Читать книгу Einführung in das Werk Gotthold Ephraim Lessings - Stefanie Stockhorst - Страница 13

1. Charakteristische Schreibweisen (Polemik und Apologie)

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Lessing als , Wahrheitssucher‘

Während der rund 35 Jahre, in denen Lessing publizistisch aktiv war, versuchte er sich an zahlreichen, keineswegs nur literarischen Genres. Spezielle Vorlieben entwickelte er für die Bühnendichtung, für die lehrhafte Prosa in Form von Fabeln und Erzählungen, für die Epigrammatik sowie außerhalb der Dichtkunst für die Literaturkritik und für die Streitschrift. Seine theoretischen Abhandlungen, etwa zur Poetik, zur Ästhetik sowie zur Geschichts- und Religionsphilosophie, stehen trotz großer Sachkenntnis und argumentativer Treffsicherheit formal etwas außerhalb der gängigen Konventionen für die akademische Traktatrhetorik. Anders als diese gehen sie nicht nur unsystematisch und sprunghaft vor, sondern weisen auch einen hohen Grad an sprachlicher Durchformung auf, etwa durch die Wahl von Bildern und Vergleichen sowie durch spitzfindige rhetorische Winkelzüge, so dass Lessing als Vorreiter der deutschsprachigen Essayistik angesehen werden kann. Ferner darf es als typisch für ihn gelten, wenn er in seinen Texten regelmäßig dialogische Redesituationen schafft, sei es durch die Verwendung mehrstimmiger Genres wie dem literarisierten Briefwechsel und dem fiktiven Gespräch oder durch die intensive Auseinandersetzung mit referierten Gedanken und – oft frei aus dem Gedächtnis – zitierten Wendungen zeitgenössischer bzw. historischer Schriftsteller und Theoretiker (vgl. Feinäugle 1969, 130 u. 147). Dabei verkündet er seine eigenen Ansichten nicht als feststehende Überzeugungen, sondern begibt sich nach seinem erklärten Anspruch auf eine allmählich fortschreitende Wahrheitssuche, die in einer ständigen Abwägung des Für und Wider verschiedener Positionen stattfindet:

„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –“ (G VIII, 32f.)

Dialog und Streit

In erheblichem Kontrast zu dieser Selbstauskunft, die lange Zeit das idealisierende Lessing-Bild des Wahrheitssuchers prägte, steht jedoch Lessings vielfach geradezu bornierte Beharrlichkeit in seinen Ansichten, war ihm doch oft nicht darum zu tun, sich „auf der Ebene gemeinsamer Vernunftvorstellungen argumentativ mit anderen zu messen, sondern darum, seiner Auffassung und Einschätzung von Vernunft als der einzig vertretbaren Geltung zu verschaffen“ (Mauser 1986, 276). So oder so mutet es geradezu bekenntnishaft an, wenn Lessing gleich im ersten seiner Freymäurer-Gespräche (1778 – 80) schreibt: „Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde.“ (G VIII; 452)


Abb. 2: Johann Caspar Lavater und Gotthold Ephraim Lessing bei Moses Mendelssohn [Streitszene um 1770]. Kupferstich von S. Maier nach Moritz Daniel Oppenheims Ölgemälde Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn (aus Die Gartenlaube 8 (1860), H. 25, 389).

Scharfsinn und Pointiertheit

Als augenfälligste Merkmale von Lessings Stil, die sich in seinem literarischen Werk ebenso durchgängig wiederfinden wie in seinen theoretischen Schriften, in seinen Rezensionen und nicht zuletzt in seiner Korrespondenz, lassen sich Scharfsinn und pointierter Witz benennen. Diese Stilzüge spielt Lessing auf der Grundlage einer großen Expertise aus, die sich auf verschiedenste Wissensgebiete erstreckt, darunter allen voran Literaturgeschichte, Poetologie, Dramaturgie und Ästhetik, aber auch die bildende Kunst und Archäologie sowie die Religions- und Geschichtsphilosophie. Da Lessing durchaus um seine intellektuelle und sprachliche Brillanz wusste, manifestiert sich in seinen Texten ein ausgesprochen selbstbewusstes, gelegentlich sogar selbstgefälliges Auftreten.

