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KINDHEIT IN SPANIEN

Ich wurde 1990 in einem kleinen Dorf in Spanien geboren. Meine Mutter ist Spanierin, mein Vater Deutscher. Darum sind wir zweisprachig aufgewachsen.

Mein Vater ist Künstler. Er arbeitet als Bildhauer. In Spanien hat er eine Bildhauerschule gegründet, an der er viele Kurse für Touristen gibt. Oft arbeitet er bis spät in den Abend. Außerdem ist er viel unterwegs.

Meine Mutter war und ist auch heute noch drogenabhängig. Auch in der Schwangerschaft mit mir nahm sie Drogen. So kam ich bereits abhängig zur Welt und musste nach meiner Geburt einen Entzug durchstehen. „Wieso hast du überhaupt nichts gemerkt?“, habe ich meinen Vater später oft gefragt. „Wieso hast du nicht gesehen, dass sie krank war? Warum hast du sie nicht davon abgehalten, Drogen zu nehmen?“

Immer wieder stellte ich diese Fragen, doch mein Vater wies sie von sich.

„Ich habe es nicht mitbekommen. Ich habe doch den ganzen Tag gearbeitet“, antwortete er dann immer.

Dass mein Vater von der Drogenabhängigkeit meiner Mutter nichts mitbekommen hat, erscheint mir seltsam. Manchmal bezweifele ich das. Ich weiß aber auch, dass sie es ihm immer verheimlichte.

Ich habe außerdem noch zwei Schwestern. Meine ältere Schwester Debora hat einen anderen Vater als ich. Auch sie war mit 14 bereits heroinabhängig und arbeitet zeitweise als Prostituierte. Das zu schreiben, fällt mir schwer, denn ich liebe Debora sehr, und sie ist mir sehr wichtig. Lange Zeit war sie die Ersatzmutter für mich. Sie war außerdem immer so etwas wie meine beste Freundin. Meine andere Schwester heißt Paulina und ist zwei Jahre jünger als ich.

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Ich erinnere mich noch an das zweistöckige Bauernhaus, in dem wir aufwuchsen. Es hatte einen riesigen Garten.

Aber so romantisch, wie es sich anhörte, war es nicht. Das Haus war sehr heruntergekommen und überall mit Tierkot vollgeschissen. Bei uns im Haus lebten nämlich viele Tiere. Hunde, Hasen und Meerschweinchen gab es hier, außerdem zwei Ziegen.

Es gab auch immer mal wieder Zeiten, in denen es plötzlich sehr aufgeräumt bei uns im Haus war. Das war immer dann so, wenn das Jugendamt kam. Sie prüften nämlich immer wieder, ob wir Kinder bei meiner Mutter bleiben konnten.

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Meine Mutter ist HIV-positiv. Sie hatte sich in ihrer Jugend mit diesem Virus angesteckt. Wie und warum das passiert ist, weiß ich nicht. Nur sie allein wusste, dass sie HIV-positiv war, aber sie erzählte es niemandem. Nicht einmal meinem Vater.

So passierte es, dass ich mich bei meiner Geburt mit dem Virus ansteckte.

Hätte sie wenigstens den Ärzten von ihrer Infektion erzählt, wäre ich mit einem Kaiserschnitt zur Welt gekommen und hätte mich nicht angesteckt. So aber wurden ich und auch meine jüngere Schwester mit dem HI-Virus infiziert.

Meine Mutter erfuhr schon direkt nach meiner Geburt davon. Aber auch das verriet sie niemandem, weder meiner älteren Schwester noch meinem Vater.

Wir bekamen immer viele Medikamente. Damit mein Vater sich nicht wunderte, nahm meine Mutter sie aus ihrer eigentlichen Verpackung und steckte sie in einen einfachen Briefumschlag. Den trug sie dann mit sich herum.

„Die sind gegen Stellas Husten“, erklärte sie meinem Vater dann.

