entgegentritt, folgt eine Krise der andern. Die Regierung muß mehrmals intervenieren, um eine Katastrophe zu verhindern, einmal indem sie einen Teil der Ernte aufkauft, ein andermal, indem sie Neuanpflanzungen mit so hohen Steuern belegt, daß sie einem Anpflanzungsverbot gleichkommen, ein drittes Mal, indem sie den aufgekauften Kaffee ins Meer werfen läßt, um den Sturz der Preise aufzuhalten. Aber die Krise bleibt latent. Immer wieder stürzt nach kurzen Erholungen der Preis und reißt mit jedem seiner Stürze den Milreis mit sich. Derselbe Sack Kaffee, der um 1925 noch fünf englische Pfund kostet, fällt 1936 bis auf eineinhalb englische Pfund, während gleichzeitig der Milreis noch heftiger absinkt. Aber im Sinne der Stabilität der Finanzen und des innern Gleichgewichts ist es eher ein Vorteil, daß die Königsherrschaft des Kaffees sich ihrem Ende nähert und nicht Wohlstand oder Krise eines ganzen Landes durch den zufälligen Kurs der braunen Körner an den internationalen Warenbörsen bestimmt wird. Wie immer wird auch hier eine wirtschaftliche Krise Brasilien zum nationalen Gewinn, weil sie zu gleichmäßiger Ausbreitung seiner Produktion drängt und rechtzeitig die Gefahr der Einstellung seines Volksvermögens auf eine einzige Karte erkennen läßt.
Eine Zeitlang hat es den Anschein, als wollte gegen den wirtschaftlichen König Brasiliens, den Kaffee, ein gewaltiger Kronprätendent sich erheben, um die Herrschaft an sich zu reißen: das Gummi. Es hätte eigentlich für seinen Anspruch ein gewisses moralisches Recht, denn es ist nicht wie der Kaffee ein ziemlich spät gekommener Immigrant, sondern ein heimischer Bürger. Der Gummibaum, die Hevea brasiliensis, war ursprünglich in den Wäldern des Amazonas zu finden. Dreihundert Millionen solcher Bäume wachsen dort seit Hunderten und Hunderten von Jahren, ohne daß je ihre besondere Form und ihr kostbarer Saft den Europäern bekannt geworden wäre. Die Eingeborenen benutzen ab und zu das ausfließende Harz, wie Le Condamine auf seiner Amazonasreise als erster 1736 feststellt, um ihre Segel und Gefäße gegen das Wasser zu verkitten. Aber das klebrige Harz, industriell nicht verwertbar, weil es weder hohen noch niederen Temperaturen Widerstand zu leisten vermag, wird nur ab und zu in kleinen Quantitäten und in primitiv angefertigen Artikeln zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach Amerika geschickt. Die entscheidende Wendung kommt erst, als 1839 Charles Goodyear entdeckt, daß man durch eine Schwefellegierung die weiche Masse in eine neue, gegen Hitze und Kälte weniger empfindliche umwandeln könne. Mit einem Schlage wird der Kautschuk einer der »big five«, eine der großen Notwendigkeiten der modernen Welt, kaum minder wichtig als Kohle, Petroleum, Holz und Erz. Man benötigt ihn zu Schläuchen, zu Galoschen und zu tausend anderen Dingen, und mit der Einführung des Fahrrads und dann des Automobils nimmt sein Verbrauch gigantische Proportionen an.
Für den Grundstoff dieses neuen Produkts besitzt nun Brasilien bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts das ausschließliche Monopol. Im ganzen Weltall ist nur in seinen amazonischen Wäldern – ein ökonomischer Glücksfall ohnegleichen – die Hevea brasiliensis zu finden; es ist also an Brasilien, die Preise zu diktieren. Entschlossen, das kostbare Monopol für sich allein zu behalten, verbietet die Regierung die Ausfuhr auch nur eines einzigen Baumes, wohl sich erinnernd, wie sehr es selbst durch die Einführung von ein paar Dutzend Kaffeesträuchern aus dem nachbarlichen französischen Guayana seinerzeit den gefährlichsten Rivalen schachmatt gesetzt hat. Und nun beginnt in merkwürdiger Parallelität zu der Entdeckung des Goldes in Minas Gerais ein plötzlicher boom in den bisher nur von Moskitos und anderem Getier bewohnten Urwäldern des Amazonas. Abermals setzt mit diesem Zyklus des »flüssigen Goldes« eine gewaltige Binnenimmigration in eine bisher unbesiedelte Provinz ein. Siebzigtausend Menschen aus der Gegend von Cearê, die infolge einer plötzlichen Dürre ihre bisherigen Wohnstätten verlassen mußten, werden von den Compagnien angeworben und von Belém in Booten und Schiffen hinauf in diese Wildnis geschickt, oder wenn man es ehrlicher sagt: verkauft. Denn