Читать книгу Das Rätsel im Hoppenlau - Stefanie Wider-Groth - Страница 9
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ОглавлениеÜber die Mittagszeit erschien Besuch im Wohnzimmer der Schropsnagels. Zuerst war, infolge von Melanies Anruf, Nicole eingetroffen. Ihre Verfassung ließ sich am besten mit den Worten „völlig aus dem Häuschen“ beschreiben.
„Oh, mein Gott“, rief sie in der Art eines amerikanischen Filmsternchens, kaum dass Melanie die Tür geöffnet hatte. „Ich kann das nicht glauben. Wo sind die Bilder?“
Helmut, keineswegs mehr davon überzeugt, dass es richtig gewesen war, die Fotos seiner Frau zu zeigen, reichte widerwillig die Kamera herum.
„Das muss unter uns bleiben“, setzte er mahnend und doch ahnend, dass dies eine falsche Hoffnung war, hinzu.
„Selbstverständlich“, entgegneten Melanie und Nicole prompt und wie aus einem Mund.
„Sie ist es wirklich“, hauchte daraufhin seine Schwägerin ergriffen und begann zu weinen. Helmut wurde aufgefordert, Taschentücher und ein Likörchen bereitzustellen, während Melanie ihre Schwester tröstend in die Arme nahm. Eine Viertelstunde, zwei Likörchen und drei durchgeschnupfte Tücher später hatte Nicole sich wieder so weit gefasst, um die Angelegenheit zu diskutieren.
„Die arme Isolde“, schniefte sie, während sie Helmut ihr Gläschen zum Nachschenken über den Couchtisch schob. „Nach allem, was sie in letzter Zeit mitmachen musste. Dabei hat sie sich erst neulich beim Arzt durchchecken lassen und mir erzählt, dass sie immerhin gesund sei. Sogar einen Mann hat sie wohl kennengelernt, etwas jünger zwar, aber sie hat sich richtige Hoffnungen gemacht. Und jetzt das.“
„Isolde? Einen Mann?“ Melanie sah drein, als behaupte ihre Schwester, es seien Außerirdische gelandet. „Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, oder?“
„Ach, was weißt du schon! Isolde hat sich immer einen gewünscht. Sie hatte nur nie Zeit dafür. Dafür war ihr alter Job zu stressig. Jetzt, wo sie den neuen hatte …“
„Kennst du seinen Namen? Jemand muss den Mann doch verständigen.“
„Nein.“ Nicole winkte ab, schnäuzte sich und nippte am dritten Glas Likör. „Diese Geschichte hat doch erst begonnen. Vor zwei Wochen oder so. Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, uns darüber auszutauschen, ich war mit den Vorbereitungen für das Geburtstagsfest beschäftigt und sie mit diesem Zeug, das ich dir gefaxt habe. Nächsten Freitag wollten wir uns treffen. Wer hätte ahnen können, dass …“
„Dieses Zeug“, warf Helmut ein, während er unauffällig die Kamera ausschaltete und in einer Schublade verschwinden ließ. „Worum geht es da?“
„Auch darüber wollten wir am Freitag sprechen“, seufzte Nicole resigniert. „Das hatte etwas mit dem neuen Job zu tun. Isolde war überzeugt, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.“
„Es sind Kontoauszüge.“ Helmut hatte die gefaxten Blätter zwischenzeitlich gelocht, sortiert und ordentlich geheftet, wie dies eben der Art eines im Umgang mit Belegen erfahrenen Mannes entsprach. „Von drei verschiedenen Personen.“
„Schon möglich“, gestand Nicole dünnlippig zu. „Aber Elmar meint, es habe gar nichts zu bedeuten und Isolde hätte diese Sachen niemals an mich faxen dürfen. Weil sie unter ihr Dienstgeheimnis fallen.“
„Was war Isoldes neuer Job?“
„Nichts Besonderes. Als Chefsekretärin war sie Besseres gewohnt. Aber was hätte sie denn tun sollen? Wenn der Chef von einem Tag auf den anderen einen Herzinfarkt erleidet, hat die Sekretärin eben Pech gehabt. Auch wenn ihr bis zur Rente noch einige Jahre fehlen. Sie musste froh sein, diesen Job überhaupt zu bekommen. Wer stellt schon eine Frau in Isoldes Alter ein?“
„Sicher war es schwer für sie“, sagte Melanie mitfühlend. „Aber ich glaube, Helmut wollte wissen, was genau sie gearbeitet hat und wo.“
„Hab ich das noch nicht gesagt?“ Nicoles Handy dudelte leise, sie nahm es aus der Jackentasche, warf einen Blick darauf und steckte es wieder ein. „Unser Freund Berti hat sie genommen. Weil ich ihn dazu überredet habe, und er ein hilfsbereiter Mensch ist.“
„Wer ist Berti?“
„Ihr kennt Berti nicht? Giesbert Knödler. Unser Steuerberater. Wir haben ihn schon ewig. Deshalb möchte ich auch nicht, dass es jetzt irgendwelchen Ärger wegen diesen … diesen …“
„Kontoauszügen“, ergänzte Helmut trocken.
