Читать книгу Tatort Hölderlinplatz - Stefanie Wider-Groth - Страница 11
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ОглавлениеDer Morgen war keiner, durch die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit hätte es eigentlich hell sein müssen, doch das trübe, neblige Ende dieses ansonsten schönen Oktobers ließ keine Illusionen aufkommen, der Winter stand bevor. Erkennbar war dieser Umstand auch dadurch, dass die kleine Bäckerei, in der Emmerich sich nach einem kargen Strohwitwerfrühstück mit einer Quarktasche und einem halben Liter Kakao fürs Büro verproviantierte, bereits Christstollen, Schnitzbrot und sogar Weihnachtsengel aus Schokolade feilhielt. Emmerich nahm die Bahn vom Stöckach zum Hauptbahnhof, wo er umstieg und zum Pragsattel weiterfuhr. Er war früh dran, denn ihm war eingeschärft worden, dass Seppl neben Futter und Wasser ein gewisses Quantum an Körperkontakt benötigte. Seppl, der zwar einen Hamsterkäfig bewohnte, tatsächlich aber eine Ratte war, erwartete ihn bereits in Männchenposition, die Nase vibrierend durch die Gitterstäbe gesteckt. Emmerich nahm ihn heraus und setzte ihn sich auf die Schulter, wie Jule es ihm beigebracht hatte. Seine anfänglichen Vorbehalte Seppl gegenüber hatten sich längst gelegt, er hatte sich sogar daran gewöhnt, dass die Ratte gelegentlich, in possierlicher Haltung auf dem Esstisch sitzend, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnahm. Seppl auf seinem Rücken herumturnen und an seinem Haaransatz zu spüren, war ein neues Gefühl für ihn, aber Jule hatte ihm versichert, dass es sich mit einer Ratte auf der Schulter ganz normal arbeiten ließ und keine Gefahr bestand, dass diese das Weite suchte. Emmerich setzte sich also an seinen Schreibtisch, schaltete das Handy ein und registrierte einen eingegangenen Anruf. Die Nummer sagte ihm nichts, er drückte die Rückruftaste und hielt den Hörer gegen seine Gewohnheit ans linke Ohr, da Seppl mit der Inspektion des rechten beschäftigt war. Nach dem dritten Klingeln nahm Regine Hübler ab.
„Sie sind aber früh dran“, bemerkte Emmerich.
„Für mich ist die Nacht um sechs Uhr zu Ende“, sagte Regine Hübler.
„In einer Stunde muss ich aus dem Haus. Falls Sie vorher noch wissen wollen, was mir zu Frau Diebold eingefallen ist.“
„Sicher doch.“ Emmerich griff sich einen Stift und ein Blatt Papier. „Schießen Sie los.“
„Es gab da ein Damenkränzchen, wie sie es nannte. Das Café liegt gleich hier um die Ecke in der Johannesstraße. Dienstag nachmittags, soweit ich weiß.“
„Das wäre heute“, stellte Emmerich fest.
„Eben“, sagte Regine Hübler. „Dada, bubu.“
„Wie bitte?“
„Entschuldigen Sie, die Kleine wird unruhig. Außerdem hatte sie eine Putzfrau. Ich nehme an, dass die schwarz arbeitet, also nur in der Wohnung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Deshalb hab ich die Kehrwoche...“
„Schon klar. Wissen Sie, wie die Dame heißt?“
„Nein, keine Ahnung. Aber sie kommt ebenfalls dienstags, ungefähr eine halbe Stunde, bevor Frau Diebold zu ihrem Kränzchen... Uääärhhh.“
Emmerich zuckte zusammen, ebenso wie Seppl, der im Begriff war, von der rechten Schulter auf die linke zu wechseln. Er spürte, wie die Ratte sich mit letzter Kraft am Kragen seines Flanellhemdes festklammerte und drehte sich instinktiv so, dass sie im Falle eines Absturzes auf dem Schreibtisch landen würde, was sie auch prompt tat.
