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Donnerstag, 18. August 2016

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Sorgfältig kontrollierte Mathias Klausen die Spreeschnuppe, einen betagten Ausflugsdampfer, der jede Saison fünfmal täglich durch das Berliner Stadtzentrum fuhr, auf Schäden. In der Nacht hatte eine Gewitterfront ihre schlechte Laune über dem Historischen Hafen in Berlin entladen. Es war ein beeindruckend leidenschaftliches Sommergewitter gewesen, das vom Wetterdienst, verbunden mit einer Katastrophenwarnung, angekündigt worden war. Letztere hatte sich jedoch als unnötig erwiesen. Das Gewitter hatte respektabel gewütet, war aber durchaus typisch für einen heißen Sommer gewesen. Anschließend hatte sich die Gewitterfront verzogen, und eine klare Vollmondnacht hatte dafür gesorgt, dass Klausen bis zum Morgengrauen unruhig geschlafen hatte.

Klausen entdeckte an der Spreeschnuppe keinen Schaden, der ihm Sorgen bereiten musste. Angewehter Dreck lag auf den Planken, Blätter, Bonbonpapier, die Reste einer Zeitung. Den Müll stopfte er in eine Tüte. Ein paar Eimer Wasser würden genügen, um das alte Mädchen wieder strahlen zu lassen, stellte er beruhigt fest. Solange die Algenblüte nicht begonnen hatte, nutzte er das Wasser der Spree für die Reinigung des Boots. Aus der Nische neben dem Führerhaus holte Klausen einen in die Jahre gekommenen Schrubber, dessen Borsten abgeknabbert aussahen. »Der ist noch gut«, pflegte er zu sagen, wenn ihn jemand auf das mitleiderregende Gerät ansprach. Verwundert registrierte er, dass der Blecheimer nicht am üblichen Platz stand. Irritiert schaute er sich um.

Die Luft am Märkischen Ufer war klar und belebend. Kapitän Klausen atmete sie ein, als gelte es, davon einen Vorrat anzulegen. Dann begann er mit der Suche nach dem verbeulten Unikat. Es versprach, ein sonniger Tag zu werden. Das Gefühl, das er beim Einatmen der unverbrauchten Luft verspürte, glich jenem, das er als Kind geliebt hatte, wenn er nach dem Baden in ein frischbezogenes Bett gekrochen war.

Eine Viertelstunde blieb, bis die ersten Gäste an Bord kommen würden. Auch heute würde er auf der beliebten Spreeroute historisches Fast Food servieren: Wann wurde jenes Gebäude errichtet? Welcher Epoche ließ es sich zuordnen? Wie hieß der Architekt? Zur Erheiterung der Passagiere pflegte er passende Anekdoten in seine Ausführungen einzustreuen. Tag für Tag erzählte er die gleichen Witze, sorgte mit doppeldeutigen Anspielungen für Stimmung und erntete Applaus, wenn er in Berliner Mundart Gedichte zum Besten gab.

Ick sitze hier und esse Klops.

Uff eenmal kloppt’s.

Ick kieke, staune, wundre mir,

uff eenmal jeht se uff, die Tür.

Vor sieben Jahren hatte Klausen seine Tätigkeit als Professor für Biochemie an den Nagel gehängt. Nach einem vermeintlichen Burn-out vollzog er eine Kehrtwendung im Leben. Midlife-Crisis, behaupteten die einen, Spinnerei, die anderen. Der akademischen Lebensweise entsagte er und entschied sich, fortan ein genügsames Dasein zu fristen. »Ohne mich!«, hatte seine Frau erklärt. Seinen Beziehungsstatus umschrieb er seither mit »glücklich geschieden«. Sieben Jahre war es her, da hatte er das Diktat selbstauferlegter Verpflichtungen rigoros gestrichen. Aus einem Getriebenen war ein Sich-treiben-Lassender geworden, wenn auch nicht freiwillig.

Den Zuschlag für die Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts gebaute Spreeschnuppe hatte er bei einer Zwangsversteigerung erhalten. Marode achtzehn Meter Länge boten Platz für dreißig Passagiere. Einen Winter lang hatte es der Ausdauer eines Idealisten bedurft, um das in die Jahre gekommene Schiff instand zu setzen. Seitdem nannte er sich Kapitän eines Ausflugdampfers und vermittelte Unwissenden Stadtgeschichte.