ein furchtbares System der Ausbeutung beginnt in diesen Gegenden, die so weit von Gesetz und Überwachung sind wie seinerzeit die Goldtäler von Minas Gerais; obwohl nicht Sklaven, werden diese seringueiros durch Arbeitskontrakte und dadurch, daß die Unternehmer, noch nicht zufrieden mit dem Gewinn an dem Gummi, diesen unseligen Arbeitern im »grünen Gefängnis« des Urwalds überdies noch die Waren und Lebensmittel, die sie benötigen, zum vier-und fünffachen Preise verkaufen, praktisch in Knechtschaft gehalten. Wer alle Einzelheiten des Horrors dieser Tage verstehen will, möge den wunderbaren Roman von Ferreira de Castro nachlesen, der mit großartigem Realismus diese schmachvolle Zeit schildert. Die Arbeit des seringueiro ist furchtbar; in elenden Hütten im Urwald kampierend, abseits von jeder gesitteten Menschheit, muß er mit Messer und Hacke durch das Gestrüpp erst den Weg zu diesen Bäumen sich bahnen, muß sie anzeichnen und abzapfen, mehrmals am Tag hin und zurück in der glühenden Hitze, muß zwischendurch die Gummimilch rechtzeitig verkochen und bleibt dabei, vom Fieber geschüttelt, in seinen Kräften zerstört, nach monatelanger Arbeit durch eine verbrecherische Kalkulation noch immer Schuldner des Unternehmers, der die Fracht der Beförderung von ihm zurückfordert, und der ihn bei der Lebensmittellieferung bewuchert. Versucht er aus seinem »Arbeitskontrakt«, wie man diesen Sklavendienst mit einem schöneren Worte nennt, zu entfliehen, so wird er genau wie früher ein Sklave von bewaffneten Wächtern gejagt und muß in Ketten weiterarbeiten.
Aber dank dieser schamlosen Ausbeutung der Arbeiter, dank des Handelsmonopols und des von Jahr zu Jahr steigenden Weltbedarfs schnellen die Gewinne ins Phantastische hinauf. Die Tage von Vila Rica und Vila Real im achtzehnten Jahrhundert, da die Goldstädte mit hastigem Prunk und sinnloser Pracht mitten in einer Einöde aufwuchsen, scheinen wiedergekehrt im neunzehnten Jahrhundert. Belém blüht auf, und eine völlig neue Stadt entsteht tausend Meilen weit von der Küste, Manaus, gewillt, Rio de Janeiro, São Paulo und Bahia durch Luxus und Pracht zu übertreffen. Asphaltierte Avenuen, Banken und Paläste mit elektrischem Licht, prächtige Häuser und Geschäfte, das größte und luxuriöseste Theater Brasiliens, das nicht weniger als zehn Millionen Dollar kostet, erstehen mitten im Urwald. Alles schwimmt in Geld. Ein Konto, damals zweihundert Dollar, wird ausgegeben wie ein Schilling, die raffiniertesten Luxuswaren kommen aus Paris und aus London in den großen Dampfern, die immer öfter und öfter den Amazonas befahren. Alles spekuliert, alles handelt mit Gummi, und während die Bäume bluten und im grünen Gefängnis des Urwalds die seringueiros zu Hunderten und Tausenden hinsterben, wird eine ganze Generation im Amazonasgebiet so reich an dem flüssigen Gold wie einstens ihre Urväter in den Minenfeldern von Minas Gerais. Auch der Staat profitiert freilich von diesem einträglichen Export, und in der Handelsbilanz kommt das Gummi in raschen und wilden Sprüngen dem Kaffee bedenklich nahe; die Einführung des Automobils eröffnet unbegrenzte Perspektiven. Ein Jahrzehnt noch, und Manaus wird nicht nur die reichste Stadt Brasiliens sondern eine der reichsten der Welt sein.
Aber ebenso rasch wie sie aufgestiegen war, platzt diese schillernde Blase. Ein einziger Mann hat sie heimtückisch aufgestochen. Ein junger Engländer holt, das staatliche Verbot der Ausfuhr der Hevea brasiliensis oder deren Samen durch Bestechung geschickt zunichte machend, nicht weniger als siebzigtausend dieser Samen nach England hinüber, wo in Kew Gardens die ersten Bäume gepflanzt und dann nach Ceylon, Singapore, Sumatra und Java übertragen werden. Damit ist das brasilianische Monopol gebrochen, und seine Produktion kommt rasch in die Hinterhand. Denn die systematisch angelegten Pflanzungen auf den malaiischen Inseln, wo in meilenweiten geraden Linien die Gummibäume wie Grenadiere aufgereiht stehen, ermöglichen eine viel raschere und leichtere Ausbeutung als inmitten des Urwalds, wo jeder einzelne Baum erst aus dem Dickicht freigelegt werden muß. Wie immer unterliegt die altmodische, improvisierte, brasilianische Produktion der überlegenen modernen Organisation.
