Читать книгу Die Liebes-Analphabeten - Stella Tsianios - Страница 8
ОглавлениеBeziehungsstatus Single
In der Singlebörse nennt sie sich Sappho. Sie ist 37 Jahre alt. Von Beruf Journalistin und Dichterin. Sie ist sportlich und liebt französische Filme.
Im normalen Leben heißt sie Ulrike, ist Grundschullehrerin und schreibt gern Gedichte. Ihre Lieblingslyrikerin ist die antike griechische Dichterin Sappho.
In der Singlebörse nennt er sich Nazim, ist 44 Jahre alt und von Beruf Journalist und Dichter.
Er klettert gern. Im normalen Leben heißt er Hannes. Von Beruf ist er Elektroingenieur und schreibt ebenso Gedichte. Sein Lieblingsdichter ist der türkische Dichter und Dramatiker Nazim Hikmet.
An einem Sonntag um halb acht schickte sie ihm eine Strophe ihres Gedichtes, welche er fortführen sollte.
„Gekommen bin ich als Poetin,
geliebt wie eine Diebin bin ich
und gegangen um halb acht.“
Nazim setzte sich an seinen Schreibtisch, machte sich einen süßen Mokka und antwortete ihr mit Poesie, die nach Beischlaf und Kaffee duftete.
„Unter meinem Kissen
verzweifelte Daunen
in hellblauen Bettbezug verpackt.
Ich tauche in deine Tasse ein,
lese aus deinem Kaffeesatz
und raube dir bloß eine Nacht.“
Sappho streichelte glückselig ihren Bildschirm und antwortete Nazim mit einer weiteren Strophe und der Bitte, er möge die letzte Strophe weiterschreiben.
„Am Boden der Wecker,
der Henker, der Träume halbiert,
der Zeit hinterher rennt
und mich ignoriert.“
Nazim bemühte sich, eine gute letzte Strophe zu schreiben, um Sappho irgendwann im richtigen Leben zu erleben, sie zu riechen, sie zu berühren. Ihre Stimme zu hören und auf ihre Fragen zu antworten. Es fiel ihm bloß nichts Brillantes ein. Er knüpfte die erste Strophe an die letzte an, um die Worte der ersten Strophe durch eine Wiederholung zu erheben.
„Ein Foto der Ex lächelt mich an,
gekommen als Poetin,
als Diebin erwacht
und gegangen
morgens um halb acht.“
Er schrieb Sappho, weshalb sie als Poetin kam und als Diebin erwacht sei. Er bekam keine Antwort. Sappho antwortete ihm einen ganzen Monat lang nicht. In dieser Zeit hatte sich Nazim mit mehreren Frauen aus der Online-Partnervermittlung zum schnellen Sex getroffen. Die Frauen, die er traf, sahen alle anders aus, als sie sich beschrieben hatten.
Auch Nazim stellte sich dort anders dar, als er wirklich aussah. Er hatte keine Kletter-Erfahrung und war auch kein Journalist. Und er sah aus wie der dicke Schlachterjunge mit dem karierten Hemd aus der Nachbarschaft, der leicht errötet, wenn Frau ihm ein Kompliment machte. Auch Sappho sah nicht besonders sportlich aus. Sie hatte 20 Kilo mehr drauf als ihr Wunschgewicht. Nach ihrem langweiligen Unterricht als Grundschullehrerin gab sie sich eifrig ihren Gedichten hin. In letzter Zeit befasste sie sich mit Desdemona, die aufgrund der Lügen und Eifersüchteleien ihrer Neiderinnen Othellos Vertrauen, seine Liebe, ihren Thron und ihr Leben verlor.
An einem Sonntag schickte sie ihm ihr Gedicht mit folgender Notiz:
„Sehr geehrter Nazim, ich sende Ihnen mein zuletzt geschriebenes Gedicht. Ich bitte Sie, mir eins Ihrer Gedichte zuzuschicken, damit ich Sie besser als Mensch lesen kann.
Mit freundlichen Grüßen Sappho“
„Desdemonas Stich
Desdemonas Taschentuch, Lüge oder Eifersucht,
nackte Hände, klarer Stich,
Irrtum, der das Herz erwürgt.
Ein besticktes Taschentuch war der Täter,
der nicht sprach,
stummer Stich, rotes Garn, Irrtum,
der das Herz erstach.