Obwohl Klausen gründlich in jeden Winkel der Spreeschnuppe schaute, blieb der Eimer verschwunden. Stattdessen entdeckte er auf dem Vorderdeck ein Freundschaftsband. Der Tradition nach musste der Hersteller des Schmuckstücks dem Beschenkten das Band eigenhändig umbinden, woraufhin sich dieser etwas wünschen durfte. Wenn es eines Tages von allein abfiele, erfüllte sich der Wunsch, so hatte es ihm eine seiner Studentinnen erklärt. Vorausgesetzt, man trug es Tag und Nacht. Das aus Wolle gewebte Band wirkte abgetragen, war aber nicht zerrissen. Ein Knoten hielt es zusammen. Klausen überlegte, ob unter den gestrigen Passagieren jemand gewesen war, der derartigen Zierrat getragen hatte. Nach einer Weile schloss er das aus. Der Besucherandrang am Vortag war übersichtlich gewesen. Bei den meisten Fahrten hatte die Anzahl betagter Interessierter kaum die Kosten der Tour eingebracht. Glücklicherweise konnte er die letzte Runde als voll besetzt verbuchen. Eine illustere Gesellschaft mit dem Namen »Therapiegruppe – Bedingungsloser Frohsinn« enterte das Schiff regelrecht und hisste den Wimpel ihrer Geselligkeit am Bug. Anfänglich empfand Klausen den Namen dieses Vereins eher als Bedrohung als ein Versprechen substanzieller Lebensqualität. Aber es war eine lustige Truppe, bewaffnet mit einem Koffer, der eine Flasche Jägermeister sowie passende Gläser enthielt. Die Feierfreudigen hatten allesamt den höheren Semestern angehört. Sie hatten zwar die gleichen T-Shirts getragen, aber altersbedingt kam keiner von ihnen als Besitzer des gefundenen Modeschmucks infrage.

Der Kapitän der Spreeschnuppe steckte das Freundschaftsband in die Hosentasche. Er würde es zu den anderen Fundstücken in die Kiste legen, in der er Erinnerungen aufbewahrte, die niemand zurückverlangte. Immer noch auf der Suche nach dem Eimer, schaute er sich um und entdeckte das Ende des Seils, mit dem der über Bord geworfene Kübel eingeholt wurde. Es war an der Reling befestigt. Verwundert löste er den Knoten, der eindeutig nicht von einem Fachmann stammte. Auch war das Seil neu. Er konnte sich nicht erinnern, es ausgetauscht zu haben. Zehn Minuten blieben noch, um die Reinigung des Vorderdecks zu erledigen, den Ständer mit den Prospekten aufzufüllen und die Kasse bereitzustellen.

Kopfschüttelnd zog Klausen an dem Seil und spürte einen Widerstand. Der Eimer schien sich irgendwo verhakt zu haben. Vorsichtig gab er nach, zog erneut, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen. Mit der gespannten Leine in der Hand trat er zur Seite und wiederholte den Vorgang. Klausen wollte den Eimer nicht verlieren. Er hatte ihn zusammen mit dem alten Schiff erworben. Ein solider Blechkübel, einer von jener dickwandigen Sorte, die heute niemand mehr produzierte. Er zog kräftiger, diesmal mit Erfolg. Etwas Schweres schwebte unter dem Schiffsrumpf. Der Kapitän der Spreeschnuppe schaute besorgt über die Reling und holte die Leine langsam ein. Aus der Tiefe bewegte sich ein heller Fleck Richtung Wasseroberfläche, und je näher er kam, desto deutlicher waren die Konturen eines Gesichts zu erkennen.

° ° °

Die Polizei hatte den Bereich am Märkischen Ufer weiträumig abgesperrt und Stellwände errichtet, um die Schaulustigen fernzuhalten. Einzelne Gaffer hielten dennoch ihre Handys in die Höhe und fotografierten. Einem Fotografen der Boulevardpresse war es sogar gelungen – vermutlich gegen ein kleines Entgelt –, sich Zutritt zu einem der Häuser am Ufer zu verschaffen. Seelenruhig stand er am Fenster im oberen Stockwerk und machte Aufnahmen.

Taucher hatten die unbekleidete Leiche geborgen und auf das Deck der Spreeschnuppe gelegt. Zweifelsfrei handelte es sich um eine junge Frau. Die Spurensicherung hatte die Leine gelöst, die um den Körper geschnürt gewesen war. Zusammen mit dem betagten Schöpfeimer und einem Feldstein, der zur Beschwerung in den Eimer gepresst worden war, wurde die Tote zur Untersuchung ins Labor gebracht.

Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern wartete am Uferweg und verfolgte die Arbeiten. Gerd Füllgrabe, Chef der Spurensicherung und praktizierender Pedant, untersuchte das Seil. Er schien fündig geworden zu sein. Ein kurzer Fingerzeig, und der Polizeifotograf machte von der Entdeckung Bilder. Beide waren ein eingeschworenes Team, das seit ewigen Zeiten zusammenarbeitete. Selbst von der Straße aus konnte Morgenstern erkennen, dass die Leiche mit hoher Wahrscheinlichkeit nur eine Nacht im Wasser gelegen hatte. Genaueres würde Sonja Bubka, die Rechtsmedizinerin, herausfinden.

