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VIER

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Sonnabend, 20. Juni 1970

MAJOR GERALD SCHWARZ machte es sich so bequem wie möglich auf dem durchgesessenen Sofa in der Dunckerstraße, zweiter Hof, Seitenflügel, in Prenzlauer Berg. Die Wohnung im fünften Stock des heruntergekommenen Hauses lag direkt unter dem Dach, war schlicht eingerichtet und existierte offiziell nicht im Register des Amtes für Wohnungswesen in Ost-Berlin. Zuweilen schliefen hier Personen, die im Auftrag der Staatssicherheit handelten. Dass die Wohnung für konspirative Zwecke genutzt wurde, wussten die Bewohner, dennoch schwiegen sie. Niemand hatte das Bedürfnis, auf sich aufmerksam zu machen oder wegen allzu offensichtlicher Neugier ins Fadenkreuz von Horch und Guck zu geraten. Bekamen Bewohner des Hauses Besuch, wurde dieser ordnungsgemäß im Hausbuch eingetragen.

Major Schwarz blätterte in dem Buch und prüfte all jene Personen, die länger als drei Tage zu Besuch in der DDR waren. Er studierte den Namen, das Geburtsdatum, die Staatsbürgerschaft, die zurzeit ausgeübte Tätigkeit und die Anschrift. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Einzig eine Besucherin aus Berlin-Steglitz fand sein Interesse. Eine ältere Dame, die zur Beerdigung ihrer Schwester eingereist war, hatte bei ihrem Bruder übernachtet. Offensichtlich war es der Steglitzerin gelungen, eine der seltenen Ausnahmegenehmigungen zu erhalten, die man in solchen Fällen erteilte. Passierscheine für den Besuch von Familienmitgliedern gab es schon seit 1966 nicht mehr. Wenn es nach Schwarz ging, konnte das so bleiben. Großzügigkeit führte nur dazu, dass wieder ein paar Unbelehrbare illegal die DDR verließen. Er notierte sich den Namen der Frau und das Datum des Grenzübertritts. Die Meldung von Nicht-DDR-Bürgern bei der Volkspolizei musste innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Er würde das prüfen lassen.

Als Sonderbeauftragter einer Gruppe ausgesuchter Mitarbeiter war Major Schwarz der Abteilung Infiltration des Ministeriums für Staatssicherheit zugeordnet worden und koordinierte geheime Maßnahmen, die die Aktivitäten der Fluchthelferszene unterminierten. Offiziell existierte die Gruppe nicht. Regeln gab es auch keine. Die einzige Vorgabe, die er zu erfüllen hatte, war, Erfolg zu haben. Selbst innerhalb des MfS wusste kaum jemand von dieser Abteilung. Schwarz war allein dem Chef der Staatssicherheit Erich Mielke Rechenschaft schuldig.

Die Arbeit seiner kleinen Gruppe war überaus erfolgreich. Erst im März hatte ihn ein Kontaktmann aus Westdeutschland über die Fluchtabsicht eines renommierten Physikers informiert. Geplant gewesen war, dass der Mann am letzten Tag der Leipziger Messe im Gehäuse einer Werkzeugmaschine außer Landes gebracht werden sollte. Eine herausragende Kapazität, auf die der sozialistische Staat nicht verzichten konnte. Bei der Kontrolle des Lastzugs am Grenzübergang Wartha hatten Grenzschützer den Republikflüchtling scheinbar zufällig entdeckt. Tatsächlich war Major Schwarz bis ins kleinste Detail über den illegalen Grenzübertritt informiert gewesen. Datum, Uhrzeit, Wagentyp, Nummernschild und selbst der Führer des Lastzugs waren bekannt. Ein Wachhund hatte beim Vorbeigehen angeschlagen. Dass der trainierte Hund das immer tat, wenn er einen bekannten Summton hörte, der per Knopfdruck ausgelöst wurde, war eines der strenggehüteten Geheimnisse der Abteilung Infiltration. Bei der anschließenden Kontrolle hatten die Grenzschützer den Physiker aufgespürt. Er war mit erhobenen Händen abgeführt worden. Der Fahrer ebenfalls. Für den jungen Schwaben war es sein erster Auftrag gewesen. Der kaum Dreißigjährige wurde vor Gericht gestellt und bekam wegen verbrecherischen Menschenhandels zwölf Jahre aufgebrummt.

