Читать книгу Heilen oder Behandeln? - Stephan Heinrich Nolte - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеBehandeln und Heilen werden oft verwechselt. Ein Arzt1 kann zwar behandeln, aber nicht heilen. Er kann Voraussetzungen zum Heilen schaffen, indem er Heilungshindernisse erkennt und behandelt, er kann aber auch Heilung behindern und unwissentlich Selbstheilungsprozesse stören. Was Ärzte üblicherweise leisten, ist, Symptome zu lindern. Sie tragen zur Erleichterung bei mit dem Ziel, Schlimmeres zu verhüten; sie unterstützen etwa beim Senken des Blutdrucks, um einen Schlaganfall zu verhindern. Den Blutdruck „heilen“ können sie nicht, aber Voraussetzungen zur Selbstheilung schaffen: Diäten, Bewegungsförderung, Stressreduktion, Raucherentwöhnung etc. Wir alle wissen, wie hilflos und rudimentär diese essenziellen Maßnahmen bleiben, und wie viel leichter es ist, zu einer Pille zu greifen. Mit Heilen hat das indes wenig zu tun, wohl aber mit Behandlung. Der Arzt kann einen Knochenbruch behandeln, indem er ihn gut einrichtet, fixiert und dann – die Heilung abwartet, auf die er wenig Einfluss hat. Er hat die Voraussetzungen geschaffen und wird versuchen, sie durch Ruhigstellung zu erhalten, aber das Heilen muss er unbekannten Heilkräften im Körper überlassen, und er kann allenfalls staunend feststellen, dass ein Bruch trotz bester Voraussetzungen auch mal nicht heilen will.
Im Nationalsozialismus hatten jüdische Ärzte nicht mehr das Recht, sich Ärzte zu nennen, sondern wurden zu sogenannten Krankenbehandlern degradiert. Was waren denn die „arischen“ Kollegen anders als ebenfalls Krankenbehandler? Der Nimbus des Arztes, der den jüdischen Kollegen nicht mehr zugestanden wurde, steht über dem reinen Behandeln. Ist das gerechtfertigt? Ja und nein. Ja, denn die ärztliche Tätigkeit besteht aus mehr als aus Behandeln, Handeln. Sie sollte auch aus Zuhören, Klären, Begleiten, Verstehen bestehen, also über den reinen Aktionismus herausgehen. Die Praxis sieht anders aus; das Tun, das Handeln, das Erbringen von Leistungen. Im Jargon der ärztlichen Selbstverwaltung und der Krankenkassen sind Ärzte „Leistungserbringer“. Das ist noch ein schlimmerer Ausdruck als Krankenbehandler, der aber in seinem Zynismus nicht hinterfragt wird. Leistung, das ist ein technischer Begriff: Arbeit pro Zeit, und am besten messbar an objektivierbaren Maßnahmen oder Eingriffen. Da technische Leistungen besser messbar sind als menschliche Beziehungen und die Qualität von „Gesprächs-Leistungen“ (auch hier taucht der Begriff auf), haben diese in der Medizin ein gewaltiges Übergewicht bekommen, von dem ein ganzer Wirtschaftszweig profitiert, der medizinisch-industrielle Komplex, auch Gesundheitswirtschaft oder -industrie genannt. Wir haben heute gewaltige technische Möglichkeiten, zu untersuchen, zu behandeln, und sind in der Diagnostik wesentlich weiter als in der Therapie. Aber ob wir damit bessere Heiler geworden sind? Den Menschen interessiert nicht so sehr, was er hat, sondern wie es ihm geht und was werden wird, nicht die Diagnose, sondern die Prognose.
Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Heilen im Unterschied oder in der Gegenüberstellung zum Behandeln. Heilen hat, bei aller Selbstverständlichkeit, mit der dieser Begriff als Umschreibung ärztlicher Tätigkeit benutzt wird, aber auch den Hauch des Esoterischen, Alternativen: Es ist paradox: Wenn von einem Heiler gesprochen wird, meint man in der Regel damit nicht den Arzt, sondern den Geistheiler, den Handaufleger oder Steinheiler, von denen sich die Angehörigen der „Heilberufe“ in aller Regel abgrenzen.
