Читать книгу Gefundenes Fressen - Stephan Hähnel - Страница 8

Sonntag, 8. Juni

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Im gesamten Helmholtzkiez gab es nur einen Bäcker, der Schrippen nach der traditionellen Methode zu backen verstand. Feste, knusprige, gelbbraune Schrippen und Knüppel, die nach Sonne und Handarbeit schmeckten. Nicht vergleichbar mit jenen industriell gefertigten Backlingen, die wie Bauschaum aufquollen und ihren Geschmack Verdickungsmitteln, Emulgatoren und Aromen verdankten.

Bis zu diesem Bäcker lief Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern bequem eine Viertelstunde. An diesem Sonntagmorgen genoss er den kleinen Spaziergang durch seinen Kiez ganz besonders. Es war das erste freie Wochenende, nachdem es ihm gelungen war, den Mörder einer Rentnerin zu überführen, der vor mehr als zwei Jahrzehnten seinem sadistischen Verlangen nachgegeben hatte. Der nette Nachbar von nebenan hatte der Rentnerin geholfen, den schweren Einkauf in die Wohnung zu bringen. Der Familienvater mit dem freundlichen Gesicht. Höflich und zuvorkommend.

Wie viele seiner Kollegen hatte Morgenstern es sich zur Angewohnheit gemacht, ab und an unaufgeklärte Verbrechen aus der Vergangenheit zu bearbeiten. Die sogenannten kalten Fälle ließen ihm keine Ruhe. Routinemäßig hatte er einen Datenabgleich genetischer Fremdspuren vorgenommen, die an unterschiedlichen Tatorten gefunden worden waren. Dabei hatte plötzlich der Bildschirm aufgeleuchtet. Ein Mann war schon zweimal in Erscheinung getreten. Zwar war er nicht als Täter registriert, aber als eine jener Personen, die durch ihre Anwesenheit den Tatort mit DNA verschmutzt hatten. In beiden Fällen war eine Rentnerin erdrosselt worden. Das hatte ihn auf die Spur des Mörders gebracht.

Aber nun war Wochenende. Anna wartete auf ihn. Sie würde es nicht dulden, dass er auch nur einen einzigen Gedanken an irgendwelche Ermittlungen verschwendete.

Die Anzahl der Wartenden vor dem Bäcker war überschaubar. Wie immer zog er eine Sonntagsausgabe aus dem Zeitungsständer, um die aktuellen Fußballergebnisse zu studieren, und stellte sich ans Ende der Schlange.

Die wenigen Minuten, die er warten musste, gehörten genauso zu seinen liebgewordenen Gewohnheiten wie das Studium der Spielberichte.

Den überwiegenden Teil der Zeitung überließ er Anna, die sich stets eingehend mit politischen Analysen und Berichten über Wirtschaftsentwicklungen beschäftigte. Sie liebte es, selbst wenn es warm war, mit einer Decke um die Beine geschlagen am Frühstückstisch zu sitzen und zu lesen. Ohne ihn anzusehen, äußerte sie dabei regelmäßig ihr Erstaunen oder Missfallen. Sie erwartete, dass er zuhörte, nicht, dass er ihre Bemerkungen ausführlich kommentierte. Mehr als einer kurzen verbalen Kenntnisnahme wie »So«, »Aha« oder »Tatsächlich« bedurfte es nicht.

Vom ersten gemeinsamen Wochenende an zelebrierten sie, sooft es Morgenstern möglich war, den Sonntagmorgen. Genau genommen, hatte Anna ihn zum Zeremonienmeister ernannt, der den Frühstückstisch einzudecken hatte. Sobald alles vorbereitet war, ließ sie sich sanft wecken. Dann setzte sie sich mit einem glücklichen Lächeln erwartungsvoll auf ihren Lieblingsplatz. Mit kindlicher Begeisterung wunderte sie sich über die frischen Schrippen, schnupperte an der Kaffeekanne und prüfte die Wärme des Frühstückseis. Anschließend küsste sie ihn und streckte ihm wortlos ihre Tasse entgegen. Sie genoss die Sonne, die im Juni beinah eine Stunde lang durchs Fenster schien, bevor sie hinter der Dachecke verschwand. Tatsächlich war es in diesem Jahr ungewöhnlich heiß für Anfang Juni. Auf Morgensterns Behauptung, dass es sich bei dieser Hitzewelle um den Sommer handle, hatte Anna mit gekreuzten Zeigefingern und den Worten »Teufel, weiche von dannen!« reagiert.

Morgenstern lächelte bei dem Gedanken an Anna und bemerkte erst, als jemand sich laut räusperte, dass der Abstand zu seinem Vordermann unverhältnismäßig groß geworden war. Er reagierte nicht darauf, überflog stattdessen erneut die Überschriften einzelner Artikel und faltete anschließend fast pedantisch die Zeitung in ein übersichtlicheres Format. Dann schloss er langsam auf.

Ein paar Mütter schoben ihre Kinderwagen nebeneinander über den Bürgersteig. Offensichtlich waren sie auf dem Weg zum Spielplatz. Rücksicht auf andere Passanten nahmen sie nicht. Diese wurden genötigt, sich an die Hauswand zu drängen oder zwischen den parkenden Autos zu warten, bis der Weg wieder freigegeben war. Fast schien die Lage zu eskalieren, als den energisch voranschreitenden Müttern ein Fahrradfahrer entgegenkam und abrupt bremsen musste. Es gab keine Lücke, um sich durch die bedrohliche Formation des Kampfgeschwaders Helmholtzkiez zu zwängen. Wütende Worte wurden gewechselt. Lattemacchiato-Mamas gegen Fahrradrowdys – ein typisches Prenzelberger Geplänkel. Morgenstern beobachtete eine Weile amüsiert das Geschehen.

Kurz bevor er der Verkäuferin den Leinenbeutel über den Tresen reichen konnte, begann sein Handy zu klingeln. Verwundert starrte er auf den Namen, der auf dem Display erschien. Es musste wichtig sein, wenn ihn der Chef des Landeskriminalamts 1, Max Herting, an einem Sonntagmorgen anrief.

° ° °

Das Foto zeigte eine nachdenkliche Frau mittleren Alters. Es sah etwas mitgenommen aus. Die Ecken und Ränder waren angestoßen, die Farben verblasst. Der beim Falten entstandene Knick hatte das Bild in der Mitte geteilt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatte der Wind das schulterlange Haar der Frau zerzaust, und ihre rechte Hand versuchte hilflos, dem Chaos ein wenig Ordnung aufzuzwingen. Müde und vorwurfsvoll starrten ihre Augen in seine Richtung.

Die Frau stand vor einem geschlossenen Kiosk, der im Sommer exotische Eissorten anbot. Sie mochte am liebsten Cassis und Stracciatella. Nur diese Sorten hatte sie akzeptiert. Egal, wie lang die Schlange vor dem Kiosk gewesen war, für sie hatte er sich gern angestellt, obwohl er selbst kein Eis aß. Meist hatte sie auf einer Bank gewartet und auf das Meer hinausgeschaut. Sie hatte es genossen, wenn der Sommerwind ihr ins Gesicht blies. Das war in den guten Zeiten gewesen.

Nachdenklich betrachtete der Mann erneut das Foto. Es erschreckte ihn, dass die Erinnerungen zunehmend blasser wurden. Beinahe vier Jahre war es her, dass er die Aufnahme gemacht hatte. Auf der Rückseite stand mit Bleistift geschrieben: Ostseebad Sellin, Oktober 2010.

Ihre Enttäuschung in jenem Herbst war groß gewesen, als sie an dem Kiosk, dessen Fassade mit aufgemalten blauen Muscheln, lustigen Fischen und Seesternen geschmückt war, einen Zettel entdeckt hatte. Die Inhaber hatten sich bis zum Frühjahr von den Gästen verabschiedet. Aber das war nicht der eigentliche Grund ihrer Traurigkeit gewesen.

Obwohl sie energisch protestiert hatte, war es ihm gelungen, das Foto zu schießen. In jenem verfluchten Oktober.

Hier am Meer hatte er gehofft, die Ereignisse der vorangegangenen Wochen ein paar Tage vergessen zu können. Eine Illusion, wie sich später herausgestellt hatte. Sie waren stundenlang schweigend nebeneinander am Strand entlanggelaufen. Es war ihr letzter gemeinsamer Urlaub gewesen, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Mann nicht geahnt, dass es das letzte Foto war, das er von ihr machen würde.

»Dich traf keine Schuld! Wie konntest du das nur glauben?«, flüsterte er und strich mit dem Finger über ihr Gesicht. Vorsichtig faltete er das Foto seiner Frau zusammen. Dann schob er es sorgfältig zurück in die Brieftasche. Er starrte kurz auf den Wandkalender, um noch einmal das Datum zu prüfen. Nein, er irrte sich nicht. Heute war der letzte Tag, um ihm ein Zeichen zu geben. Schlurfend ging er in die Küche und goss sich einen Kaffee ein. Dann setzte er sich müde an den Küchentisch. Erneut durchblätterte er die aktuelle Ausgabe der Berliner Allgemeinen, ohne die erwartete Kontaktanzeige zu finden. Die Worte Liebe Susi, lass mich dein Strolch sein! fanden sich weder in der entsprechenden Rubrik noch an anderer Stelle.

Sie nahmen ihn nicht ernst. Sie hielten ihn für einen Spinner, der den Worten keine Taten folgen ließ. Aber jetzt war es mit seiner Geduld vorbei. Ihm lief die Zeit davon. Kaum zwei Monate blieben ihm noch.