Der Abstieg geschieht dann lawinenhaft schnell. 1900 produziert Brasilien noch 26 750 Tonnen gegen bloße vier jämmerliche Tonnen aus Asien. Noch 1910 hat es die Oberhand mit seinen 42.000 Tonnen gegen 8200 asiatische. Aber 1914 ist es schon geschlagen mit 37.000 Tonnen gegen 71.000, und von dieser Stunde an geht er rascher und rascher abwärts; 1938 produziert es nur mehr 16.400 Tonnen gegen 365.000 aus den malaiischen Staaten allein und 300.000 der holländischen Kolonie, 58.000 von Indochina und 52.000 aus Ceylon. Und selbst diese ärmlichen 16.000 Tonnen erzielen nur einen Teil des ursprünglichen Preises. Das Theater von Manaus sieht nicht mehr wie einst die Truppen der ersten europäischen Theater, die Vermögen zerrinnen, der Traum des flüssigen Goldes ist ausgeträumt. Wieder ist ein Zyklus zu Ende, nachdem er seine geheimnisvolle Pflicht erfüllt, einer bisher schlafenden Provinz einen Einschuß von Leben und Vitalität zu geben und sie in Handel und Verkehr mit der Gesamtheit der Nation enger zu verbinden.
Noch einmal wird sich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts das innerste Gesetz der brasilianischen Entwicklung erfüllen: daß es, leicht verführt von dem momentanen Gewinn eines Hauptartikels, immer eine Krise benötigt, um sich umzustellen, und daß somit alle diese zyklischen Krisen seiner vielfältigen Gesamtentwicklung eigentlich eher förderlich als schädlich gewesen sind. Die letzte große Umstellung, zu der Brasilien genötigt gewesen war, zwingt ihm nicht der Wille des äußeren Weltmarkts, sondern sein eigener Wille auf durch das Gesetz von 1888, das endgültig die Sklaverei abschafft.
Im ersten Augenblick ist es ein heftiger Schock für die Wirtschaft, ein so heftiger, daß er sogar den Thron des Kaisers umstürzt. Viele der Neger, von der neuen Freiheit berauscht, verlassen das innere Land und ziehen in die Städte. Betriebe, die nur dank der unbezahlten Arbeitskräfte ein Erträgnis abwarfen, werden stillgelegt, die Plantagenbesitzer verlieren mit den Sklaven einen Großteil ihres Kapitals, und, ohnehin schon kaum mehr konkurrenzfähig in der Produktion gegen die modernen maschinellen Methoden, droht schließlich auch die Landwirtschaft und Kaffeeanpflanzung zu versagen. Wieder erhebt sich der alte Ruf des Anfangs: Hände her nach Brasilien! Hände, Menschen her um jeden Preis! Das zwingt die Regierung, die Immigration, die bisher ein bloßes laissez-faire gewesen, eine passive, gleichgültige Einstellung, durch Anlockung europäischer und asiatischer Einwanderer systematisch in Schwung zu bringen. Vor der Ära des Kaffees hatte Brasilien nur eine landwirtschaftliche Immigration gekannt. Schon 1817 ließ König João durch europäische Agenten zweitausend Schweizer Kolonisten anwerben, die eine Siedlung Nova Friburgo begründeten, ihnen folgte 1825 eine deutsche Gruppe in Rio Grande do Sul, nach und nach entwickelten sich durch den Zuzug von etwa 120.000 Deutschen nach dem Süden Brasiliens in Santa Catarina und Paranê geschlossene deutsche Bezirke; aber alle diese Zuwanderung war mehr oder minder durch eigene Initiative der Auswanderer oder durch die vermittelnde Tätigkeit privater Agenturen erfolgt. Nun erst, da eine neue große und erträgnisreiche Produktion in Schwung kommt und die Sklavenarbeit wegfällt, entschließt sich der Staat und besonders die Provinz von São Paulo, die Einwanderung in größerem Maßstabe als bisher zu fördern, indem sie den Unbemittelten die Schiffsreise aus eigenen Mitteln finanziert und für alle diejenigen, welche sich der Landwirtschaft zuwenden wollen, Grund und Boden zur Verfügung stellt. Diese Zuschüsse erreichen in den entscheidenden Jahren bis zu zehntausend Konto im Jahr an barem Gelde; aber kaum Brasilien den Weg gebahnt und die Tore geöffnet hat, strömen schon die Massen herein. Im Jahr nach der Sklavenbefreiung, 1890, steigt die Immigration von 66.000 Köpfen auf 107.000, um 1891 die bisher erreichte Höchstzahl von 216 760 zu erreichen, und hält dann unentwegt auf einem schwankenden aber immer hohen Niveau an, das erst in den letzten Jahren der Erschwerungspolitik wieder auf ungefähr 20.000 im Jahr herabgesunken ist.