Tatsächlich hatte ich immer Husten. Manchmal konnte ich noch nicht einmal einen Satz sagen oder lachen, ohne einen Hustenanfall zu kriegen.

Ich nahm meine Medikamente aber nur unregelmäßig, oft spuckte ich sie aus.

Später fragte ich meinen Vater mal, wie das damals war.

„Hast du gewusst, dass ich HIV-positiv war?“, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein“, erwiderte er.

„Das kann doch nicht sein“, sagte ich dann.

„Ich habe doch so viele Medikamente bekommen.

Hast du dich denn gar nicht gefragt, wogegen sie waren?“

„Sie waren immer in einem Umschlag, der verschlossen war“, behauptete mein Vater. „Ich habe nicht hineingeschaut.“

So richtig geglaubt habe ich ihm nicht. Andererseits ist mein Vater eher ein oberflächlicher Mensch. Vielleicht wollte er einfach nicht wahrhaben, dass mit mir etwas nicht stimmte.

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Zu Hause war ich viel allein, und niemand kümmerte sich um mich. Die Tiere waren oft meine einzigen Spielkameraden.

Die anderen Kinder im Dorf hielten sich von mir fern. Kaum jemand kam zu Besuch vorbei, um mit mir zu spielen.

Das lag zum einen daran, dass ich als Kind oft krank war. Ich hatte Allergien, sollte nicht in die Sonne und durfte nicht schwimmen gehen, obwohl wir fast am Strand wohnten. Zum anderen aber ließen andere Eltern ihre Kinder nicht zu uns, weil meine Mutter bei uns zu Hause kiffte und die Joints auf dem Wohnzimmertisch offen herumlagen.

Ich wuchs mit diesen Drogen auf. Schon als Säugling tat mir meine Mutter ein bisschen Cannabis-Tee in meine Milchflasche, wenn ich zu viel schrie. Danach schlief ich dann angeblich viel ruhiger.

Allerdings durfte ich selbst die Drogen nicht anfassen.

„Die Sachen gehören mir! Lass die Finger davon!“, sagte meine Mutter immer. Trotzdem begann ich schon früh, heimlich zu rauchen, indem ich die Zigarettenstummel nahm und sie anzündete. Sicherlich waren auch einige Joints dabei.

Bei uns im Haus gab es viele Hanfpflanzen, eine richtige kleine Plantage. Meine Mutter hatte sie in einem Schrank versteckt. Sie wurden mit Rotlicht bestrahlt und regelmäßig gegossen. Außerdem gab es noch eine kleine versteckte Kammer, in der sich ebenfalls Hanfpflanzen befanden.

Meine Mutter kiffte viel. Die meiste Zeit lag sie im Bett, sah fern und kümmerte sich nicht um uns.

Seltsame Typen gingen bei uns ein und aus, um Stoff zu kaufen. Sie waren immer fröhlich drauf – Kiffer eben.

Es fällt mir schwer, mich genauer an meine Kindheit zu erinnern. Die Vergangenheit ist wie ein dunkles Loch.

Dann, als ich sechs Jahre alt war, wurde ich schwer krank.

Meine deutschen Großeltern waren mit meiner Schwester Paulina und mir in den Urlaub nach Dänemark gefahren. Eines Tages hatte ich beim Schlucken große Rückenschmerzen. Danach bekam ich hohes Fieber. Meine Oma fuhr mit mir zum Arzt.

„Das ist sicher eine Erkältung“, meinte er. Doch irgendwie erholte ich mich nicht von meiner Krankheit.

Meine Eltern waren zu der Zeit in Griechenland. Darum flogen meine Großeltern mit uns zu ihnen. Ich freute mich so sehr, meine Eltern und meinen Hund wiederzusehen, dass ich meine Krankheit völlig vergaß.

Ein paar Tage später muss ich dann ins Koma gefallen sein.

Ab da brechen die Erinnerungen ab.

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Meine Mutter brachte mich nach Spanien zurück. Das hat sie mir später erzählt.