Erneut schaute Morgenstern zu dem Paparazzo, der geschickt das Objektiv der Kamera gegen ein anderes austauschte und seinen verständnislosen Blick mit einem Feixen quittierte. Es ärgerte Morgenstern, mit welcher Selbstverständlichkeit sich der Kerl über ihre Bemühungen, die Würde des Opfers zu schützen, hinwegsetzte. Kopfschüttelnd richtete er den Blick wieder auf die Arbeit seiner Kollegen. Hannes Gärtner, der Polizeifotograf des LKA, korrigierte die Einstellungen an seiner Kamera. Er ließ sich Zeit. Das Klicken der Blende war zu hören. Ein bedächtiger Ton, der anzeigte, dass ein einzelnes Foto gemacht wurde, kein automatisches Surren für eine ganze Serie von Bildern, denen allen eines gemeinsam war: Sie verpassten regelmäßig den richtigen Moment.

»Drehen Sie den Körper auf die rechte Seite. Ich brauche Fotos von der Schulterpartie.«

Ein junger Beamter tat, um was er gebeten wurde, und verzog dabei keine Miene. War es Selbstbeherrschung oder jene Art von Abgestumpftheit, zu der seine Arbeit führte? Morgenstern entschied, dem Mann ein hohes Maß an Selbstkontrolle zuzusprechen.

Der Polizeifotograf nahm eine Reihe von Bildern auf. Er wusste, worauf es ankam. »Danke, ich bin fertig.« Sorgsam betrachtete Gärtner noch einmal die Leiche und versicherte sich, dass er nichts übersehen hatte. Bedächtigen Schrittes stieg er die Stufen, die zur Straße führten, nach oben. Er schaute Morgenstern prüfend an. »Soll ich ihn abschießen?«

»Wie bitte?«, erkundigte sich Morgenstern, weil er glaubte, sich verhört zu haben.

Statt eine Antwort zu geben, zielte Gärtner mit der Kamera auf den Paparazzo im ersten Stock. Ein paarmal klickte der Apparat und löste eine Salve von Bildern aus. »Typen wie der sind die voyeuristischen Augen einer sensationshungrigen Gesellschaft. Egal, welch hehrem Anspruch Fotografen zu folgen vorgeben, letztendlich füttern sie die Bedürfnisse der Neugierigen. Sehen Sie es ihm nach! Voyeurismus ist ein Menschenrecht, oder?«

Morgenstern wusste darauf keine Antwort.

»Die Fotos der Leiche haben Sie in einer Stunde auf Ihrem Schreibtisch.«

Wie lange Gärtner schon für das LKA arbeitete, hätte Morgenstern nicht sagen können. Sie kannten einander, hatten aber nie Vertrautheit aufgebaut. Genau genommen, kannte er nur dessen Fotos. Bilder, die menschliche Abgründe in allen Facetten dokumentierten. Vielleicht lag es an der Perfektion der Aufnahmen, dass Morgenstern und Gärtner nie mehr als drei Sätze wechselten.

Klausen hielt sich hilflos am Ende des Stegs auf. Er schien unter Schock zu stehen, riss sich aber zusammen und beantwortete die ihm gestellten Fragen. Er war eine beeindruckende Erscheinung, groß gewachsen, kräftig und von der Sonne braun gebrannt. Kriminalkommissar Bruno Biondi, Computerspezialist und bestangezogener Mitarbeiter der Mordkommission, der unablässig auf der Suche nach einem passenden Partner war und jede Gelegenheit nutzte, um auf sich aufmerksam zu machen, erfasste routiniert die Daten. Aus Erfahrung wusste Morgenstern, wie wichtig es war, Zeugen sofort zu vernehmen, um zu vermeiden, dass unterschwellige Wertungen die Aussagen beeinflussten.

Als Biondi seinen Chef bemerkte, winkte er kurz und machte eine Bewegung, als wischte er hektisch über eine imaginäre Scheibe. Morgenstern stieg die Stufen hinab, ging an das Ende des Stegs und stellte sich zu ihm und Klausen.

»Ich reinige das Deck routinemäßig jeden Morgen«, erklärte Klausen und beobachtete, wie Biondi die Aussage auf seinem Tablet erfasste.