„Wie auch immer.“ Nicole leerte ihr Likörglas und stand auf. „Ich möchte mit dieser Sache nichts zu tun haben. Es wäre mir einfach nur peinlich, wenn Isolde etwas gemacht hätte, was Berti unrecht wäre. Das versteht ihr doch.“
„Sicher.“ Helmut stopfte den Ordner mit den Bankbelegen hinter ein Sofakissen, bevor Nicole auf die Idee verfallen konnte, sie zurückzufordern.
„Wer kümmert sich denn jetzt um sie?“, wollte Melanie wissen. „Ich meine … irgendwer muss doch die Beerdigung organisieren.“
„Du meine Güte.“ Nicole sah konsterniert drein. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Isolde hatte ja niemanden. Meinst du, wir müssen irgendetwas unternehmen?“
„Keine Ahnung. Du warst schließlich ihre beste Freundin.“
„Ich … ich …“ Nicole sah für einen Augenblick etwas überfordert aus, bevor sie tief Luft holte und energisch erklärte: „Ich denke darüber nach. Jetzt muss ich los, ich melde mich.“
★ ★ ★
Zurück im Präsidium machte Emmerich sich auf die Suche nach Gitti. Er fand sie im Gespräch mit einem Kollegen und offensichtlich bei der Mittagspause in ihrem Büro.
„Hrmpf“, räusperte er sich lautstark, unterstrichen von einem Klopfen an der offen stehenden Tür.
„Reiner“, sagte Hauptkommissarin Brigitte Kerner überrascht, aber liebenswürdig. „Komm doch rein. Ihr kennt euch ja?“
„Ich hätte dich eigentlich gern kurz unter vier Augen …“
„Schon verstanden“, grinste der Kollege. „Wollte sowieso in die Kantine. Tschüss.“
„Bis demnächst.“ Gitti biss von einem Wurstbrot ab und deutete wortlos auf den Stuhl, den der Kollege gerade aufgegeben hatte. „Worum geht es?“, fragte sie nach ausgiebigem Kauen.
„Die Frau vom Samstag.“ Emmerich setzte sich Gitti gegenüber. „Es ist dein Fall. Du hattest schließlich Dienst.“
„Ich wusste gar nicht, dass es sich um einen Fall handelt.“
„Das war ja auch bislang nicht klar. Ich komme gerade von Zweigle. Er hat da eine recht gewagte Theorie.“ Emmerich erläuterte, nicht ohne demonstrative Verrenkungen, wie Isolde Nothdurft nach Ansicht des Gerichtsmediziners zu Tode gekommen sein sollte. Gitti hörte zweifelnd zu.
„Kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor.“
„Ich erzähle nur, was er mir sagte.“
„Ein Profikiller? Der eine alte Frau erwürgt?“
„Erstickt. Im Übrigen war sie erst einundsechzig.“
„Erst?“
„Erst“, wiederholte Emmerich bestätigend. „Alter ist heutzutage eine Frage der Perspektive. Nicht der Definition.“
„Von mir aus“, meinte Gitti lapidar und nahm einen weiteren Bissen.
„Wir können mit dieser Diagnose nicht untätig bleiben“, meinte Emmerich bedauernd. Gitti kaute und schien nachzudenken.
