Читать книгу Die kleine Dame (1) - Stefanie Taschinski - Страница 9

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Hinter der Hecke


Es war der erste richtige Sommertag. Dicke Hummeln summten durch die Luft und die Kinder, die vor dem Brezelhaus auf dem Fußweg vorbeispazierten, hatten mindestens fünf Kugeln Eis in ihrer Tüte. Ja, fünf.

Es war einer dieser Nachmittage, an denen man unbedingt verbotene Dinge tun muss. Lilly las das Schild »Kinder verboten!«, schnaubte und ging schulterzuckend weiter zu dem Tor, das in den Hinterhof führte. Sicher hatte Herr Leberwurst auch verboten, im Hof zu spielen, aber das war Lilly an diesem Tag furzegal.

Sie drückte die Klinke herunter und das Tor öffnete sich mit einem leisen Knarren. Vor ihr lag ein raspelkurzes Stück Rasen mit einer verrosteten Teppichstange.

Genau, so sah es hier aus. Grau und langweilig. Deshalb hatte Lilly auch nie einen Schritt in diesen Hof gesetzt. Aber heute ging sie einfach über den Rasen, unter der Teppichstange hindurch und zwängte sich in die Ligusterhecke, die den Hof in zwei Hälften teilte. Sie wollte ja ganz weit weg von Mama, Papa und Karlchen sein. Hinter dieser Hecke würden sie Lilly niemals finden!

Die Zweige der Hecke wuchsen dicht an dicht. Sie piksten Lilly in die nackten Arme. Sie hakten sich an ihrer Hose fest. Es roch nach Moos und alter Vogelschiete. Aber Lilly schob sich weiter durch die Äste, immer weiter, bis ihre Nasenspitze auf der anderen Seite hervorsah und die Hecke sie freigab.

Lilly rieb sich die Augen. Was war denn das? Hinter der Hecke war der Hof ja viel, viel größer, als sie gedacht hatte. Vor ihr lag eine Blumenwiese. Mehrere verschlungene Pfade führten zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Nicht weit von der Hecke entfernt stand eine riesige, alte Weide. Ihre Zweige hingen bis auf den Boden und wiegten sich in der leichten Brise, als wollten sie Lilly begrüßen.

Lilly setzte sich auf eine kleine Mauer neben der Weide und betrachtete ihre Kamera. Sie drehte den Apparat hin und her. Irgendwo musste doch das Fach für den Chip sein. Sie wusste, dass es so ein Fach gab. Papas Fotoapparat hatte auch so eins. Lilly untersuchte die Kamera von allen Seiten. Ihre Finger fühlten eine kleine Vertiefung, doch als sie hineindrückte, fielen bloß die Batterien heraus und rollten ein Stück über den Boden.

Lilly bückte sich, um die Batterien aufzuheben. Da sah sie plötzlich ein paar sehr kleine Schnürstiefel. Sie blickte auf und fiel auf den Po. Direkt vor ihr stand eine kleine Person im allerfrischesten Weidengrün, die einen ebenso grünen Schirm in der Hand hielt. Es war die kleine Dame, die im Zelt unter der alten Weide campierte.

Die kleine Dame ging ein paar Schritte zurück und betrachtete Lilly ausgiebig von allen Seiten. Mehrere Male schritt sie um das Mädchen herum, das da vor ihr auf dem Boden saß, und ihre Farben wechselten von Weidengrün in das tiefe Grün der Ligusterhecke, zum Mörtelgrau der Mauer und wieder zurück. Die kleine Dame chamäleonisierte mit so atemberaubender Geschwindigkeit, dass Lilly schwindelig wurde. Ihr Herz klopfte schnell und ihr Bauch tanzte Flohwalzer.

Da klappte die kleine Dame ihren Schirm zusammen, setzte sich auf die Mauer und schlug ein Bein über das andere. »Os, os, new nebah riw nned ad?«

Lilly brachte vor Staunen kein Wort heraus. War das Chinesisch?

»Rew tsib ud?«, fragte die kleine Dame ganz langsam und sah Lilly bedeutungsvoll an.

Aber Lilly konnte nur fragend die Schultern zucken. Denn sie verstand nicht das allerkleinste Wort. Da machte die kleine Dame ein bekümmertes Gesicht. »Oh wie traurig, mein Besuch versteht mich nicht!«, seufzte sie.

»Doch, jetzt schon!«, widersprach Lilly.

Nun war es an der kleinen Dame, erstaunt zu sein. »Du sprichst Vorwärtzisch, aber nicht Rückwärtzisch?«

»Was ist Rückwärtzisch?«, fragte Lilly.

»Links und rechts, groß und klein, vorwärts, rückwärts, was darf’s sein?«, lachte die kleine Dame und fuhr fort: »Du musst wissen, die meisten Menschen im Norden sprechen Vorwärtzisch, während die Menschen im Süden Rückwärtzisch bevorzugen.«

»Aber du kannst beides?«, staunte Lilly.

»Nun ja, ich reise viel«, erklärte die kleine Dame.

