Читать книгу Schutzengelstreik - Stefanie Kothe - Страница 5
Kriesenmeeting im Himmelsreich
Оглавление„Vergiss es, ich mache den Job nicht mehr. Das war jetzt schon der dritte Rollerunfall seit sie einen Führerschein hat. Diese Frau kann man keine Sekunde aus den Augen lassen. Sie ist wie ein großes Kind. Sie ist nicht in der Lage auf sich aufzupassen. In ihrem Leben folgt eine Katastrophe auf die andere. Ich bin Schutzengel und kein Babysitter. Ich kann einfach nicht mehr. Ich mache das jetzt seit über 400 Jahren, aber so einen Unglücksraben habe ich wirklich noch nie erlebt. Ganz ehrlich, ich bin auch nur ein Engel und inzwischen mit meinen Nerven am Ende“, beendete Kassandra ihren Monolog.
Vor ihr schwebte ein grelles Licht. Das Licht wurde greller, als eine Stimme antwortete:
„Ich verstehe dich Kassandra, aber du bist einer der besten Engel, die ich habe. Wer soll denn jetzt deinen Job übernehmen? Du bist doch Profi bei solchen… Problem- fällen. Du kannst nicht einfach hinschmeißen.“
Kassandra schäumte vor Wut.
„Was soll das heißen, ich kann das nicht. Du wirst sehen wie ich das kann. Das Mädel ist einfach nicht überlebensfähig. Ich fühle mich total überfordert. Es geht wirklich nicht mehr.“
Das Licht wurde blasser.
„Würdest du wenigstens einen anderen Schützling übernehmen?“ Kassandra spürte das altbekannte Mitgefühl in sich aufkeimen. Sie seufzte und nickte dann.
„Also gut, wenn es kein ganz so schwerer Fall ist, dann übernehme ich ihn. Mal etwas einfacheres zwischendurch wäre echt schön.“
Das Licht flackerte, als würde es lachen.
„Na gut, dann werde ich mich darum kümmern. Kennst du jemanden, der Maria den Bruchpiloten übernehmen könnte?“ Kassandra überlegte kurz.
„Ja, mir fallen sogar fünf passende Kandidaten ein, die in Frage kommen könnten. Diana, Verena, Juno und Aurora und mir fällt sogar noch ein männlicher Kandidat ein. Was hältst du von Johannes? Er hat so viel erlebt, den schockt so schnell nichts mehr.“
Erneut fing das Licht an zu flackern.
„Also gut, bring mir die betreffenden Engel. Ich werde sie alle nach und nach auf die Erde schicken und werde sie genau beobachten und dann zusammen mit Maria und dir eine Entscheidung treffen.“ Kassandra stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
„Du willst den Schützling mitentscheiden lassen, wer über sie wachen soll? Sowas gab es doch noch nie.“
„Einmal ist immer das erste Mal, oder? Es war auch noch nie da, dass ein Schutzengel einen Schützling verweigert“, gab das Licht lachend zurück. Kassandra verdrehte die Augen.
„Gut, dann hole ich mal die betreffenden Kollegen.“
Sie schwebte davon und überlegte, wo in den unendlichen Weiten sie die fünf Kandidaten finden könnte. Als Erstes fand sie Diana. Sie tobte mit ein paar Jungschutzengeln durch die Wolken. Kinder waren Dianas Welt. Sie liebte es mit den Kleinen zu spielen und ihnen was beizubringen. Am liebsten gab sie Flugstunden und zeigte ihnen, wie ein Schutzengel in gefährlichen Situationen schnell und vor allem richtig reagierte. Gleichzeitig war sie aber selbst verspielt wie ein Kind und für jeden Quatsch zu haben. Kassandra schwebte auf sie zu und erklärte ihr, dass der Chef sie sprechen möchte. Die kleinen Engelchen protestierten:
„Nein Diana, du darfst nicht gehen. Wir wollen weiter spielen. Es ist doch gerade so lustig. Bitte bleib noch etwas.“ Diana lächelte ihre Kleinen liebevoll an:
„Keine Sorge ihr Süßen, ich komme wieder, versprochen. Wenn der Chef mich sehen möchte, muss ich gehorchen. Auch große Schutzengel dürfen nicht immer machen was sie wollen. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu euch.“
Kassandra und Diana schwebten davon.
„Kassandra, was will der Chef von mir? Bekomme ich einen neuen Schützling?“
Kassandra lächelte. Sie war einiges älter als Diana und dennoch waren sie befreundet.