Er stand auf und ging in den Keller. Nachdenklich zog er Gummihandschuhe an und betrachtete den Pappkarton auf dem Fußboden, der wohl zu klein bemessen war. So misslang auch der erste Versuch, den blauen Müllsack samt dem unförmigen Inhalt darin unterzubringen. Egal, wie er ihn drehte und wendete, etwas schaute immer heraus. Schließlich sah er ein, dass er entweder einen größeren Karton besorgen oder den Inhalt anpassen musste.

Wütend, dass nichts so klappte, wie er es sich gedacht hatte, tastete er mit seinen kräftigen Händen nach jenem sperrigen Ende in dem Müllsack, das nicht passen wollte. Es fühlte sich kalt an. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und verdrehte den Hinterlauf des Welpen, bis ein knackendes Geräusch verriet, dass das Gelenk gebrochen war.

° ° °

Linda Mörike saß seit 5 Uhr morgens am Ufer der Spree und angelte. Sie hatte die Abgeschiedenheit eines ehemaligen Firmengeländes im Ostteil Berlins gesucht, um in Ruhe nachdenken zu können. Angeln war das einzige Vergnügen, das sie sich zuweilen leistete, seit sie in die kleine Wohnung im Köpenicker Allende-Viertel gezogen war. Es handelte sich nicht gerade um jene Ecke, die sie sich von der Metropole erträumt hatte, aber die Miete war bezahlbar, und mit dem Fahrrad konnte sie in wenigen Minuten in die Natur radeln. Die Landschaft südöstlich Berlins erinnerte sie an ihre Heimat nahe der holländischen Grenze, das Schwalm-Nette-Gebiet. Die neue Umgebung mit den vielen Seen und stillen Wäldern hatte ihr ein vertrautes Gefühl vermittelt. Seit sie in Köpenick lebte, hatte sie allerdings die meiste Zeit mit Lehrbüchern verbracht.

Längst war die beißfreudige Zeit vorüber. Die Chance, einen Fisch zu fangen, schien angesichts der strahlenden Sonne ziemlich gering. Lediglich eine mittelgroße Plötze hatte sich von dem Gemisch aus Teig, ein paar Tropfen Rübensirup und zerriebenen Mehlwürmern zum Anbeißen verführen lassen. Eine scheue Katze, die in Lindas Nähe gelauert hatte, machte sich gierig über die unerwartete Mahlzeit her. Trotz freundlicher Worte blieb sie auf Abstand und ließ sich nicht streicheln. Annäherungsversuche beantwortete sie mit einem drohenden Fauchen.

Obwohl Linda das Anglerglück weiterhin verwehrt blieb, verharrte die Katze in ihrer Nähe. Die Angelpose stand regungslos an der Wasseroberfläche. Berliner Fische interessierten sich offenbar nicht für das Geheimrezept, auf das ihr Vater schwor und mit dem sie in den Flüsschen Schwalm und Nette so erfolgreich gewesen waren.

Die Katze behielt ihre Gönnerin im Auge. Geduldig wartete sie. Ihretwegen hatte Linda nicht einfach das Angelzeug zusammengepackt und war nach Hause gegangen.

Seit einem halben Jahr besaß sie den Abschluss als Kommissarin. Sie war nicht Jahrgangsbeste gewesen, aber eine derjenigen Studenten, denen man Biss nachsagte. Die Dozenten trauten ihr eine beeindruckende Karriere zu. Sie hatte in allen Fächern gute bis sehr gute und in ihrem Spezialgebiet – Fallanalytik – hervorragende Noten.

Die Personalabteilung in Berlin hatte ihr nur eine unbedeutende Stellung im Dezernat für Eigentumsdelikte angeboten. Sie hätte sich also mit Taschendiebstählen, Wohnungseinbrüchen und anderen ermüdenden Vergehen gelangweilt. Eine Stelle bei der Mordkommission war angeblich nicht frei gewesen. Sie solle es noch einmal versuchen, wenn sie mehr berufliche Erfahrung gesammelt habe. Aber das war keine Option für sie. Auf ihre Nachfrage hatte man ihr unverhohlen zu verstehen gegeben, dass die Arbeit im LKA Berlin allzu oft als Sprungbrett genutzt werde, um sich später einen lukrativen Posten in einem anderen Bundesland zu verschaffen.

Ihr Einspruch war von höchster Stelle mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass es ihr freigestellt sei, sich in einem anderen Kriminalamt zu bewerben. Tatsächlich hatte sich die Möglichkeit geboten, in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen, in einer Stadt namens Viersen, eine Stelle im Bereich Delikte am Menschen zu besetzen. Aber das war für sie ebenfalls nicht in Frage gekommen. Es musste Berlin sein. Sie hatte Gründe, unbedingt im LKA der Hauptstadt arbeiten zu wollen. Gründe, die nur sie kannte und über die sie mit keiner Menschenseele reden wollte.

Der Zufall hatte es gewollt, dass sie auf ihrer Abschlussfeier der Polizeihochschule vom designierten Polizeipräsidenten einen Gefallen hatte einfordern können. Ralf Kuhnert hatte eine seiner gefürchteten langatmigen Reden gehalten, ein paar Weisheiten über den Reformbedarf der Polizei abgesondert und schließlich pathetisch behauptet, Berlin freue sich auf die künftigen Kriminalbeamten.

Nachdem der offizielle Teil beendet gewesen war, hatte Linda ihren Vater anrufen wollen, um ihn darüber zu informieren, dass sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie wusste, dass es ihn nicht wirklich interessierte, zumal er aus seiner Enttäuschung, dass die Tochter nicht wie er Medizin studiert hatte, keinen Hehl machte. Noch immer hielt er ihre Entscheidung, Polizistin zu werden und eine Laufbahn im gehobenen polizeilichen Dienst einzuschlagen, für eine abstruse Kleinmädchenidee. Schließlich hatte sie später einmal seine Kinderarztpraxis übernehmen sollen.

Zuerst hatte Linda damit geliebäugelt, ihm einen kurzen Brief zu schreiben. Aber das wäre feige gewesen und dem Versuch gleichgekommen, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Sie hatte seine Stimme hören wollen. Vielleicht war es die Hoffnung gewesen, dass sie ein wenig Stolz enthielt, wenn er von ihrem Abschluss erfuhr.

Linda hatte allein sein wollen, um mit ihm zu sprechen. Niemand ihrer Kommilitonen oder Dozenten hatte sehen sollen, wie es um sie bestellt war.

Der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des künftigen Berliner Polizeipräsidenten hatte an jenem Abend ebenfalls das Bedürfnis nach einem ruhigen Plätzchen verspürt. Allerdings hatte Ralf Kuhnert nicht telefonieren wollen. Sein Interesse hatte eher einer nonverbalen Konversation mit der Pressesprecherin des LKA gegolten. Die in Auflösung befindliche Kleiderordnung und die stürmischen Küsse der beiden hatten sich beim besten Willen nicht als Diskussion über die Richtlinien der gemeinsamen Zusammenarbeit interpretieren lassen. Der Schreck war groß gewesen, als Linda in das Büro getreten war. Bei der Suche nach einem freien Raum war die Tür zu diesem Raum die einzige unverschlossene gewesen.

Eigentlich hatte sie sich aus der peinlichen Situation kommentarlos zurückziehen und das Ganze ignorieren wollen. Stattdessen hatte sie auf ihr Smartphone gestarrt, als gebe es eine App, die Nutzer unsichtbar machen konnte.

Kuhnert hatte seine animalischen Bemühungen unterbrochen und die angehende Kommissarin nachdrücklich gebeten zu warten. Offensichtlich hatte er ihren Blick auf das Smartphone falsch interpretiert und befürchtet, dass die stürmische Einarbeitung der Pressesprecherin gefilmt worden war.

Der Mann war verheiratet. Seine Frau kümmerte sich liebevoll um die drei Kinder und hielt ihm den Rücken frei. Linda hatte sich gefragt, was für den Kerl schwerer wog – die Angst, dass seine Frau von der ganzen Sache erfuhr, oder der drohende Verlust der vielversprechenden Position, die ihm Parteifreunde verschafft hatten. Sie hatte der zweiten Option den Vorzug gegeben.

Kuhnert war sich bewusst gewesen, dass ein Film, auf You Tube gestellt, sehr wahrscheinlich das Ende seines politischen Aufstiegs bedeutet hätte. Er war Pragmatiker und stand vor dem wichtigsten Schritt seiner Karriere.

Linda Mörike hatte ihn, einer Eingebung folgend, in dem Glauben gelassen, aufgenommen worden zu sein, zumal er für die Ablehnung ihrer Bewerbung bei der Mordkommission verantwortlich war.

Sie hatte amüsiert beobachtet, wie die Pressesprecherin des LKA bemüht gewesen war, Contenance zu wahren. Jede Hektik vermeidend, hatte Greta Engholm ihre Haare gerichtet, mit zittrigen Händen die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen und den Rock geradegestrichen. Dann war sie pikiert auf ihren beeindruckenden Highheels aus dem Büro stolziert.

»Bei einer Direktwahl könnten Sie sich meiner Stimme sicher sein«, hatte Linda ironisch bemerkt, als sie allein gewesen waren.

Kuhnert hatte ungehalten abgewinkt und ein paar Sekunden vergehen lassen, bevor er geantwortet hatte. Wahrscheinlich hatte er sicherstellen wollen, dass sein Hirn wieder vollständig durchblutet wurde.