„Ich habe natürlich“, sagte sie nach einer kleinen Weile zögernd, „versucht, die Angehörigen ausfindig zu machen. Scheinen aber keine da zu sein. Isolde Nothdurfts Eltern sind seit Jahren tot, einen Ehemann, Geschwister oder Kinder hatte sie wohl nicht. Das heißt, es wird ohnehin an uns hängen bleiben, wenigstens ihren Vermieter zu verständigen und herauszufinden, ob sie Erben hatte. Also können wir uns auch gleich ihre Wohnung vornehmen. Ein Schlüsselbund war in ihrer Handtasche, ich hab ihn in der Zwischenzeit bekommen.“
„Nimm doch Mirko Frenzel mit“, bat Emmerich. „Frau Sonderbar räumt mein Büro auf. Eigentlich sollte ich längst zurück sein und ihr helfen.“
„Mirko hat Urlaub“, erklärte Gitti und schob den letzten Bissen Wurstbrot in den Mund.
„Es bleibt einem nichts erspart“, stellte Emmerich lustlos fest. In erster Linie galt es zu verhindern, dass Frau Sonderbar die ihm persönlich wertvollen Exemplare seiner Musikmagazine dem Papierkorb anvertraute. Denn auch wenn er seit Jahren nicht darin geblättert hatte, hieß das noch lange nicht, dass die Zeitschriften einfach weggeworfen werden durften. Er langte nach Gittis Telefon und wählte die Nummer seiner Sekretärin.
„Tut mir leid“, sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. „Der Frühjahrsputz muss warten. Frau Kerner und ich sind außer Haus.“
„Ist das ein Grund?“, äußerte Frau Sonderbar uneinsichtig. „Was spricht dagegen, dass ich weitermache?“
„Ich“, entgegnete Emmerich mit Nachdruck. „Ich spreche dagegen. Höchstpersönlich. Zumindest, was meine Magazine anbelangt. Ich sagte ja, dass ich sie mir noch durchsehen möchte.“
Frau Sonderbar machte ein Geräusch, das wie ein abgrundtiefer Seufzer etwas abseits der Sprechmuschel klang.
„Aufgeschoben“, versuchte Emmerich, sie zu trösten, „ist nicht aufgehoben.“
„Man wird sehen“, antwortete Frau Sonderbar, offenbar wenig zuversichtlich. „Ich richte mich dann auf nächstes Jahr um diese Zeit ein.“
„Jetzt übertreiben Sie“, sagte Emmerich, insgeheim erleichtert, denn nichts anderes hatte er beabsichtigt. Ihn störten seine Magazinstapel unter dem Fenster nicht. Es gab nirgendwo einen besseren Platz dafür, schon gar nicht zu Hause, wo Gabi aufräumte. Und sie waren schließlich einmal teuer gewesen, diese Magazine. Emmerich verabschiedete sich blumig und nickte Gitti zu. „Von mir aus können wir.“
Isolde Nothdurfts Wohnung lag unweit des Fundorts ihrer Leiche in unmittelbarer Nachbarschaft einer russisch-orthodoxen Kirche. Emmerich und Gitti stiegen in den zweiten Stock hinauf, öffneten die Tür und stutzten. Im Flur lagen Kleidungsstücke auf dem Boden, ein Schuhschrank stand offen, seinen Inhalt hatte jemand über die Kleidungsstücke verteilt. Rechts von der Wohnungstür ließ der Blick in eine kleine Küche ahnen, dass auch hier etwas gesucht worden war, Schubladen waren herausgezogen, Kochbücher durchgeblättert und nicht wieder eingeräumt worden. Weiter hinten war das Wohnzimmer auszumachen, dort schienen Papiere auf dem Teppichboden verstreut zu liegen.
„Spurensicherung“, sagte Gitti, ohne weiter in die Wohnung hineinzugehen und zückte ihr Handy, während im selben Moment die Tür der Nachbarwohnung aufging und ein unrasierter Mann unbestimmbaren Alters in Jogginghose, Unterhemd und Hosenträgern herauslugte.