»Ist es üblich, Wasser aus der Spree zu nehmen?«, erkundigte sich Morgenstern. Er deutete auf den Eimer, den die Spurensicherung in einen Plastikbeutel verpackt hatte. Dann ergänzte er: »Hans Morgenstern, Kriminalhauptkommissar. Ich zeichne für die Ermittlungen verantwortlich.«

Ein schneller Blick auf den Ausweis genügte Klausen, bevor er antwortete: »Das ist gang und gäbe. Wasser ist Mangelware auf einem Schiff.«

Biondi, der ein untrügliches Gespür dafür zu haben schien, welcher Tatort welche Garderobe verlangte, notierte auch diese Information. Stilsicher hatte er nach dem Aufstehen eine blaue Hose, die passenden Sneakers sowie ein blau-weiß gestreiftes Hemd gewählt, das, hochgekrempelt, seine sonnengebräunten Arme vorteilhaft präsentierte. Für Morgenstern ein Rätsel, kam doch die Meldung über die entdeckte Leiche im Historischen Hafen, als Biondi im Büro vor dem Computer saß. Schon des Öfteren hatte Morgenstern den Kollegen ehrenhalber in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen, weil der in Kleidung erschienen war, die auf den Mordfall abgestimmt zu sein schien. Den obligatorischen Kommentar verkniff sich Morgenstern. Stattdessen stellte er Klausen die nächste Frage: »Ist Ihnen gestern oder heute früh etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Klausen überlegte kurz und griff dann in seine Hosentasche. Er zog das Freundschaftsband heraus und betrachtete es erneut. »Das habe ich an Bord gefunden. Scheint gestern jemand verloren zu haben. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass einer meiner Passagiere so etwas getragen hat.«

Biondi holte eine Beweismitteltüte aus seiner Tasche und ließ das Band darin verschwinden. Dabei machte er ein Gesicht, als entsorge er einen schweren modischen Fauxpas.

»Können Sie mir sagen, wie Sie gestern Abend Ihre Zeit verbracht haben?«

Klausen schaute Morgenstern mit einem resignierenden Blick an, der eine tiefsitzende Verbitterung nicht zu kaschieren vermochte. Er hatte die Frage erwartet. »Ich war allein in meiner Wohnung. Niemand hat mich gesehen. Keine Anrufe. Keine Zeugen.«

Morgenstern, dem die Anspannung des Kapitäns der Spreeschnuppe nicht entgangen war, fragte instinktiv: »Ist Ihnen die Tote bekannt?«

Klausen rieb sich unsicher die Hände. Während er kräftig ausatmete, nickte er müde und ließ dabei die Schultern hängen.

Morgenstern und Biondi wechselten erstaunte Blicke. Mit dieser Reaktion hatte keiner von beiden gerechnet.

»Ihr Name ist Sina Rogatz. Eine ehemalige Studierende von mir. Wir hatten ein …«, er hielt kurz inne, »… ein Missverständnis miteinander.«

»Sina Rogatz? Die Adoptivtochter von diesem Immobilienhai?«, fragte Biondi unvermittelt. Als seine Annahme mit einem Nicken bestätigt wurde, atmete er besorgt aus und ließ ein leises Pfeifen hören.

Dem Leiter der Mordkommission 1 entging das nicht, wusste er doch aus der bisherigen Zusammenarbeit, dass dies ein Zeichen für bevorstehende Komplikationen war. »Sie hatten miteinander ein Missverständnis?«, erkundigte er sich verwundert über die Formulierung.

»Das übliche Klischee: Professor in den besten Jahren verfällt dem Reiz einer Studierenden.«

Morgenstern zog genervt die rechte Augenbraue hoch. »Können wir uns auf Normaldeutsch unterhalten? Wir sind nicht von der Sprachpolizei.«

Klausen starrte Morgenstern entgeistert an, als sei schon die Bitte, auf das zu verzichten, was in akademischen Kreisen als Political Correctness empfunden wurde, eine Zumutung. Mit den Jahren hatte er den Begriff der Studierenden derart verinnerlicht, dass ihm die Absurdität des zwangseingeführten Wortes nicht mehr bewusst war. Verunsichert antwortete er: »Sina gehörte zu jenen Studenten, denen das Studium leichtfiel. Und ich war einer jener Dozierenden …«, schnell verbesserte er sich, »… Dozenten, die ihr Potenzial erkannten und sie förderten. Bewundernde Worte ihrerseits auf einer Studentenparty, ein paar Gläser Alkohol zu viel, und ich war meiner Vernunft beraubt. Das ist sieben Jahre her.« Klausen hielt inne und beobachtete die Aktivitäten an Bord der Spreeschnuppe. Zwei Männer bemühten sich, die Tote möglichst vorsichtig in einen Leichensack zu legen.