»Ich erspare uns die ›Es ist nicht so wie Sie denken‹-Peinlichkeit.«

»Danke! Ich frage auch nicht, wie es Ihrer Frau und den lieben Kleinen geht.«

Seine Augen hatten gefährlich aufgeblitzt. »Machen wir es kurz! Bei der Verbesserung meiner Lebensqualität erwischt worden zu sein degradiert mich zum Rumpelstilzchen. Ich schulde Ihnen einen Gefallen. Sie sind eine aufstrebende, taffe junge Frau mit hervorragenden Leistungen, und Sie wollen, kaum dass Sie Ihre Ausbildung beendet haben, in der Berliner Mordkommission arbeiten. Habe ich das richtig in Erinnerung?«

»Exakt! Nur haben Sie mein Anliegen abgelehnt.«

Kuhnert hatte einen Augenblick gewartet und dann gönnerhaft geantwortet: »Ihr Wunsch sei Ihnen erfüllt!«

Ein Dank war Linda nicht über die Lippen gekommen.

Er hatte nach der Türklinke gegriffen und ihr in die Augen geschaut. Mit festem Blick, der hatte ahnen lassen, wie er üblicherweise mit Gegnern umzugehen pflegte, hatte er gefragt: »Habe ich Ihr Wort, dass von dem … Personalgespräch mit der Pressereferentin nichts an die Öffentlichkeit dringt?«

Drei Wochen nachdem Ralf Kuhnert seine Ernennungsurkunde zum kommissarisch eingesetzten Polizeipräsidenten in den Händen gehalten hatte, war der Versetzung Linda Mörikes entsprochen worden, gegen den Widerstand des Chefs der Abteilung LKA 1 Max Herting. Am vergangenen Freitagnachmittag hatte sich Linda Mörike in der Keithstraße 30, Berlin-Tiergarten, gemeldet. Noch immer klangen Hertings Worte in ihren Ohren: »Mein liebes Fräulein!«

Der Leiter des LKA 1 hatte tatsächlich »Fräulein« gesagt, als redete er mit einem der Hunde, die er in seiner Freizeit züchtete, bezeichnenderweise Riesenschnauzer.

»Wie auch immer Sie es angestellt haben, die Stelle bei der Mordkommission zu bekommen – beim ersten groben Fehler, der Ihnen unterläuft, versetze ich Sie in den Innendienst. Da können Sie dann Rotlichtvergehen bearbeiten, bis Sie grün sind.«

Als Rotlichtvergehen wurden die Delikte jener Autofahrer bezeichnet, denen es an Kreuzungen und Gehwegen an Geduld mangelte. Herting hatte jedes freundliche Wort vermieden und Linda Mörike nur den Namen ihres Mentors genannt: Hans Morgenstern. Er würde sich um sie kümmern.

Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Die Katze spitzte wachsam die Ohren. Als Linda endlich das Smartphone in einer der vielen Taschen ihrer Angeljacke gefunden hatte, war schon geraume Zeit vergangen.

»Hallo?«

»Mörike, sind Sie es?«

Sie wusste genau, wer an der anderen Seite der Leitung sprach. Dennoch konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. »Mit wem spreche ich?«

»Lassen Sie den Scheiß! In dreißig Minuten am Hundeauslaufgebiet im Mauerpark. Melden Sie sich bei Morgenstern! Es gibt Arbeit.«

Das Gespräch war beendet.

Vom Ufer der Spree in Köpenick bis zum Mauerpark in Prenzlauer Berg brauchte man selbst bei wenig Verkehr vierzig Minuten. Verzweifelt schaute Linda erst an sich herab und dann zu der Katze hinüber, die noch immer darauf zu warten schien, dass sich ein weiterer Fisch ihrer erbarmte.

»Das schaffe ich niemals!«

Kommissar Bruno Biondi stand, in eine hautenge Jeans und ein farblich zum Gürtel passendes T-Shirt gekleidet, in der Mitte des Hundeauslaufplatzes im Mauerpark. Wie immer war er perfekt gestylt, getreu dem Motto: Dem Mann deiner Träume kannst du an den unmöglichsten Orten begegnen. Bisher waren seine Bemühungen, einen Partner zu finden, allerdings erfolglos geblieben. Als er den Leiter der Mordkommission entdeckte, tippelte er vorsichtig über den verwilderten Platz. Ob er Hundehaufen oder anderen Bedrohungen auswich, konnte Kriminalhauptkommissar Morgenstern nicht erkennen. Allerdings musste er alle Register der Beherrschung ziehen, um nicht laut loszulachen. Beide Hände leicht gespreizt, auf gleicher Höhe mit den Schultern, als steige er in kaltes Wasser, bemühte sich Biondi, unbeschadet das Eingangstor des Hundeauslaufplatzes zu erreichen. Die Angst, eine der »Tretmienen« zu übersehen, wie er die Hundehaufen nannte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Die Gerichtsmedizin ist gerade fertig geworden. Der Tatort ist freigegeben«, bemerkte Biondi und drückte die Hand seines Chefs wie gewöhnlich einen Deut zu fest, als gelte es, den Nachweis der Männlichkeit zu erbringen. Dann ging er voraus, um Morgenstern den Fundort der Leiche zu zeigen.

»Wer hat Dienst?«

»Unsere allerliebste Matroschka!«

Morgenstern nickte zufrieden. Sonja Bubka verstand ihr Handwerk und erledigte die Arbeit leise und gewissenhaft. Sie würde sich bei ihm melden, sobald Ergebnisse vorlagen. Ihre russischen Wurzeln und die beeindruckende Körperfülle, bei übersichtlicher Größe, hatten ihr den Spitznamen Matroschka eingebracht.

Wie immer bei einem Todesfall hatten die Polizeibeamten das gesamte Terrain abgesperrt und mussten sich nun von wenig einsichtigen Bürgern wütende Bemerkungen gefallen lassen.

Der Junge lag quer über dem Pfad auf dem Rücken und schien in den blauen Himmel zu starren, als suchte er in den Wolkengebilden nach Phantasiegeschöpfen.

Ein paar Kärtchen mit Ziffern dokumentierten jene Stellen, an denen die Spurensicherung fündig geworden war. Routiniert machte ein Polizeifotograf Aufnahmen von einem demolierten Fahrrad. Bruno Biondi spulte nach einem Zeichen seines Chefs wie auf Knopfdruck eine erste Zusammenfassung herunter. Dabei wischte er über den Bildschirm eines iPad, um sicherzugehen, dass er auch keine Informationen vergaß.

»Der Junge wurde von einem Punk gefunden. Eigentlich mehr von dessen Hund. Der Typ lief seine übliche Runde, um Flaschen zu sammeln. Nach seiner Aussage hat er anschließend Freunde besuchen wollen, die sich hier regelmäßig zum Morgenbier treffen. Als er mal pissen musste – seine Worte –, habe der Hund plötzlich komisch gejault. Besorgt habe er nach Bastard, so heißt der Köter, geschaut und dabei die Leiche entdeckt. Fünf Minuten später waren die Kollegen vor Ort.«

Morgenstern drehte sich um und schätzte die Entfernung bis zum Eingangstor. Es konnten nicht mehr als zehn Meter sein. Außerdem wuchsen die Büsche hier nicht sehr hoch. »Woran ist der Junge gestorben?«

»Wahrscheinlich wurde er vergiftet. Genaueres wissen wir nach der Obduktion.«

Morgenstern schaute Biondi erstaunt an. »Deutet etwas auf Rauschgift hin?«

»Nach meinem Wissensstand wurde bisher nichts Derartiges gefunden«, verneinte Biondi.

Morgenstern rieb sich die Stirn und überlegte.

Noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Biondi fort: »Glasige Augen hatte der Hund nicht.«

»Der Hund von dem Punk?«

»Von Tierärzten weiß ich, dass die Jungs sich um ihre Tiere ausgesprochen liebevoll kümmern. Wir dürfen davon ausgehen, dass unser Punk ab und an sein Bier mit Bastard teilt. Aber dass beide gemeinsam auf eine psychedelische Reise gehen, können wir sicherlich ausschließen.«

Morgenstern verdrehte die Augen. »Ist der Mann noch da? Ich möchte gern mit ihm sprechen.«

»Er ist unten bei den Kollegen und klagt über seinen Umsatzausfall.«

»Wie bitte?«

»Es geht um die Flaschen, die ihm die anderen Sammler inzwischen weggeschnappt haben. Der Typ ist ein bisschen neben der Spur. Er will nicht gehen, bevor er Finderlohn bekommt.«

Dass jemand für den Fund einer Leiche Geld verlangte, ließ Morgenstern nur den Kopf schütteln. Er würde mit dem Kerl reden und ihm, wenn dabei etwas herauskam, ein Frühstück spendieren. »Ist schon ein Todeszeitpunkt bestimmt worden?«

Erneut wischte Biondi über das iPad, bis er die entsprechende Angabe fand. »Wahrscheinlich ist der Junge zwischen 12 und 19 Uhr am gestrigen Tage gestorben. Genau lässt sich das aufgrund der Hitze nur im Labor bestimmen.«

Morgenstern brauchte einige Sekunden, bis er begriff. »Im Mauerpark liegt fast einen Tag lang die Leiche eines Kindes – und niemand bemerkt etwas?«

»Die Eltern haben um 21 Uhr eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Der Junge heißt Sebastian Eichner. Alles wurde nach Vorschrift behandelt. Das übliche Prozedere.«

Das übliche Prozedere bestand darin, ein Formular auszufüllen und die Eltern zu beruhigen. Mehr als einhunderttausend Vermisstenanzeigen gab es pro Jahr. Die meisten Gemeldeten waren Ausreißer und tauchten wieder auf.