„Wer sind Sie, und was tun Sie da?“
„Polizei.“ Emmerich zeigte seinen Ausweis, stellte sich und Gitti vor und linste auf das Klingelschild. „Herr Blechle?“
„Wie das Blech, aber ohne heilig“, meckerte der Unrasierte nickend. „Ist was passiert? Bei der Frau Nothdurft?“
„Überraschend verstorben“, entschied sich Emmerich für eine neutrale Formulierung. „Am vergangenen Samstag wurde sie auf dem Hoppenlau-Friedhof leblos aufgefunden.“
„Aha.“ Herr Blechle wirkte nicht, als sei er sonderlich berührt.
„Kannten Sie sie gut?“
„Gut wäre zu viel gesagt. Wie man sich halt so kennt. Im gleichen Haus.“
„Was darf man sich darunter vorstellen?“
„Nichts Besonderes. Ich hab ihre Blumen gegossen, wenn sie weg war. Sie hat meine Katze versorgt, wenn ich weg war. Die Briefkästen haben wir uns gegenseitig geleert. Einen Schlüssel hab ich für den Fall, dass sie ihren drinnen vergessen hätte. Und umgekehrt.“
„Na“, sagte Emmerich jovial. „Da werden Sie ja wohl zwischendurch auch das eine oder andere Wort gewechselt haben.“
„’türlich“, schniefte Blechle, holte ein kariertes Taschentuch aus seiner Jogginghose und putzte sich die Nase. „Die Pollen“, setzte er hinzu. „Dieses Jahr ist starker Pollenflug.“
Emmerich hatte einen Einfall.
„Wissen Sie zufällig, ob sie Asthma hatte? Die Frau Nothdurft? Oder eine andere Erkrankung der Atemwege?“
„Nö“, sagte Blechle gleichgültig. „Hat sie zumindest nie erwähnt.“
„Wir sind auf der Suche nach Angehörigen. Können Sie uns da weiterhelfen?“
Wieder schüttelte Blechle nur den Kopf und sagte „Nö“, während er gleichzeitig ein Stück weit in den Flur trat und versuchte, einen Blick in die Wohnung seiner Nachbarin zu erhaschen. „Wie sieht’s denn hier aus?“, wollte er angesichts der Zustände im Flur wissen. „War das der Typ von neulich?“
„Welcher Typ?“
„Am Samstagmorgen. Ich hab gerade meine Zeitung geholt und kam die Treppe rauf, da stand er vor ihrer Tür. Allerdings hatte der auch einen Schlüssel, hat aufgesperrt und ist hineingegangen. Deshalb hab ich mir nichts dabei gedacht. Aber … sagten Sie nicht, dass man sie am Samstag …?“
„Doch“, entgegnete Emmerich grimmig. „Genau das habe ich gesagt.“
„Hat sie etwa wer um die Ecke gebracht? Um ihre Wohnung auszurauben?“
„Wie kommen Sie auf diese Idee? Hätte sich das denn gelohnt?“
„Gut möglich“, räumte Blechle ein. „Arm war sie sicher nicht, die Gute. So ganz genau weiß ich das aber natürlich auch nicht.“
„Was war das für ein Typ?“
„Jesus, ein Typ eben. Ein jüngerer. In Sportkleidung. Was soll ich dazu sagen, schließlich hat er mir den Rücken zugewandt.“
„Aber dass er jünger war, da sind Sie sicher?“
„Vielleicht auch nur so mitteljung. Also nicht älter als vierzig. Oder dreißig. Ich dachte mir, vielleicht ist es ihr Patenkind. Sie hat mir mal gesagt, dass sie da einen Jungen hätte. Mehr weiß ich aber auch darüber nicht.“
„Die Spusi ist gleich da“, sagte Gitti, ihr Handy einschiebend.
„Herr Blechle, ich fürchte, wir brauchen eine ordentliche Aussage von Ihnen“, klärte Emmerich den Unrasierten auf. „Gehen Sie zurück in Ihre Wohnung, wir warten hier, bis unsere Kollegen eingetroffen sind, dann kommen wir zu Ihnen rein.“
„Bei mir ist nicht aufgeräumt.“
„Sie haben noch ein Viertelstündchen Zeit. Tun Sie, was Sie können.“
Blechle pumpte seinen Brustkorb auf, hakte die Daumen in die Hosenträger und sah für einen Augenblick so aus, als habe er weitere Einwände vorzubringen. Emmerich grinste erbarmungslos.