»Können Sie uns sagen, was damals geschehen ist?«

Ohne den Blick von den Beamten auf seinem Schiff zu wenden, antwortete Klausen: »Abgesehen davon, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe? Nichts! Es war ein Missverständnis. Ja, wir haben die Nacht in meinem Büro verbracht, allerdings nicht so, wie die Presse es mutmaßte. Einen intimen Kontakt gab es nicht. Sina hat ihren Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen. Ich habe sie zugedeckt. Mehr nicht.«

Morgenstern runzelte die Stirn. Die Erklärung kam ihm wie eingeübt vor. Vielleicht lag es daran, dass Klausen sich ständig hatte verteidigen müssen. Oder er verwendete die Worte mit Bedacht, um Widersprüche in seinen Aussagen auszuschließen. »Sie hatten ein Sofa im Büro?«

»Wenn es zu spät wurde, habe ich dort geschlafen. An jenem Abend feierte die Abteilung. Uns wurden Fördermittel für die Forschung zur Verfügung gestellt. Sina hatte zu viel getrunken, und ich habe ihr in einem Anfall von Nächstenliebe meinen Schlafplatz überlassen.«

»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«

»Auf dem Bürostuhl.« Klausen hob die Hände, um einem Kommentar vorzubeugen. »Unglaubwürdig, ich weiß! Sina behauptete ein halbes Jahr später etwas anderes.« Er starrte verbissen zur Mühlendammschleuse, vor der sich ein paar Ausflugsdampfer stauten. Dann ergänzte er verbittert: »Für die Presse war die Beschuldigung ein Seite-Eins-Thema. Renommierter Professor als Sexmonster enttarnt. Opfer läuft nackt, nur eingehüllt in ein beflecktes Laken, durch die Universität. Für die Schreiberlinge des Boulevards waren die Fotos von Sinas späterer Aktion ein ausreichender Beweis, um ihre Behauptung, missbraucht worden zu sein, als glaubhaft einzustufen.«

Morgenstern erinnerte sich an den Fall. Die junge Frau war Monate später mit dem Vorwurf, vergewaltigt worden zu sein, an die Öffentlichkeit getreten. Ihre Geschichte hatte eine Welle von Solidarität und in den Medien eine emotional geführte Diskussion, die fast schon hysterische Züge trug, ausgelöst. Fotos, die angeblich eine geschändete Frau zeigten, notdürftig mit einem Laken bedeckt, sorgten für empathische Entrüstung. Nach einiger Zeit wurden alle Vorwürfe fallengelassen. Vorher hatte eine Gruppe von Feministinnen das Laken wie die Fahne eines gestürzten Diktators unter grölendem Beifall vor der Universität verbrannt. Das einzige Beweismittel mutierte durch diese Protestaktion zu einem Heiligenrelikt. Schon damals hatte Morgenstern ein ungutes Gefühl gehabt. Wenn die Wahrheit zu einer Glaubensfrage wird, bedarf es keines Richters mehr.

»Ich mache mir nichts vor«, sagte Klausen resigniert. »Sobald die Presse Wind vom Tod Sina Rogatz’ bekommt, stehe ich erneut im Fokus.«

Morgenstern konnte dem nicht widersprechen. Besorgt fragte er sich, was da aus den Tiefen der Spree ans Licht gekommen war.

° ° °

Rudolf Peisker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Peisker Pharma AG, reagierte nicht auf das freundliche »Guten Morgen«, das ihm Luise mit einem Lächeln entgegenhauchte. Ohne die kaffeekochende Schönheit zu beachten, durchquerte er das Büro.

»Ihr Bruder konferiert gerade!«

Trotz dieser Mahnung riss er wütend die mit Leder gepolsterte Tür auf, die zum Allerheiligsten des Pharmaunternehmens führte, und marschierte in das Büro des Vorstandsvorsitzenden Alfred Peisker.

»Momentan können Sie …« Die Sekretärin beendete ihren Satz nicht. Sie sprang auf und tippelte empört hinter dem Choleriker her, einerseits um pflichtgemäß zu protestieren und anderseits um den Grund von Rudolfs Wut zu erfahren.

Von allen Vorstandsmitgliedern war Rudolf Peisker das unangenehmste. Ein Frauenheld und Despot, zynisch in allem, was er sagte, und gnadenlos, wenn es um eigene Interessen ging. Ein kräftiger, voluminöser, etwas zu klein geratener Mittfünfziger, dessen gewaltiger Stiernacken angsteinflößend war. Aus Zeitungsberichten wusste Luise, dass er an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main widerwillig Wirtschaftswissenschaft studiert hatte und seine Freizeit mit Ringen verbrachte. Ein vielversprechendes Talent, dem ein Platz in der Nationalmannschaft zugetraut worden war. Angeblich ließ eine Verletzung den Traum platzen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, Deutschlands Ringerhoffnung sei bei der Einnahme von Anabolika ertappt worden. Um einen Skandal zu vermeiden, hatte der Sportverband ihm ans Herz gelegt, die Karriere an den Nagel zu hängen.