»Seid ihr sicher, dass es sich um den vermissten Jungen handelt?«

»Wir haben einen Brief in der Tasche gefunden. Der Absender ist eindeutig …« Biondi brach ab.

Morgenstern wusste, dass sein Assistent selbst von einer Familie träumte. Biondi ließ keinen Zweifel daran, später einmal ein Kind zu adoptieren. Morgenstern hatte das mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. Für ihn bestand die Familie aus Vater, Mutter und Kind. Dafür war er von Anna als hoffnungsloser Chauvi-Saurier bezeichnet worden.

Inzwischen transportierten Mitarbeiter der Gerichtsmedizin die Leiche ab. Auf dem Boden blieb nur die nachgezeichnete Kontur des toten Körpers übrig.

Morgenstern schaute sich um, wissend, dass es auf jedes Detail ankam. Auch wenn er es nicht hätte erklären können, sagte ihm sein Instinkt, dass etwas fehlte.

Weiter unten gab es Tumult. An der Polizeiabsperrung versuchte jemand, sich Zutritt zu verschaffen. Morgenstern, der nichts mehr am Tatort tun konnte, begab sich zu der jungen Frau, die ungewöhnlich gekleidet war und mit wütendem Gesicht einem Polizisten gestenreich etwas zu erklären versuchte. Biondi folgte ihm, dankbar, den Hundeplatz endlich verlassen zu können.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte Morgenstern und schaute die Frau von oben bis unten an. Sie trug Anglerklamotten. Ein ausgeblichenes T-Shirt mit einem lachenden Hecht konnte an Lächerlichkeit kaum überboten werden. Die Hose, die mit einer Vielzahl von Taschen ausgestattet war, erinnerte an eine Kampfmontur. Außerdem trug die Frau Schuhe, die mit Metallgewebe verstärkt waren.

»Mörike. Kommissarin Linda Mörike. Ich soll mich bei meinem Vorgesetzten melden, Herrn Morgenstern. Aber dieser sture Kerl lässt mich einfach nicht durch.«

Der angesprochene Polizist hielt erneut die Hand vor ihren Körper, ohne sie zu berühren. Zweifelsfrei stand er regelmäßig wütenden Bürgern gegenüber. Mit der Zeit hatte er wie viele seiner Kollegen eine Art Lotuseffekt entwickelt, der alle Fragen und Beschimpfungen abperlen ließ.

»Können Sie sich ausweisen?«, fragte Morgenstern.

Die Frau schaute ihn entgeistert an. »Der Leiter des LKA 1 hat mich herzitiert. Ich werde erwartet.«

»Können Sie sich auswei …«

Sie unterbrach ihn. Morgensterns rechte Augenbraue zuckte kurz. »Wenn Sie mich nicht augenblicklich mit dem Leiter der Mordkommission reden lassen, garantiere ich Ihnen Ärger!«

Kriminalrat Max Herting hatte Morgenstern telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, dass er ab Montag als Mentor eingesetzt sei. Morgensterns Protest hatte er mit dem Kommentar abgetan, er habe einen ganzen beschissenen Schrank voller Beschwerden. Die Anweisung komme vom Polizeipräsidenten persönlich. Eine Diskussion verbiete sich daher von selbst.

Hans Morgenstern betrachtete Linda Mörike und gab sich Mühe, ruhig zu antworten. »Für Sie Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Und ehrlich gesagt, wollte ich mich erst ab Montag mit Ihnen herumärgern.«

° ° °

Die Greenline 33 Hybrid glitt langsam an der Schilfkante entlang, bis sie zum Stehen kam. Mit einer schwungvollen Bewegung warf Alexander Tibur den Anker in die Havel und wartete, bis die Strömung die Yacht in die richtige Position gedrehte hatte. Gekonnt band er das Tau fest.

Ian McCormik beobachtete interessiert das Geschick und die Ruhe seines Gesprächspartners.

»Would you like a drink?«, erkundigte sich Alexander Tibur.

»Wasser ist besser«, antwortete der Gefragte in einem perfekten, aber deutlich mit amerikanischem Akzent gesprochenen Deutsch.

Alexander Tibur nickte einer hübschen jungen Frau zu, die sofort in der Kajüte verschwand, um das Verlangte zu holen.

»Lassen Sie uns deutsch miteinander reden«, sagte McCormik. »Meine Mutter war Deutsche. Es wird mir guttun, meine Kenntnisse aufzufrischen.«

Schon bei der Begrüßung am Flughafen Tegel hatte der Vorsitzende von LuckyAnimals begriffen, dass er das Dossier einer New Yorker Kanzlei weitgehend als Makulatur betrachten konnte. Zwar hatten deren Wirtschaftsprüfer die Bilanzen der Tibur-Werke wie gefordert analysiert, ihre Beurteilung des Juniorchefs war jedoch ein Witz. Danach hatte McCormik ein Jüngelchen erwartet, das schnell zu Geld kommen wollte und sich mit Glasperlen zufriedengab. Jetzt musste er improvisieren und konnte von Glück reden, wenn es ihm gelang, Alexander Tibur in den nächsten Tagen zur Unterschrift unter den Übernahmevertrag zu bewegen.

Für die ökonomischen Parameter der Tibur-Werke hatte McCormik nur ein müdes Lächeln übriggehabt. Das waren sympathische Zahlen für ein mittelständisches Unternehmen. Dessen ungeachtet ging es um viel mehr. Der Hauptsitz der Tibur-Werke befand sich in Berlin. Produziert wurde an drei Standorten in Deutschland: Oldenburg, Schwarzenberg und Erlangen. In jeder Tierhandlung wurden Produkte der Firma Tibur als hochwertiges Premiumfutter angeboten. Seit der Gründung im Jahr 1955 hatte der Firmengründer Zacharias Tibur die Geschicke des Futtermittelproduzenten gelenkt. Trotz seines hohen Alters schien sich daran in absehbarer Zeit nichts zu ändern. Alle Offerten von LuckyAnimal, sich finanziell an seiner Firma zu beteiligen, waren am Eigensinn des Alten und seinem Ressentiment gegen Konzerne gescheitert.

Alexander Tibur, sein Enkel und der zweite Geschäftsführer des Unternehmens, stand einem Engagement aufgeschlossen gegenüber. Allerdings war der Verkauf der Tibur-Werke erst nach dem Ausscheiden des alten Sturkopfes möglich.

Schon als ihm Tibur junior am Flughafen zur Begrüßung wie selbstverständlich eine Packung Schimmelpenninck überreicht hatte, war McCormik klargeworden, dass der junge Mann besser vorbereitet war als er. Es waren genau jene Zigarillos, die er gern nach einer Verhandlung auf seinem Bootssteg nahe der Stadt Hampton in Virginia genoss, während er die Segler auf Chesapeake Bay beobachtete.

»Ich hatte das Glück, Paul Auster an der Universität in Alabama zu hören«, bemerkte Alexander Tibur. Er lächelte, während er an den Vortrag dachte. »Auster referierte über Mr. Bones, den alles verstehenden Hund. Und er sprach natürlich vom Paradies für Vierbeiner, jenem wunderbaren Ort mit den leckeren Würsten und dem Überangebot an läufigen Hündinnen. Timbuktu. Sie kennen den Roman?«

McCormik nickte. Paul Auster war sein Lieblingsschriftsteller und hatte auch das Drehbuch zu Smoke geschrieben. Er liebte diesen Film. Die Geschichte um einen kleinen Raucherladen hatte ihn eines gelehrt: Zuzuhören und sich für andere zu interessieren öffnete Tür und Tor.

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich bin beeindruckt«, bemerkte McCormik und öffnete die Schachtel mit den Zigarillos. Freundlich hielt er sie dem Gastgeber hin. »Ich weiß nicht mal, ob Sie überhaupt rauchen.«

Alexander Tibur verneinte. Die junge Frau stellte ein Glas Eiswasser auf den Tisch, lächelte strahlend und zeigte mit einem Finger zum Sonnendeck. »Wenn Sie etwas benötigen oder ich etwas für Sie tun kann …«, gekonnt legte sie eine Kunstpause ein, » … lassen Sie es mich wissen!«

McCormik blickte ihr taxierend hinterher, besaß aber den Anstand, nicht hinzusehen, als sie ihr Bikinioberteil auszog. Leicht fiel ihm das nicht. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Für Frauen mit überzeugenden Proportionen, die der Natur nicht künstlich nachhelfen mussten, hatte er ein Faible. Genüsslich zog er an dem Zigarillo und beobachtete die kleinen Segelboote auf dem Wasser. Netter Versuch!, dachte er dabei und registrierte mit Genugtuung, dass Tibur junior auch Fehler machte. Der Kerl glaubte ernsthaft, mit einem schönen Extra den Preis steigern zu können. Aber hier ging es nicht um den Kauf eines Gebrauchtwagens. Sobald die Übernahme der Tibur-Werke notariell beglaubigt war, würde er sich die verchromte Stoßstange gratis holen. McCormik schmunzelte bei dem Vergleich. Er fixierte sein Gegenüber und zog noch einmal an dem Zigarillo. »Alles hängt davon ab, ob der alte Mann Ihnen seinen Anteil überschreibt. Bisher scheint er sich ja noch zu sträuben. Gibt es einen neuen Stand?«, fragte McCormik und blies den Rauch in die Luft.