Diese Immigration von vier bis fünf Millionen Weißen in den letzten fünfzig Jahren hat einen ungeheuren Energieeinschuß für Brasilien bedeutet und gleichzeitig einen gewaltigen kulturellen und ethnologischen Gewinn gebracht. Die brasilianische Rasse, die durch einen dreihundertjährigen Negerimport in der Hautfarbe immer dunkler, immer afrikanischer zu werden drohte, hellt sich sichtbar wieder auf, und das europäische Element steigert im Gegensatz zu den primitiv herangewachsenen, analphabetischen Sklaven das allgemeine Zivilisationsniveau. Der Italiener, der Deutsche, der Slawe, der Japaner bringt aus seiner Heimat einerseits eine völlig ungebrochene Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, anderseits Forderung eines höheren Lebensstandards mit. Er kann lesen und schreiben, er ist technisch geschult, er arbeitet in rascherem Rhythmus als die Generation, die durch Sklavenarbeit verwöhnt und vielfach durch das Klima in ihrem Leistungsvermögen geschwächt ist. Instinktiv suchen die Einwanderer überall jene Gegenden, die sie dem heimischen Klima und den alten Lebensformen ähnlich finden, und so sind es vor allem die südlichen Provinzen von Rio Grande do Sul, Santa Catarina, die von diesem neuen Zyklus des »lebendigen Goldes« belebt werden. Der Zyklus der Immigration bedeutet für die Städte und das Gebiet von São Paulo, Porto Alegre und Santa Catarina, was einst der Zucker für Bahia, das Gold für Minas Gerais, der Kaffee für Santos gewesen: den entscheidenden Anschwung, der dann aus weiterwirkender Kraft Wohnstätten, Arbeitsmöglichkeiten, Industrien und Kulturwerte schafft. Und gerade weil dies neue Material aus den verschiedensten Zonen der Welt stammt – Italiener, Deutsche, Slaven, Japaner, Armenier – kann Brasilien seine alte Kunst der Mischung und gegenseitigen Anpassung auf das glücklichste bewähren. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit ordnen sich dank der besonderen assimilatorischen Kraft dieses Landes die neuen Elemente ein, und die nächste Generation wirkt schon selbstverständlich und gleichberechtigt mit an dem alten Ideal des Anfangs: einer in einer einzigen Sprache und Denkweise verbundenen Nation.
Dieser Aufschwung, den die Immigration der letzten fünfzig Jahre bewirkt hat, ist der eigentliche Dank für die moralische Tat der Sklavenbefreiung. Der Einschuß von vier oder fünf Millionen Europäern um die Jahrhundertwende stellt einen der größten Glücksfälle in der Geschichte Brasiliens dar und zwar einen doppelten Glücksfall. Einen doppelten Glücksfall erstens, weil diese starken, gesunden Kräfte so reich und so quellend ins Land kommen, und zweitens, daß ihr Kommen gerade im richtigen historischen Moment einsetzt. Wäre eine Immigration solchen Umfangs, wären solche Millionenmassen von Italienern und Deutschen ein Jahrhundert früher eingeströmt, da die portugiesische Kultur nur eine dünne Schicht bedeckte, so hätten diese fremden Sprachen und Eigensitten einzelne Provinzen besetzt und ergriffen, große Teile des Landes hätten sich endgültig italianisiert oder verdeutscht. Hätte anderseits die Hauptimmigration, die Massenzuwanderung sich nicht in dieser noch kosmopolitisch gesinnten Epoche, sondern in unserer Zeit des überreizten Nationalismus vollzogen, so wären die einzelnen nicht mehr gewillt gewesen, sich in eine neue Sprachform und Denkform aufzulösen. Sie wären starr und widerstrebend an die Ideologie ihrer Länder gebunden geblieben und nicht an die Idee ihres neuen Landes. So wie das Gold nicht zu früh entdeckt wurde und nicht zu spät, um Brasiliens Wirtschaft zu fördern und doch nicht seine Einheit zu gefährden, so wie der rettende Zyklus des Kaffees gerade im Augenblicke des katastrophalsten Rückschlages einsetzte, so hat sich die europäische Massenimmigration gerade in dem Augenblick ereignet, wo sie am fruchtbarsten sich auswirken konnte. Statt das Brasilianische in Brasilien zu verfremden, hat dieser mächtige Einschuß das Brasilianische nur noch stärker, vielfältiger und persönlicher gemacht.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert erfüllt sich somit wiederum das gleichsam eingeborene Gesetz, daß Brasilien immer Krisen benötigt, um seine Wirtschaft zu energischer Umstellung zu erziehen. Diesmal sind es zu seinem Glück nicht mehr Krisen im eigenen Land, sondern die beiden Katastrophen jenseits des Ozeans, die beiden großen europäischen Kriege, die seiner ökonomischen Schichtung entscheidende Impulse geben. Der Erste Weltkrieg offenbart Brasilien die Gefahr, beinahe seine ganze Exportproduktion an ein einziges Rohstoffprodukt entscheidend gebunden und anderseits seine Industrien nicht in ihrer ganzen Vielfalt ausgebaut zu haben. Der Kaffee-Export stockt; damit ist die Hauptschlagader plötzlich abgebunden, ganze Provinzen wissen nicht mehr, wohin mit ihren Kolonialprodukten, anderseits können viele Fertigprodukte des täglichen Bedarfs bei