Manipulation durch Rhetorik

Allerdings nutzte er seine rhetorische Gewandtheit keineswegs nur dazu, mit Hilfe von besonders luziden und stichhaltigen Argumentationen zu überzeugen. Vielmehr setzte er sie oftmals wohlkalkuliert und hintergründig dazu ein, sein Publikum im Interesse von Zwecken, die er für übergeordnet erachtete, zu beeinflussen. Mit solchen Manipulationen verstieß Lessing ganz offensichtlich gegen das seit der antiken Rhetorik gültige Ideal des vir bonus, also des redlichen Mannes, der kraft seiner Tugendhaftigkeit glaubwürdig aufzutreten vermag. Stattdessen pflegte er eine angriffslustige „Kultur der Teilwahrheiten“ (Stenzel in B II, 1283).

Streitlust

Für diese Herangehensweise dürften bei Lessing hauptsächlich zwei Beweggründe verantwortlich sein. Zum einen prägte ihn eine leidenschaftliche Streitlust, welche deutlich über das genuin aufklärerische Interesse an einer lebendigen Diskussionskultur im Rahmen einer kritischen Öffentlichkeit hinausgeht; er selbst nennt diesen Zug kokettierend seine „Irascibiliät“ (G VIII, 350), also seine Erregbarkeit. Die Freude am Experimentieren mit inhaltlichen Argumenten und textuellen Strategien veranlasste ihn zeitlebens zu ebenso geistreichen wie impulsiven Einmischungen in laufende oder längst abgeschlossene Debatten, oft auch aus einer Laune heraus, über die sein Freund Moses Mendelssohn bemerkte: „In dieser Laune war Lessing im Stande alles zu behaupten, was seine Gegner reitzen konnte, blos um den Streit lebhafter zu machen.“ (Mendelssohn 1977, 123)

Parteinahme für Schwächere

Zum anderen kennzeichnet sich Lessing durch eine notorische Parteinahme für Schwächere, deren Meinungen, Leistungen und Ansehen er immer wieder nach Kräften zu verteidigen suchte, wenn er den Eindruck hatte, dass sie aus ungerechtfertigten Gründen verkannt wurden und es mithin galt, den „Vorurtheilen die Stirne zu bieten“ (G III, 592). Gerade bei solchen Vorstößen zeigt sich die für Lessing charakteristische Respektlosigkeit gegenüber der Deutungshoheit namhafter Autoritäten, denen er beherzt, schonungslos und mitunter auch zu seinem persönlichen Nachteil widersprach. Was dabei anstößig wirkte, lag oftmals mindestens ebenso sehr in einer recht ausgeprägten Tendenz zu verbalen Ausfällen im Umgang mit seinen Kontrahenten begründet wie in seinen inhaltlichen Ansichten.

Begriff der Polemik

Unter dem Begriff der Polemik wurde in der Rhetorik der Antike weitgehend wertneutral die Streitkunst (gr. polemos: Krieg) als legitime Form der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, insbesondere unter Gelehrten, verstanden. Es handelte sich dabei zunächst einmal um einen Wettstreit, in dem es galt, die Durchsetzungskraft von Argumenten zu demonstrieren. Spätestens in der Frühen Neuzeit fand ein dahingehender Begriffswandel statt, dass nunmehr scharfe, direkte und nicht mehr notwendig sachliche Angriffe bis hin zur persönlichen Schmähung als polemisch bezeichnet wurden. Der Zweck einer derartigen Schreib- oder Redeweise lag darin, nicht allein die Stichhaltigkeit der gegnerischen Beweisführung anzufechten, sondern auch die persönliche Integrität des Kontrahenten selbst in Frage zu stellen. Beliebte rhetorische Mittel dafür waren z.B. neben Ironie, Sarkasmus, Übertreibung und Satire auch das vorsätzliche Missverstehen und die gezielte Verzerrung der gegnerischen Sichtweise. Obgleich derartige Manöver einen schwerwiegenden ethischen Verstoß gegen den gelehrten Umgangston des sine ira et studio (lat.: ohne Zorn und Eifer) darstellten, bildete die Verbindung von zulässigen Angriffen in der Sache (ad rem) mit unzulässigen Angriffen gegen die Person (ad personam) in der Praxis oft eher die Regel als die Ausnahme.