„Von mir aus“, brummte Blechle unwirsch und wandte sich ab. „Hätt ich bloß mein Maul gehalten.“
★ ★ ★
Nicole hatte sich kaum verabschiedet, da klingelte es wieder bei den Schropsnagels.
„Verdammt“, sagte Helmut, im Telefonbuch blätternd. „Hat man als Rentner denn nie seine Ruhe?“
„Es ist nur Petra“, beruhigte ihn Melanie und legte den Hörer der Gegensprechanlage wieder auf. „Die wird zu mir wollen. Was machst du da?“
„Die Adresse von diesem Knödler suchen.“
„Helmut!“ Melanie sagte das streng, in einem Ton, der für gewöhnlich Ungemach erwarten ließ, doch war dies nichts im Vergleich zu dem, was nun unverhofft über ihn hereinbrechen sollte. Petra nämlich umarmte Melanie nur flüchtig, bevor sie zielstrebig ins Wohnzimmer marschierte, wo sie sich trotz ihrer keinesfalls eindrucksvollen Körpergröße in bedrohlicher Manier vor Helmut aufbaute.
„Ich will sofort wissen“, schnappte sie schwer atmend, „was ihr beide mit Joe gemacht habt. Ottmar und du. Am Samstag.“
„Ottmar und ich?“, wiederholte Helmut einigermaßen verdattert. „Wovon redest du?“
„Wie lange kennen wir uns jetzt?“
„Ich weiß nicht.“ Helmut zog die Schultern hoch und sah Hilfe suchend zu seiner Frau. „Dreißig Jahre? Fünfunddreißig?“
„Und fast genauso lange“, zischte Petra wütend, „habe ich Joe nicht mehr in einer solchen Stimmung erlebt.“
„Willst du dich nicht vielleicht erst einmal setzen?“, versuchte Melanie begütigend auf die Freundin einzuwirken. „Ich habe das Gefühl, Helmut versteht gar nicht, worum es eigentlich geht.“
„In der Tat“, stimmte Helmut zu.
„Joe war am Samstag mit den beiden unterwegs. Mit ihm …“ − Petra bohrte mit Vehemenz ihren Zeigefinger etwas oberhalb des Nabels in Helmuts Bauchmuskulatur – „… und mit Ottmar. Seither bekomme ich kein vernünftiges Wort mehr aus ihm heraus. Die Vergangenheit würde uns einholen, egal was wir tun. Uns und die Kinder. Immer und ewig. Und ich würde das nie verstehen. So geht das nun schon seit zwei Tagen.“
„Nun“, meinte Helmut bedächtig. „Wir haben die Leiche einer Frau gefunden. Wahrscheinlich hatte sie einen Herzinfarkt oder so etwas. Hat er das nicht erzählt?“
„Kein Wort. Das ist ja schrecklich.“
„Schon. Aber es hat doch eigentlich nichts mit Joe zu tun.“
„War es eine fremde Frau?“
„Ja“, schwindelte Helmut, der annahm, dass Isolde Nothdurft dies zumindest für Joe gewesen war, und keine Lust auf weitere Erklärungen hatte.
„Was meint er denn damit?“, fragte Melanie behutsam. „Dass die Vergangenheit ihn einholt?“
„Wenn ich das nur wüsste.“ Petra schien sich ein wenig zu entspannen und ließ sich auf einem Sessel nieder. „Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendwie mit seiner Familie zu tun hat. Ihr wisst ja noch, wie es damals war, als wir die Pizzeria hatten.“
„Ehrlich gesagt …“ Melanie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Das ist lange her.“
„Stimmt“, nickte Petra düster. „Habt ihr was zu trinken?“
„Likörchen?“ Helmut langte nach der Flasche, die immer noch den Couchtisch zierte. Petra jedoch rümpfte die Nase.