Luise ahnte, Bedeutendes musste schiefgelaufen sein, wenn der Direktor fürs Grobe, wie Rudolfs Funktion im Unternehmen gern umschrieben wurde, derart kochte.

Alfred Peisker unterbrach die Ausführungen eines jungen Asiaten, der gerade vor der Gruppe stand und Zahlen einer Grafik erläuterte, und wandte sich seinem Bruder zu. »Kann ich behilflich sein?«

»Serotin!«, antwortete Rudolf Peisker, griff sich den freien Stuhl des Chinesen und ließ sich darauf nieder.

Das Gesicht des jüngeren Bruders verdüsterte sich. Er brauchte eine Weile, bis er reagierte. »Meine Herren, entschuldigen Sie uns bitte! Familienangelegenheiten. Manche Dinge erlauben keinen Aufschub. Luise, gehen Sie mit unseren Gästen in den Salon. Ich komme so bald wie möglich nach.«

Die vier Vertreter des chinesischen Unternehmens standen höflich lächelnd auf, verneigten sich, nahmen ihre Unterlagen und folgten Luise. Keiner der Herren ließ sich anmerken, dass er den Ernst der Situation verstanden hatte. Dennoch wusste der Vorstandsvorsitzende der Peisker Pharma AG, dass die Unterbrechung der Konferenz die Verhandlungen gefährdete. Sobald die Tür geschlossen war, platzte es aus ihm heraus: »Hast du sie noch alle? Es hat ein Vermögen gekostet, das Vertrauen der Chinesen zu gewinnen. Wir stehen kurz davor, uns mit dem asiatischen Markt zu arrangieren, und du platzt hier rein, als stünde eine Katastrophe bevor!«

Rudolf Peisker zog eine Kaffeekanne, die vor ihm auf dem Tisch stand, zu sich. Er schüttelte sie leicht und flüsterte bedrohlich: »Nah dran, Alfred! Wirklich nah dran!« Etwas ratlos suchte er nach einer unbenutzten Tasse. Als er keine fand, beschloss er, den Inhalt der vor ihm stehenden in eine andere zu gießen. Bedächtig füllte er sie anschließend halb voll mit frischem Kaffee. Bevor er an ihr nippte, ergänzte er süffisant: »Serotin hat Nebenwirkungen. Das Labor in Hanoi meldet, ein Proband sei in der letzten Nacht in eine Klinik eingeliefert worden. Die Testperson ist kollabiert. Womöglich hirntot. Fünf weitere Probanden liegen auf der Intensivstation.«

Alfred Peisker starrte seinen Bruder entsetzt an und richtete den Blick verzweifelt auf die Statistiken, die der Beamer an die Wand warf. »Das hat mit uns nur marginal zu tun«, entschied er dann, nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.

»Wir haben Vietnam-Medical beauftragt, das Zeug zu testen! Wir haben das Patent darauf.«

»Rudolf, beruhige dich! Es gibt Gründe, warum wir externe Labors beauftragen. Risikominimierung. Verantwortung delegieren. Einhundert Prozent rechtliche Unantastbarkeit. Bisher gab es keine Probleme mit dem Wirkstoff, oder?«

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Keine, die wir nicht unter dem Stichwort ›übliche Nebenwirkungen‹ listen könnten. Eine, gelinde gesagt, großzügige Interpretation.«

Schweigen erfüllte das geräumige Büro im obersten Stockwerk der Firmenzentrale mit dem traumhaften Blick auf die Gedächtniskirche.

Alfred Peisker stand auf und trat an die Fensterfront. Konzentriert beobachtete er den Platz vor der Kirche, auf dem Händler, Touristen und Taschendiebe ihr Tagwerk begannen. »Die Verantwortung liegt bei Vietnam-Medical«, entschied er und setzte sich wieder auf den Chefsessel. »Die Verträge sind wasserdicht. Niemand wird uns verklagen. Du machst dir unnötig Sorgen. Wir sind nicht für Fehler Externer verantwortlich.«