Lessings große Streite

Dies trifft nicht zuletzt auf Lessing zu, neigte er doch zu nachgerade feindseligen Invektiven, also zu persönlichen Beleidigungen, wenn es galt, eigene oder für zutreffend befundene Ansichten in seinen unter den Augen der Gelehrtenrepublik ausgetragenen Streitigkeiten durchzusetzen. Derartiges findet sich vor allem in seinen Literaturkritiken, mit denen er die laufenden Geschmacksdebatten merklich belebte. Darüber hinaus lassen sich drei größere Schauplätze anführen, auf denen Lessing seiner Polemik freien Lauf ließ: Im Jahr 1754 erschien erstens sein Vade mecum für den Herrn Samuel Gotthold Lange, eine philologische Stellungnahme, in der er den im Titel bezeichneten Laublinger Pastor als Horaz-Übersetzer auf geradezu schulmeisterliche Weise maßregelt. Ungewöhnlich erbitterte Attacken unternahm er zweitens im sog. antiquarischen Streit mit der Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet (1768) und den Briefen, antiquarischen Inhalts (1768 / 69) gegen den Hallenser Professor Christian Adolf Klotz (1738 – 1771). Inhaltlich ging es dabei zunächst um in Lessings Laokoon (1766) aufgeworfene Probleme der Altertumskunde, die im Verhältnis zum betriebenen Aufwand geringfügig erscheinen, jedoch eskaliert die Angelegenheit bis zum Plagiatsvorwurf. Von Zeitgenossen wie Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe wurde die haßerfüllte Fehde als befremdlich wahrgenommen, zumal Lessings Kontrahent im Zuge der Auseinandersetzungen starb, wenngleich fraglich ist, ob die erstaunliche Schärfe der Auseinandersetzung dazu beigetragen hat (vgl. Barner 1993, 16f.). Drittens focht er in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre den sog. Fragmentenstreit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717 – 1786) aus, in dem es um eine zeitgemäße Religionsauffassung unter aufklärerischen Vorzeichen ging. Diese letzte große Kontroverse soll im Folgenden als Beispiel herangezogen werden, um Lessings Streitverhalten zu illustrieren, weil sie nicht zuletzt einen wichtigen Erfahrungshintergrund für die Entstehung von Nathan der Weise (vgl. Kap. V.7) abgibt.

Gegenstand des Fragmentenstreits

Den Anlass für die folgenschweren Streitigkeiten bot eine aus Gründen der Vorsicht von ihrem Verfasser zu Lebzeiten unveröffentlichte Abhandlung des Hamburger Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768). Dieser hatte mit seinen Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) bereits als progressiver Gelehrter von sich reden gemacht, indem er die biblische Offenbarungslehre hinterfragte. Sein ebenso ehrgeiziges wie heikles Ziel bestand darin, ein theologisches Lehrgebäude ganz ohne Denkfiguren der Offenbarung allein mit Hilfe der Vernunft herzuleiten und zu begründen. Damit stellte sich Reimarus in die Tradition des Deismus, d.h. einer aus England stammenden rationalistischen Religionssauffassung, die sich in der Aufklärung europaweit verbreitete. Sie kennzeichnet sich insbesondere durch zwei Kerngedanken: Zum einen ersetzte sie aus Gründen der Plausibilität die bis dahin weitgehend ungebrochen gültige Annahme einer dreifachen Wesenseinheit Gottes (Trinität) als Vater, Sohn und Heiliger Geist durch die Vorstellung eines einzigen Gottes (Unitarismus). Zum anderen wird Gott nicht mehr als Schöpfer und Lenker, sondern nur noch als Schöpfer verstanden, der nicht in die somit vollends durch die Menschen zu verantwortenden Vorgänge im Diesseits eingreift. Nicht zuletzt, weil daraus eine massive Bedrohung für die traditionelle Machtstellung der Kirche erwachsen konnte, begegneten zumindest deren konservative Vertreter dem Deismus mit größtem Argwohn und strengen Religionsedikten.