»Was das Unternehmen angeht, ist er äußerst misstrauisch. Ich muss den richtigen Moment abwarten, um ihm die Pläne vorzulegen, und bitte Sie daher noch um etwas Geduld.«

Der Amerikaner verdrehte die Augen. »Kann er nicht einfach abtreten? Ihr Großvater hat ein biblisches Alter!«

»Es ist sein Werk. Er hat die Firma aus dem Nichts aufgebaut und behandelt sie wie sein Kind.«

»Zeit ist Geld! Wenn es um finanzielles Engagement geht, sind Kapitalanleger hochgradig gläubig. Nächstenliebe ist garantiert keine Option. Geduld auch nicht. Ich muss dem Vorstand nach meiner Rückkehr Rede und Antwort stehen. Und nur zur Erinnerung: LuckyAnimals hat bereits in Sie investiert!«

Der Mann, der eben noch einen perfekten Seemannsknoten zu binden verstanden hatte, wirkte plötzlich nervös. Tatsächlich hatte er einen Vorschuss erhalten. McCormik entging weder seine Anspannung noch der unruhige Blick, den er der Frau auf dem Sonnendeck zuwarf.

»Ohne die Zusage meines Großvaters sind mir die Hände gebunden. Das war von Anfang an klar. Ich habe das Ihren Anwälten auch gesagt. Entweder er überträgt mir die Firma, oder wir müssen warten, bis er das Zeitliche segnet.«

McCormik kannte die Problematik, aber die Zeit lief ihnen davon. LuckyAnimals hatte in den vergangenen Jahren eine Menge Geld in den europäischen Markt und in Imagekampagnen gesteckt – mit wenig Erfolg. Streng genommen war die Situation katastrophal. Die Werbeplakate für ein Spezialfutter, die mit Geruchsstoffen imprägniert gewesen waren, hatten ihnen zwar Aufmerksamkeit eingebracht, allerdings nicht mit dem gewünschten Ergebnis. Hunde hatte der Duft wie erwartet geradezu magisch angezogen, die mediale Reaktion darauf war jedoch einer Katastrophe gleichgekommen. Die Presse hatte sich über die Manipulation der hechelnden Gassi-Gänger köstlich amüsiert und die LuckyAnimals-Läden als Schnüffelshops bezeichnet.

Nicht erst seit diesem Fehlschlag war in der Vorstandsetage in Virginia klar, dass sie einen Katalysator brauchten, wenn sie im lukrativen Old-Europe-Markt Erfolg haben wollten. Die Investoren an der Börse wurden langsam unruhig. Nach dem Fiasko mit den präparierten Plakaten hatte ein Gerücht auf dem Finanzparkett die Runde gemacht: Der Konzern sei angeschlagen. Erste Experten sprachen inzwischen von einer Gewinnwarnung. LuckyAnimals sei ernüchternd phantasielos. Noch ließen sich die Anleger mit ein paar Bilanzierungstricks beruhigen. Aber wenn keine Aussicht bestand, erfolgreich auf dem europäischen Markt zu wachsen, würde die Börse sie gnadenlos abstrafen.

Der Name einer alteingesessenen, renommierten deutschen Firma würde ihnen ermöglichen, durch die Hintertür Einlass zu bekommen. LuckyAnimals brauchte Tibur. McCormik wusste das.

»Es ist schön hier«, sagte er und ergänzte, nachdem er den letzten Zug seiner Schimmelpenninck genossen hatte: »In vierzehn Tagen eröffne ich die Europazentrale in München. Bis dahin gibt es einiges zu tun. Es wäre wirklich schade, wenn wir das hier nicht wiederholen könnten.«

° ° °

»In zehn Minuten im Beratungsraum«, informierte Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern seinen Kollegen Bruno Biondi, der auf dem Weg zur Küche war, um sich einen Tee zu kochen. »Sag Paul Brenecke Bescheid!«

Im Landeskriminalamt waren um diese Zeit die meisten Bürotüren abgeschlossen. Nur wenige Mitarbeiter hatten am Sonntag Dienst. Morgenstern hielt es zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen für ausreichend, mit einigen bewährten Kollegen die Lage zu sondieren.

Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Jetzt war es 17 Uhr. Er spürte einen unangenehmen Druck im Magen. Auch wenn noch einiges vorzubereiten war, musste er vor der Besprechung unbedingt eine Kleinigkeit zu sich nehmen.

Während er energisch von seiner Frühstücksschrippe abbiss, die Anna ihm kommentarlos gemacht hatte, suchte er ein paar Unterlagen zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Freundin statt Butter einen vegetarischen Aufstrich verwendet hatte. Leberwurst auf Grünkernpaste war ihre kleine Rache für das verpatzte Frühstück. Dennoch ließ Morgenstern es sich nun schmecken.

Kriminalrat Max Herting übertrug seinem besten Mann mit Vorliebe Tötungsdelikte, auf die sich die Presse gierig stürzte. Der Leiter des LKA 1 setzte den Chef der Mordkommission für den aktuellen Fall bewusst ein, um sich von Kritikern nicht unterstellen lassen zu müssen, er nehme den Tod des Jungen nicht ernst. Morgenstern hatte einen tadellosen Ruf und verfügte über umfangreiche kriminalistische Erfahrung.

Tatsächlich standen die sieben Berliner Mordkommissionen unter massivem Druck. Ralf Kuhnert hatte den Posten des Polizeipräsidenten übertragen bekommen, schwammig über Synergieeffekte philosophiert und pressewirksam verkündet, dass man ihn an der Verbrechensstatistik messen solle.

Seitdem predigte Herting bei jeder Dienstberatung, dass bei mangelhafter Erfolgsquote die Auflösung ihrer Abteilung drohe. Seine Bemühungen, sich gegen derartige Bestrebungen zu wehren, bestanden ausschließlich darin, die Wünsche aus dem Büro des Polizeipräsidenten kommentarlos umzusetzen. Nur so war zu erklären, warum eine Absolventin ohne Erfahrung der Mordkommission zugeteilt worden war.

Paul Brenecke und Bruno Biondi, die Morgenstern im Fall Eichner zur Seite standen, waren erfahrene Kollegen, mit denen er gern zusammenarbeitete. Beide Kommissare pflegten einen hoffnungslosen Widerstreit, bei dem es im Kern um die Frage ging, was mehr Effizienz besaß: Bleistift oder Tastatur. Brenecke, 55 Jahre alt, ehemaliger Kunststudent und bekennender Bleistiftfetischist, der nur angesichts eines chronisch leeren Kühlschranks zur Polizei gegangen war, fühlte sich durch Biondis omnipotentes Computerwissen regelrecht aufs Altenteil abgeschoben. Tatsächlich hätte Biondi mit seinen 33 Jahren Breneckes Sohn sein können. Ein Sohn, der den Vater ständig provozierte und vieles in Frage stellte, was dessen Generation für wichtig erachtete. Morgenstern hielt sich aus den Streitigkeiten heraus, brachte die Rivalität der beiden Kollegen doch im besten Fall die Ermittlungen voran.

Nachdem alle im Besprechungsraum saßen, stellte der Chef der Mordkommission Linda Mörike vor. Erstaunt und skeptisch wurde sie beäugt.

»Kommissarin Linda Mörike ist uns als Unterstützung zugeteilt worden. Sie wird vollständig und ohne Abstriche in die Ermittlungen eingebunden«, informierte Morgenstern.

Konzentriert sortierte er seine Notizen und schien sich zu sammeln. Tatsächlich hoffte er, dass niemand sein Unverständnis zu dem Sachverhalt äußerte. Eine Diskussion über die Personalpolitik der Berliner Polizei konnte er momentan am wenigsten gebrauchen. Es blieb ruhig.

Er legte ein paar Kopien auf den Tisch und wechselte mit Biondi einen kurzen Blick. Ohne ein Wort zu sagen, nahm dieser die Blätter und reichte sie weiter.

»Wir haben ein totes Kind. Morgen wird die Presse erbarmungslos jeden unserer Schritte kommentieren.« Erneut machte er eine kleine Pause. »Das übliche Programm. Gibt es Fingerabdrücke? Wenn ja, sind sie registriert? Fußabdrücke? Größe, Typ, Besonderheiten. Ihr kennt das. Die Jungs von der Spurensicherung sollen so schnell wie möglich liefern.«

An einer Berlin-Karte, die an der Wand hing, deutete er mit dem Kugelschreiber auf vier Punkte. »Ihr prüft bitte alle vorhandenen Außenkameras zwischen U-Bahnhof Eberswalder Straße, U-Bahnhof Bernauer Straße, Gleimtunnel und dem Kino Colosseum! Einige Läden haben garantiert die Fußgängerzone im Bild. Versucht auch, Zeugen ausfindig zu machen! Oberhalb des Mauerparks gibt es eine Graffitiwand. Vielleicht ist einem Sprayer etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«

Brenecke und Biondi kannten ihre Aufgaben.

»Wenn die Obduktion abgeschlossen ist, wissen wir genau, um welches Gift es sich handelt. Sobald Moabit Ergebnisse hat, auf meinen Tisch damit!«

Das Institut für Rechtsmedizin der Charité befand sich in Moabit. Dorthin war die Leiche des Jungen gebracht worden. Mit Resultaten war jedoch frühestens am Montagmorgen zu rechnen.

Brenecke machte sich mit einem Bleistift eine Notiz in seine Kladde. Dann ließ er den Stift wieder rotieren. »Eine Frage: Wie gehen wir mit der Presse um?«

»Wir geben keine detaillierten Angaben heraus. Ein Kind ist tot aufgefunden worden, die Mordkommission ermittelt in alle Richtungen. Auf Nachfragen die übliche Formulierung: Aus ermittlungstechnischen Gründen und so weiter.«

Auch dazu kritzelte Brenecke etwas in sein Heft.