»Und so weiß ich, mich in beiden Sprachen einigermaßen auszudrücken.«


»Besuchst du hier jemanden?«, fragte Lilly und sah sich neugierig um. Aber außer ihr und der kleinen Dame war weit und breit niemand zu sehen.

»Nein, nein! Ich bin auf Expedition«, verkündete die kleine Dame. »Und du? Was machst du hier?«

»Ich bin Lilly und wohne im Brezelhaus.«

»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Lilly«, sagte die kleine Dame und zog ihren Tropenhelm.

Lilly war ein bisschen verwirrt. So wie die kleine Dame hatte sie noch nie jemand begrüßt.

»Oh, ich freu mich auch sehr«, sagte sie. »Und … wer bist du?«

»Ich bin die kleine Dame«, stellte sich die zierliche Person vor und setzte ihren Helm schwungvoll wieder auf.

Lilly riskierte einen Blick auf den seltsamen Schirm. »Kleine Dame?«

»Ja?«

»Wie hast du dich eben verwandelt?«

»Wieso verwandelt? Ich dachte, ich hätte wie gewöhnlich ein bisschen chamäleonisiert.« Die kleine Dame spannte ihren Schirm zum zweiten Mal auf und wieder lief sie von den Spitzen ihrer feinen Schnürstiefel bis zum Tropenhelm mauergrau an. Und zum zweiten Mal an diesem Nachmittag fiel Lilly vor Staunen auf den Po.

»Siehst du, es geht ganz leicht«, sagte die kleine Dame. »Zumindest für mich, die weltbeste Chamäleoniseurin.« Lilly glaubte der kleinen Dame sofort, dass sie die beste Chamäleoniseurin der Welt war. Aber sie hätte natürlich gern gewusst, wie es funktionierte. Wieder blinzelte sie zu dem eigenartigen Schirm. Der Griff erinnerte sie an etwas.

Aber ehe Lilly noch eine Frage stellen konnte, hatte die kleine Dame den Schirm schon wieder zugeklappt.

Sie setzte sich neben Lilly ins Gras. Voller Neugier blickte sie auf Lillys neuen Fotoapparat.


»Was ist das?«

»Das ist …«, setzte Lilly an.

Die kleine Dame hob die Hand und stoppte sie. »… lass mich raten. Ich liebe Rätsel.«

Die kleine Dame hielt sich die Augen zu. »Ich muss mich konzertieren.«

Durch einen kleinen Spalt zwischen ihren Fingern spähte sie auf die Kamera. »Oh, das ist ein schweres Rätsel. Sehr, sehr schwer.« Sie klatschte in die Hände. »Ha, aber ich weiß es! Es ist … eine Unterwasserbrotdose.«

»Was? Nein«, sagte Lilly.

»Nein?«, rief die kleine Dame verblüfft. »Aber es sieht genauso aus wie ein richtiges Prachtexemplar von einer Unterwasserbrotdose. Ich kannte einmal einen Delfin, der wusste nie, wo er sein Schulbrot lassen sollte. Diese Dose hätte ihm sehr geholfen. Oder ist sie etwa nicht wasserdicht?«

Lilly schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

»Gut, lass mich nachdenken.« Wieder hielt die kleine Dame sich die Augen zu und dachte sehr angestrengt nach. »Ha, aber jetzt weiß ich es! Es ist ein Geheimsprachenerfinder. Genau, die gibt es jetzt doch an jeder Ecke zu kaufen.«

Wieder schüttelte Lilly den Kopf. »Nein, das ist es auch nicht«, sagte sie.

»Also, wenn es weder eine Unterwasserbrotdose noch ein Geheimsprachenerfinder ist, dann musst du mir einen kleinen Hinweis geben, damit ich dieses Rätsel löse, bevor der Mond über Sansibar aufgeht.«

Lilly überlegte einen Moment. Sollte sie der kleinen Dame einfach sagen, dass sie auf dem Schulfest eine Kamera gewonnen hatte? Aber dann entschied sie sich anders. »Es hat etwas mit den Augen zu tun«, verriet sie.

Die kleine Dame hielt die Luft an. »Aber natürlich. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Es ist deine Glasaugenaufbewahrung!«

»Igitt, nein!«, rief Lilly.

»Aber ein zweites Paar Augen kann sehr praktisch sein, wenn die einen schlafen und die anderen nachsehen wollen, wo das letzte Stück Schokolade versteckt ist«, beharrte die kleine Dame.

»Es ist meine neue Kamera«, sagte Lilly.

Ehrfürchtig betrachtete die kleine Dame die Kamera.

»Ein echter Tofograf?«, fragte sie und streckte vorsichtig die Hand aus, um Lillys Fotoapparat zu streicheln. »Was für ein schöner Apparat. Darf ich ihn mal halten?«

Lilly gab ihn ihr. »Es war der Hauptpreis am Glücksrad, aber meine Eltern und Karlchen hatten alle überhaupt keine Zeit, ihn sich anzusehen«, erzählte Lilly.

Die kleine Dame sah sie erstaunt an. »Dummköpfe! Wenn so ein schöner Tofograf daherkommt, muss man alles stehen und liegen lassen und tofografieren und sonst nichts«, sagte die kleine Dame bestimmt.