Lessing erhielt aus Reimarus’ Nachlass als Freund der Familie die Abschrift eines umfangreichen Manuskripts mit dem Titel Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, aus der er zwischen 1774 und 1778 mehrere Auszüge als anonyme Fragmente eines Unbekannten in den Druck gab. Er wollte damit, ganz im Sinne der Aufklärung, das ohnehin längst verbreitete, aber kirchlicherseits verbotene deistische Gedankengut zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung machen. So teilt er mit: „[D]enn eben darum zog ich ihn [sc. den ungenannten Verfasser] an das Licht, damit ihn recht viele prüfen, recht viele widerlegen könnten.“ (G VIII, 160)

Reaktionen auf die Reimarus-Fragmente

In der Apologie geht Reimarus nun allerdings insofern über das gängige Maß der deistischen Religionskritik hinaus, als er beispielsweise die Auferstehung als vernunftwidrige Illusion bloßstellt, die Jünger der Scharlatanerie bezichtigt und sogar die Person Jesu in Zweifel zieht. Dementsprechend lösten die Fragmente eine erregte Debatte mit mehr als 50 Gegenschriften aus, welche den vormals angesehenen Reimarus noch postum in Verruf brachten, da seine Verfasserschaft bald zum offenen Geheimnis wurde. Lessing selbst gab Reimarus’ Namen nicht preis, sondern maskierte die Fragmente in seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur als Fundsachen aus dem Bestand der Bibliothek in Wolfenbüttel und legte falsche Fährten hin zu Johann Lorenz Schmidt (1702 – 1749), der für seine radikal von jeglicher Wunderfrömmigkeit befreite Bibelübersetzung, die sog. Wertheimer Bibel, im Jahr 1737 verhaftet, später aber in den Wolfenbütteler Bibliotheksdienst übernommen worden war. Am härtesten traf die Empörung über die Fragmente Lessing als Herausgeber. Sie fand einen einflussreichen Wortführer in dem harnäckigen Protestanten Goeze, der die Veröffentlichung weiterer Teile unterbinden wollte.

Streitschriften gegen J.M. Goeze

Mit einer raschen Folge von 15 Streitschriften aus dem Jahr 1778, von denen er elf als unmissverständliche Kampfansage mit Anti-Goeze überschrieb, setzte er sich jedoch gegen seinen Widersacher energisch zur Wehr. Neben den behandelten Gegenständen sorgte auch die Tatsache, dass der Federkrieg nicht im engeren Gelehrtenkreis auf Lateinisch, sondern in einer weiteren Öffentlichkeit auf Deutsch ausgetragen wurde, für eine erhebliche Brisanz. Während Goeze sein Anliegen mit unerbittlichem Dogmatismus nach den Regeln der akademischen Disputierkunst vorträgt und Lessing der „Theater-Logik“ (G VIII, 289) bezichtigt, lehnt dieser die Einhaltung dieser formalen Gepflogenheiten rundheraus ab: „Ich will mich auf jene Kathederetiquette, welche eben so wohl für mich, als für ihn zu erklären ist, nicht einlassen. Wer beweisen kann, läßt sich nicht lange nötigen, zu beweisen. Ich will nur sogleich den Nagel auf den Kopf zu treffen suchen […].“ (G VIII, 335) Seine Erwiderungen weisen vielfach Züge einer kriegerischen Polemik auf, wie sie sich nicht zuletzt in der Fecht-Metaphorik spiegelt, die er gebraucht, um Goeze mangelhafte Fertigkeiten im verbalen Waffengang vorzuhalten: „Endlich scheinet der Herr Hauptpastor Goeze, nach so langen ärgerlichen Aufheben, welches nur bei der schlechtesten Art von Klopffechtern im Gebrauch ist, zur Klinge kommen, und bei der Klinge bleiben zu wollen.“ (G VIII, 309)

Verhärtung der Fronten

Ganz anders hört es sich jedoch an, wenn Lessing sich in seinem ersten Anti-Goeze auf die Rolle des unschuldig Angeklagten zurückzieht, der seine vorgeblich nur widerstrebend angetretene Verteidigung so knapp wie möglich zu halten wünscht. So lautet der Untertitel der Streitschrift: D[as] i[st] Notgedrungener Beiträge zu den freiwilligen Beiträgen des Hrn. Past. Goeze Erster (Gott gebe, letzer!). Der gegenüber Goeze angeschlagene Tonfall erscheint auf den ersten Blick friedfertig, wenn nicht gar ein wenig betulich: „Lieber Herr Pastor, Poltern Sie doch nicht so in den Tag hinein: ich bitte Sie.“ (G VIII, 160) Jedoch folgt unmittelbar darauf eine Absichtserklärung, deren fast bedrohlicher Gestus keinen Zweifel an Lessings entschlossener Frontstellung aufkommen lässt: „Ich gehe ungern daran, daß ich meiner Absage schon bald nachleben muß. Aber Sie glaubten wohl sonst, es sei mein Ernst nicht. Sehen Sie also, welchen Plan zu meiner Fehde gegen Sie, ich hiermit anlege. Auch schließen Sie auf den Ton aus dem Lemma des Tertullian, und den fernern Worten, die bei ihm folgen. Überschreien können Sie mich alle acht Tage: Sie wissen, wo. Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht.“ (ebd.)