der Unsicherheit der Meere und der Kriegsbelastung Europas nicht mehr eingeführt werden. Weil es allzu einseitig, allzu sorglos und ohne auf das innere Gleichgewicht zu achten, auf den Absatz seiner Milliarden Kaffeebohnen die ganze Handelsbilanz aufgebaut, beginnt diese gefährlich zu wanken, und dies zwingt Brasilien, sich umzustellen und wenigstens einigen dieser industriellen Unternehmungen sich zuzuwenden. Einmal eingesetzt, wirkt sich dieser Impuls kräftig aus; während all der Jahre, da das unselige Europa durch Kriegsangst und Kriegsvorbereitungen ständig gehemmt ist, werden nun eine Anzahl maschineller und handwerklicher Artikel, die vorher von Europa bezogen werden mußten, im Lande selbst hergestellt und eine gewisse Autarkie vorbereitet. Wer dann nach einigen Jahren Abwesenheit wieder nach Brasilien kam, war erstaunt zu sehen, wieviele vormals ausländische Artikel schon durch inländische ersetzt worden waren, wie unabhängig auch sich in den organisatorischen Maßnahmen das Land von fremden Instruktoren und Direktoren in so kurzer Frist zu machen wußte. Dank dieser Vorbereitung traf der Zweite Weltkrieg die brasilianische Wirtschaft nicht mehr so frontal wie der Erste. Auch diesmal war ein Preissturz des Kaffees und vieler anderer Kolonialprodukte unvermeidlich; aber der neuerliche Abbruch der Kaffeekonjunktur verödete nicht São Paulo, wie einstens das Aufhören des Goldes die Städte von Minas Gerais und die Gummikatastrophe Manaus. Schon hatte die Wirtschaft die Weisheit des alten englischen Sprichworts gelernt, daß man nicht alle Eier in einem einzigen Korb tragen solle, und sich auf eine solidere Basis gestellt als den eines einzigen, allen Weltmarktschwankungen unterworfenen Monopol-oder Zentralartikels. Das Gleichgewicht blieb erhalten, weil der Verlust auf der einen Linie kompensiert werden konnte durch die scharf ansteigende Konjunktur der Industrie, die ein Großteil dessen, was sie vordem aus Deutschland und den anderen abgesperrten Ländern beziehen mußte, nun im eigenen Lande und aus eigenem Material in immer größeren Dimensionen erzeugt. Wie die Napoleonkriege indirekt die politische Unabhängigkeit, so hat Hitlers Krieg die Industrie Brasiliens geschaffen, und genau wie seine politische, so wird sich dieses Land wohl auch die ökonomische durch die Jahrhunderte zu erhalten wissen.
Aus der Gegenwart einen Blick in die Zukunft zu tun, ist immer bedenklich. Mit seinen fünfzig Millionen Menschen und seinem riesigen Raum eine der großartigsten Kolonisationsleistungen der Menschheit, steht Brasilien heute doch erst im Anfang seiner Entwicklung. Noch lange sind die Schwierigkeiten nicht überwunden, die sich seinem endgültigen Aufbau entgegenstellen, und trotz der gewaltigen Leistung sind manche dieser Schwierigkeiten noch immer beträchtlich. Um diese durch Jahrhunderte getane Leistung richtig einschätzen zu können, fordert die Gerechtigkeit, auch die Hemmungen in Betracht zu ziehen, die sich ihr entgegensetzten und noch immer entgegensetzen; es gibt kein besseres Maß für die Willenskraft eines Menschen wie eines Volkes, als die Schwierigkeiten, die bei seiner physischen oder moralischen Leistung zu überwinden sind.
Von den beiden Hauptschwierigkeiten, die Brasilien gehemmt haben, das volle Ausmaß seiner potentiellen Kräfte einzusetzen, liegt eine offen zutage, während die andere sich zunächst dem oberflächlichen Blick verbirgt. Die geheime und darum tückischere Gefahr für die volle Auswirkung seiner Energien liegt im Gesundheitszustand der Bevölkerung, der von den Regierungsstellen weder verschwiegen noch unterschätzt wird. Brasilien, dieses friedlichste Land, hat einige erbitterte Feinde im Innern, die ihm alljährlich soviele Menschen rauben oder schwächen, wie in einem kriegführenden Lande ein Feldzug. Es muß ständig kämpfen gegen Milliarden winziger und kaum sichtbarer Wesen, gegen Bazillen und Mücken und andere tückische Krankheitsträger.
Der Hauptfeind ist heute noch immer die Tuberkulose, die an die zweimalhunderttausend Menschen jährlich, also ganze Armeekorps, dem Lande wegrafft. An und für sich scheint der brasilianische Mensch, weil zart geartet, dieser peste branca, dieser weißen Pest wehrloser ausgeliefert. Dazu kommt, besonders im Norden, Unterernährung oder vielmehr falsche Ernährung innerhalb eines Landes, das von Lebensmitteln strotzt. Eine kräftige Gegenaktion der Regierung hat bereits eingesetzt, um wenn schon nicht der Krankheit selbst, so doch ihrem Verbreitungsfaktor Einhalt zu gebieten, und diese Campagne dürfte in den nächsten Jahren noch verstärkt werden. Aber wenn nicht die Medizin, die moderne Wissenschaft das seit Jahrzehnten ersehnte Heilmittel schafft, so wird noch lange mit diesem gefährlichen Gegner zu rechnen sein, während die Syphilis hier durch jahrhundertelange Verbreitung an Intensität verloren hat und durch die Ehrlich-Therapie bald erledigt sein dürfte.