„Ich glaube, dass möchte er dir selbst erklären. Wir müssen aber vorher noch Verena, Juno, Aurora und Johannes holen. Hast du eine Idee, wo die stecken könnten?“
Diana überlegte kurz.
„Also Verena ist sicher im Bad oder bei der Kosmetik“, vermutete sie grinsend.
Kassandra sah sie tadelnd an.
„Diana, es gehört sich nicht über andere zu lästern, auch wenn du Recht haben könntest.“
Diana sah verunsichert zu Kassandra hoch. War sie jetzt sauer auf sie? Nein, ein Blick in die Augen verriet ihr, dass Kassandra nur mit Mühe ein Schmunzeln unterdrücken konnte. Sie fanden Verena tatsächlich im Bad an, wo sie, gerade damit beschäftigt war, ihre Flügel zu putzen.
„Leute, ich habe keine Zeit zu plaudern, ich muss mich fertig machen, ich habe gleich ein Date.“
Diana verdrehte genervt die Augen.
„Mit wem denn? Ich dachte, du hast längst alle männlichen Kollegen durch.“
Kassandra zog ihr ihren rechten Flügel über den Kopf.
„Hör auf damit“, mahnte sie.
Diana verzog das Gesicht.
„Ist ja gut, bitte entschuldige Verena“, nuschelte Juno halbherzig.
Verena sah sie von oben herab an:
„Lass gut sein. Ich mache mich noch schnell fertig, dann können wir los.“
Nach einer halben Ewigkeit hatte es Verena geschafft. Sie sah wunderschön aus.
„Können wir dann endlich“, fragte Diana ungeduldig.
„Nur weil du aussiehst wie gerade vom Spielplatz gekommen, müssen wir ja nicht alle so rumlaufen, oder? Was soll denn der Chef von dir denken?“
Diana wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber ein Blick von Kassandra brachte sie zum Schweigen. Sie wusste, dass Kassandra keinen Streit mochte und ihr zuliebe sagte sie nichts. Sie überlegte wo sie Juno, Johannes und Aurora finden konnte. Diana überlegte das Gleiche und hatte eine spontane Idee.
„Ich wette, Johannes ist in der Werkstatt. Er kann so tolle Sachen bauen und seine Erfindungen sind legendär.“
Kassandra nickte. Was auch für ein Problem bestand, Johannes konnte sie alle lösen. Verena mochte ihn allerdings gar nicht, weil er sich weigerte mit ihr auszugehen. Sie konnte sich nicht erklären, was er gegen sie hatte.
Als sie in der Werkstatt ankamen, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Sie wollte gerade zu einer zuckersüßen Begrüßung ansetzen, doch Kassandra war schneller.
„Hallo Johannes. Der Chef schickt mich. Ich soll dich zu ihm bringen.“
Johannes strahlte sie an. Er mochte sie sehr. Er war damals bei ihr in der Ausbildung gewesen und alles, was er heute konnte und wusste, verdankte er ihr.
„Klar, ich komme gleich. Ich wollte ihm sowieso meine neue Erfindung vorstellen, ich hole sie schnell.“ Zwei Minuten später kam er mit einem Gegenstand wieder, der aussah wie eine Fernbedienung.
„Was ist das“, fragte Diana. Jetzt war Johannes in seinem Element:
„Das ist eine Zeitfernbedienung. Wenn ein Schützling in Gefahr schwebt, kann man damit die Zeit langsamer laufen lassen und so vielleicht schlimmeres verhindern. Wir können aber auch, wenn die Zeit für unseren Schützling abgelaufen ist, die Zeit schneller laufen lassen und so eventuelle Qualen minimieren.“
Diana strahlte ihn an:
„Was für eine tolle Idee. Johannes, du bist ein Genie.“ Johannes lächelte verlegen.
„Danke für das Kompliment.“
Anschließend fanden sie Juno am Eingang zum Himmelsreich. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze. Es machte ihr Freude, die Neuankömmlinge zu begrüßen und zu trösten. Viele waren traurig oder verwirrt. Sie wollten noch nicht hier sein. Einige waren aber auch erleichtert. Das waren meist Menschen, die schwer krank gewesen waren, oder aber sehr unglücklich. Wenn die Menschen durch das Tor traten, waren sie befreit von Sorgen und Schmerzen. Einige wenige von ihnen leuchteten in dem Moment. Das waren diejenigen, die sich in kleine Schutzengel verwandelten und ein neues Leben mit dieser wichtigen Aufgabe beginnen durften. Alle anderen wurden auf die Erde zurückgeschickt und begannen ein neues Leben ganz von vorne.