„Ich muss jetzt aufhören, Herr Kommissar. Minilein hat Durst und die Hosen voll“, erklärte Regine Hübler. „Mehr weiß ich sowieso nicht.“
„Warten Sie. Um welche Uhrzeit findet das Damenkränzchen statt?“
„So gegen drei. Glaube ich zumindest.“
Emmerich bedankte sich artig und unterbrach die Verbindung, bevor Minileins Brüllen die Crescendo-Stufe erreichte. Vermutlich hatte noch nie jemand Messungen darüber angestellt, mit welcher Dezibelstärke ungefiltertes Kindergeschrei durch ein Telefon auf das Ohr des Gesprächspartners traf, aber er war sich sicher, dass der Wert die Lautstärke eines Rockkonzertes bei weitem übertraf. Seppl hatte die kurze, akustische Beeinträchtigung seines unbeschwerten Rattenlebens längst wieder verdrängt und erkundete mit der seiner Art eigenen Neugier Emmerichs Schreibtisch, als die Tür aufging und Frau Sonderbar eintrat. Frau Sonderbar war seine Sekretärin, das hieß, eigentlich nicht seine, sondern die der Dienststelle, aber Emmerich machte in dieser Hinsicht längst keine Unterschiede mehr. Sie war da, seit er denken konnte, und es erschien ihm unvorstellbar, dass sie vor ihm in Pension gehen würde, obwohl ihm der gesunde Menschenverstand sagte, dass dieser Tag nicht mehr allzu weit weg sein konnte. Ohne jemals intensiver darüber nachgedacht zu haben, nahm Emmerich an, dass man mit einem derartigen Familiennamen nichts anderes werden konnte, als Sekretärin im öffentlichen Dienst, doch Frau Sonderbar war doppelt gestraft, da sie darüber hinaus auch noch Hildegard mit Vornamen hieß. Man konnte ihren Eltern dabei keine Böswilligkeit unterstellen, denn wie hätten sie ahnen sollen, dass Jahrzehnte nach der Geburt ihrer Tochter ein beliebter Komiker einen Dauerbrenner der deutschen Fernsehgeschichte erfinden sollte, in dem eine gewisse Hildegard eine unsterbliche Verbindung mit einer Nudel eingehen würde. Emmerich machte sich keine Vorstellung davon, wie oft Frau Sonderbar sich in den letzten dreißig Jahren den Satz „Nein Hildegard, sagen Sie jetzt nichts“ hatte anhören müssen, aber er wusste, dass sie den Spitznamen „Nudel“ wenig schätzte und auch auf Kombinationen wie Ulk- oder Betriebsnudel allergisch reagierte. Letzteres war auch nicht zutreffend, denn Frau Sonderbar war weder besonders kommunikativ, noch besonders witzig veranlagt, dafür aber von beeindruckender Effizienz. Im Moment wirkte sie erstaunt darüber, Emmerich bereits hinter seinem Schreibtisch anzutreffen, und erstarrte geradezu, als ihr Blick auf Seppl fiel.
„Soll ich den Hausmeister rufen?“, fragte sie distanziert.
„Nicht nötig, er gehört meiner Tochter“, erklärte Emmerich, fing die Ratte ein und setzte sie in ihren Käfig. „Ich hab ihn bloß in Pflege.“
„Ihn?“, wiederholte Frau Sonderbar indigniert. „Hier?“
„Nur diese Woche“, sagte Emmerich entschuldigend.
„Tatsächlich.“ Sie reichte ihm zwei dünne Mappen. „Der vorläufige Bericht der Pathologie und die Personalien der Hausbewohner. Nehmen Sie Kaffee?“
„Eine Tasse, wie immer.“
Sie warf einen letzten Blick auf den Käfig, in dem Seppl, der ein reinliches Tier war, sich der Pflege seines Körpers widmete, und ging wieder hinaus. Emmerich griff sich die erste Mappe. Gertrud Diebold war körperlich gesund gewesen, ihr Tod durch das gewaltsame Einwirken eines stumpfen Gegenstandes verursacht worden. An den Wundrändern hatte Dr. Zweigle Partikel gefunden, die er für Fasern von grünem Filz hielt, aber die genaue Untersuchung war noch nicht abgeschlossen. Die tödliche Wunde selbst befand sich im rechten Bereich des Hinterkopfes, ihre Ausformung ließ Dr. Zweigle auf einen rechtshändigen Täter schließen, der auch eine Täterin sein konnte, vorausgesetzt, der verwendete Gegenstand wies die nötige Schwere auf. Emmerich überging die mit lateinischen Vokabeln gespickten Einzelheiten und schlug die zweite Seite auf. Auch hier überflog er das meiste und las nur den Schluss, den Dr. Zweigle mit „Fazit“ überschrieben hatte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war Gertrud Diebold irgendwann zwischen Donnerstagnachmittag und Freitagmorgen der vergangenen Woche erschlagen worden. Tatort und Fundort stimmten überein, sie hatte sich nicht gewehrt, war auch nicht bewusstlos gewesen, sondern hatte einfach so, nichtsahnend in ihrem Fernsehsessel gehockt. Emmerich nahm die zweite Mappe. Die Wohnung links oben stand leer, rechts wohnte ein Niklas Munz, zwanzig Jahre alt, am gestrigen Tag abwesend. Dasselbe traf auf Sven Zumbach zu, vierter Stock rechts, vierunddreißig Jahre. Gegenüber wohnten Panagiotis und Sophia Georgiadis, die von den Streifenbeamten angetroffen worden waren und Emmerichs Besuch am heutigen Tag erwarteten. Beide waren über siebzig. Regine Hübler kannte er bereits, im zweiten Stock unter ihr residierte die Kartenlegerin Schloms, die heute um zehn in seinem Büro sein würde, daneben befanden sich die Räume der Psychologin Sonja Sorrentin. Im Erdgeschoss praktizierten der Zahnarzt Dr. Thomas Riesling und – das podologische Geheimnis enthüllte sich – eine medizinische Fußpflegerin namens Daniela Wöhr. Emmerich griff zum Telefon und begann mit der Terminvereinbarung, systematisch von unten nach oben. Frau Sonderbar brachte den Kaffee, Mirko Frenzel trat ein, und draußen wurde es endlich ein bisschen heller.