Der zweite Feind ist die Malaria, der Paludismo, an sich schon durch die klimatischen Umstände des Nordens beinahe bedingt und noch gemehrt durch den unvermuteten Einbruch der Anopheles Gambia, von der einige Exemplare sich 1930 in dem Flugzeug von Dakar aus Afrika mit herüberschmuggelten und, wie im guten Sinne jede Frucht und jede Pflanze und jedes Tier und jeder Mensch, sich hier rasch heimisch gemacht und vermehrt haben.
Die dritte Krankheit im Bunde ist die Lepra, die, solange man eine Radikalkur für diese nicht kennt, nur durch Isolation eingedämmt werden kann. Alle diese Krankheiten verursachen, auch sofern sie nicht gerade tödlichen Ausgang zu verzeichnen haben, eine gewaltige Schwächung der Produktionsfähigkeit. Besonders im Norden ist die durch das Klima ohnehin schon herabgeminderte Leistung großenteils noch tief unter dem europäischen und nordamerikanischen Niveau, und wenn die statistische Tabelle vierzig bis fünfzig Millionen Einwohner verzeichnet, so entspricht die produktive Auswirkung dieser Ziffer nicht im entferntesten der Energieleistung einer gleichen Masse von Nordamerikanern, Japanern oder Europäern, die mit einer viel höheren Gesundheitsquote und unter besseren klimatischen Bedingungen zustande kommt. Eine erschreckend große Zahl von Menschen wirkt hier noch immer weder als Produzenten noch als Konsumenten im wirtschaftlichen Leben mit; die Statistik schätzt die Zahl der Leute ohne Beschäftigung oder ohne bestimmte Beschäftigung auf 25 Millionen, und ihr Standard ist besonders in den äquatorialen Zonen so tief, daß die Ernährungsverhältnisse manchmal schlechter sind als in der Sklavenzeit. Diese unerfaßbare Masse in den amazonischen Wäldern und in den Tiefen der Randprovinzen wirtschaftlich wie gesundheitlich in das staatliche Leben einzuordnen, ist eine der großen Aufgaben, die heute die Regierung schon dringlich beschäftigt und die zu ihrer endgültigen Lösung noch Jahrzehnte erfordern wird.
Es ist also der Mensch, sofern wir ihn als produktive Kraft betrachten, in Brasilien noch nicht im entferntesten ausgenützt, und ebensowenig ist es die Erde mit allen ihren oberirdischen und unterirdischen Reichtümern. Hier liegt die Schwierigkeit offen zutage (und nicht verborgen wie bei der Krankheit). Sie ist bedingt durch das noch immer nicht überwundene Mißverhältnis zwischen Raum, Bevölkerungszahl und Transport. Man darf sich nicht blenden lassen durch die vorbildliche Organisation und moderne Kultur in São Paulo, wo ein Haus an das andere sich reiht, die Wolkenkratzer in den Himmel klettern und die Automobile ständig im Wettlauf rennen. Zwei Stunden hinter der Küste verlieren sich die asphaltierten Musterstraßen in ziemlich zweifelhafte Chausseen, die nach einem der so häufigen tropischen Regengüsse für Tage unbefahrbar oder nur mit Ketten befahrbar sind, und es beginnt der sertão, die dunkle und noch lange nicht einer wirklichen Zivilisation gewonnene Zone. Jede Reise rechts und links von der Hauptstraße wird zum Abenteuer. Die Eisenbahnen reichen nicht tief genug in das Innere und sind mit ihren drei verschiedenen Spurweiten schlecht untereinander verbunden, außerdem so langsam und unpraktisch, daß man sowohl hinunter nach Porto Alegre wie hinauf nach Bahia und Belém viel rascher zu Schiff als mit diesen Bahnen kommt. Die großen Wasserläufe anderseits, wie der São Francisco oder Rio Doce, sind nur selten und unzulänglich beschifft und demzufolge große und wesentliche Teile des Landes – soweit nicht das Flugzeug hilft – eigentlich nur durch individuelle Expeditionen zu erreichen. Noch immer leidet also – medizinisch gesprochen – dieser gewaltige Körper an einer ständigen Zirkulationsstörung, der Blutdruck geht nicht gleichmäßig durch den ganzen Organismus, und wesentliche Partien des Landes sind im wirtschaftlichen Sinne völlig atrophisch. So liegen stumm und noch unausgenützt die kostbarsten Produkte unter der Erde, ohne der Industrie zu dienen. Man weiß heute genau, wo sie liegen, aber es hat keinen Sinn, sie zu schürfen, solange nicht die Möglichkeit besteht, sie abzutransportieren. Wo das Erz liegt, fehlt die Bahn oder das Schiff, die Kohle heranzufrachten, wo die Viehzucht üppig und leicht blühen könnte, die Möglichkeit, das Vieh zu verladen. Ursache und Wirkung (oder vielmehr Un-wirkung) beißt sich wie eine Schlange selbst in den Schwanz. Die Produktion kann sich nicht in dem richtigen Tempo entwickeln, weil die Straßen fehlen, die Straßen wiederum