„Alkohol? Um diese Zeit? Ihr trinkt doch nicht etwa tagsüber?“
„Trinken? Wir?“ Melanie sah drein, als wäre dies eine vollkommen abwegige Idee. „Natürlich nicht. Ich hole dir ein Wasser.“
Helmut verstaute die Flasche in einem Schrank, während in seinem Kopf Erinnerungen aufstiegen. Eine nette Wirtschaft war diese Pizzeria, deren Namen er längst vergessen hatte, gewesen. Nicht unbedingt geschmackvoll eingerichtet mit dekorativen Plastikreben und grellbunten Drucken italienischer Sehenswürdigkeiten an den Wänden sowie einem staubigen Fischernetz voller Plastikhummer an der Decke. Das Essen aber war gut, günstig und immer reichlich gewesen, meist hatte Joes Vater hinterher noch einen Grappa spendiert. Während seine Mutter die Verantwortung für Küche und Kasse trug, bediente der junge Joe die Gäste. Ein zugegebenermaßen sehr gut aussehender junger Joe, zwar nicht der klassische Typ dessen, was man damals einen „feurigen“ Italiener genannt hatte, aber doch etwas ganz anderes als die meist wenig auf ein properes Erscheinungsbild bedachten Deutschen. Melanies Freundin Petra hatte sich in diesen gut aussehenden Mann im Handumdrehen unsterblich verliebt, was nicht weiter verwunderlich gewesen wäre, hätte es sich um eine vorübergehende Angelegenheit gehandelt. Allen Widerständen aus seiner und ihrer Familie sowie den beiderseitigen Freundeskreisen zum Trotz aber hatte sie es geschafft, Joe schließlich vor den Traualtar zu schleppen und mit ihm – dies war das eigentliche Wunder – bis zum heutigen Tag verheiratet zu sein. Die beiden hatten zwei, inzwischen natürlich längst erwachsene, Söhne bekommen und nach einigen Jahren die Pizzeria von Joes Eltern übernommen. Was allerdings nicht von langer Dauer gewesen war.
„Du musst entschuldigen“, sagte Helmut, dessen Erinnerungen an dieser Stelle zu verblassen begannen, „aber ich weiß wirklich nicht mehr genau, worum es damals ging.“
„Ich auch nicht wirklich“, entgegnete Petra zu seiner Verblüffung. „Bis heute nicht. Damals jedenfalls war es so, dass mehrmals im Monat jemand von Joes Familie aufgekreuzt ist und um finanzielle Unterstützung gebeten hat. Joe hat jedes Mal gezahlt.“
„Und das hat dir gestunken?“
„Oh ja. Wir haben hart gearbeitet für unser Geld. Versteuern mussten wir es schließlich auch. Ich habe noch nie zu denen gehört, die bei der Buchhaltung bescheißen.“
Dein Fehler, war Helmut angesichts seiner beruflichen Erfahrungen fast geneigt zu denken, rief sich aber innerlich zur Ordnung. Sicher gab es ehrliche Steuerzahler im Land, es waren die, deren Fälle im Finanzamt nicht diskutiert wurden. Was aber die inzwischen schon beinahe sprichwörtlich gewordene „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ anging, so war er überzeugt, dass die Deutschen eine solche gar nicht wünschten. Zu viele betrachteten es als persönliches Erfolgserlebnis, sich mithilfe von Ratgebern oder Computerprogrammen durch den Paragrafendschungel von Steuerrecht und Abgabenordnung gewühlt und ein paar Euro mehr herausbekommen oder gar nicht erst gezahlt zu haben, als ihnen von Rechts wegen zugestanden hätte. Man konnte dies nach Helmuts Ansicht, solange gewisse Grenzen nicht überschritten wurden, sportlich sehen. Wenn aber Millionen an privatem Vermögen auf ausländischen Konten verschwanden, die Gewinne ortsansässiger Unternehmen durch raffinierte Tricks in karibische Steuerparadiese abgeführt oder Lohnsteuern im großen Stile hinterzogen wurden, hörte der Spaß auf. Dabei traf man das Hintergehen der Finanzämter auf allen Ebenen und in sämtlichen Größenordnungen an, eine Entwicklung, die sich während Helmuts Berufsleben ohne Frage nicht verbessert hatte und von den meisten Bürgern entweder kaum beachtet, toleriert oder zumindest nicht als Vergehen eingestuft wurde.