Rhetorische Strategien

Während Lessing hier zugesteht, dass Goeze ihn in seinen Sonntagspredigten womöglich übertönen könne, vertraut er offenbar darauf, im Feld der Publizistik ohne Weiteres bestehen zu können. Mit dem Hinweis auf den umstrittenen frühchristlichen Schriftsteller Tertullian, dessen Multa sunt sic digna revinci, ne gravitate adorentur (lat.: viele Dinge sind deshalb wert, widerlegt zu werden, damit sie nicht ernstlich bewundert werden) er seinem eigenen Text als Motto voranstellt, gibt er die bedingungslose Stoßrichtung seiner Kampagne zu erkennen. Entrüstet kehrt er daraufhin in einer Verkettung von rhetorischen Fragen mit einem bildhaften Vergleich die tatsächliche Rollenverteilung von Kläger und Beklagtem um: „Wie? weil ich der christlichen Religion mehr zutraue, als Sie, soll ich ein Feind der christlichen Religion sein? Weil ich das Gift, das im Finstern schleichet, dem Gesundheitsrate anzeige, soll ich die Pest in das Land gebracht haben?“ (ebd.)

Diese Strategie treibt Lessing noch weiter, indem er sich mit kalkulierter Anmaßung als kritischer Reformator in der Tradition Martin Luthers (1483 – 1546) in Szene setzt. Damit führt er zugleich ausgerechnet den wackeren Lutheraner als Verräter seiner eigenen Grundsätze vor, weil er den allein in ungehinderten Debatten zu gewinnenden Erkenntnisfortschritt verbieten wolle, wodurch er selbst überzeugte Protestanten wie Lessing in den Katholizismus zurückzutreiben drohe:

„Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen, in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen, hindern muß. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis andern mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im Einzeln, ist kein Fortgang im Ganzen möglich.

Herr Pastor, wenn Sie es dahin bringen, daß unsere Lutherschen Pastores unsere Päbste werden; – daß diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; – daß diese unserm Forschen, der Mitteilung unsers Erforschten, Schranken setzen dürfen: so bin ich der erste, der die Päbstchen wieder mit dem Pabste vertauscht.“ (G VIII, 162)

Plädoyer für die freie Meinungsäußerung

Abgesehen von dem rhetorischem Verfahren wird aus diesem Passus ersichtlich, dass es Lessing gleichermaßen um theologische Probleme wie um die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung ging, die er allgemein in seiner Zeit und speziell in der Auseinandersetzung mit Goeze vermisste. Bereits in seinen noch vor dem ersten Anti-Goeze erschienenen Axiomata beschuldigt Lessing daher den unbeirrbaren Geistlichen in einem fiktiven Dialog der vollkommenen Unfähigkeit zu einer argumentativen Auseinandersetzung. Sein Borniertheitsvorwurf geht so weit, dass er Goeze als mechanisch sprechende Automatenfigur vorführt. So klagt die Sprecherfigur Lessings über die Goezes:

„Man höre nur. Ich will des Hrn. Pastors vermeinte Widerlegung, und meine Antwort, in eine Art von Dialog bringen, welcher der Kanzeldialog heißen könnte. Nämlich; ich unterbreche den Hrn. Pastor: aber der Hr. Pastor hält sich nicht für unterbrochen. Er redet fort, ohne sich zu bekümmern, ob unsere Worte zusammen klappen, oder nicht. Er ist aufgezogen, und muß ablaufen. Also: ein Dialog und kein Dialog.“ (G VIII, 150)