Lilly war aufgeregt. Ob die kleine Dame ihr zeigen konnte, wo man den Chip einlegte? Und da hatte die kleine Dame die Klappe auch schon gefunden.

»Aber da ist ja gar kein Chip drin. Wie sollen wir Bilder machen, wenn du keinen Chip-Schnipp hast?«

Lilly holte das kleine Plastikteil aus ihrer Hosentasche.

»Ah, das ist etwas anderes.« Die kleine Dame schnippte den Deckel von der Verpackung, nahm den Chip heraus und schob ihn in die Öffnung. Lilly sah sofort, dass die kleine Dame das nicht zum ersten Mal machte.

»So und jetzt drückst so lange diesen Knopf, bis der Bildschirm leuchtet«, erklärte sie und gab Lilly die Kamera zurück.

Lilly drückte eine ganze Weile und sah auf den Bildschirm: Vor ihr stand die kleine Dame und lächelte ihr verwegenstes Lächeln. Mit ihrem hellen Safarikostüm und dem Tropenhelm sah sie aus, als käme sie geradewegs aus dem Dschungel. Lilly knipste los. Klick, klick, klick die kleine Dame von vorne. Klick ihre lustigen Haarschnecken. Klick die Schnürstiefel und klick, klick, klick den Schirm. Plötzlich sah Lilly es ganz deutlich. Der Griff des Schirms war ein Chamäleonschwanz! Gerade wollte Lilly wieder den blauen Knopf drücken, da rief die kleine Dame: »Halt! Von so viel tofografieren bekommt mein Schirm ja Pixeldites!«


Mit diesen Worten spannte sie den Schirm auf. Für Sekunden tanzten alle Farben des Regenbogens über den Stoff, dann war die kleine Dame verschwunden!

Lilly starrte auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte. »Kleine Dame«, rief sie.

Keine Antwort. Lilly sah sich um. »Kleine Dame, wo bist du?«

Da hörte sie ein leises Lachen, das hinter den Zweigen der alten Weide hervorzukommen schien.

Lilly schob die Zweige auseinander und dort saß die kleine Dame vor ihrem Zelt und sprach mit ihrem Schirm. »Nohcs tug. Schon gut«, beruhigte sie ihn.

Lilly kniff sich in den Arm. Träumte sie? Oder stand hier im Hinterhof des Brezelhauses tatsächlich ein weißes Zelt? Ein rundes Zelt, das oben spitz zulief und mit bunten Wimpeln geschmückt war?

Sie ging auf die kleine Dame zu. »Was ist passiert?«

»Ach, das ist ein sehr alter und eigensinniger Schirm, den ich von meiner Ururgroßmutter geerbt habe«, sagte die kleine Dame und schob den Stoff des Schirms ein Stückchen hoch. Nun konnte Lilly sehen, was in dem Schirm steckte. Es war ein leuchtend grünes, sehr lebendiges Chamäleon und es sah Lilly direkt in die Augen!


»Chaka ist über tausend Jahre alt. Meine Ururgroßmutter hat ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet und zum Dank dafür ist er bei ihr geblieben«, erzählte die kleine Dame.

Atemlos hörte Lilly zu.

»Aber manchmal, wenn ich nur chamäleonisieren will, spielt Chaka mir einen Streich und macht mich unsichtbar«, fuhr die kleine Dame fort.

»Oh«, sagte Lilly.

»Ich vermute, die Tofografierei war ihm zu aufregend. Es kommt schließlich nicht alle Tage ein Mädchen durch die Ligusterhecke spaziert, das auch noch einen funkelnagelneuen Tofografen mitbringt!«


Jetzt musste Lilly lachen. Als wenn das aufregend wäre! »Es kommt auch nicht alle Tage vor, dass ich über eine kleine Dame stolpere, die ganz zufällig einen tausendjährigen Chamäleonschirm hat und sich unsichtbar machen kann«, sagte sie.

»Nein, das kommt nicht alle Tage vor«, stimmte die kleine Dame zu und hüpfte von ihrem Stuhl.

»Heute ist eben unser Glückstag!«, rief sie. »Unser Glücksglücksglückstag!«

Und das fand Lilly auch.

Doch ehe sie es bemerkt hatten, war der Nachmittag verflogen und Lilly musste nach Hause. Die kleine Dame begleitete Lilly bis zur Hecke und zeigte ihr eine geheime Stelle, an der ein Kind leicht hindurchschlüpfen konnte.

Die kleine Dame hielt die Nase in die Luft und schnupperte. »Ich würde sagen, deine Mama holt gerade den Pfannkuchenauflauf aus dem Backofen.«

Lilly roch nichts. Sie hatte auch keinen Hunger. Es gab nur eines, was sie wissen wollte, bevor sie durch die Öffnung in der Hecke schlüpfen konnte. »Kleine Dame, sehen wir uns wieder?«

Die kleine Dame zwinkerte ihr zu und tippte auf ihren Schirm. »Ich werde dir eine Nachricht schicken«, versprach sie.

Und mit diesen Worten spannte sie ihren Schirm auf und ging fröhlich chamäleonisierend auf die alte Weide zu.

Die kleine Dame (1)

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