„Hallo Juno“, begrüßte Kassandra sie.
„Hallo Kassandra. Es ist schön, dich zu sehen.“ Kassandra lächelte. In Junos Nähe fühlte sie sich immer entspannt. Nichts und niemand konnte sie aus der Ruhe bringen.
„Juno, der Chef möchte euch sprechen, hast du etwas...!“
„Da, schau mal“, unterbrach Juno sie. Kassandra sah zum Tor. Eine alte Frau humpelte gerade mit ihren Gehhilfen hindurch. Als sie in der Mitte des Tores war, leuchtete sie auf. Ein strahlend weißes Licht umhüllte sie, wie einen Schutzmantel. Plötzlich war es, als würde ihr Leben rückwärts laufen. Sie richtete sich auf, war wieder eine junge Frau und wurde zum kleinen Kind. Als sie aussah wie ein kleines vierjähriges Mädchen, wuchsen ihr Flügelchen aus dem Rücken. Dann war die Verwandlung beendet.
"Es ist immer wieder so wunderschön das zu sehen", sagte Juno leise mit Tränen in den Augen. Kassandra schloss sie in ihre Arme.
„Ja, das ist es. Lass sie uns in die Schule bringen und dann holen wir noch Aurora.“ Juno strahlt. Sie und Aurora waren zusammen in der Ausbildung gewesen und wie Schwestern aufgewachsen.
„Weißt du, wo Aurora stecken könnte?“, hörte sie Kassandras Stimme an ihr Ohr dringen.
„Ich vermute mal in der Bibliothek.“ Kassandra lachte:
„Klar, da hätte ich auch selbst drauf kommen können.“ Aurora war schon zu Lebzeiten ein begeisterter Bücherwurm gewesen und hier oben führte sie die Protokolle über die Leben aller Menschen. Nebenbei schrieb sie auch Bücher. Es gab davon zwei Arten. Einmal jene, die nur für Engel bestimmt waren und dann die, die auch den Lebenden zur Verfügung standen. Unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichte sie immer wieder Bücher, die den Menschen Mut und Kraft gaben. Das Geld, welches sie als Autorin bekam, spendete sie für einen guten Zweck. Aurora sagte immer, dass sie nicht viel zum Leben braucht. Solange ein gutes Buch in der Nähe war, war ihre Welt in Ordnung.
Als sie die riesige Bibliothek betraten, in der sich alle Bücher befanden, die jemals geschrieben worden waren, sahen sie Aurora sofort. Sie schwebte oben unter der Kuppel dieses großen Lesesaals und sortierte Bücher ein. Kassandra wollte nach ihr rufen, als Juno an ihr vorbei schoss und nach oben schwebte. Sie flog, so schnell sie konnte in Auroras Arme.
„Juno? Was machst du hier? Ich freue mich so dich zu sehen.“
„Kassandra ist mit uns unterwegs“, antwortete diese und deutete auf die Punkte am Boden, die aussahen wie schimmernde weiße Miniameisen. Zusammen flogen sie zu der kleinen Gruppe. „Juno hat mir schon gesagt, dass der Chef uns sehen möchte. Ich bin sehr gespannt. Ich musste noch schnell das Buch holen, das er bestellt hat. Wenn wir schon auf dem Weg zu ihm sind, kann ich das auch gleich für ihn mitnehmen.“ Zusammen machte sich die Truppe auf den Weg und traf nur kurze Zeit später wieder im Büro des Chefs ein.
„Ich habe sie alle gefunden Chef und auch mitgebracht“, eröffnete Kassandra das Gespräch. Das Licht wurde heller und sprach:
„Sehr schön, gut gemacht Kassandra. Hast du ihnen schon erklärt, warum sie hier sind?“ Kassandra schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin davon ausgegangen, dass du das dann doch lieber selbst übernimmst.“
„Natürlich! Ich möchte, dass ihr mir jetzt einfach zuhört und mich nicht unterbrecht. Ihr werdet, wenn ich mit meinen Ausführungen fertig bin, die Gelegenheit bekommen, euch dazu zu äußern. Habt ihr das verstanden?“ Alle sechs Engel nickten stumm.