In unserem Haus bin ich dann aus dem Koma erwacht.

Meine Mutter sagte da zu mir: „Komm, wir müssen gehen.“

„Wohin?“, fragte ich.

„Ich bringe dich an einen Ort, an dem du in Ruhe weiterschlafen kannst“, antwortete sie. Als ich irgendwann wieder aufwachte, lag ich in einem Krankenhaus. Meine Mutter war bei mir.

Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Krankenhaus gelegen habe, ob es Tage, Monate oder Jahre waren. Es war eine gefühlte Ewigkeit. Ich lag nur im Bett und war immer allein.

Täglich wurde ich untersucht. Das war eine richtige Quälerei. Die Ärzte nahmen mir Blut ab, und ich bekam Tabletten und Spritzen. Ich erinnere mich, dass mir einmal ein Arzt Medizin mit einer Spritze in den Mund träufeln wollte. Das wollte ich auf keinen Fall. Darum versuchte ich, vor ihm zu fliehen, aber natürlich schaffte ich es nicht. Mehrere Krankenschwestern stürzten sich auf mich und hielten mich fest. Sie bogen meinen Kopf nach hinten und quetschten meine Wangen so zusammen, dass sich mein Mund öffnete. Dann hatte ich das Zeug im Mund. Es schmeckte irgendwie nach aufgelöster Medizin in Vanillezucker. Noch heute schüttele ich mich, wenn es Vanille gibt.

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Von meinen Großeltern und meinem Vater habe ich erfahren, dass ich in dieser Zeit fast gar nicht geredet habe.

Dabei war ich ja schon sechs Jahre alt, konnte fließend deutsch und spanisch sprechen. Doch dann hörte ich einfach auf, zu reden, und malte nur noch.

Meine Sprachlosigkeit hatte gar nicht unbedingt damit zu tun, dass ich emotional gestört war. Ich konnte einfach nicht mehr sprechen. Es war so, als wenn ich es verlernt hätte. Mit wem hätte ich auch reden sollen? Ich war so viel allein. In dem Krankenhaus konnten meine Eltern nicht übernachten, wie es heutzutage üblich ist. Sie durften mich nur ab und zu besuchen kommen. Andere Kinder aber kamen nie vorbei.

Heute weiß ich, was damals passiert ist: Ich hatte eine schwere Lungenentzündung bekommen. Daraus entwickelte sich dann eine Gehirnhautentzündung. Mein Körper war nicht mehr in der Lage, sich gegen den HI-Virus zu wehren. Die vielen Tabletten hatten mich total verändert. Sogar mein Aussehen veränderte sich. Ich bekam Herpes und Allergien, und meine Haare wurden ganz dünn.

Wie gesagt, ich war sehr lange in diesem Krankenhaus. Als ich irgendwann entlassen wurde, war ich richtig verstört.

Ich weiß noch, dass ich eine Freundin meiner Schwester gefragt habe: „Haben sie so etwas auch mit dir gemacht? Hast du auch Spritzen bekommen?“ Das Mädchen konnte meine Fragen überhaupt nicht einordnen und wunderte sich sehr.

Dass mich meine Mutter mit dem HI-Virus angesteckt hatte, habe ich damals nicht erfahren. Erst später versuchte man, mir immer mal wieder stückchenweise diese Tatsache beizubringen. Verstanden habe ich das ganze Ausmaß der Krankheit erst viel viel später.

Und begreifen kann ich es immer noch nicht.

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In Spanien ging ich in die Grundschule.

Es war eine ganz normale Staatsschule, die aber katholisch geführt wurde. Wir Mädchen mussten weiße Schulkittel tragen, die Jungen trugen blaue. Außerdem mussten wir vor dem Unterricht beten und auch oft in die Kirche gehen, natürlich in einer ordentlichen Zweierreihe.

Auch in der Schule war ich immer allein.