Als die Klingel kurz und energisch meldete, dass sein Gast vor der Tür stand, schlug Major Schwarz das Hausbuch zu, legte es auf die Anrichte und öffnete die Haustür. Sobald er den Besucher erkannte, blickte er unzufrieden auf die Uhr. «IM Gensfleisch, Sie sind spät dran! Gab es Probleme?»

«Den IM können Sie sich sparen!» Der Angesprochene holte tief Luft. «Lief alles wie abgesprochen. Fast.»

Schwarz wusste, dass sich sein Gast über die Begrüßung ärgerte. Zwar hatte dieser ihn mehrmals darum gebeten, niemals mit seinem echten Namen angesprochen zu werden, was der Major durchaus respektierte, aber ab und an erschien es Schwarz sinnvoll, den Spitzel an seine Abhängigkeit zu erinnern. Mit müder Geste bat er ihn herein. «Was meinen Sie mit fast

«Es gab eine kleine Schrecksekunde, weil der Grenzer meine Aktentasche durchsuchen wollte. Glücklicherweise hat sein Vorgesetzter mich durchgewunken.»

«Na, dann ist doch alles perfekt. Haben Sie die Ausweise dabei?»

«Warum sollte ich denn sonst hierhergekommen sein? So viel Grau – da bekommt man Depressionen. Und dieses Loch hier ist ja wohl das Letzte!» Angewidert schaute sich Gensfleisch um und schüttelte den Kopf. «Wenn ich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs leben müsste, würde ich auch abhauen.» Dann legte er fünf Personalausweise auf den Tisch. Vier waren ausgestellt auf männliche Personen mittleren Alters, einer war für eine Frau, die im vergangenen Monat ihren 22. Geburtstag gefeiert hatte.

Langsam und gewissenhaft blätterte der Stasi-Offizier jeden einzelnen Pass durch. «Den hier behalte ich ein», entschied Major Schwarz in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. «Die der Männer können Sie verwenden.»

«Dachte ich mir», erwiderte Gensfleisch. «Manchmal glaube ich, in den einschlägigen Etablissements rund um den Kurfürstendamm arbeiten nur noch Kommunistinnen. Beine spreizen für den Sieg der Weltrevolution. Ich habe schon ernsthaft daran gedacht, ob ich einen freundlichen Gruß von Ihnen ausrichte und um Rabatt bitte», sagte er albern. Sein Lachen erstarb aber sofort wieder.

Der Stasi-Offizier wippte ein wenig auf den Zehenspitzen und schaute sein Gegenüber abfällig an. «Lieber Freund, unterlassen Sie diese dummen Bemerkungen! Für wen sind die Pässe gedacht?», erkundigte er sich und wies auf die verbliebenen vier Ausweise. Aus seinem Aktenkoffer nahm er einen kleinen Fotoapparat und begann, jeden einzelnen Pass abzulichten. Den Zettel mit den Namen beachtete er vorerst nicht. «Gensfleisch, ich frage mich, was Sie mit den Ausweisen anfangen wollen. Die Grenze ist dicht. West-Berliner können schon seit Jahren nicht in die Hauptstadt der DDR. Einem Bürger der DDR den Ausweis eines West-Berliners zu geben, der ihm ähnlich sieht, damit er widerrechtlich die Grenze passieren kann, ist schon lange nicht mehr möglich. Private Besuche haben wir aus gutem Grund unterbunden. Abgesehen davon, heute verwenden wir Visa.»

Gensfleisch schien die Bemerkung zu amüsieren. «Wer redet denn vom kleinen Grenzverkehr? Ein bisschen mehr Fantasie, Genosse Major! Die Welt ist groß. Kein West-Berliner verbringt seinen Urlaub freiwillig in Ost-Berlin oder gar in Ihrer geliebten DDR. Glücklicherweise gibt es eine Menge Ostblockstaaten, die sich über devisenstarke Urlauber freuen. Zollbeamte lernen dazu, Fluchthelfer aber auch. Visastempel nachzumachen ist nun wirklich kein Problem. Über den Versuch Ihrer Behörde, das Fälschen von Pässen durch den Wechsel der Stempelfarbe zu erschweren, können Fluchthelfer nur lachen. Es gibt keine Farbe, die nicht gefälscht werden kann. Das Informationssystem ist perfekt. Welche Farbvariante ungarische, bulgarische oder jugoslawische Beamte morgens auch immer festlegen, sie ist spätestens eine Stunde später bekannt.»