können nicht in rascher Folge gebaut werden, weil ihre kostspielige Anlage und Erhaltung in dem welligen und schwachbesiedelten Lande noch nicht einem rentablen Verkehr entsprechen. Dazu kommt noch das besondere Verhängnis, daß auch für das neue Beförderungsmittel, das Automobil, dem Brasilien des zwanzigsten Jahrhunderts der gemäße Betriebsstoff, das Petroleum, auf dem eigenen Boden ebenso fehlt wie im neunzehnten Jahrhundert die Kohle, und das Benzin, soweit es nicht durch Alkohol ersetzt werden kann, Tropfen für Tropfen importiert werden muß. Um dieses Hauptproblem der Verkehrs-und Transportschwierigkeit in beschleunigter Form zu lösen, wäre ein gewaltiges Kapital nötig, und Brasilien fehlt es an flüssigem Kapital. Bares Geld ist von je hier rar, selbst die Staatspapiere verzinsen sich mit ungefähr acht Prozent, und im Privatverkehr klettert der Zinsfuß noch bedenklich höher hinauf. Die mehrmalige Entwertung des Milreis, das alte, schon instinktiv gewordene Mißtrauen gegen Engagements in Südamerika haben die nordamerikanische und europäische Großfinanz durch Jahrzehnte zu großer und wahrscheinlich übergroßer Vorsicht veranlaßt; anderseits übt die Regierung in den letzten Jahren eine gewisse Zurückhaltung in der Erteilung von Konzessionen, um die vitalsten Unternehmungen nicht ganz in ausländische Hände geraten zu lassen. All das hat den Prozeß der Industrialisierung und Intensivierung im Vergleich zu Europa und Nordamerika verlangsamt; während bei uns zu viel und zu hastig investiert wurde, blieb manches hier um Jahrzehnte zurück. Um von einem Ende bis zum andern dieses riesige Land, dieses Reich, diese Welt rascher zur Entfaltung zu bringen, bedürfte es einer doppelten Befruchtung: eines breiten Einstroms von Kapital und noch mehr eines ständigen Zustroms von Menschen, der aber in den letzten Jahren durch den Weltkrieg und seine ideologischen Folgen arg gedrosselt und eingeschränkt worden ist. Leidet Nordamerika an einem Überschuß an flüssigem, in den Banken zinsenlos aufgehäuften Kapital, leidet Europa an einem Überschuß von Menschen und zu wenig Raum, an einem Zustand, der es kongestioniert und immer wieder zu neuen plötzlichen Tobsuchtsausbrüchen im Politischen führt, so krankt Brasilien an einer Anämie, an einem Zuwenig an Menschen in einem zu großen Raum. Das Heilmittel für die alte Welt und für diese neue Welt zugleich wäre: eine große, gründliche, mit aller Vorsicht und Geduld durchgeführte Transfusion von Blut und Kapital.
Aber sind die Schwierigkeiten auch groß, – sie waren es vom ersten Tage und blieben eigentlich immer dieselben –, so sind doch tausendmal größer noch die Möglichkeiten dieses mächtigen und gesegneten Teils unserer Erde. Gerade daß die Kapazität der potentiellen Kräfte hier noch nicht im entferntesten ausgewertet ist, bedeutet eine unermeßliche Reserve nicht nur für dieses Land, sondern für die ganze Menschheit. Gegen die Umstände, die seine Entwicklung verlangsamen, ist Brasilien als Helfer ein wirklicher Wundertäter zur Seite getreten, die moderne Wissenschaft, die moderne Technik, von der wir wissen, was sie leisten kann, und doch nicht zu ahnen vermögen, was sie noch leisten wird. Schon heute ist, wer nach einigen Jahren das Land wieder betritt, ununterbrochen überrascht, welche erstaunlichen Dinge sie im Sinne der Vereinheitlichung und Verselbständigung und Gesundung des Landes geleistet hat. Die Syphilis, die hier Erbkrankheit gewesen, und von der man so selbstverständlich sprach wie von einem Schnupfen, ist durch die eine Erfindung Professor Ehrlichs soviel wie ausgerottet, und es ist kein Zweifel, daß auch den anderen Krankheiten die wissenschaftliche Hygiene in absehbarer Zeit scharf auf den Leib rücken wird. So wie Rio de Janeiro, noch vor einem Jahrzehnt die gefürchtetste Brutstätte des gelben Fiebers, heute eine der im sanitären Sinne sichersten Städte der Welt geworden ist, wird die Wissenschaft hoffentlich den schwer gefährdeten Norden von seinen Miasmen und Plagen zu befreien wissen und den durch Fieber und Unterernährung in seiner Leistungskraft bedrohten Teil der Bevölkerung in das aktive und produktive Leben einschalten. Wo man vor fünf Jahren von Rio de Janeiro bis Belo Horizonte sechzehn Stunden brauchte, saust heute das Flugzeug in anderthalb Stunden; in zwei Tagen kann man statt vordem in zwanzig im Herzen der Wälder des Amazonas, in Manaus, sein, ein halber Tag bringt einen nach Argentinien, zweieinhalb Tage nach