Der volkswirtschaftliche Schaden, den ein solches Verhalten anrichtete, schien niemanden zu interessieren, nicht einmal jetzt, wo das EU-Mitglied Griechenland aus demselben Grund kurz vor dem Staatsbankrott stand. Die Politik vertrat offensichtlich die Ansicht, dass es besser sei, die Steuerbelastung der Normalverdiener hoch zu halten, sodass es kein Wunder war, wenn jedermann versuchte, sie auf seine Weise wieder zu mindern. Die Vermögenden dagegen behandelte man pfleglich, das Kapital war ja, wie gern gesagt wurde, „ein scheues Reh“. Ein Vergleich, den Helmut als gänzlich unangemessen betrachtete. Denn das scheue Reh verwandelte sich auf seinem Weg über die Märkte in ein Raubtier, das die Preise für Lebensmittel, Energie oder Wohnungen in schwindelnde Höhen trieb und dabei in seiner Gier eine Schneise der Verwüstung hinterließ, während die klammen Staaten samt ihren Bewohnern unter nie gekannten Schuldenlasten litten. Selbst ihn überkam mittlerweile gelegentlich die Angst um das Ersparte, aber das war nichts, was Petra etwas angegangen wäre, die gerade hinzufügte:
„Joe hat eine ziemlich große Familie. Verstehe mich nicht falsch, ich bin die Letzte, die einem Familienmitglied, das in Not gerät, nicht helfen würde, aber es war einfach zu viel. Schließlich wollten wir uns auch etwas aufbauen.“
„Haben sie das nicht verstanden? Joes Familie?“
„Keine Spur. Vielen Dank.“ Petra ließ sich von Melanie ein Glas Wasser reichen und trank ein paar Schlucke. „Wir haben viel gestritten damals. Bis Joe endlich mit der Wahrheit herausgerückt ist.“
„Mit der Wahrheit?“
„Dieses Geld. Es ging nicht darum, irgendwen zu unterstützen. Schutzgeld haben wir gezahlt. An die ‘Ndrangheta.“
„Wen?“ Melanie hatte die Brauen hochgezogen. „Das hast du mir damals aber ganz anders erklärt.“
„Natürlich. Ich habe niemandem etwas davon gesagt. Dass mein Mann Verbindungen zur kalabrischen Mafia hatte. Was glaubst du, hätte ich mir anhören müssen? Von meinen Eltern oder von unseren deutschen Freunden?“
„Joe soll ein Mafioso sein?“ Helmut sah Petra an, als habe sie behauptet, ihr Mann sei in Wahrheit eine Maschine in Menschengestalt. „Das glaubst du doch selbst nicht, oder?“
„Joe nicht“, sagte Petra trotzig. „Ich habe alles dafür getan, dass er sich von seinem Clan befreien konnte. Wir haben die Pizzeria aufgegeben. Sind aus dem Remstal, wo die ganzen Gastarbeiter aus Kalabrien wohnten, in die Stadt gezogen. Haben unser Urlaube nicht mehr in Italien verbracht. Ottmar hat ihm einen anderen Job besorgt, wie ihr sicherlich noch wisst. Und er hat längst die deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem …“
„Was?“
„ … tut er gerade so, als sei das alles nicht passiert. Ich werde noch verrückt mit ihm. Es muss etwas mit dieser toten Frau zu tun haben.“
„Nun ja“, meinte Helmut grüblerisch. „Wenn ich es recht bedenke, hatte ich am Samstag schon den Eindruck, dass ihn das Ganze mehr belastet hat, als er zugeben wollte.“
„Aber warum? Wurde die Frau denn umgebracht? Glaubst du, Joe weiß etwas darüber?“
„Keine Ahnung.“ Helmut zog die Schultern hoch und sah Melanie ratlos an.
„Es wird das Beste sein“, meinte die nach kurzem Nachdenken, „wenn du Joe einen Besuch abstattest und mit ihm redest. Petra kann so lange bei mir warten.“