Einen Augenblick lang hörte Major Schwarz auf zu fotografieren. Er ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. Dass die Stempel erst kurz vor der Ausreise gefälscht wurden, war ihm neu. «Interessant, Ihnen zuzuhören!», bemerkte er erfreut und lichtete den nächsten Ausweis ab. Als er fertig war, gab er Gensfleisch die Pässe zurück und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen.

«Hat nicht euer Marx auch von Angebot und Nachfrage gefaselt? Ausweispapiere bringen auf dem Schwarzmarkt inzwischen gut und gern eine vierstellige Summe. Ein Pass weniger schmälert meinen Gewinn erheblich. Ein kleiner Abschlag wäre angemessen, oder?», bemerkte Gensfleisch. Offensichtlich wollte er die gute Laune seines Führungsoffiziers ausnutzen. «Einen Ausweis einzubehalten und trotzdem die gesamte Prämie zu verlangen empfinde ich nicht gerade als fairen Handel.»

«Seien Sie nicht so kleinlich! Wenn die Preise steigen, profitieren Sie schließlich davon. Zur Erinnerung: Wir haben genug Material gegen Sie in der Hand. Oder verlangt es Sie nach einer Einraumwohnung im ‹Gelben Elend› wegen verbrecherischen Menschenhandels, Gensfleisch?», drohte der Major beiläufig.

Der Hinweis auf das berüchtigte Gefängnis in Bautzen ließ den inoffiziellen Mitarbeiter einen Augenblick verstummen. «Mit Ihnen zu verhandeln ist immer wieder eine große Freude», sagte er schließlich betont gelassen und legte den verlangten Umschlag in die Hand von Major Schwarz. Dann schob er den Zettel über den Tisch, auf dem jene Personen aufgelistet waren, für die die Pässe gedacht waren. «Wäre schön, wenn das klappt.»

«Wir prüfen das», bemerkte der Major lakonisch. Sorgfältig steckte er den Umschlag mit dem Geld in den Aktenkoffer, nahm anschließend die Liste mit den Namen und überflog sie kurz. Lächelnd legte er sie ebenfalls in den Koffer, den er dann ordentlich schloss. «Vier Ausweise. Zwanzigtausend D-Mark. Möglicherweise mehr. Klingt nach einem guten Geschäft. Was machen Sie eigentlich mit dem ganzen Geld?»

Gensfleisch zuckte mit den Schultern. Die Frage war rhetorisch gemeint, eine Antwort erwartete Major Schwarz nicht. Er war zufrieden und im Begriff zu gehen. Dann erinnerte er sich daran, dass das Hausbuch noch auf der Anrichte lag. «Ich kann mich doch auf Sie verlassen, wegen des leidigen Problems?», fragte Gensfleisch mit ernster Miene.

Der Offizier der Staatssicherheit drehte sich langsam um und schaute sein Gegenüber mit unverhohlener Abscheu an. Er sprach es nicht aus, aber Verräter betrachtete er als Abschaum, selbst wenn sie der feindlichen Seite angehörten. Jemanden aus den eigenen Reihen ans Messer zu liefern widersprach seinem Kodex. «Die Genossen an der Grenze wissen Bescheid. Wir ziehen den Kerl aus dem Verkehr. Und Gensfleisch, die West-Berliner Kontaktnummer rufen Sie nur an, wenn ein Notfall vorliegt!»

Gensfleisch schien erleichtert zu sein.

«Viel Spaß im Hotel Unter den Linden. Sie nächtigen doch an der Friedrichstraße, oder? Ach, übrigens, die meisten jungen Damen, denen sie da begegnen, spreizen – wie formulierten Sie so treffend? – auch die Beine für den Sieg der Weltrevolution. Also Finger weg! Ihre Aufgabe ist die Schaffung operativer Voraussetzungen zur Kompromittierung der Führungskader der Feindorganisationen. Mit anderen Worten, die Damen akquirieren neues Personal.»