»Weitere Fragen?«

Biondi schaute kurz in die Runde. »Wer kümmert sich um die Schule und den Freundeskreis?«

»Klärt das untereinander!« Morgenstern drehte vorsichtshalber seinen Zettel um, obwohl er wusste, dass auf der Rückseite nichts notiert stand. Dennoch blieb die Befürchtung, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Den Besuch bei den Eltern übernehme ich.«

Die Adresse wurde über den Tisch geschoben. Morgenstern überflog die Zeilen. Die Gegend war ihm bekannt. Berliner nannten sie das Schwabenviertel. Von hier kamen die kleinlichsten Anzeigen wegen Ruhestörung, Falschparkens oder ungebührlichen Verhaltens. So richtig hatte die Seele wahrer Prenzelberger aber erst gekocht, als angebliche schwäbische Patrioten mit einer Spätzle-Attacke auf das Käthe-Kollwitz-Denkmal und einer symbolischen Maultaschenmauer unter dem Motto »Free Schabylon« ihren Anspruch auf einen Schwabenbezirk angemeldet hatten. Free Schwabylon! Allerdings hielt Morgenstern es für denkbar, dass die Idee an irgendeinem Stammtisch entstanden war und die Initiatoren sich köstlich über den medialen Aufruhr amüsierten.

»Sie kommen mit!«

Linda Mörike brauchte einen Augenblick, um Morgensterns Anweisung zu verstehen.

Bevor sie sich fragen konnte, ob der Leiter der Mordkommission sie nur mitnahm, damit sie scheiterte, erklärte er: »Ich brauche eine Frau dabei.«

° ° °

Sigrid Lucatelo kochte vor Wut. Nicht grundlos finanzierte die freie Journalistin und Fotografin die Bierkasse ihres Lieblingspunks. Ihr Deal war eindeutig: Gab es etwas Besonderes, dann hatte er gefälligst zuerst sie zu informieren.

»Du findest eine Leiche im Mauerpark«, wiederholte sie fassungslos und gestikulierte wild mit den Händen, »und kommst in deiner bekifften Birne nicht auf die Idee, mich anzurufen! Wozu habe ich dir ein Handy gegeben?«

»Ick dachte, ick muss erst meene Bürjerpflicht erfüllen«, verteidigte sich der Punk.

»Hast du ’ne Schramme, du Arsch?«

Der Punk zog unwillkürlich den Kopf ein. Obwohl Sigrid Lucatelo kleiner war als er, fürchtete er ihre Wut. Auch Bastard hielt es für besser, den Schwanz einzuziehen.

»Hast du eine Ahnung, was Fotoagenturen für exklusive Bilder zahlen?« Lucatelo raufte sich theatralisch die pinkfarbenen Haare, in die sich ein Klecks Violett verirrt hatte. Wütend trat sie gegen den Fressnapf, aus dem Bastard gierig die Reste des gestrigen Abendmahls gefressen hatte. Der Edelstahlbehälter schepperte über die Fliesen und knallte gegen den Türpfosten.

Bastard zuckt ängstlich zusammen und jaulte vorbeugend.

»Bleib ma janz ruhig! Ick hab wat viel Besseres als Fotos.« Der Punk kramte in seinem Rucksack herum und holte eine weiße Plastiktüte heraus, die mit Klebeband verschlossen war. Etwas Goldenes schimmerte durch die Folie. Genau ließ sich nicht erkennen, um was es sich handelte. »Setz dir mal lieber hin! Dit globste sowieso nich. Ick hab die Tatwaffe. Ick weeß, wie der Junge jetötet wurde. Und ick habe och ’ne Theorie. Die Bullen sind eh zu blöd dafür.«

Lucatelo war so erstaunt, dass sie erst einmal schwieg. Was immer der Kerl in der Tüte hatte, ihr Interesse war geweckt.

Die Journalistin zeigte auf den freien Küchenstuhl, nachdem sie sich selbst auf den anderen gesetzt hatte.

»Wat issen dir dit wert?«, fragte der Punk, nun nicht mehr eingeschüchtert, und schaute Lucatelo dabei mit gierigen Augen an.

»Du bist dir schon im Klaren darüber, dass das Entwenden von Beweismaterial strafrechtliche Relevanz hat?«, antwortete die mit Nachdruck und nahm sich eine Zigarette aus ihrer Packung.

»Rele … watt? Dit hab ick jefunden. Finden is doch nich strafrechtlich.«

Neugierig betrachtete Sigrid Lucatelo die Tüte, in der sich ein Gegenstand in der Größe einer Bonbontüte befand. »Okay! Ich gebe dir fünfzig Euro. Und wenn dein Fund wirklich was wert ist, gibt es noch Nachschlag.«

»Unterm Hunni mach ick’s nich. Verstehste?«

Lucatelo lehnte sich zurück und beobachtete den Punk. Bisher hatte er sie nie enttäuscht, und alle Informationen, die er geliefert hatte, waren stets wahr gewesen. Einmal hatte er ihr sogar verraten, wann die nächsten Luxuswagen abgefackelt werden würden. Der Brandstifter stand auf BMWs, 7er Reihe, bevorzugter Jahrgang 2013. »Bei denen züngeln die Flammen so schön in Blautönen«, hatte er geschwärmt, als sie ihn nach dem Grund für seine Vorliebe gefragt hatte. Die Fotos, die sie damals hatte schießen können, waren spektakulär gewesen, und die Bezahlung der Zeitungen hatte ihrem Konto ausgesprochen gutgetan. Aber noch wichtiger war, dass ihr die Szene seitdem einen Riecher nachsagte. Die Fotos hatten ihr sogar die Türen zu jenen Zeitungsredaktionen geöffnet, die bis dahin auf ihre Einsendungen nicht einmal geantwortet hatten.

»Einverstanden! Du bekommst das Geld. Zuerst will ich aber hören, was du liefern kannst.«

Der Punk rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her, dann beugte er sich wichtig über den Tisch. Er flüsterte, als gebe es noch andere Ohren, die neugierig lauschten: »Der Junge is verjiftet worden. Ick weeß nich, warum, aber der hat garantiert von dit Hundefutter jenascht. Hab ick ooch schon mal versucht, is aber nich so meen Ding.«

Lucatelo rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Augen. Mit den Fingern der linken Hand klopfte sie auf dem Küchentisch einen bedrohlichen Rhythmus. »Das ist alles?«

»Dit Hundefutter is verjiftet! Kannste globen! Meene Theorie is: So een Scheißhundehasser hat det Zeug verteilt, und der Kleene hat einfach nur Hunger jehabt. Na, wat sachste? Is dit een Hunni wert oder nich?«

Augenblicklich arbeitete es im Kopf der Journalistin. Der Tipp war mehr wert als die einhundert Euro, aber das konnte ihr Informant nicht wissen. Es kam oft vor, dass genervte Bürger sich über Hunde und deren Hinterlassenschaften aufregten. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der so mancher Besitzer seinen Liebling frei durch den Park spazieren ließ, stieß nicht bei allen auf Gegenliebe. Selten ging aber jemand so weit, Giftköder auszulegen, um seiner Abneigung gegen die vierbeinigen Plagen Ausdruck zu verleihen. Lucatelo wusste, dass als Köder gerne mit Rattengift versetzte Fleischklößchen benutzt wurden. Fraßen die Tiere davon, starben sie elend. Ihr waren auch Fälle bekannt, in denen Köder Stecknadeln oder Teile von Rasierklingen enthalten hatten. Für die Boulevardpresse war das stets ein dankbares Thema. Natürlich endete jeder der vor Mitleid triefenden Artikel immer mit der gleichen Spekulation: Was wäre, wenn ein Kleinkind einen präparierten Köder finden und verspeisen würde? Bei der Vorstellung, wie Tausende von gepamperten Babys durch die Berliner Parks robbten, auf der Suche nach der manipulierten Bulette, hatte Sigrid laut lachen müssen. Angst war immer ein guter Berater, wenn man die Meinungsbildung beeinflussen wollte.

Die Möglichkeit, dass ein Kind Opfer eines Hundehassers geworden war, hatte alles, was eine gute Story brauchte. Prenzelberger Kind durch Hundehasser ermordet, formulierte Sigrid Lucatelo in ihrem Kopf eine erste Schlagzeile. In Gedanken sah sie die vereinte Front der Hundeliebhaber und Kollwitzplatz-Mütter die Revolution ausrufen.

»Ein bisschen dünn, deine Geschichte«, presste sie schließlich durch die Lippen und blies den Rauch über den Tisch. Gekonnt legte sie jenes bedauerliche Lächeln auf, das jeden weiteren Verhandlungsversuch im Keim erstickte. »Hat die Polizei dich vernommen?«

»Keen Wort hab ick jesagt. Jedenfalls nich darüber. Der von den Bullen war een komischer Vogel. Wollt mir glatt zum Frühstück einladen, wenn ick wat Zweckdienliches beitragen könnte.«

»Hatte der Mann auch einen Namen?«

»Morjenstern oder so. Is so een Oberkriminaler.«

Der Punk merkte nicht, wie Sigrid Lucatelo sich versteifte. Ihre Augen wurden schmal. Die Wangenknochen traten hervor, und sie atmete langsam aus. Der Name Morgenstern war ihr ein Begriff.

