Читать книгу Die kleine Dame in den Blauen Bergen (5) - Stefanie Taschinski - Страница 9
ОглавлениеFünf Vorteile, klein zu sein
Die Verkäuferin half Lilly, die Schnürsenkel der Wanderstiefel fester zu binden. »Geh mal eine Runde.«
Lilly stand auf. Das war das siebte Paar Stiefel, das sie anprobierte, und bisher hatte keines gepasst.
Karlchen stupste sie von der Seite an. »Wie lange dauert das noch? Mir ist langweilig!«
Lilly zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid«, sagte sie und marschierte los. Am Ende des Gangs stand Mama und schuckelte Bruno in ihrem Arm.
»Na, Liebling, wie sind die?«
Lilly versuchte, in ihre Füße zu spüren, so wie die kleine Dame es ihr geraten hatte. »Wenn es die richtigen Stiefel sind, wissen deine Füße das sofort.«
Aber Lillys Füße wussten gar nichts! Lilly sah sich im Schuhgeschäft um. Wo war die kleine Dame nur? Lilly ging noch ein Stückchen weiter. Die Stiefel fühlten sich gar nicht mal so übel an. Sie konnte mit den Zehen wackeln, und die Hacke saß hinten schön fest. Plötzlich hörte Lilly eine scharfe Stimme.
»Wenn du die Dose aufmachst, musst du sie auch kaufen!«
Vor dem Regal mit den Schuhputzmitteln stand die kleine Dame und hielt dem Verkäufer den Deckel hin.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich habe diese Dose mitnichten geöffnet. Sehen Sie, es ist der Tester.« Sie zog ein Tuch aus ihrer Tasche. »Bevor ich etwas kaufe, muss ich schließlich wissen, ob es wirklich gut ist.«
Mit diesen Worten nahm die kleine Dame einen Klacks Schuhcreme auf ihr Tuch und rieb damit erst ihren linken und dann den rechten Schnürstiefel ein.
Der Verkäufer kniff die Augen zu. »Unsere Tester sind für Erwachsene da, die etwas kaufen wollen, und nicht für Kinder, die … die …«
»Was ist los?«, fragte Lilly.
»Ich mache einen Test«, antwortete die kleine Dame. »Und ich bin noch nicht fertig.«
Sie drückte dem Verkäufer Deckel und Dose in die Hand. »Momentchen, bitte«, sagte sie und lief bis zum Ende des Regals, wo ein mit Wasser gefüllter Putzeimer stand. Die kleine Dame hob den Saum ihres Salafarirocks an und stieg plitsch-platsch in den Eimer.
Schon stand der Verkäufer neben ihr. »Hab ich mir doch gedacht, dass du nur Unfug anrichten willst! Komm da sofort raus!«
Stattdessen ging die kleine Dame auf der Stelle. »Links, rechts. Links, rechts.« Sie lächelte den Verkäufer an. »Auf der Dose steht wasserfest. Also brauche ich auch Wasser, um das auszuprobieren!«
Der Verkäufer warf einen Blick in die Runde. »Zu welchen Erwachsenen gehört dieses unmögliche Kind?«, rief er.
»Sie ist kein Kind!«, sagte Lilly.
»Sie ist die kleine Dame!«, rief Karlchen, die sich zwischen den Kunden zu ihnen durchdrängelte.
Von der Seite kam Mama mit Bruno im Kinderwagen zu ihnen herüber. »Passen die Stiefel?«, fragte sie Lilly.
»Ja«, sagte Lilly und war selbst ganz überrascht.
Mama Bär sah zur kleinen Dame. »Wie sieht es aus, alles wasserdicht bei dir?«
Die kleine Dame hüpfte kurz auf und ab, um das überschüssige Wasser abzuschütteln. »Ich glaube, meine Socken sind sächtatlich noch trocken.«
Der Verkäufer starrte auf die Pfütze, die sich um die Schnürstiefel der kleinen Dame bildete.
Die kleine Dame lächelte ihn an. »Dann können Sie mir sehr gern eine neue Dose zur Kasse bringen. Herzlichen Dank!«
Als sie fünf Minuten später aus dem Schuhgeschäft kamen, liefen Lilly und Karlchen gleich in ihren neuen Wanderschuhen los.
»Sehr schön«, sagte die kleine Dame. »Am liebsten würde ich auf der Stelle loswandern, direkt in die …!«
Lilly schüttelte unmerklich den Kopf und versuchte, der kleinen Dame ein Zeichen zu geben.