Gertrud Kappe nannte ihren Mann gern einen Süßschnabel, obwohl Otto Kappe selbst keineswegs der Meinung war, dass diese Bezeichnung auf ihn zutraf. Tatsächlich aber konnte er zu Kuchen schlecht Nein sagen. Erst recht nicht zu Schwarzwälder Kirschtorte.

Das Café Kranzler war gut besucht, und nur mit etwas Glück gelang es Otto Kappe, einen Tisch zu ergattern. Das Pärchen in dem bayerischen Trachtenverschnitt schaute pikiert auf den Berliner, der unerwartet flink das Geschirr der Vorgänger zusammenschob. Die bereits länger wartenden Touristen ignorierend, setzte sich Otto an den freien Tisch, stellte die Teller und Tassen gekonnt aufeinander, reichte sie dem Kellner und grinste frech über das ganze Gesicht. «Dit jeht hier nach de Müllermethode: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.»

«Saupreuß!», war der kurze und abfällige Kommentar des verärgerten Schluchtenjodlers – so, erinnerte sich Kappe, pflegte Galgenberg gern die Bayern zu bezeichnen. Otto ignorierte die Bemerkung wie auch Gertruds Kopfschütteln. Seine Frau schien zwar für den Tisch dankbar, schämte sich aber offenbar ein wenig für ihren Mann. Verärgert verließ das Trachtenpärchen die Terrasse, und Otto war sich sicher, dass die beiden an den Berlinern im Allgemeinen wie an ihm im Besonderen kein gutes Haar lassen würden. «Und grüß Jott, wennan seht!», murmelte Otto der Vollständigkeit halber.

«Du berlinerst doch sonst nicht so», stellte Gertrud erstaunt fest und deutete bittend auf die Speisekarte. «Seitdem Galgenberg sich verstärkt um die Bewahrung des Berlinerischen verdient macht, färbt das wohl auch auf dich ab.»

Otto zuckte mit den Schultern, reichte seiner Frau die Karte und überlegte, ob er zur Schwarzwälder Kirschtorte eine Extraportion Schlagsahne nehmen oder doch lieber auf die Vernunft hören sollte. Der Griff an den Bauch ließ die innere Waage zugunsten der Warnung ausschlagen, der Blick zum Nachbartisch die Bedenken ob der kalorienreichen Verführung indes als überzogen abtun.

Von der Terrasse aus konnten sie genüsslich die vorbeischlendernden Passanten beobachten. Herausgeputzte Damen. Keck, nach Art der Hippie-Mode gekleidete junge Mädchen, bauchfrei und mit Sandaletten, die nur aus Lederschnüren zu bestehen schienen. Halbstarke mit hochtoupierten Haaren und bunten Hemden, die den Mädchen hinterherschauten. Touristen aus fernen Ländern. Und Geschäftsleute, denen nicht aufzufallen schien, dass Wochenende war. Auf dem Kudamm feierte West-Berlin seine Unbekümmertheit. Nichtstun, Kaffeetrinken, Kuchenessen und zwischen Bewundern und Wundern hin- und herschwanken. So sah nach Gertruds Meinung ein perfekter Sonnabendnachmittag aus.

«Gibt es etwas Neues im Fall der Toten von Nikolskoe?», erkundigte sie sich.

Otto, der mit seiner Kuchengabel die Reste der Schlagsahne zusammenkratzte, wusste sofort, dass Gertrud mit ihrer Frage soeben den schönen Nachmittag verdorben hatte. Augenblicklich waren wieder all die Probleme und Ungereimtheiten präsent, wegen denen er sich den Kopf zermarterte. Schlimmer noch, Gertrud durchschaute ihn. Als wäre ihm schlagartig der Appetit vergangen, schob er den Teller zur Seite, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, legte sie auf den Teller und beschwerte sie anschließend mit der Gabel, damit der Wind sie nicht wegwehte. Wie ein Schüler, der beim Abschreiben erwischt worden war, schaute er über den Tisch. Woher wusste Gertrud, dass er erneut diesem Fall nachging?