Erstaunt lehnte sich Rudolf Peisker zurück. Er ließ seinen Kopf kreisen, was an jene Zeit erinnerte, da er vor sportlichen Wettkämpfen zum Aufwärmen Übungen absolviert hatte. Konkurrenten zum Aufgeben zu zwingen, wenn er sie in eine aussichtslose Lage manövriert hatte, gehörte noch heute zu seinen bevorzugten Übungen. Langsam beugte er seinen gewaltigen Oberkörper über den Tisch, als gedachte er, jeden Moment einen Würgegriff anzuwenden. »Bist du so naiv? Hier geht’s nicht um Schmerzensgeld oder Abfindungen. Zur Erinnerung, du hast in einem Interview mit Financial Times erklärt, der Wirkstoff Serotin sei das Gottesteilchen der Pharmazie. Was glaubst du, wer du bist? Der Einstein der Pillendreher? Wenn wir nicht sofort handeln, wird jeder halbwegs begabte Journalist den Artikel ausgraben. Die Presse wird an deine großmundige Ankündigung erinnern. Von wegen, die Peisker Pharma stehe vor einem gigantischen Durchbruch in der Familienplanung! Die Höhe der Abfindungen machen mir keine Sorgen. Dass jemand bei den Tests zu Tode kam? Kann passieren! Aber sobald publik wird, dass wir ohne offizielle Genehmigung Medikamententests veranlasst haben, werden die Behörden uns auf die Finger schauen. Sie werden Fragen stellen, Unterlagen prüfen, das ganze Prozedere beleuchten. Du weißt, woher die Forschungsergebnisse stammen. Sollte ein Zusammenhang aufgedeckt werden, dürfte unsere Aktie ins Bodenlose fallen, und wir werden wieder zum günstigen Übernahmekandidaten. Serotin ist unsere letzte Chance! Das macht mir wirklich Sorgen.«

Alfred Peisker begann, die Tragweite des Ganzen zu begreifen. Er war blass geworden und brauchte einen Moment, bevor er die richtige Frage stellte. »Was können wir tun?«

»Jemanden beauftragen, der vor Ort die Probleme löst, eventuelle Fragen in die gewünschte Richtung lenkt, Geld in hungrige Mäuler stopft, eine Person, die überzeugend ist.«

»An wen hast du gedacht?«

»Doktor Solvig Bormann.«

»Ist nicht dein Ernst?«

»Die Bormann ist geil darauf, Karriere zu machen. Ein Master mit Auszeichnung in Vertragsrecht. Zweitstudium Biochemie. Ihren Doktor hat sie auf dem Gebiet des Patentrechts für den biotechnologischen Bereich erworben. Die feilt sich die Zähne, wenn es sein muss. Wir schicken sie nach Hanoi und stellen ihr einen Vorstandsposten in Aussicht. Ganz nebenbei ist das auch noch gut für die beschissene Gleichstellungsquote.«

»Ist sie nicht ein bisschen jung?«

»Wir brauchen jemanden, der unverbraucht, sympathisch und glaubwürdig rüberkommt. Das nimmt man ihr ab. Wichtiger noch, sie ist knallhart. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.«

»Solvig Bormann?«

Rudolf zeigte seine strahlend weißen Zähne.

Sein kleiner Bruder wusste, was das bedeutete. »Hast du sie gebumst?«

Der ehemalige Ringer lachte laut, als hätte er einen guten Witz gehört. »Das war mir nicht vergönnt. Nur ein paar Fotos mit meinem Smartphone, beim täglichen Rapport, unterm Schreibtisch. Kurzer Rock, jeden Tag ein anderer Slip. Manchmal gar keiner. Hat sie dummerweise bemerkt.«

»Rudolf, du bist ein Schwein. Sexuelle Belästigung – genau das brauchen wir jetzt noch!«

Erneut gab Rudolf Peisker ein beherztes Lachen von sich, das Stolz und Verachtung zugleich ausdrückte. »Brüderchen, das läuft unter Konzeptkunst. Wie gesagt, die Süße kann knallhart verhandeln.«

Alfred Peisker dachte nach. Sicherlich, es würde sie einiges kosten. Die Vietnamesen würden sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Aber wenn alle vernünftig waren, ließ sich das Ärgernis noch unter den Teppich kehren. Rudolfs Idee klang gut. Solvig Bormann verfügte über die fachliche Kompetenz, war, was Rechtsfragen anging, gut aufgestellt. Und offensichtlich verstand sie etwas davon, heikle Situationen vorteilhaft auszunutzen und nicht gleich in Panik zu verfallen. »Kläre du das! Nichts Offizielles. Du und ich treten nicht in Erscheinung. Ich muss mich um unseren Partner in Asien kümmern. Die Schlitzaugen sind ziemlich clever.«

° ° °

Nach einer ersten Beratung im LKA und der Verteilung der Aufgaben verschwand Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern in seinem Büro. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sinnierte über die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher erlangt hatten.