„Gut“, begann das Licht.
„Es geht um Folgendes. Kassandra kann ihren Schützling aus persönlichen Gründen nicht mehr betreuen und dieser braucht deswegen jetzt einen neuen Schutzengel.“ Ein Raunen ging durch die kleine Gruppe. Alle sahen zu Kassandra, doch diese schaute hochkonzentriert zu dem Licht. „Persönliche Gründe? Sowas gab es bei Engeln doch nicht. Ein Schützling wurde betreut, vom Tag der Geburt, bis zum letzten Atemzug. Es war noch nie vorgekommen, dass jemand einen Schützling abgegeben hatte.“ Das Licht räusperte sich, bevor es fortfuhr: „Dieser Schützling ist besonders... nun ja... kompliziert. Es handelt sich dabei um die 25-jährige Maria. Sie hat das Talent, sich im Minutentakt in Schwierigkeiten zu begeben. Vor wenigen Stunden hatte sie einen schweren Rollerunfall, den sie mit sehr viel mehr Glück, als Verstand überlebt hat. Sie zu betreuen ist so, als hättet ihr Fünflinge im Kleinkindalter zu betreuen.“ Diana, Verena, Johannes, Juno und Aurora sahen sich an. Diese Aufgabe war ohne jeden Zweifel eine echte Herausforderung. „Können wir denn nicht zu zweit im Team arbeiten“, fragte Juno. „Nein, das geht nicht“, antwortete das Licht. „Nur ein Engel pro Mensch. Wie ihr wisst, gibt es so viele Schutzengel wie Menschen. Wenn die Relation nicht mehr stimmt, werden einige Seelen wieder zu Menschen, oder Menschen die hier oben ankommen werden zu Schutzengeln.“ Kassandra nickte.
„Das stimmt, Schutzengel sein ist ein 24-Stunden-Job, sonst wäre ich nach 25 Jahren noch nicht so fertig.“
„Wie genau soll das Ganze denn jetzt ablaufen?“, frage Johannes neugierig.
„Jeder von euch wird einen Monat mit Maria verbringen und sie etwas kennenlernen. Danach entscheiden Maria, Kassandra und ich, wer von euch am besten für diese Aufgabe geeignet ist. Kassandra wird euch die ganze Zeit begleiten und mir Bericht erstatten und euch in alle Besonderheiten einweisen.“ Kassandra schluckte.
„Ich werde was?“ Das Licht leuchtete grell auf.
„Du wirst deinen Nachfolger einarbeiten. Keiner kennt Maria so gut wie du. Du wirst schon mal vorgehen und sie langsam auf das vorbereiten, was in nächster Zeit auf sie zukommt. Bis sie einen neuen Schutzengel hat, werde ich mich persönlich um sie kümmern. Diana, du wirst als Erste zu ihr gehen. Danach wird Verena ihr Glück versuchen und im Anschluss Johannes. Juno, du wirst die vierte sein und den Abschluss macht Aurora. Wer von euch diesen Auftrag bekommt und ihn ordentlich ausführt, bekommt natürlich eine Belohnung. Euch wird ein persönlicher Herzenswunsch erfüllt.“ Dies war eine ungewöhnliche Aussicht, denn normalerweise war es Ehre genug ein Schutzengel zu sein.
„Kassandra, mach dich jetzt auf den Weg zu Maria. Du hast eine Woche Zeit sie vorzubereiten. Mach das bitte möglichst sanft, nicht das sie sich erschreckt und zu Schaden kommt. Ihr ist ein sehr langes Leben vorbestimmt und ich möchte nicht, dass dieses vorzeitig beendet wird.“ Kassandra nickte und schwebte davon.