Alle wussten, dass meine Mutter zu Hause kiffte, und so hatten die Kinder von Anfang an etwas gegen mich. In der großen Pause spielte ich nie mit ihnen und sie auch nicht mit mir.

Weil ich immer allein war, zog ich mich in meine Fantasiewelt zurück. Dort spielte ich mit ausgedachten Hunden. Ich stellte mir vor, dass sie fliegen konnten. Mir gefiel das Gefühl, in meiner Fantasiewelt zu sein und mir dabei einzubilden, dass alles realistisch war. Da sich meine Mutter nicht um mich kümmerte und auch mein Vater immer unterwegs war, wurde meine Schwester Debora so eine Art Ersatzmutter für mich. Das ging so weit, dass ich manchmal „Mama“ zu ihr sagte.

„Ich will das nicht! Ich verbiete dir das!“, rief meine Schwester dann verärgert, und so ließ ich es.

Aber sie kümmerte sich immer liebevoll um mich. Wenn ich mich verletzt hatte, lief ich zu ihr und zeigte ihr meine Wunde. Oft leckte sie mein Blut ab und pustete dann.

Eines Tages fand meine Schwester einen Brief, den mein Vater meiner Mutter geschrieben hatte, und las ihn.

„Es ist Zeit, dass Debora erfährt, dass Stella und Paulina an HIV erkrankt sind“, schrieb mein Vater. „Sie kann sich sonst anstecken.“

Er hatte wohl spätestens im Krankenhaus von meiner Infektion erfahren.

Meine Schwester erschrak total, als sie diese Zeilen las. Ihr fiel sofort ein, dass sie immer meine Wunden abgeleckt hatte. Aufgebracht lief sie zu meiner Mutter und zeigte ihr den Satz.

„Ich habe den Brief gelesen“, rief sie.

„Das hättest du mir sagen müssen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass Stella und Paulina HIV-infiziert sind.“

Debora war ganz aufgeregt. Wie immer aber reagierte meine Mutter überhaupt nicht darauf. Sie tat so, als ginge sie der ganze Zirkus, den meine Schwester machte, überhaupt nichts an.

Von da an kam es immer wieder zu großem Streit zwischen ihr und meiner Schwester.

„Ich will dich hier nicht mehr sehen! Verschwinde!“, schrie meine Mutter eines Tages, als es wieder einmal zu einem schrecklichen Krach gekommen war, und setzte Debora vor die Tür. Sie war damals erst 14 Jahre alt und lebte von da an auf der Straße.

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Als ich zehn Jahre alt war, trennten sich meine Eltern, und mein Vater zog aus. Er ging nach Deutschland zurück, kam aber immer mal wieder zu Besuch.

Paulina und ich blieben bei meiner Mutter. In dieser Zeit war ich oft mit Debora unterwegs. Sie traf sich mit ihren Freunden, die viel älter als ich waren.

Die Jugendlichen nahmen mich in ein autonomes Jugendzentrum mit. Dieses Zentrum war ein altes, verlassenes Haus an einer Schule. Meine Schwester und ihre Freunde hatten das Haus besetzt.

Alles war schön eingerichtet mit Decken und Möbeln. Auch Bücher und Musikinstrumente gab es hier. Die Jugendlichen chillten, feierten oder veranstalteten Kinovorstellungen. Meine Mutter gab mich oft hier ab, auch schon, als ich ganz klein war. Dann kümmerten sich meine Schwester und die anderen Jugendlichen um mich. Ich war stolz darauf, zwischen den Großen zu sitzen.

Manchmal spielten die älteren Jugendlichen mit mir, manchmal war ich allein. Es gab auch viele Hunde hier, mit denen ich mich beschäftigte.

Die Jugendlichen saßen oft im Kreis zusammen, redeten über irgendwas und kifften. „Wenn ich groß bin, möchte ich ein Punk werden, wie meine große Schwester“, dachte ich oft. „Und dann möchte ich einen Hund und Freunde haben.“

Verletzt

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