Vom Ersticken und Erwürgen
bleibt Geschichte nicht verschont,
Desdemona und Othello,
erstochen auf dem Liebes-Thron.
Wenn das Messer auf dem Tisch
dich mit seinem Glanz erblickt,
stich sanft in einen Apfel,
teile ihn in zwei und verschenke Vitamin,
denn das rettet dich vor Eifersucht und Lügerei.“
Nazim bedankte sich und schickte ihr eins seiner Liebesgedichte, welches er noch keiner Frau gezeigt hatte. Seine Gedichte versteckte er als jüngster Sohn von vier Geschwistern unter seiner Matratze. Während seine Brüder mit Playmobil oder Legosteinen spielten, las er schwierige Worte, die er nicht verstand. Er lernte sie auswendig und trug sie seiner Lehrerin vor. Sie lächelte ihn an, streichelte ihm übers Haar und meldete ihn beim Schulleiter zu einem Gespräch mit dem Schulpsychologen an. Der Junge sei in seine Lehrerin verliebt, was seine schulische Laufbahn blockieren könne, da die Lehrerin sich seit Längerem von seinen Blicken befangen fühle und er im Unterricht abwesend sei. Seine Eltern wurden eingeladen und man empfahl ihnen, sie sollten sich besser um den jüngsten Sohn kümmern und mit ihm kindgerechte Lektüre lesen. Sie besorgten für den Jungen „Pippi Langstrumpf“, was dem Schulleiter weiterhin nicht passte. Er gab sich auch mit Wilhelm Busch nicht zufrieden. Seit diesem Augenblick hörte Nazim einfach auf, Poesie zu lesen. Er widmete sich fortan den Zahlen und den mathematischen Aufgaben, die ihm Jahre später zum Ingenieursstudium verhalfen.
Verborgen und unerforscht blieb ihm jedoch die Lyrik, welche er endlich als erwachsener Leser bei Nazim Hikmet wiederfand.
Nazim suchte in seinen selbstgeschriebenen Liebesgedichten und entschied sich dafür, Sappho das Gedicht „¼ Traum“ zu schicken.
„Wieder mal ein Viertel Traum,
dein Schlüsselbund an meiner Tür,
ein rotes Herz aus Stein,
schwebend tanzte es vor mir.
Wieder Nacht und ich radiere,
rote Kratzer von der Tür.
Mit weißem Lack verabschiede ich mich von dir.
Aus dem Radio im Vier-Viertel-Takt,
ein Walzer, als wärʼ die Welt intakt,
wieder hörʼ ich fremde Schritte,
warte, dass dein Schlüsselbund
wieder meine Tür zerkratzt.
Trennungsschmerz und Abschiedsküsse
haften doch an jeder Tür,
erst vertraut und unersetzbar,
bis ein Lebewohl die Tür zumacht.
Wieder mal ein Viertel Traum,
wieder hörʼ ich fremde Schritte,
haften sie an jeder Tür,
wieder mal ein Traum von dir.“
Sappho gefiel sein Gedicht sehr. Sie streichelte den Bildschirm und schickte ihm als Antwort eines ihrer bittersten Gedichte. Würde Nazim ihr daraufhin weiter schreiben, würde sie sich mit ihm im realen Leben treffen wollen? Ihm aber von ihrem Übergewicht und von ihrer wahren Identität erzählen, nein, das müsste er schon live erleben. Sappho liebte Medeas mythische Gestalt. Seit diesem Moment in der 10. Klasse, als sie in Medeas Tat den erweiterten Selbstmord einer Frau, die wegen eines Mannes ihren Verstand verloren hatte, sah, missachtete sie die männlichen antiken Helden. Sie wurde zu einer Feministin, die Frauen bei jeder Sache unterstützte. Sie verstand Medeas Tat als einen erweiterten Selbstmord, was das traurige Ende einer schwarzen Königin und einer lieblosen Mutter für immer in der Geschichte stigmatisiert hat.
Wortlos schickte sie ihm ihren Text von Medea. Das dunkelste Beispiel des Verrats.
„Medea, die Tochter des Kolcherkönigs, die Mörderin ihres Bruders, die Jasons Gehilfin beim Raub des goldenen Vlieses und dessen Gefährtin wurde.