Wie sollte sie es in nur einer Woche schaffen Marias Vertrauen zu gewinnen und ihr die Sache schonend zu erklären. Sie beschloss, erst mal zu schauen, wie es ihr nach dem Horrorunfall ging. Als Kassandra in Marias Wohnung ankam, schlief Maria tief und fest. Kassandra setzte sich an ihr Bett und berührte vorsichtig die linke Hand. Maria schien dies gespürt zu haben, denn sie kuschelte sich noch tiefer in ihr Kissen. Plötzlich wurde Maria unruhig. Ihr Atem beschleunigte sich. Kassandra legte ihr eine Hand auf die Stirn und tauchte vorsichtig in Marias Traum ein. Was sie da sah, waren 2 Träume, die wie 2 Filme in Endlosschleife zu laufen schienen. Der Erste dauerte nur ein paar Sekunden. Ein heller Scheinwerfer kam auf sie zugerast. Dann knallte es und es wurde alles dunkel. Als es wieder hell wurde, befanden sie sich auf einer Beerdigung. Eine dunkelblaue Urne mit vielen kleinen weißen Sternen stand auf dem Altar. Überall standen Blumenkränze und Sträuße. An der Seite stand ein riesiges Foto von Maria. Vorne saß die ganze Familie. Dahinter Freunde und Arbeitskollegen. Die kleine Kirche war rappelvoll. Maria, durchsichtig wie ein Geist, lief nach vorne und strich ihrer Mutter sanft über die Wange. Danach wandte sie sich ab und sah sich suchend um. Weiter hinten in der Kirche standen ein junger Mann und eine junge Frau. Sie diskutierten im halblauten Flüsterton über eine Internetseite. Kassandra störte das extrem. Wie konnte man so unsensibel sein. Maria jedoch lächelte und schwebte zu ihnen rüber.
„Wir können die Seite nicht schließen, es ist ihr Vermächtnis an uns und alle Fans der Seite. Sie würde wollen, dass wir sie weiter führen. Schließlich sind wir auch Admins“, argumentierte die junge Frau.
„Aber du hast dafür keine Zeit und ich kein Talent. Wie sollen wir das machen?“, erwiderte der junge Mann. Maria versuchte ihn zu hauen, aber als Geist war das nicht möglich. So versuchte sie ihre Meinung zu äußern.
„Ihr müsst weiter machen. Das wäre mein letzter Wunsch an euch gewesen. Ihr wisst, wie wichtig mir das war.“ Die beiden bemerkten sie nicht.
„Du hast Recht, wir haben keine Chance sie so weiter zu führen wie es war“, lenkte die Frau jetzt ein. Maria fiel alles aus dem Gesicht.
„Was? Geht es noch? Du kannst froh sein, dass ich dich so lieb habe, sonst würde ich ab jetzt durch dein Leben spuken, für immer!“ Da ergriff der junge Mann wieder das Wort:
„Nein, du hast Recht. Wir können die Seite nicht einfach aufgeben, dann wäre es, als würden wir Maria noch einmal verlieren. Wir müssen irgendwie weitermachen.“ So ging das immer hin und her und Maria wurde einfach ignoriert. Irgendwann wurde sie so sauer, dass sie schrie. In diesem Moment schreckte Maria aus ihrem Traum hoch. Sie hatte wirklich geschrien und war davon aufgewacht. Sie bekam kaum noch Luft und Tränen strömten ihr über das Gesicht. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst sechs Uhr morgens war. Völlig fertig versuchte sie aufzustehen.
Maria spürte jeden Knochen in ihrem Leib. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie es geschafft hatte, sich aus dem Bett zu quälen. Sie hangelte sich an den Möbeln entlang ins Bad. Dort wusch sie sich die Tränen aus dem Gesicht und humpelte danach in die Küche, weil sie schrecklichen Durst hatte und ihr Magen wild knurrte. Sie brachte alles in ihr Bett, schnappte sich ihre Jacke, die sie letzte Nacht einfach auf ihr Sofa geschmissen hatte und ging auf den Balkon. Eiskalte Novemberluft raubte ihr fast den Atem. Vorsichtig machte sie es sich auf dem Balkon so bequem wie möglich und versuchte sich beim Rauchen zu entspannen. Sie spürte, wie sie mit jedem Zug ruhiger wurde. Kassandra sah ihr missbilligend dabei zu. Sie fand es blöd, dass Maria rauchte, denn auch das war eine Gefahr, in die sie sich selbst brachte. Doch im Moment konnte sie ihr nicht wirklich böse sein, sondern war froh, dass ihr Schützling sich beruhigte. Anschließend navigierte Kassandra sie zurück in ihr Bett. Die letzte Nacht war sehr anstrengend gewesen und Maria brauchte dringend Schlaf. Nachdem diese schnell was gegessen und getrunken hatte, schrieb sie noch kurz mit ihren Freunden, die sich nach dem Unfall große Sorgen um sie machten. Dabei sah Kassandra auch die beiden Streithähne von der Beerdigung wieder. Da Kassandra keine andere Idee hatte, wie sie mit Maria in Kontakt treten könnte, schlich sie sich in ihren nächsten Traum.