»Wat is’n nu mit Jeld? Ick hab och noch een Joker. Du wirst ma lieben.« Der Punk fingerte in seiner Hosentasche herum und zog einen Zettel heraus. Er legte ihn stolz auf den Tisch. Auf dem Stück Papier stand die Adresse der Familie Eichner. Er hatte den Absender von jenem Brief abgeschrieben, der neben dem Jungen gelegen hatte.

»Hundert! Weil du mein Lieblingspunk bist. Aber die nächste Leiche meldest du zuerst mir! Danach kannst du von mir aus deinen Freund und Helfer anrufen.«

° ° °

Die Frau, die die Tür öffnete, mochte Mitte dreißig sein. Die Sorgen der letzten Nacht hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.

Die beiden Kriminalbeamten zeigten schweigend ihren Ausweis. »Frau Eichner? Dürfen wir …«

Hinter ihr trat ihr Mann in die Tür. Auch ihm stand die Sorge um den Sohn ins Gesicht geschrieben. Zitternd legte er die Hände auf ihre Schultern. Die Frau nickte den beiden Beamten statt einer Antwort zu. Hans Morgenstern und Linda Mörike gingen langsam den Flur entlang. Sie wurden in die Küche geführt, einen kleinen, gemütlichen Raum, an dessen Wänden Urlaubsfotos und Zeichnungen hingen. Am Türrahmen konnte Morgenstern Striche erkennen, an denen jeweils ein Datum stand. Danach war Sebastian das letzte Mal vor drei Tagen gemessen worden. Morgenstern hätte gern ein Glas Wasser getrunken, aber das war jetzt unwichtig.

»Ich denke, es ist besser, wenn wir uns setzen«, begann er vorsichtig. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass auch jahrelange Erfahrung in einer solchen Situation nicht helfen konnte.

»Haben Sie ihn gefunden?« Die Stimme der Frau sollte fest klingen, was aber nicht gelang.

»Setzen Sie sich bitte!«

Die Frau überhörte seine Aufforderung. »Was ist mit Sebastian?« Ihre Hände umklammerten die Tischplatte. Sie schwankte.

Linda Mörike sah es und trat sicherheitshalber einen Schritt vor. Morgenstern wünschte sich weit weg. Er zögerte, als könnte sich doch noch alles als Irrtum erweisen.

Sebastians Mutter starrte ihn an. Sie wusste es. Ohne dass ein Wort über seine Lippen gekommen war. Nur glauben konnte sie es nicht. Wollte sie es nicht. Jede Faser ihres Körpers weigerte sich, das Unvorstellbare zu akzeptieren.

Morgenstern musste sie über den Tod ihres Kindes informieren. Ein offizieller Vorgang. Sein Job. »Es tut mir leid. Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung überbringen, dass Ihr Sohn …«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Sie griff in die Luft, als versuchte sie sich festzuhalten. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie schaute ihn an, verstand nicht, wollte nicht verstehen. Ihre Augen starben, und Morgenstern hasste sich plötzlich, hasste seinen Beruf – und beendete dennoch den Satz. »Sebastian ist … er ist … tot.«

Er bemerkte zu spät, dass ihre Beine nachgaben. Linda Mörike griff nach der Frau und verhinderte, dass sie zu Boden ging. Erst jetzt reagierte ihr Mann, nahm sie in den Arm, hilflos, auch er kaum verstehend, was geschehen war. Wut und Verzweiflung ließen den Körper seiner Frau zucken. Mit geballten Fäusten schlug sie um sich, kämpfte gegen einen imaginären Feind, und als dieser nicht zu stellen war, schlug sie auf ihren Mann ein. Sie hämmerte gegen seine Brust. Er hielt sie fest, wartete, bis ihre Kraft nur noch für Tränen reichte. Vorsichtig ließ er sie auf einen Stuhl gleiten und setzte sich daneben.

Morgenstern nickte Linda Mörike dankbar zu. Er ahnte, wie es in der jungen Kollegin aussah. »Es tut uns unendlich leid …«

Die Frau reagierte nicht.

»Was ist passiert?«, fragte Sebastians Vater mechanisch. Er hielt sich tapfer, versuchte, seine Emotionen zu beherrschen und der eigenen Verzweiflung keinen Raum zu geben.

Morgenstern schüttelte den Kopf und antwortete ehrlich: »Wir wissen es nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sebastian durch Gift zu Tode kam. Eine Obduktion wird die offenen Fragen beantworten.«

»Gift?« Der Mann schaute die beiden Beamten ratlos an.

»Hat Ihr Sohn gern experimentiert? Hatte er einen Chemiebaukasten oder Ähnliches?«

Sebastians Vater schüttelte den Kopf.

»Freunde von ihm vielleicht?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Mühsam erhob sich Morgenstern. »Können wir uns Sebastians Zimmer ansehen?«

Der Raum war erstaunlich groß. An der linken Wand befand sich ein Hochbett. Darunter eine Arbeitsplatte, auf der Schulhefte und Bücher lagen. Alles war sorgsam aufgeräumt. Rechts neben der Tür stand ein antiker Wäscheschrank. Daneben eine alte Truhe, gefüllt mit Spielzeug. Den Fußboden bedeckte ein Teppich aus einem Wirrwarr gewebter Straßen und Plätze. Auf der anderen Seite drängten sich flache Regale mit Büchern, Spielen und Sportgeräten aneinander. An der Wand klebten einige Bilder, darunter eines von der Tour de France. Ein Mann stand in den Pedalen und kämpfte sich einen Berg hoch. An den Straßenrändern jubelten begeisterte Zuschauer. Im Hintergrund erhob sich der Gebirgszug der Pyrenäen. Es war das typische Zimmer eines Elfjährigen.

Auf der Rückfahrt schwieg Morgenstern. Mit starrem Blick konzentrierte er sich auf den Straßenverkehr. Erst als sie auf dem Hof des Landeskriminalamts anhielten und er den Motor abstellte, bemerkte er: »Sie haben gut reagiert. Es war mein Fehler. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Sebastians Mutter zusammenbricht.« Er machte eine Pause und musterte die junge Polizistin genau, bevor er fragte: »Kommen Sie damit klar?«

Statt zu antworten, nickte sie kurz – und zu heftig.

Morgenstern ließ ihr ein paar Sekunden Zeit. Als ihr Schweigen fast unerträglich wurde, ergänzte er: »Normalerweise werden neue Kollegen sukzessive eingearbeitet. Sie wollen sofort das ganze Programm. Ihr Wunsch wurde mir mitgeteilt.«

Er legte erneut eine kurze Pause ein, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Wie auch immer Sie es angestellt haben, den direkten Weg zur Mordkommission zu nehmen – passen Sie auf sich auf! Die Fäden, die einen halten, sind manchmal dünner, als man denkt. Sie sind sehr jung. Bürden Sie sich nicht zu viel auf!«

»Sie klingen wie mein Vater«, antwortete Linda Mörike schließlich und löste den Gurt.

Morgenstern zog den Autoschlüssel, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Ohne sie anzuschauen, ergänzte er: »Da Naivität nicht Ihr Problem ist und Selbstüberschätzung offensichtlich auch nicht in Betracht kommt, frage ich mich, warum Sie sofort in die Mordkommission versetzt werden wollten.«

Linda Mörike schwieg wieder. Sie spürte, dass ihr Chef jede ihrer Regungen genau studierte. Was hätte sie antworten sollen? Dass sie den Berliner Polizeipräsidenten mit heruntergelassenen Hosen ertappt und die Gelegenheit genutzt hatte, ihr Anliegen durchzusetzen? Dass persönliche Gründe sie dazu antrieben, im LKA Berlin zu arbeiten? Niemand wusste, was sie hier tatsächlich wollte. Der einzige Mensch, der sie hätte verstehen können, war vor Jahren gestorben. Ihre Mutter. Da war sie kaum sechzehn Jahre alt gewesen. Die Mutter hatte ihr Geheimnis nicht mit in den Tod genommen. »Ich liebe ihn, aber er ist nicht dein Vater.« Aus den letzten blassen Sätzen hatte Linda erfahren, dass ihr richtiger Vater Kommissar einer Mordkommission war, in Berlin. Aber sie hatte keinen Namen, keine Beschreibung, kein Detail, das ihr weiterhelfen konnte.

Linda Mörike öffnete die Wagentür und stieg aus. Morgenstern würde sich mit den Informationen zufriedengeben müssen, die in ihrer Akte standen.

Einen Moment lang starrte sie auf die Fassade des Gebäudes. Hinter einem der Fenster saß ein Mann, der von ihrer Existenz nichts wusste. Sie würde ihn ausfindig machen. Linda hatte sich nach dem Tod der Mutter geschworen, ihren Erzeuger zu finden.

Die erste Meldung in den Nachrichten sprach vorsichtig von einem toten Kind, das im Ortsteil Prenzlauer Berg im Hundeauslaufgebiet des Mauerparks gefunden worden sei. Der Nachrichtensprecher las den Text sachlich vor: »Die Umstände, die zum Tod des Kindes geführt haben, sind derzeit noch unklar. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«

Gegen 20 Uhr wurde in der Online-Ausgabe der Berliner Allgemeinen eine kurze Nachricht veröffentlicht:

Bei der im Mauerpark gefundenen Kinderleiche handelt es sich wahrscheinlich um den vermissten elfjährigen Sebastian E. aus Prenzlauer Berg. Alles deutet darauf hin, dass der Junge vergiftet wurde. Weitere Informationen entnehmen Sie der morgigen Printausgabe.