Verbannt und aus Liebe verraten, im Exilort, Korinth, rechtlos gemacht und ausgetauscht durch Kreons Tochter Kreusa. Medea, die von Liebe zu Zorn, von Gefährtin zu Geflüchteter, von Kolcherkönigin zur Geisel der Griechen wechselte. Medea, die von Mutter zu Mörderin wechselte, sprach:
„Götter, verschont mich mit euren Liebespfeilen.
Trefft Jason, als Geliebter soll er leiden,
schenkt ihm keine Heimat, keinen Freund,
keinen Schutz, gebt ihm Ohnmacht
und verbannt ihn aus mir.
Ein Niemand für immer soll er sein,
der er an meiner Seite ohne Liebe blieb,
der an meiner Seite mit falscher Liebe blieb.
Götter, verschont mich mit der Liebe.“
„Liebe Sappho, ich kann deine Wut in deinem Text tief in mir spüren. Von Königin zu Geflüchteter, von Mutter und Geliebter zur Mörderin. Von liebender zur verhasster Frau und Mutter. Medea ist eines der düsteren Beispiele von Verrat in der Geschichte, so wie Desdemona. Beide Frauenbilder haben starkes Leid erlebt, so wie viele andere Frauen in der von Männern diktierten Welt.“
Er ließ es so stehen, ohne auf ihr Leid einzugehen.
In der Single-Börse hatten sie sich daraufhin in der Kategorie „kultiviert und gebildet“ verbinden lassen. Ein spezielles Auswertungssystem stellte die Gemeinsamkeiten her und ermöglichte den Interessenten, sich vorzustellen. Erst mit einem Foto und dann mit einer Notiz. Auf dem Foto sehen sowohl Sappho als auch Nazim um zehn Jahre jünger und schlanker aus. Es schien so, als hätten beide mit ihrer momentanen Erscheinung bei dem jeweils anderen kaum Chancen.
Sappho fand Nazims Antwort sehr feinfühlig. Sie schrieben sich Strophen hin und her. Sie schrieben sich jeden Tag. Sie verabschiedeten sich gemeinsam vom Tag, mit einem Gutenacht-Gedicht. Sappho hatte zwar Ähnlichkeit mit der schreibenden Person, jedoch hieß sie weder so noch arbeitete sie als Journalistin. Dasselbe galt für Nazim. Beide gaben sich als eine andere Person aus. Sie beschrieben sich jeden Tag gegenseitig, was sie trugen, wie sie es kombinierten, was sie kochten, wie sie es kochten und ließen den Aspekt des Aussehens und des Berufes dabei aus. Sie hielten sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf. Du bist, was du schreibst, und du bist, mit wem du es teilst. Sie schrieben sich jeden Tag und jede Nacht. Sie schrieben sich Gedichte über das Zusammensein, über das Leben in einer Beziehung, über das Miteinander. Sie fühlten sich nicht mehr als Singles. Sie pausierten in der Partner-Börse mit ihren Aktivitäten und änderten ihren Beziehungsstatus von „Single“ zu „Beziehung“. Sie gaben dabei sogar den Namen des jeweiligen Partners an. So verging ein Jahr im ständigen Gedankenaustausch.
Sappho traute sich als Erste, nach einem Date zu fragen. Nazim willigte sofort mit einer Strophe ein.
„Hätte ich keine Angst vorm leeren Blatt,
würden Worte sich entkleiden,
hätte die Zeile einen Herzenstakt,
würde ich dir alles über mich erzählen.“
Sappho ergänzte, ohne auf das Gedankenspiel einzugehen. Sie schrieb eine leicht beschwipste Strophe in der Hoffnung, er würde sie endlich zu sich einladen.
„Barfuß und allein
trinkt die Nacht mit mir ʼnen Wein,
durch die Straßen wie eine Acht
führen die Schritte mich zu dir.“
Nazim antwortete mit einer Frage: „Fisch, Fleisch oder Gemüse?“
Sappho ging nicht darauf ein. „Um 20:00 Uhr bin ich bei dir. Schick mir bitte deine Adresse.“
Nach einem Jahr leidenschaftlicher körperloser Begegnung kam der Moment der leidenschaftlichen und leiblichen Begegnung. Nazim schickte ihr eine Strophe und nannte sie „Die Liebeserklärung“.