Wieder das Licht, der Aufprall und die Beerdigung. Als sie wieder zu den Streithähnen gehen wollte, sprach Kassandra sie an:
„Hallo Maria. Weißt du, wo du bist und was passiert ist?“ Maria sah sie verwirrt an.
„Ich hatte einen Rollerunfall und bin gestorben. Das ist meine Beerdigung. Wieso kannst du mich sehen?“
„Du bist nicht gestorben. Du hast den Unfall überlebt und wirst wieder ganz gesund. Das hier ist nur ein Traum. Ich bin übrigens Kassandra, dein Schutzengel.“
„Mein was? Sowas gibt es also wirklich? Dann hast du mich damals, als ich vier war aufgefangen, als ich von der Rutsche gefallen bin. Damals habe ich dich schon mal gesehen, aber mir wollte niemand glauben.“ Kassandra trat bei der Erinnerung daran wieder der Schweiß auf die Stirn. Sie hatte gerade einen Termin gehabt, als ihre himmlische Alarmglocke schrillte. Marias Vater hatte nicht aufgepasst, weil er ein paar jungen Mädchen zeigen wollte, was für ein toller Hecht er mit Mitte dreißig noch war und hatte seine kleine Tochter nicht im Blick gehabt. Diese war auf die Rutsche geklettert, als ihr ganz oben auf einmal schwarz Augen wurde und sie einfach runter fiel. Kassandra hatte sie aufgefangen, kurz bevor sie den Boden berührte. Zum Glück war außer einer Gehirnerschütterung nichts passiert. Ein Schauer jagte über Kassandras Rücken. Nie wieder wollte sie so was erleben. Und dann gestern dieser Unfall.
„Pass auf Maria, ich war bis jetzt dein Schutzengel. Demnächst wirst du einen neuen bekommen. Innerhalb der nächsten fünf Monaten, werde ich dir fünf meiner Kollegen vorstellen, von denen du, mein Chef und ich am Ende einen aussuchen, der dich in Zukunft beschützen wird. Du wirst die einzige sein, die uns sehen kann. Hast du das alles verstanden?“
„Gehört ja, aber verstanden nicht wirklich. Dass ich dir zu anstrengend bin, kann ich gut verstehen, aber ich muss erst mal verdauen, dass es so was wie dich wirklich gibt. Ich dachte immer, ihr existiert nur in der Fantasie von irgendwelchen Autoren und Kindern. Woher weiß ich, wenn ich wach werde, dass du real bist und nicht nur ein Produkt meiner Fantasie?“
„Ich werde an deinem Bett sitzen und auf dich warten, bis du ausgeschlafen hast. Danach pflege ich dich erst mal, sowohl körperlich als auch seelisch und wenn es dir wieder besser geht, wirst du den ersten Kandidaten kennenlernen. So viel kann ich dir schon verraten, sie heißt Diana. Ich lasse dich jetzt erst mal in Ruhe weiter schlafen und wir sehen uns dann nachher. Diesen Albtraum werde ich aber für diese Nacht verscheuchten, wenn du nichts dagegen hast.
Als Maria einige Stunden später wach wurde, sah sie sich suchend um. Das war ein viel angenehmerer Traum gewesen als die alte Version. Sie räkelte sie in ihrem Bett und stöhnte vor Schmerzen auf. Mist, der Unfall war also real gewesen. Aber bedeutete das auch, dass der Rest von dem Traum real war. Sie öffnete vorsichtig die Augen. Nein, in ihrer Wohnung war niemand außer ihr und ihrer Katze. Da hörte sie ein Klappern aus der Küche.
"Ich hoffe, dir hat der neue Traum besser gefallen." Maria schrie auf.
„Kassandra? Dich gibt es wirklich? Das glaube ich nicht. Das kann nicht sein! Ich glaube, ich träume noch immer. Kneif mich mal.“ Kassandra verdrehte die Augen.
„Ich darf dir nicht wehtun, sondern soll dich vor Schäden und Schmerzen schützen, aber wenn es dir hilft an mich zu glauben, beweg doch einfach mal deinen linken Fuß.“ Maria tat genau das und war die nächsten Sekunden damit beschäftigt, wieder zu Luft zu kommen. Wie konnte etwas nur so wehtun.
„Kassandra?“ fragte sie vorsichtig, als der Schmerz langsam erträglicher wurde.