Gegen 22 Uhr beendete Morgenstern seinen Bericht. Wie immer zu Beginn neuer Ermittlungen hatte er ausführlich alle in die Wege geleiteten Maßnahmen dokumentiert. Der Ordner war angelegt, alle Formblätter waren ausgefüllt und die ersten Erkenntnisse notiert. Viel gab es noch nicht. Das würde sich in den nächsten Tagen ändern. Das Räderwerk hatte begonnen, sich in Bewegung zu setzen. Vorerst bestand der Kreis der ermittelnden Beamten aus wenigen Kollegen, auf die Morgenstern sich verlassen konnte. Die einzige Ausnahme war Linda Mörike, die er schwer einschätzen konnte, geschweige denn, dass sie ihm sonderlich sympathisch erschien.

Missmutig schaute er auf die Uhr, dann auf ihre Personalakte. Der Tag war sowieso hinüber.

Neben den persönlichen Daten fanden sich ein paar Zeugnisse, die alle durchweg beeindruckend waren, ihn aber nicht interessierten. Praktische Erfahrungen besaß sie nicht, sah man von einem vierteljährigen Praktikum bei den Kollegen des Rauschgiftdezernats ab. Auch die Beurteilung dieser Dienststelle war überaus positiv. Grundsätzlich beachtete Morgenstern solche Einschätzungen wenig. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass erst die Praxis darüber entschied, ob jemand für den Beruf geeignet war. Zu oft hatte er erlebt, dass gutausgebildete Berufsanfänger dem Druck nicht standhielten.

Linda Mörike stammte aus Niederkrüchten, einem kleinen Ort am Niederrhein nahe der holländischen Grenze. Mönchengladbach lag nicht weit entfernt.

Morgenstern ließ die Akte im obersten Schubfach verschwinden und schaute sich noch einmal um. Als das Telefon klingelte, erschrak er heftig, weniger wegen des lauten Tons als wegen der Tatsache, dass ihn um diese Zeit überhaupt noch jemand anrief. Er erkannte die Nummer auf dem Display und überlegte, ob er überhaupt rangehen sollte. Nach dem dritten Klingeln nahm er den Hörer ab.

»Morgenstern. Mordkommission.«

»Lucatelo. Sigrid Lucatelo. Guten Abend, Herr Kommissar!«

Er verdrehte genervt die Augen. Unter allen Journalisten, die ihm suspekt waren, nahm Lucatelo die unangefochtene Führungsposition ein. »Was wollen Sie?«

»Ich schreibe einen Artikel über den toten Jungen im Mauerpark. Kurze Frage: Können Sie bestätigen, dass er Opfer eines Hundehassers geworden ist?«

Als Morgenstern kurz vor Mitternacht seine Haustür öffnete, war noch viel Bewegung auf der Stargarder Straße. Studenten, Lebenshungrige und Touristen nutzten die warmen Nachtstunden und saßen vor den Lokalen. In einem Restaurant gegenüber der Gethsemanekirche kreischten einige Frauen vor Begeisterung über einen gelungenen Witz. Musik war zu hören. Ein paar Betrunkene ernannten kurzerhand die Straße zur Fußgängerzone und verlangten den Autofahrern einige Geduld ab. Die jungen Männer grölten laut, während sie sich schwankend in Richtung Bahnhof Schönhauser Allee bewegten. Ein alter Mann, dessen Kleidung seinen verwahrlosten Zustand verriet, und sein ebenfalls in die Jahre gekommener Hund schlurften am Zaun der Gethsemanekirche entlang. Vorsichtig trug der Alte einen zugeknoteten Plastikbeutel. Er war einer der wenigen, die den Haufen seines Vierbeiners wie selbstverständlich entsorgten. Bevor er die Tüte wegwarf, stocherte er mit einem Stock in dem Müllbehälter herum, in der Hoffnung, eine Pfandflasche zu finden. Enttäuscht ging er weiter.

Es war ein typischer Abend im Kiez, und wenn Morgenstern nicht so müde gewesen wäre, hätte er noch ein Bier in seiner Lieblingskneipe »Eselsbrücke« getrunken.

Die Wohnungstür fand er unverschlossen vor. Anna lag zusammengerollt in seinem Bett und atmete leise. Er setzte sich neben sie und genoss den Duft, der ihren Körper so anziehend machte. Vorsichtig strich er ihre Haare zur Seite und küsste sie auf den Nacken. Liebevoll ließ er die Hand über ihren Rücken gleiten. Sie rührte sich nicht. Er würde sie nicht wecken. Auch wenn es warm war, deckte er sie sorgfältig zu, um sich dann langsam zu erheben.

»Wehe!«, flüsterte sie. »Wage nicht wegzugehen! Mir gehören noch elf Minuten. Noch ist Sonntag. Mein Sonntag. Also weiterstreicheln! Etwas weiter links unter dem Schulterblatt, und ein bisschen kräftiger, wenn ich bitten darf.«

Morgenstern kam sich hochgradig albern vor. Er saß nur mit Socken bekleidet im Bett. Seine Klamotten vereinten sich zu einem wirren Haufen auf dem Boden. Anna hatte sie dort achtlos hingeworfen. Kissen und Decken bildeten ein Gebirge am Fußende des Bettes. Das Einzige, was ihm geblieben war, um sein Gemächt zu bedecken, wie Anna kichernd seine Männlichkeit zu benennen pflegte, war ein prallgefülltes Kirschkernkissen. Sie hatte es ihm nach ihrem ersten gemeinsamen Wochenende geschenkt, in der festen Überzeugung, dass das ergonomische Gesundheitsvehikel half, sein nächtliches Schnarchen zu minimieren.

Anna hatte sich in den verbleibenden Sonntagsminuten nicht mit dem Streicheln der Rückenpartie zufriedengegeben. Morgenstern hatte es nicht gewagt, ein weiteres »Wehe!« zu provozieren, und sich trotz Müdigkeit um erheblich mehr als ihren Rücken gekümmert, und zwar ausgiebig. Inzwischen war seine Erschöpfung verflogen. Die Befürchtung, völlig übermüdet im Büro zu erscheinen, schob er beiseite. Annas Behauptung, dass er sich lediglich magere elf Minuten bemüht habe, glaubte er natürlich nicht. Da jedoch weder Armbanduhr noch Wecker verlässlich Auskunft geben konnten, denn beide Zeugen hatte sie vorsichtshalber mitgenommen, als sie vor ein paar Minuten in die Küche gegangen war, musste er den Beweis schuldig bleiben.

Das Klappern von Geschirr überzeugte Morgenstern, dass Anna nach dem angeblich so kurzen sinnlichen Scharmützel doch der Stärkung bedurfte. Sein männlicher Stolz war wiederhergestellt.

Tatsächlich brachte sie einen Teller mit, auf dem unterschiedlichste Salatblätter, zwei Sorten Tomaten, Scheiben einer ungeschälten Gurke, Sojasprossen und geviertelte Radieschen in einem Nest von Karottenraspeln angerichtet waren. Das Ganze hatte sie in Joghurtsoße ertränkt und mit gerösteten Pinienkernen verziert. Obenauf thronten scharf gewürzte Schafskäsewürfel und zwei Blättchen Basilikum. Anna stellte das Gesundheitsmonstrum auf den Nachtschrank, wechselte das Kirschkernkissen mit der Bettdecke, rückte an ihn heran und begann mit einem Heißhunger zu speisen, der Morgenstern immer wieder erstaunte.

»Mir ist so, als hättest du noch vor kurzem gepredigt, Salat am Abend schüre das Verdauungsfeuer unnötig.«

Anna verdrehte die Augen und ließ es sich schmecken. »Seit wann interessierst du dich überhaupt für ayurvedische Küche?«, murmelte sie mit vollem Mund. »Willst du mal kosten?«

»Ich hatte heute schon Leberwurst auf Grünkernpaste. Noch mehr Gesundes verträgt mein geplagter Körper nicht, fürchte ich.«

Sie kicherte. »Du siehst lächerlich aus mit den Socken.«

Morgenstern bewegte die Zehen und musterte seine Füße mit kritischem Blick. »Findest du? Ich dachte, du stehst total auf graumeliert.«

Anna kommentierte das nicht, stellte stattdessen den Teller auf den Nachttisch und küsste seine Schläfen, die er selbst als rauhaardackelfarben beschrieb.

»Du siehst müde aus. Habt ihr schon eine Spur?«

»Sicher scheint nur, dass der Junge an irgendeinem Gift gestorben ist. Morgen wissen wir mehr.«

Anna schwieg eine Weile, und Morgenstern spürte, wie sie noch ein bisschen dichter an ihn heranrückte.

Schon in der ersten gemeinsamen Nacht hatte sie darauf bestanden, dass er keine Geheimnisse vor ihr haben dürfe. Auch nicht, was die Arbeit anging. Geheimnisse führten zu Missverständnissen, Missverständnisse zu Missverstehen. Beide wussten das. Ihre Ehen waren daran gescheitert. Für Morgenstern und Anna war es die zweite Chance. Dennoch erzählte er nicht alles über seine Ermittlungen. Details waren tabu. Und Anna verstand durchaus, dass er ihre gemeinsame Zeit nicht durch die Schatten von Mördern, Vergewaltigern oder Pädophilen verdunkeln lassen wollte.

»Ich könnte das nicht. Ich würde es nicht übers Herz bringen, Eltern den Tod ihres Kindes mitzuteilen. Wie schaffst du das?«

Morgenstern schwieg. Anna schaltete das Licht aus und drehte sich um. Er legte seinen Arm um sie. Dann schlief er ein.

Gefundenes Fressen

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