Molière schrieb, dass die ärztliche Aufgabe darin besteht, den Kranken bei Laune zu halten (das heißt auch, ihn zu behandeln), bis die Natur ihn heilt. Wenn wir heute auch ganz andere und teilweise ebenfalls gute Möglichkeiten haben, durch Untersuchungen und zielführende Eingriffe zu erkennen, wo die Heilungshindernisse liegen und wie wir diese beseitigen können, bleibt die dann anstehende Heilung letztlich die Aufgabe derjenigen Kräfte, um deren Benennung wir uns heute gerne drücken: der Lebenskraft, der vis vitalis, der Selbstheilungskraft.
An einem Freitagmittag im Januar 2018 bin ich auf dem Fahrrad beim Queren einer Straße frontal mit einem von mir wegen einer Reihe parkender Autos übersehenen Kleinwagen zusammengestoßen. Das mindestens 40 Kilometer pro Stunde schnelle Fahrzeug erwischte mich auf der linken Seite, ich flog auf die Motorhaube, dann in hohem Bogen über das Dach und landete hinter dem Wagen mit dem Gesicht auf der Straße. Dabei zog ich mir eine Schädelprellung mit einer großen Platzwunde über dem rechten Auge zu, eine erhebliche Schulterprellung rechts, eine massive Überdehnung des rechten Knies, eine Prellung des linken Knies und mancherlei Schürfwunden zu. Der Rettungswagen brachte mich sogleich in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Die Kopfplatzwunde ließ sich mit neun Stichen nähen, die anderen Verletzungen wollte ich erst einmal nicht näher abklären lassen und lehnte die vorgeschlagenen Untersuchungen, ein Computertomogramm des Kopfes und ein „Durchröntgen“ sowie eine kernspintomografische Untersuchung der rechten Schulter und der Knie, erst einmal ab und ließ mich nach Hause bringen. Und man ließ mich „gegen ärztlichen Rat“ ziehen.
Erst einmal wollte ich „mich sortieren“ und genau die Symptome beobachten, aus der Erfahrung, dass das, was am Anfang am meisten schmerzt, nicht das Schlimmste ist. So sieht eine stark blutende Kopfplatzwunde vordergründig dramatisch aus, ist aber nichts Schlimmes, denn Kopfplatzwunden heilen sehr schnell. Das allgemeine Zerschlagenheitsgefühl sitzt anfänglich im ganzen Körper, jede Bewegung schmerzt. Besonders schlimm waren die rechte Schulter und das rechte Knie. Sichtlich gebrochen erschien mir nichts, Schlüsselbein und Schultereckgelenk waren intakt. Was sollte eine MRT-Untersuchung zeigen? Vielleicht Blutungen und Bänderrisse, aber was wäre die unmittelbare Konsequenz? Ich nahm mir vor, mindestens drei Monate abzuwarten, bevor ich weitere Untersuchungen über mich ergehen lassen würde. Der Schmerz sollte mein Ratgeber sein: Würde es allerdings weiterhin und länger schmerzen, wäre die Entscheidung zu revidieren. Glücklicherweise besserte sich der allgemeine Zerschlagenheitszustand rasch, die Schmerzen wurden lokalisierbarer und verständlicher, verschiedene Blutergüsse breiteten sich in schillernden Farben aus. Bereits am nächsten Tag saß ich wieder auf dem Rad; laufen konnte ich wegen des Knies noch tagelang wesentlich schlechter. Nach knapp zwei Wochen unternahm ich sogar wieder eine lang geplante Schneeschuhwanderung. Bis die Beschwerden ganz vergangen waren, dauerte es vier, fünf Monate, aber dann war die volle schmerzfreie Beweglichkeit aller Körperteile wiederhergestellt.
Jetzt komme ich auf den Punkt: Wenn ich mein Fahrrad anschaue, so sieht es noch genauso aus wie nach dem Unfall: das Vorderrad völlig verknautscht, der Rahmen gebrochen, die Gabel verbogen, kurzum: ein wertloser Schrotthaufen. Keinerlei Selbstheilung oder Wiederherstellung. Ebenso die Brille: das Glas geborsten, der Bügel abgebrochen, blutverschmiert und mit einzelnen Brauenhaaren verklebt. Niemand hätte auch je erwartet, dass es anders sein könne, dass der Rahmen sich selbst geflickt, das Brillenglas sich wieder zusammengesetzt hätte.