»Ich meine«, fuhr die kleine Dame fort, »Wanderstiefel muss man ja immer gut einlaufen, damit es keine Blasen gibt.«
Mama Bär sah die kleine Dame überrascht an. »Planst du denn auch eine Reise?«
»Aber Mama, wir können der kleinen Dame nicht verbieten zu verreisen«, sagte Lilly schnell.
»Das hab ich gar nicht vor.«
»Als weit gereiste Weltenforscherin bin ich eben gern auf alles vorbereitet«, sagte die kleine Dame fröhlich. »Man weiß nie, was kommt.«
»Nein, das weiß man nie«, sagte Mama langsam, und Lilly sah, dass sie etwas fragen wollte. Doch da begann Bruno, im Kinderwagen zu muckeln.
»Mama, ich glaube, Bruno hat Hunger.«
»Hm.«
»Gibst du ihm gleich was, Mama?«, fragte Karlchen.
»Hm.«
Mama hatte immer noch diese Falte oben über der Nase.
»Warum hat dieses Kerlchen nur immerzu Hunger?«, fragte die kleine Dame. »Er ist ja beinahe so verfressen wie Chaka.«
»Babys wollen wachsen«, erklärte Mama.
»Wozu nur?«, fragte die kleine Dame. »Und weshalb so schnell?« Sie blickte in den Kinderwagen. »Das macht schwuppdich, und dann passt er nicht einmal mehr in diesen wunderschönen Wagen.«
Vor ihnen tauchte das Brezelhaus auf, und Mama zog den Haustürschlüssel aus ihrer Tasche. »Ach, das dauert noch ein bisschen, und wir müssen doch alle irgendwann groß werden.«
Die kleine Dame schüttelte den Kopf. »Ich muss das nicht! Es hat viele Vorteile, klein zu sein: Kleine Leute finden immer ein gutes Versteck. Große Leute wissen gar nicht, wohin mit ihren langen Armen und Beinen. Kleine Leute können auch viel schneller lernen. Eins, zwei, drei sprechen sie jede neue Sprache. Große Leute brauchen dafür Jahre. Wenn sie es überhaupt je schaffen, flüssig Rückwärtzisch zu sprechen. Und chamäleonisieren kann man nur, wenn man gerade richtig klein ist.«
»Ich glaube, das kannst sowieso nur du«, sagte Mama mit einem Lächeln.
»Zugegeben, das kann wirklich nicht jede«, sagte die kleine Dame und legte die Hand auf ihre Brust. »Aber wahre Größe sitzt hier. Die kann keiner in Zentimetern messen.«
In diesem Moment ließ die Sonne die goldene Brezel hell aufschimmern, als wollte sie hinter den Satz der kleinen Dame ein Ausrufungszeichen setzen.
»Dürfen wir mit zur kleinen Dame?«, fragte Lilly.
Mama schloss auf. »Ich brauch ein bisschen Hilfe. Papa ist noch nicht wieder aus der Werkstatt da.«
Lilly sah zu Karlchen. »Ich hab heute Morgen schon abgewaschen.«
»Und ich hab geholfen, Bruno anzuziehen.«
»Warum kommt ihr nicht nacheinander?«, schlug die kleine Dame vor. »Ich habe sehr vieles vorzubereiten.«
»Meinetwegen«, sagte Karlchen. »Dann helf ich Mama zuerst mit Bruno.«
»Danke!«, sagte Lilly.
»Du kannst los, sobald Papa da ist«, versprach Mama und zog den Kinderwagen die Stufen zum Brezelhaus hoch.
Obwohl die kleine Dame erst einen Tag zuvor entschieden hatte, auf ihre allererste Bergsalafari zu gehen, war sie schon mitten in den Vorbereitungen. Rund um den Tisch hatte sie die Dinge aufgereiht, die sie mitnehmen wollte: Minzdrops, Mückenschutz und eine Mundharmonika, Radiergummi, Rucksack und ihr Reisezelt.
»Siehst du einmal nach, ob Chakas Futterdose noch gefüllt ist?«, bat die kleine Dame Lilly.
»Halb voll«, sagte Lilly.
Chaka legte den Kopf schräg und plinkerte Lilly an.
»Darf ich ihm eine Kugel geben?«
»Aber nur eine! So viele Fliegen, Ameisen und Käfer kann ich bis morgen gar nicht mehr fangen.«
Lilly rollte die Futterkugel wie eine Murmel quer über den Tisch auf Chaka zu, der sie mit seiner langen Zunge auffing.