„Morgen“, sagte Frenzel und schwenkte eine fettgetränkte Papiertüte, deren Geruch Emmerich um diese Tageszeit schwer erträglich war.
„Du kriegst zu Hause kein Frühstück, wie?“, raunzte er naserümpfend.
„Von wem denn?“ Frenzel setzte sich auf den hamsterkäfigbefreiten Besucherstuhl, öffnete die Tüte, holte einen Leberkäswecken, vulgo LKW genannt, hervor und biss herzhaft hinein.
„Such dir doch endlich mal ne Frau“, empfahl Emmerich. „In deinem Alter war ich längst...“
„Vergiss es, Reiner. Vor zwei Wochen hast du mir erzählt, dass ihr euren neunzehnten Hochzeitstag feiert. Ich weiß, dass du zweiundfünfzig bist, und rechnen kann ich auch.“
„Wir waren da aber immerhin schon acht Jahre zusammen.“
„Das ist heute nicht mehr so einfach.“
Emmerich sah Frenzel und den LKW an, dachte an Jule und sagte: „Was bringt dich darauf, dass es vor zwanzig Jahren einfacher war?“
„Meine letzte Freundin hat erwartet, dass ich das Frühstück mache.“
„Na gut, lassen wir das.“ Emmerich reichte Frenzel die beiden Mappen und wartete, bis der Jüngere den Inhalt überflogen hatte. „Was hältst du davon?“
„Ja“, sagte Frenzel, kaute und sah zu, wie Frau Sonderbar eine Tasse Kaffee vor Emmerich absetzte.
„Frau Kerner hat angerufen, sie steht im Stau auf der B 14“, informierte sie Emmerich. „Ist heute nicht Lokführerstreik?“
„Sie muss den Täter gekannt haben“, äußerte Frenzel mit nunmehr leerem Mund. „Übermorgen.“
„Was ist übermorgen? Da ist sie eine Woche tot, oder wie?“
„Lokführerstreik“, mampfte Frenzel. Er knüllte die fettgetränkte Tüte zusammen, verfehlte Emmerichs Papierkorb nur knapp und wischte sich die Hände an einem nicht besonders frischen Taschentuch ab.
„Ich muss schon sagen...“, bemerkte Frau Sonderbar spitz. Sie nahm das Fettknäuel mit Daumen und Zeigefinger vom Boden und sah Frenzel missbilligend an.
„Nein, Hildegard...“, begann Frenzel, was Frau Sonderbar ein angewidertes Schnauben entlockte. Sie ging zurück ins anliegende Zimmer und warf die Tür mit einem wohl dosierten, jahrelanger Übung zu verdankendem Knall mittlerer Lautstärke zu. Emmerich sah ihr nach.
„Sie findet das nicht besonders witzig, weißt du.“
„Das ist doch nur so eine Art Running Gag...“, verteidigte Frenzel sich halbherzig und verstummte, als er Emmerichs spezifischen Blick, welcher der Anwendung unnötiger Anglizismen vorbehalten war, bemerkte.
„Sie hat den Täter also gekannt“, nahm dieser den Faden betont sachlich wieder auf.
„Alles spricht dafür“, nickte Frenzel. „Sie hat keinen Widerstand geleistet, es gab keinerlei Spuren eines Einbruchs, ihr Schmuck wurde nicht geklaut und auch das Geld in ihrer Handtasche sowie zwei Sparbücher sind noch da. Was die Anwesenheit Dritter in der Wohnung anbetrifft, müssen wir den Bericht der KTU abwarten, aber so viel konnten sie gestern schon sagen: Die innere Klinke der Wohnungstür wurde abgewischt, die war sauber wie ein frisch gewaschener Kinderpopo. Das grüne Zeug an den Wundrändern könnte vom Fuß eines Pokals oder etwas Ähnlichem stammen. Sagt zumindest Dr. Zweigle.“
„Ralph Diebold hat Pokale“, meinte Emmerich nachdenklich.