„Ich wollte übermorgen eigentlich zu Freunden fahren, aber wie soll ich das machen, wenn ich mich noch nicht mal in meiner Wohnung frei bewegen kann?“ Kassandra sah sie mitfühlend an.
„Ich weiß es leider auch nicht, aber wir werden sicher einen Weg finden. Heute ruhst du dich erst mal richtig aus und morgen üben wir Laufen. Ich weiß, wie wichtig der Ausflug für dich ist und, dass es dir gut tun wird. Aber ich helfe dir nur unter einer Bedingung.“ Maria sah ihren Schutzengel neugierig an.
„Welcher?“
„Ich komme mit. Ich möchte nicht, dass dir noch was passiert. OK?“, fragte Kassandra lächelnd. Maria nickte glücklich. Den Rest des Tages blieb sie brav im Bett und schlief sehr viel. Das Wochenende war ihr so wichtig, dass es ihr nichts ausmachte, den Tag im Bett zu verbringen. Sie war mit ihren Freundinnen zu einem Theaterbesuch verabredet und auch eine der Schauspielerinnen aus einem anderen Stück wollte da sein, die für sie inzwischen zu einer Freundin geworden war, der sie blind vertraute. Alleine für sie, würde sie trainieren bis zum Umfallen. Dass dies wortwörtlich zu verstehen war, wurde am nächsten Tag sichtbar. Immer wieder gab ihr Fuß den Schmerzen nach. Immer wieder kam sie zu Fall.
„Kassandra, ich schaffe es einfach nicht. Mein Körper macht was er will“, stellte Maria am Nachmittag fest.
„Wie soll ich das jemals bis morgen hinbekommen? Mein Vater würde mich ja zum Bahnhof bringen, aber ich muss dann irgendwie in die Unterkunft kommen und von da ins Theater und abends wieder zurück und am nächsten Tag, wollen wir noch was unternehmen, weil dies das einzige Wochenende ist, an dem wir alle Zeit haben.“ Kassandra versuchte sie aufzumuntern.
„Glaub an dich. Du kannst das. Bitte gib nicht auf. Dir ist das Wochenende so wichtig. Versuch es weiter. Komm, wir machen eine Pause und versuchen es dann noch mal. Und nimm endlich was gegen die Schmerzen. Es hat doch keinen Sinn, dass du dich selbst bestrafst, indem du darauf verzichtest.“ Maria gab sich geschlagen. Sie humpelte an ihr Medikamentenfach und nahm eine Tablette. Danach legte sie sich auf ihr Bett und schlief nach wenigen Sekunden ein. Kassandra gönnte ihr den Schlaf. Maria hatte stundenlang Laufen geübt und inzwischen ging es schon viel besser. Sie hielt sich kaum noch irgendwo fest, aber die Angst hinderte sie daran, diesen Fortschritt zu bemerken. Kassandra lächelte ihren Schützling liebevoll an. Selbstvertrauen war noch nie ihre Stärke gewesen. Daran würden sie noch arbeiten müssen.
Mit der Hilfe von Kassandra und einigen Schmerzmitteln schaffte Maria es wirklich, bis zum nächsten Tag wieder zu laufen. Eigentlich wollte Maria erst Gehhilfen mitnehmen, aber mit ihrer verletzten Hand hätte sie diese nicht nutzen können. Die Fahrt brachte sie ohne Probleme hinter sich. Sie wollten bei einer ihrer Freundinnen übernachten. Die Person, die Maria an dem Tag am wichtigsten war, hatte ihr noch nicht sagen können, ob es klappen würde, dass sie auch kommen kann. Ihre Freunde hatten Zweifel, doch Maria nicht.
„Glaubt mir, sie wird da sein, sonst hätte sie abgesagt.“ Als sie am Theater eintrafen, schaute sie wie so oft die letzten vier Stunden aufs Handy. Sie war seit zwei Stunden nicht online gewesen, also war sie auf dem Weg. Während die anderen sicher waren, dass sie nicht mehr kommen würde, lächelte sie in sich hinein. Kassandra stellte erstaunt fest, dass Maria in dem Fall totales Vertrauen hatte und hoffte inständig, dass dieses nicht enttäuscht wurde. Einige Minuten bevor das Theaterstück begann, wanderte Marias Blick noch einmal auf das Handy und da wusste sie, dass ihr Wunsch wahr werden würde. Genau pünktlich war sie online gewesen. Sie ging noch mal schnell ins Bad, weil die Schmerzen wieder stärker wurden und sie nicht wollte, dass ihre Freunde sahen, dass sie schon wieder eine Tablette brauchte. Es war schließlich schon die dritte an diesem Tag. Als sie aus dem Bad kam, grinsten ihre Freunde sie an.