Sie schien seine Gedanken lesen zu können. «Unser Sohn Peter hat Hans-Gert gestern vor der Stadtbibliothek getroffen. Dein Kollege wollte dort in alten Zeitungen stöbern. Es gebe neue Entwicklungen im Fall Nikolskoe. Offensichtlich ein Auftrag von dir. Erst habe ich geglaubt, Peterchen hat sich verhört. Ich habe das für ein Missverständnis gehalten. Aber nachdem du heute freiwillig vorgeschlagen hast, mit mir zum Schaufensterbummel auf dem Kudamm zu flanieren, und sogar bereit warst, im Kranzler einzukehren, weiß ich, er hat sich nicht verhört.»

«Peter ist in Berlin?», fragte Otto erstaunt.

«Ja, er hat ein paar Tage frei und erkundigt sich nach Möglichkeiten sich weiterzuqualifizieren.»

«Er will noch mal studieren? Wieder an der FU?»

Gertrud zögerte einen Moment, bevor sie antwortete: «Nein, nicht, was du denkst. Er will sich beruflich weiterentwickeln. Genaues weiß ich auch nicht. Aber du versuchst nur abzulenken. Wir sprachen über den Fall Nikolskoe. Wann gedachtest du denn, mir die Neuigkeit mitzuteilen?» Sie betrachtete kurz sein kummervolles Gesicht und starrte dann in die Ferne. «Otto, erspare mir diesen Dackelblick!»

Sie war ernsthaft verärgert. Zu Recht, wie Otto sich eingestand. Natürlich hätte er sie darüber informiert, dass er wieder an dem Fall Nikolskoe arbeitete, aber erst in der kommenden Woche. Möglicherweise wären die neuen Ermittlungen schon in ein paar Tagen abgeschlossen.

Der Mordfall Nikolskoe hatte ihre Beziehung erschüttert. Während dieser Zeit war er sehr dünnhäutig gewesen, schnell gereizt und genervt von den Anforderungen des Alltags sowie den Erwartungen seiner Frau. Er hatte es sie nicht nur spüren lassen, sondern es ihr auch in einem Augenblick der Wut gesagt.

Sie hatte ihn damals zum Mittagessen gerufen, und nachdem er bei der dritten Aufforderung immer noch nicht reagieren wollte, hatte sie erbost gefragt: «Übertreibst du nicht ein bisschen? Ich nehme meine Arbeit ja auch nicht mit nach Hause.»

Ohne zu überlegen, hatte er ungehalten reagiert. «Du mit deinen kleinen Buchhalterproblemen und Bürobefindlichkeiten hast doch von dem, was ich tue, keine Ahnung! Das Schlimmste, was dir als Prokuristin passieren kann, ist, dass eine Sarotti-Rechnung nicht stimmt. Das lässt sich aber korrigieren, das bringt niemanden um.»

Gertrud hatte nichts erwidert und ihn nur wie einen Fremden angestarrt. Schweigend hatten sie gegessen, schweigend den Rest des Tages verbracht.

Am nächsten Morgen war Gertrud zu einer Freundin gezogen. Abstand war die einzige Nähe, die sie zusammenhielt. Es dauerte eine Woche, bis Gertrud zurückkehrte. Otto hatte sie angefleht zurückzukommen, ihr versprochen sich zu ändern und sich als verbohrt, ungerecht und egoistisch bezeichnet. Sie hatte ihn angeschaut und still und vorsichtig erwidert: «Versuchen wir es.»

Inzwischen waren die Wunden vernarbt. Er bemühte sich. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die er ihr seitdem entgegenbrachte.

Verlegen räusperte Otto sich. «Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Keunitz selbst hat angeordnet, den Fall wieder aufzurollen. Wir haben neue Informationen erhalten. Wir müssen dem nachgehen. Glaub mir, ich habe mich nicht darum gerissen.» Er legte seine Hand auf ihren Arm.

Sie zog den Arm nicht weg, schaute ihren Mann aber auch nicht an. «Otto, ich respektiere deine Arbeit. Das habe ich immer getan. Ich kann einschätzen, was sie dir bedeutet. Aber niemand weiß besser als ich, was sie mit dir macht. Ich bin diejenige, die dich nachts festhält, wenn Albträume dich plagen. Immer habe ich dir den Rücken freigehalten. Ich liebe dich, weil du bist, wie du bist. Es gibt aber noch ein Leben neben deiner Arbeit. Vergiss das nicht wieder. Ein zweites Mal kehre ich nicht zurück.»