„Wie hat er reagiert?“, fragte Frenzel harmlos, die Schadenfreude, die er nach Emmerichs Überzeugung empfinden musste, überspielend.
„Wie man halt so reagiert, wenn einem die Mutter erschlagen wird“, antwortete er so beiläufig, als handele es sich dabei um einen alltäglichen Vorgang, dessen Ablauf man als jedermann bekannt voraussetzen konnte, doch die erhoffte Wirkung dieser Beiläufigkeit auf Frenzel blieb aus.
„Was ist er für ein Typ?“
„Muskelprotz.“ Emmerich überlegte und fügte bedächtig hinzu: „Wenn du mich fragst, fickt er notgeile Rentnerinnen gegen Bezahl... oh... guten Morgen, Frau Kerner.“
„Gitti“, sagte die eintretende Hauptkommissarin ungerührt und schloss die Tür zu Frau Sonderbars Zimmer hinter sich. Emmerich und Frenzel wechselten einen Blick, einen Männerblick, der besagte, dass man nicht wissen konnte, wie viel die Kollegin von der letzten Bemerkung mitbekommen hatte und das Thema an dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung bedurfte.
„Hatten Sie eine angenehme Nachtruhe?“, fragte Emmerich höflich und bedeutete Frenzel mit einer Handbewegung, den Karton Zuffenhäuser Berg, Trollinger trocken, vom zweiten Besucherstuhl zu entfernen.
„Ich hab gerade den Chef getroffen“, verkündete Gitti Kerner, während sie sich ihrer Jacke entledigte. „Er ist der Meinung, dass wir zu dritt in diesem Fall durchaus zurechtkommen können.“
Das bedeutete, übersetzte Emmerich in Gedanken, dass der Chef im Grunde genommen zwei Leute für ausreichend hielt und der neuen Kollegin noch nicht über den Weg traute, wie er überhaupt von Frauen in den höheren Diensträngen keine besonders gute Meinung hatte, was er aber aus Gründen der politischen Korrektheit im Allgemeinen für sich behielt. Laut fragte Emmerich:
„Hat er noch was gesagt? Ralph Diebold?“
Gitti strich eine lange, dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und fummelte in einer vielfarbig gemusterten Umhängetasche herum.
„Ich denke, er war ziemlich erschüttert. Hat seine Mutter wohl selten besucht, und jetzt, wo es zu spät ist, tut es ihm leid. Was machen wir heute?“
Emmerich schob einen Zettel über den Tisch.
„Ihr beide fahrt zum Hölderlinplatz. Dr. Riesling – das ist der Zahnarzt – erwartet euch um zehn. Danach könnt ihr zu Frau Wöhr gehen. Sie ist... äh... Podologin.“
„Was, um Himmels willen, macht eine Popologin?“
Emmerich ließ eine leichte Überlegenheit erkennen. „Podo, Mirko, Podologin. Das ist eine medizinische Fußpflegerin.“
„Jetzt echt“, sagte Frenzel und nahm den Zettel. „Und was machst du?“
„Ich formuliere was für die Pressestelle und erwarte den Besuch von Frau Schloms. Sie zieht es bedauerlicherweise vor, mich im Büro aufzusuchen.“
„Schloms?“ Mirko dachte nach. „Das ist die Kartentante.“
„Leider. Ich hätte sie natürlich gerne euch überlassen, aber die Kollegen vom Streifendienst...“
„Och, ich glaube nicht, dass uns das etwas ausmacht“, unterbrach ihn Gitti und zog ihre Jacke wieder an.
„Danach“, sagte Emmerich, ohne ihren Einwurf zu beachten, „komme ich ebenfalls zum Hölderlinplatz. Wir sehen uns die Wohnung nochmals an und hoffen, dass Frau Diebolds Putzhilfe aufkreuzt. Anschließend gehen wir Kaffee trinken. Suchen Sie eigentlich etwas Bestimmtes?“
Gitti Kerner beendete ihr Gefummel, zog die Hand aus der vielfarbig gemusterten Tasche und strahlte ihn an.
„Mein Handy“, sagte sie und hielt es hoch. „Ich hab Ihre Nummer noch nicht im Speicher.“
Emmerich diktierte sie ihr und nickte abschließend. Im Hinausgehen hörte er Frenzel fragen: „Müsste das nicht Pedologin heißen?“