„Du hattest Recht, sie ist da, da beim Kartenverkauf.“ Maria hob eine Augenbraue.
„Ja ne, ist klar. Los, wir sollten rein gehen, sonst verpassen wir noch die Show.“ In dem Moment ging die Tür auf und da stand sie wirklich. Maria brauchte einige Sekunden, bis sie es realisierte. Doch dann lächelte sie überglücklich und fiel ihr regelrecht in die Arme. In dem Moment klingelte es zum dritten Mal und sie musste sie wieder loslassen. Die Show war unglaublich toll und Maria und ihre Freunde kamen aus dem Lachen nicht mehr raus. Nach dem Stück sahen sich Maria und ihr "Engel in Menschengestalt" endlich wieder. Maria kuschelte sich in ihre Arme und genoss den Augenblick. Kassandra zog sich zurück. Diesen Moment wollte sie nicht stören. Sie wusste, dass Maria im wahrsten Sinne des Wortes, in sicheren Händen war. Maria fühlte sich das erste Mal seit dem Unfall wieder wirklich sicher. Ihr Engel ohne Flügel flüsterte:
„Was machst du nur für Sachen?“ Maria kuschelte sich noch enger an sie und flüsterte zurück:
„Ich hatte so verdammt viel Glück, dass hätte ganz anders ausgehen können.“ Kassandra sah, dass beide in dem Moment das Gleiche dachten.
„Fast hätte es dieses Treffen nicht mehr gegeben und auch kein anderes mehr.“ Die beiden wollten sich gar nicht mehr loslassen, was der Engel auch genauso sagte. Das brachte Maria zum Lachen.
„Gut, dann bleiben wir genau so stehen, aber in viereinhalb Wochen stehst du wieder hier auf der Bühne und da muss ich dich loslassen, denn da bekommen mich keine zehn Pferde rauf.“ Da ließ Marias Engel sie los und lachte auch.
Die anderen wollten jetzt endlich Fotos machen. Maria hatte darauf so gar keine Lust.
„Nein, ich sehe aus wie „Chucky die Mörderpuppe.“ Ein sanftes Lächeln von ihrem Engel, ein kleiner Dackelblick und ein „Quatsch, du siehst toll aus“, änderte ihre Meinung allerdings schnell, auch wenn das mit dem toll aussehen nicht so ganz stimmte. Die Fotos wurden super und sie gehörten für lange Zeit zu dem einzigen Foto, auf dem sie alle drauf waren. Leider geht auch der schönste Abend irgendwann zu Ende und so rückte der Abschied näher. Maria musste versprechen, gut auf sich aufzupassen. Unauffällig sah sie zu Kassandra rüber und als diese nickte, versprach sie es. Vor dem Schlafen gehen, nahm sie die letzte Tablette für diesen Tag und schlief dadurch ganz gut.
Am nächsten Tag nahmen die Mädels wie geplant das Video auf, für das Maria die Geschichte geschrieben hatte. Später wusste sie nicht mehr, wie sie es in die fünfte Etage des Studios geschafft hatte, aber mit eisernen Willen ging es.
Innerhalb der nächsten Woche erholte sie sich. Mehrmals pro Woche fragte ihr Engel im Chat nach, wie es ihr geht. Jedes Mal freute sich Maria so darüber, dass es zu neuen sichtbaren Fortschritten kam. Kassandra freute sich mit ihr. Sie hatte ihren Schützling selten so glücklich gesehen. Das ganze hatte am 13. Juni des gleichen Jahres begonnen. An dem Tag hatten die beiden das erste Mal miteinander geschrieben. Am Anfang war Maria noch jedes Mal schrecklich aufgeregt gewesen und oft hatte sie Angst, zu nervig zu sein, wenn sie mal wieder halbe Romane ins Handy tippte, aber mit der Zeit verlor sie die Aufregung und auch einen Teil der Angst. Kassandra konnte das durchaus nachvollziehen, ebenso, warum Maria sie als Engel sah. Sie schaffte es, in Maria die positiven Eigenschaften zu stärken. Sie schenkte ihr Vertrauen, Selbstvertrauen, Respekt und Freundschaft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.