Beide schwiegen. Mehr gab es nicht zu sagen. Eine weitere Entschuldigung wäre unglaubhaft gewesen, und deutlicher hätte sie ihre Warnung nicht formulieren können.

«Wird Peter bei uns übernachten?», fragte Otto und hoffte, gemeinsam mit seinem Sohn das WM-Spiel Deutschland gegen Uruguay um Platz drei sehen zu können.

Gertrud schüttelte bedauernd den Kopf. «Er ist nur kurz in Berlin und schläft bei Freunden.»

Die Bar im Hotel Unter den Linden in Ost-Berlin war so früh am Abend noch nicht gut besucht. Gensfleisch saß auf einem der Hocker und quälte sich mit einem Whisky Made in GDR. Normalerweise bevorzugte er schottischen Whisky, da dieser aber nicht in den Osten exportiert wurde, sah er sich genötigt, es mit Hochprozentigem aus der Zone zu versuchen. Der Falckner besaß zwar eine ansprechende Farbe und hatte 43 Umdrehungen, dennoch beleidigte das Destillat seine verwöhnten Geschmacksknospen. Glaubte Gensfleisch dem Barmixer, erinnerte der Name an die Familie C. W. Falckenthal. Der Whisky stammte aus der gleichnamigen Luckenwalder Brennerei, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken konnte. Dass es überhaupt Whisky im Osten gab, war einem Staatsführungsbeschluss zu verdanken. Die Privatbrauerei produzierte seitdem das Gesöff, vermochte aber mit dieser Spirituose allenfalls das trinkfeste Proletariat zu begeistern.

Gensfleisch, dem die unverhohlene Drohung mit ein paar Jahren Bautzen nicht aus dem Kopf ging, bestellte sich ein weiteres Glas Falckner und hoffte auf einen Gewöhnungseffekt. Tatsächlich hatte die Staatssicherheit genug in der Hand, um ihn ans Messer zu liefern. Kompromittierende Fotos von seinen Besuchen im Café Chérie und einer Nacht im hauseigenen Hotel waren dabei noch das geringste Übel. Seine Arbeit in der Bundesdruckerei wurde zwar gut bezahlt, aber der Handel mit bundesdeutschen Ausweispapieren brachte eindeutig mehr ein. Ärgerlich nur, dass er auf das Wohlwollen von Major Schwarz angewiesen war.

«Sie sehen aus, als könnten Sie Gesellschaft gebrauchen.» Die Stimme gehörte zu einem in die Höhe drapierten roten Schopf mit einem dezent geschminkten Gesicht und einem schlanken, wohlgeformten braungebrannten Körper, der in einem marineblauen Minikleid steckte. Passende Pumps und eine elegante Handtasche, die problemlos ein kleines Aufnahmegerät verbergen konnte, rundeten die beeindruckende Erscheinung ab. Sofort erkannte Gensfleisch, dass die Frau größer war als er, ein paar Zentimeter nur, selbst ohne ihre hochhackigen Schuhe. Freundlich wies er auf den Platz neben sich und fragte mit einem Lächeln: «Darf ich Sie auf einen Drink einladen?»

Er durfte. Gensfleisch hatte auch nichts anderes erwartet. Einen Moment lang dachte er an die mahnenden Worte seines Führungsoffiziers, jedoch beschloss er, diese angesichts dessen, was auf dem Barhocker neben ihm saß, zu ignorieren. Er würde sich einen schönen Abend machen, das Blaue vom Himmel erzählen und die Fremde anschließend vögeln. Ein Hoch auf die Amazonen der Weltrevolution!, prostete er in Gedanken Major Schwarz zu.

Die Frau, die sich Simone nannte, war gut ausgebildet. Angeblich hatte sie ein Bewerbungsgespräch als Stewardess bei der Interflug. Da sie aus Lobbe komme, einem kleinen, verschlafenen Ostseenest auf Rügen, und es am Montagmorgen keine Zugverbindung gebe, die sie pünktlich zum Flughafen gebracht hätte, habe die Interflug notgedrungen ein Zimmer für sie gebucht. Eine Nacht habe sie sich zusätzlich gegönnt, um ein schönes Wochenende zu genießen. Berlin sei schließlich immer eine Reise wert. Normalerweise sei ein derart exklusives Hotel jedoch nicht ihre Preisklasse.