„Eine Liebeserklärung,
Körper über den Tisch gebeugt
atmen die Nacht ein
und vergessen
um sich die Zeit.“
Sappho antwortete mit einer zweiten Strophe und nannte sie „Die Leibeserklärung“.
„Auf nacktem Tisch
wollen wir uns verzehren,
wir vergessen, uns vorzustellen,
und verschenken uns
mit Küssen und einem Liebesreim.“
Nazim bereitete gegrillte Dorade und Gemüse zu. Er stellte den Weißwein aus dem Kühlschrank auf den Tisch, deckte den Tisch puristisch und wartete auf den großen Uhrzeiger schauend, der noch fünfzehn Minuten bis zur Zwölf auf sich warten ließ. Er zog sein Lieblingshemd in Hellblau an. Kein Sakko, eine Cordhose in Beige, seine braunen Wildleder-Mokassins und seine rosa-braun gestreiften Strümpfe.
Er kämmte sich vor dem Spiegel freudvoll seine Haare von links nach rechts, lächelte sich an und besprühte sich dezent mit seinem Duft, der nach Weihrauch, Orange und Nelken roch.
Es klingelte an der Tür. Sappho stand strahlend davor mit einer Weißweinflasche. Sie sah zwar anders als auf dem Foto aus, doch Nazim mochte das, was er vor sich sah.
Sie streckte die Hand aus und stellte sich vor: „Ich heiße Ulrike und bin Grundschullehrerin.“
Nazim streckte seine Hand aus und stellte sich vor: „Ich heiße Hannes und bin Elektroingenieur.“
Paradox erschien ihm jedoch die Tatsache, dass er seine Gedichte ein ganzes Jahr lang einer Deutschlehrerin geschickt hatte. Eine Deutschlehrerin war damals die Person gewesen, die ihn zu dem arithmetischen Denken gedrängt hatte, und sie war zugleich der Grund gewesen, weshalb er damals kein Poet geworden war. Vielleicht sollte so die Katharsis kommen, dachte er sich und schenkte Sappho, also Ulrike, eines seiner im Jetzt entstandenen Gedichte.
„Deine Augen
Augen, die nur für mich sind,
Augen, die mich lesen,
meine Welt durchqueren,
Augen, die mich suchten
und jetzt strahlend vor mir stehen.“
Lächelnd betrat sie die Wohnung und flüsterte ihm ihre im Jetzt entstandene Strophe ins Ohr.
„Augen, die nur für mich sind,
Lichterketten mit goldenen Fädchen,
Augen, die nur für mich sind,
suchten mich in einer vollen Stadt
und stehen strahlend jetzt vor mir.“
Mit den Körpern über den Tisch gebeugt atmeten sie die Nacht ein und vergaßen um sich die Zeit. Auf dem nackten Boden verschenkten sie sich mit Küssen und Liebesreim.
All das wäre passiert, wenn sich Hannes und Ulrike nicht hinter falschen Namen und Fotos versteckt hätten würden. Denn als Hannes Ulrike durch das Schüsselloch sah, machte er die Tür einfach nicht auf. Ulrike blieb im Regen stehen und schrieb ihm ein letztes Gedicht,
„Von dem, was bleibt,
wenn ein Wort plötzlich fehlt,
wenn der Sommer im Winter
seine Erinnerung einfriert.
Von dem, was bleibt,
wenn ich keine Nymphe bin,
ich werde dich nur schnell vergessen
und ins Schwimmbad tauchen gehen.
Wie eine Nuss in meinem Munde
werde ich dich darin zerkauen,
verzeih mir doch jeden Biss,
Zähne zeigen wolltʼ ich wirklich nicht.“
Hannes hob den pausierten Beziehungsstatus auf und setzte wieder den Single-Status ein. Ulrike lernte einen wirklichen Nazim in der Staatsbibliothek kennen und Hannes lernte etliche Frauen zum schnellen Sex kennen. Keine konnte wie Sappho schreiben. Sie blieb für immer die Lyrikerin seines Herzens. Ulrike veröffentlichte sechs Monate später ihr erstes Werk unter dem Pseudonym Sappho und dem Titel „Beziehungsstatus Single“. Hannes saß in ihren Lesungen in der ersten Reihe und lächelte ihr stolz zu, wenn sie seine Strophen vorlas.
Sie beschenkten sich mit Liebesreimen gegenseitig und das war für beide die ehrlichste Liebeserklärung an sich selbst.