Die kleine Dame stopfte ihren Winterschal in den Rucksack. »Es könnte ja Schnee geben.«
»Im Sommer?«
»In den Bergen ist alles möglich.«
Als Nächstes klappte die kleine Dame das Oberteil ihres Schirms auf. »Hältst du mal?«
Da das Oberteil ohne Chaka keinen Griff hatte, fasste Lilly den Schirm am Stoff. Die kleine Dame öffnete ein Ölfläschchen. »Die Schirmspeichen wollte ich längst ölen.«
Sorgfältig tropfte die kleine Dame an jedes der feinen Metallgelenke einen Tropfen. »Nicht dass ich mich ausgerechnet morgen auf dem Bahnsteig beim Chamäleonisieren verklemme.«
Lilly half der kleinen Dame, die Messgeräte zu verpacken. Sie kontrollierten das Reisezelt und den Schlafsack. »Die Nächte in den Bergen können sehr kalt sein«, sagte die kleine Dame. »Da darf sich Chaka nicht verkühlen.«
Jedes Mal, wenn es in der Hecke raschelte, dachte Lilly, dass Karlchen kommen würde. Aber ihre kleine Schwester tauchte den ganzen Nachmittag nicht auf. Es wurde später, und die kleine Dame schob die Trinkflasche in das Außenfach ihres Rucksacks. »Fertig! Es ist alles gepackt.«
»Dann treffen wir uns morgen am Bahnsteig 12?«
Die kleine Dame lächelte. »Wenn es der Zufall will.« Sie hielt Lilly das Zelt auf. »Vor der Abreise habe ich allersphinx noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«
»Was denn?«, fragte Lilly und schlüpfte hinter der kleinen Dame in die dichte Ligusterhecke.
»Ich muss zum Fegerich.«
HAHAHATSCHIIII, tönte es durch das Treppenhaus, als Lilly und die kleine Dame dort ankamen. Papa und Pim, Herr Leberwurst und Frau Schnacksel standen auf dem Treppenabsatz. Der Hausmeister trompete in ein grau kariertes Taschentuch, und Mamas Kollegin hatte sich bei ihm eingehakt.
»Wir würden Pim wirklich schrecklich gern nehmen!«, sagte Frau Schnacksel. »Aber Eberhard hat leider eine kleine Hundehaarallergie.«
»Haaatschiii!«, nieste die Leberwurst zum zweiten Mal.
»Verstehe«, sagte Papa Bär. »Es ist nur so, wir wollen mit der Bahn fahren, und da ist es mit einem Hund ja nicht ganz so einfach.«
Frau Schnacksel sah zur Leberwurst. »Und wenn Pim nicht in deine Wohnung kommt? Wenn ich zur Familie Bär rübergehe und ihm dort Futter gebe und …«
Papa nickte. »Das wäre wunderbar! Pim braucht auch nur zwei, höchstens drei Runden am Tag.«
»… auf keinen Fall!«, schnüffelte Herr Leberwurst. Seine große Nase zuckte. »Haaatschiii! Du weißt doch, dass ich Hunde nicht ausstehen … ich meine, nicht vertragen kann.«
»Hallo, Papa«, rief Lilly, hockte sich auf die Treppe und kraulte Pim.
»Wie gut, dass wir uns hier alle treffen«, sagte die kleine Dame.
Frau Schnacksel sah erst Papa Bär und dann Lilly an. »Es tut mir leid, aber ihr seht ja, wie es Eberhard mitnimmt.«
»Hatschi!«
Papa seufzte. »Das verstehe ich. Wir lassen uns schon etwas einfallen.« Er sah zu Lilly. »Komm, wir sind noch nicht fertig mit Packen.«
»Warum ist Karlchen denn nicht gekommen?«
»Jakob hat sie zum Schwimmen abgeholt.«
»Bis morgen«, flüsterte Lilly der kleinen Dame zu.
Die kleine Dame winkte. »Gutes Packen!« Dann wandte sie sich zur Leberwurst. »Ist mein Brief inzwischen eingetroffen?«
Der Fegerich schielte hinter seinem Taschentuch hervor. »Welcher Brief?«
»Sie wissen schon, ich erwarte einen Brief von Herrn Kreideweiß.«
»Das ist sicherlich der dicke Brief, der vorhin oben auf den Briefkästen stand«, rief Frau Schnacksel. »Eberhard hat ihn gleich eingesteckt, damit er nicht verloren geht.«
Herr Leberwurst runzelte die Stirn. »Ah ja«, sagte er und zog einen Brief aus der Tasche seines Kittels hervor. »Der ist für Sie.«
Lilly hätte zu gern gewusst, was in dem Brief stand, aber Papa zog sie die Stufen hinauf. »Wir müssen packen, Lilly!«