Gensfleisch tat interessiert, lächelte verständnisvoll und ließ ihr Sektglas nachfüllen. Dankbar nahm sie es an und erklärte dann, dass sie aufgrund ihrer Sprachfähigkeiten – immerhin beherrsche sie perfekt Französisch, Englisch und Russisch – in den engeren Kreis jener Bewerber gerückt war, die für ausgewählte internationale Flugrouten eingesetzt werden sollten. Europa, Naher Osten, Afrika. Ein kurzes sehnsüchtiges Seufzen. Eine perfekte Inszenierung.

«Bin ich dann nicht der falsche Umgang für Sie?», bemerkte Gensfleisch mit einem Lächeln und nippte am Falckner. «Meines Wissens wirken sich Westkontakte ausgesprochen negativ auf hiesige Karrieren aus.»

Sie lehnte sich vor, gewährte einen kurzen Einblick in ihr Dekolleté und hauchte: «Sie müssen mich ja nicht verraten.»

«Von mir erfährt niemand etwas. Ich schweige wie ein Grab.» Er machte eine Geste, als würde er seinen Mund abschließen.

Simone reagierte auf seine Flirtversuche mit einem gekonnten Lächeln und sympathischer Neugier. «Kommen Sie aus West-Berlin?», erkundigte sie sich mit gesenkter Stimme.

Er zögerte einen Augenblick, bevor er ebenfalls leise antwortete: «Ich habe eine fantastische Wohnung in der Nähe des Anhalter Bahnhofs.»

Sie hörte ihm zu und lauschte seinen Ausführungen über das Nachtleben in West-Berlin, führte ihn aber immer wieder auf jenes Thema zurück, das ihr besonders wichtig zu sein schien: Politik.

«Natürlich interessiere ich mich für Politik», behauptete er, um ihr dann Dinge zu erzählen, denen allen eines gemeinsam war: Sie waren erstunken und erlogen. «Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ich zu jenem erlesenen Kreis gehöre, der regelmäßig zu Feierlichkeiten des West-Berliner Senats eingeladen wird. Das hängt mit meiner Aufgabe in der Bundesdruckerei zusammen. Willy Brandt kenne ich sogar persönlich, noch aus seiner Zeit als Regierender Bürgermeister.» Er schaute die junge Frau an, die einen Augenblick irritiert zu sein schien, sich aber sofort wieder unter Kontrolle hatte. «Willy macht immer den Eindruck, als würde er beim Sprechen gleich einschlafen», begann er zu erzählen und ahmte die Stimme des jetzigen Bundeskanzlers nach: «Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.»

Er redete weiter über Persönlichkeiten der Politik, über Intrigen der Mächtigen und angebliche Pläne der Führung in West-Berlin. Der Falckner schmeckte zwar immer noch wie billiger Fusel, wirkte aber angenehm berauschend. Das letzte Glas, das der Barkeeper gebracht hatte, führte auf die Ziellinie. «In meiner Funktion habe ich ständig mit politischen Abgründen zu tun. Ein wirklich einsamer Job.» Er schwieg und schaute traurig in sein Glas. Traurig gucken war eine seiner Stärken.

Simone nahm ihn mit auf ihr Zimmer und besorgte es ihm prächtig.

Er faselte etwas von «Du bist eine fantastische Frau» und «Ich wünschte, ich könnte dich wiedersehen».

Ihren vermeintlichen Erfolg genießend, antwortete sie: «Warum nicht? Das liegt ganz an dir.»

Simone war, wie erwartet, größer als er und am ganzen Körper gebräunt. «FKK – Freikörperkultur am Ostseestrand», resümierte er bewundernd und genoss das falsche Spiel.

Nur kurz fragte er sich, wo die Kamera der Staatssicherheit diesmal versteckt war. Da er keine entdeckte, winkte er unauffällig lächelnd in Richtung des Spiegels. Major Schwarz erpresste ihn schon mit diversen Aufnahmen aus dem Café Chérie. Auf ein paar weitere schlüpfrige Bilder aus einem Ost-Berliner Hotel kam es nun auch nicht mehr an.

Geschwisterliebe

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