Nordamerika, zwei Tage nach Europa, und all diese Zahlen gelten bloß für heute; morgen wird sich der aeronautische Fortschritt wahrscheinlich schon halbiert haben. Die Bewältigung seines riesigen Raums, die Crux, diese Hauptschwierigkeit des brasilianischen Wirtschaftsproblems, ist theoretisch eigentlich schon gelöst und in praktischer Überwindung begriffen; wer weiß zu sagen, ob nicht auch die Schwierigkeit der Transporte in knapper Frist schon überwunden sein wird durch eine neue Art der Luftschiffe und andere Erfindungen, für die sich unsere Phantasie heute noch als zu arm und zu ängstlich erweist. Auch der anderen, scheinbar unüberwindbaren Hemmung, der unzulänglichen Arbeitsleistung in dem tropischen Klima, das die individuelle Energie vermindert und die körperliche Frische bedroht, beginnt die Technik entschlossen auf den Leib zu rücken. Was heute noch wenigen Luxusstätten vorbehalten ist, die Luftkühlung der Wohnungen und Büros, wird hier in einigen Jahren so allgebräuchlich und selbstverständlich sein, wie in unseren kälteren Zonen die Zentralheizung. Wer sieht, was hier geleistet worden ist, und zugleich weiß, was hier noch zu leisten ist, für den ist es gewiß, daß die Überwältigung aller Schwierigkeiten nur eine Frage der Zeit ist. Aber man vergesse nicht, daß die Zeit in sich selbst kein einheitliches Maß mehr ist, daß sie sich beschleunigt hat durch den Antrieb der Maschine und den noch großartigeren Organismus des menschlichen Geistes. Ein Jahr unter der Ära Getúlio Vargas’ kann heute, 1940, mehr leisten wie ein Jahrzehnt unter Dom Pedro II., 1840, und ein Jahrhundert vorher unter einem König João. Wer heute das Tempo sieht, in dem hier die Städte wachsen, die Organisation sich verbessert, die potentiellen Kräfte sich in faktische umwandeln, der fühlt, daß – ganz im Gegensatz zu vordem – die Stunde hier mehr Minuten hat als bei uns in Europa. Aus welchem Fenster man blickt, überall wächst ein Haus, an jeder Straße und weithin am Horizont sieht man neue Siedlungen, und noch mehr als alles ist hier der Geist und die Freude an der Unternehmung gewachsen. Zu all den Kräften, den noch ungehobenen und unbekannten Brasiliens, ist in den letzten Jahren eine neue getreten: das Selbstbewußtsein der Nation. Lange hat sich dieses Land daran gewöhnt gehabt, in Kultur und Fortschritt, in Arbeitstempo und Leistung hinter Europa zurückzubleiben. Demütig hatte es, mit einer Art verspätetem Kolonialbewußtsein zu der Welt über dem Ozean als der erfahreneren, der weiseren, der besseren aufgeblickt. Aber die Verblendung Europas, das in törichten Nationalismen und Imperalismen sich nun zum zweitenmal selbst verwüstet, hat hier die neue Generation auf sich selbst gestellt. Vorbei ist die Zeit, da Gobineau spotten konnte: Le brésilien est un homme qui désire passionnément habiter Paris. Kein Brasilianer und selten ein Immigrant wird sich mehr finden, der zurück wollte in die alte Welt, und dieser Ehrgeiz, sich selbst allein und im Sinne der Zeit aufzubauen, drückt sich in einem ganz neuen Optimismus und Wagemut aus. Brasilien hat gelernt, in den Dimensionen der Zukunft zu denken. Wenn es ein Ministerium baut, wie jetzt das Arbeitsministerium, das Kriegsministerium in Rio de Janeiro, so ist es größer als eines in Paris oder London oder Berlin. Wenn ein Stadtplan angelegt wird, kalkuliert man die fünffache, die zehnfache Bevölkerung von vornherein ein. Nichts ist zu verwegen, nichts zu neu, als daß sich dieser neue Wille nicht daran wagte. Nach langen Jahren der Unsicherheit und Bescheidenheit hat das Land gelernt, in den Dimensionen seiner eigenen Größe zu denken und mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten als mit einer bald greifbaren und erfaßbaren Realität zu rechnen. Es hat erkannt, daß Raum Kraft ist und Kräfte erzeugt, daß nicht Gold und nicht erspartes Kapital den Reichtum eines Landes bedeutet, sondern die Erde und die Arbeit, die auf ihr geleistet wird. Wer aber besitzt noch mehr ungenutzte, unbewohnte, unausgewertete Erde als dieses Reich, das in sich allein soviel Raum hat wie die ganze alte Welt? Und Raum ist nicht nur bloße Materie. Raum ist auch seelische Kraft. Er erweitert den Blick und erweitert die Seele, er gibt dem Menschen, der ihn bewohnt und den er umhüllt, Mut und Vertrauen, sich vorwärts zu wagen; wo Raum ist, da ist nicht nur Zeit, sondern auch Zukunft. Und wer in diesem Lande lebt, spürt ihre Schwingen stark und beflügelnd über sich rauschen.