Was ist hier der Unterschied zwischen Mensch und Maschine? Wer hat was wie geheilt? Worin bestand die ärztliche Kunst? Das Einzige, was aktiv gemacht wurde, war die Naht der Augenbraue. Aber auch hier bestand die ärztliche Kunst nicht etwa im Heilen der Wunde, sondern lediglich darin, sie zu reinigen, etwaige Fremdkörper zu entfernen, zu schauen, dass keine Augenbrauenhaare die Adaptation der Wundränder behindern, und sie dann kunstgerecht mit Nadel und Faden zu schließen. Und dann? Abwarten, dass Heilung geschieht, abwarten, dass es keine Wundinfektion gibt. Die Heilung selbst ist unbeeinflussbar und geschieht einfach. Die wichtigste und vornehmste, aber auch bescheidenste ärztliche Aufgabe war hier, die natürlichen Heilungsvorgänge nicht zu behindern. Der Rest war reines Handwerk.
Glück gehabt oder besonnen gehandelt? Natürlich hätte ich tot sein können, eine schwere Hirnblutung gehabt haben können, innere Verletzungen, Knochenbrüche oder Bänderrisse haben können. Aber muss man alles sofort wissen? Hätte es nicht der Verlauf ohnehin gezeigt?
Hilfreich war für mich, dass ein sehr besonnener Ersthelfer, ein offensichtlich in diesen Dingen erfahrener Medizinstudent, mich mit ruhiger Stimme daran hinderte, sofort aufzuspringen, mir die Hand hielt und mich beruhigte. Und dass meine telefonisch herbeigerufene Frau schnell zur Hilfe kam und ich im Krankenhaus nicht allein irgendwo in der Notaufnahme auf der Trage liegend meinem Schicksal entgegensehen musste. Es waren ganz einfache, menschliche Bedürfnisse, die mir wichtig waren und geholfen haben.
Es ist wichtig, dass das Handwerk gut gemacht wird. Der Chirurg – das Wort enthält Cheir, griechisch für die Hand – muss keine großen Worte machen, aber sein Handwerk beherrschen. Es wäre für den Patienten befremdlich, wenn der Chirurg am Tag vor der großen Operation in das Patientenzimmer träte und seine eigenen Ambivalenzen und Ängste vor dem bevorstehenden Eingriff ausbreitete.
Wir erwarten von einem „Be-Hand-ler“, dass er Hand anlegt, also ein „Hand-Werk“ ausübt. In vielerlei Hinsicht haben die Ärzte das heute verlernt, zu „be-Hand-eln“. Lange war es ohnehin verpönt und nicht als ärztliche Aufgabe angesehen. Ecclesia abhorret a sanguine – die Kirche verabscheut das Blut, hieß es seit dem Konzil von Tours 1263. Damit wurde die handwerkliche Seite der Medizin den nicht akademischen Barbieren, Steinschneidern und Feldschergen überlassen und die jahrhundertelange Fehde zwischen Chirurgen und Medizinern begründet. Der Chirurg kann alles und weiß nichts, der Arzt weiß alles und kann nichts, hieß es lange und wird auch heute noch so kolportiert, manchmal ergänzt dadurch, dass der Psychiater nichts weiß und nichts kann, und der Pathologe alles weiß und alles kann – aber erst dann, wenn der Patient tot ist.
Das Behandeln im engeren Sinne einer manuellen, handwerklichen Tätigkeit ist somit vielen Ärzten fremd geworden. Da verwundert es nicht, dass sich andere Disziplinen dessen angenommen haben, wie man derzeit am deutlichsten an der aufblühenden Osteopathie erlebt. Dabei ist das „Hand-Anlegen“ so wichtig, aber auch das „Händchen-Halten“. Den Menschen berühren: Was rührt uns an? Die Berührung. Heute werden die Menschen im Krankenhaus möglichst gar nicht mehr angerührt, und wenn, dann nur mit Handschuhen. Das „Hände-Schütteln“ ist nicht nur verpönt, sondern in manchen Kliniken sogar verboten. Kein Wunder, dass sich die Patienten andere „Be-Hand-ler“ suchen.
1 Ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch die männliche Form verwendet. Alle Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für alle Geschlechter.