Aufhebung der Zensurfreiheit

Der heftige Schlagabtausch, der nach Einschätzung beider Parteien keinerlei Ergebnis in der Sache erbrachte, führte letztlich zu den wohl schwerwiegendsten Sanktionen, die Lessing infolge seiner polemischen Publizistik jemals trafen. Denn die Auseinandersetzung mit Goeze wurde nicht inhaltlich, sondern obrigkeitlich beendet, indem Lessing im Juli 1778 ein Publikationsverbot für weitere Streitschriften mit theologischem Hintergrund und wenig später auch Zensurauflagen von der Braunschweiger Regierung erhielt. Da sich Lessing nicht auf diese Weise zum Schweigen bringen lassen wollte, entschied er sich dafür, seine religionsphilosophischen Überzeugungen nun ersatzweise in dramatisierter Form, gemeint ist Nathan der Weise, zu Gehör zu bringen (vgl. Guthke 2006b), wie er Reimarus’ Tochter Elise (1735 – 1805) am 6. September 1778 brieflich mitteilt: „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“ (B XII, 193)

Apologie

Neben dem Angriff gehörte auch die Verteidigung, also die Apologie, zu Lessings bevorzugten publizistischen Betätigungsfeldern, auf dem er freilich, darin den Konventionen des Genres vollauf entsprechend, nicht minder polemisch auftrat. Ursprünglich stammt das in der akademischen Streitkultur der Frühen Neuzeit weithin geläufige Verfahren der Apologie, obwohl nirgends begrifflich genau definiert, aus der forensischen Rhetorik, d.h. aus der Gerichtsrede der Antike. In diesem Zusammenhang diente sie zunächst der Verteidigung von Angeklagten. In der frühchristlichen Literatur kam als weitere Aufgabe die Rechtfertigung des Christentums gegenüber der Kritik durch Vertreter der etablierten Religionen hinzu. Allgemein gesagt, besteht die Funktion apologetischer Stellungnahmen darin, Personen, Institutionen, Schriften, Lehrmeinungen oder eben auch Glaubenshaltungen vor Angriffen durch Dritte zu schützen. Methodisch stellt die Apologie ein Verfahren der Beweisführung dar, das sich zwar formal auf die Überzeugungskraft der rationalen Logik stützt, dabei aber grundsätzlich in enger Verwandtschaft mit der Polemik steht. Prominente Beispiele für diese Schreibweise wären etwa Platons Apologie des Sokrates (ca. 395 – 390 v. Chr.), in der Platon für seinen wegen Gottlosigkeit und Jugendgefährdung angeklagten Lehrmeister eintritt, Philipp Melanchthons Apologia Confessionis Augustanae (1531) oder auch Philipp Sidneys Apologie for Poetry (1595).

Modelle für die ,Rettungen‘

In den mit diesen drei Texten verbundenen Themenbereichen, namentlich in der Philosophie, in der Religionsgeschichte und in der Dichtungslehre, sind auch Lessings apologetische Beiträge angesiedelt. Er selbst verwendete für seine dahingehenden Bemühungen allerdings nicht den Terminus der Apologie, sondern den der Rettung (lat.: vindicatio), obschon er bei weitem nicht alle seine Texte, die einen apologetischen Grundzug besitzen, so überschreibt. Als Gattungsmodell dienten ihm insbesondere die Artikel, die der französische Frühaufklärer Pierre Bayle (1647 – 1706) in seinem Dictionnaire historique et critique (1695 – 97) über berühmte Persönlichkeiten zusammengestellt und mit vielfältigen, durch Quellenstudien gestützten Anmerkungen versehen hatte, um eine unvoreingenommene Neubewertung anzuregen, verhärtete Denkmuster aufzubrechen und Vorurteile zu korrigieren. Dieselbe Absicht verfolgte Lessing, wenn er versuchte, sinnstiftend im Hinblick auf Probleme seiner Gegenwart zu wirken, indem er sich kritisch, provokant und parteilich mit zweifelhaften Einschätzungen von älteren Autoren auseinandersetzte (vgl. Nisbet 1978, 16f.). Er selbst schätzte dieses Unternehmen nicht ohne Grund als waghalsig ein:

„Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbne Männer, die es mir nicht danken können. Und gegen wen? Fast gegen lauter Lebendige, die mir vielleicht ein sauer Gesichte dafür machen werden. Wenn das klug ist, wo [!] weiß ich nicht, was unbesonnen sein soll.“ (G III, 522)

Die ,Rettungen‘ in den Schriften

Eine Sammlung von fünf ,Rettungen‘ nahm Lessing bereits 1753 / 54 in den zweiten und dritten Band der Ausgabe seiner Schriften auf. Sie beziehen sich auf den römischen Dichter und Dichtungstheoretiker Horaz (65 – 8 v. Chr.), auf die Reformationsgegner Simon Lemnius (1511 – 1550) und Johannes Cochlaeus (1479 – 1552), auf den Naturwissenschaftler und Philosophen Hieronymus Cardanus (1501 – 1576) sowie auf eine Theologensatire mit dem Titel Ineptus Religiosus (1652; lat.: Der törichte Gottesgelehrte), deren Verfasser bis heute nicht ermittelt wurde. In den Rettungen des Horaz (1754) verteidigt Lessing den antiken Autor gegen die Vorwürfe der Feigheit, Gottlosigkeit und Homosexualität, indem er für eine Trennung des Werks von der Biographie bei der ästhetischen Beurteilung eintritt. Das allgemeine Interesse, welches im Grunde genommen seinen sämtlichen Rettungen programmatisch zugrunde liegt, gibt er zu Beginn dieses Textes bekannt.

Ziele der ,Rettungen‘

Zunächst einmal diagnostiziert er eine unter Gelehrten verbreitete Überschätzung des eigenen Urteils, welche die nach seinem Dafürhalten höchst wünschenswerte Anerkennung gegenläufiger Meinungen verhindere:

„Die Gabe sich widersprechen zu lassen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter den Gelehrten nur die Toten haben. Nun will ich sie eben nicht für so wichtig ausgeben, daß man, um sie zu besitzen, gestorben zu sein wünschen sollte: denn um diesen Preis sind vielleicht auch größre Vollkommenheiten zu teuer. Ich will nur sagen, daß es sehr gut sein würde, wann auch noch lebende Gelehrte, immer im voraus, ein wenig tot zu sein lernen wollten.“ (G III, 591)

Neben der Duldung von Widerspruch fordert Lessing auch eine Einsicht in die Relativität von Werturteilen, deren Bestandsfähigkeit sich nicht unmittelbar, sondern erst auf lange Sicht erweise, indem sie entweder immer wieder bestätigt oder aber dauerhaft revidiert würden:

„Ungerecht wird die Nachwelt nie sein. Anfangs zwar pflanzt sie Lob und Tadel fort, wie sie es bekömmt; nach und nach aber bringt sie beides auf ihren rechten Punkt. Bei Lebzeiten, und ein halb Jahrhundert nach dem Tode, für einen großen Geist gehalten werden, ist ein schlechter Beweis, daß man es ist; durch alle Jahrhunderte aber hindurch dafür gehalten werden, ist ein unwidersprechlicher. Eben das gilt bei dem Gegenteile. Ein Schriftsteller wird von seinen Zeitgenossen und von dieser ihren Enkeln nicht gelesen; ein Unglück, aber kein Beweis wider seine Güte; nur wann auch der Enkel Enkel nie Lust bekommen, ihn zu lesen, alsdann ist es gewiß, daß er es nie verdient hat, gelesen zu werden.“ (ebd.)

Relativität der Urteile

Schließlich legt er dar, mit welchem Selbstverständnis er seine eigenen Interventionen in diesen historischen Prozess der Urteilsfindung betreibt. Mit demonstrativer Bescheidenheit erklärt er sich zum bloßen Verwalter eines Bildersaals, dessen Aufgabe darin bestehe, für die nötige Sauberkeit zu sorgen. Allerdings entspringt diese vermeintlich objektive Pflicht letztlich abermals einem subjektiven Urteil, nämlich seinem eigenen, das er zumal recht kategorisch vertritt:

„Ich selbst – – denn auch ich bin in Ansehung derer, die mir vorangegangen, ein Teil der Nachwelt, und wann es auch nur ein Trillionteilchen wäre – – Ich selbst kann mir keine angenehmere Beschäftigung machen, als die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz alles das im moralischen Verstande zu tun, was derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertrauet ist, physisch verrichtet.“ (G III, 592)

Stellen wie diese lassen anschaulich erkennen, dass in Lessings Texten, und dies gilt mitnichten allein für seine Streitschriften und Rettungen, den zuweilen perfiden rhetorischen Strategien mindestens eine ebenso große Bedeutung zukommt wie den sachlich fundierten Analysen von ihm fragwürdig erscheinenden Tatsachenbehauptungen historischer oder philologischer Art (vgl. Göbel 1980).

Einführung in das Werk Gotthold Ephraim Lessings

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