Gegen jede Gewohnheit hatte auch der Leiter des LKA 1, Max Herting, an der Beratung teilgenommen. Seit Tagen geisterte das Gerücht durch die Gänge, dass der Chef der Berliner Mordkommissionen seinen Eintritt in den Ruhestand verschieben wolle. Selbst Atheisten neigten unter diesen Umständen unweigerlich dazu, himmlischen Beistand zu erbitten. Vergeblich! Tatsächlich verkündete Herting stolz, dass er sich bereit erklärt habe, weitere zwei Jahre die Geschicke der Abteilung zu führen. Hoch motiviert drohte er, die an dem Fall arbeitenden Beamten mit seiner jahrelangen Erfahrung zu unterstützen. Bei einigen führte diese Ankündigung fast schon zu Panikattacken.

Alle waren sich darüber einig, dass es keinen Grund gab, Mathias Klausen vorläufig festzunehmen. Vorerst galt der Kapitän der Spreeschnuppe nicht als tatverdächtig. Offiziell wies ihm die Akte den Status eines Zeugen zu. Dem ehemaligen Professor eine Fluchtabsicht zu unterstellen wäre nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen absurd.

Dennoch machte sich Morgenstern Sorgen, die er weder beschreiben noch mit Argumenten stützen konnte. Seine Berufserfahrung oder eine unbestimmte Ahnung, die sich aus den ungewöhnlichen Begleitumständen des Falls nährte, war der Grund dafür. Sina Rogatz war nicht irgendein Opfer. Ihr Vater Walter Rogatz war eine schillernde Persönlichkeit, deren Investmentunternehmen weltweit Niederlassungen besaß – Berlin, New York, London, Barcelona, Istanbul, Neu-Delhi und Kapstadt waren die wichtigsten. Seine Holding war an diversen Unternehmen beteiligt und investierte beträchtliche Summen in lukrative Immobilien.

Dass die Leiche seiner Adoptivtochter unter dem Ausflugsdampfer jenes geschassten Professors gefunden worden war, der Jahre vorher in Verdacht geraten war, sich an ihr vergangen zu haben, schien bedenklich. Die Tote sollte gefunden werden, und selbstverständlich sollte die Kriminalpolizei über diesen Zusammenhang stolpern. Das war offensichtlich, fand Morgenstern. Mit den Jahren hatte er zwei Dinge verinnerlicht. Erstens: An Zufälle konnte man glauben, nur taugten sie in der Realität nicht als Antwort. Zweitens: Alles hing mit allem zusammen, wie bei einem Schachspiel. Alle Figuren verhielten sich auf dem Spielfeld wie Magneten, zogen einander an oder stießen einander ab. Ein neuer Zug konnte schlagartig dazu führen, dass sich die gesamte Konstellation veränderte.

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Morgenstern das Gefühl, dass jemand versuchte, die Ermittlungen zu manipulieren. Männliche Intuition nannte er das mit einem Schmunzeln und brachte damit regelmäßig Anna Balin, seine Lebensgefährtin, zum Lachen.

Ein gerahmtes Bild, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und das auf seinem Schreibtisch stand, riss Morgenstern aus seinen Gedanken. Als ein »Geliebtinnenbild« bezeichnete es Anna. Sie war der Überzeugung, dass es ein Gesetz oder eine Verordnung gab, die Polizisten verpflichtete, das Foto ihrer Herzallerliebsten am Arbeitsplatz angemessen zu platzieren. Ein unverzichtbarer Glücksbringer zur Stärkung des seelischen Gleichgewichts. Und selbst wenn es keine amtliche Bestimmung gab, täte Morgenstern ihr Bild garantiert gut.

Nachdenklich nahm Morgenstern das Porträt in die Hand und strich mit dem Daumen liebvoll über das abgebildete Gesicht. Heute war ihr zweieinhalbjähriges Kennenlernjubiläum. Dass er sich mit seinen vierzig Jahren erneut verliebt hatte, hielt er für ein kleines Wunder. Anna bestand darauf, das Jubiläum angemessen zu feiern. Beide konnten auf eine gescheiterte Ehe zurückblicken und gingen behutsam mit dem neuen Glück um. Noch immer knisterte es zwischen ihnen, auch wenn Routine in ihren Umgang Einzug gehalten hatte. Nichts, was Morgenstern Sorgen bereitete – dennoch, er war auf der Hut. Beziehungen verbrauchten sich, wenn man sie nicht pflegte, hatte ihn das Scheitern seiner Ehe gelehrt.

Anna hatte für den Abend eine kulinarische Überraschung angekündigt, ohne auch nur ein winziges Detail zu verraten. Nachfragen brachte nichts, stattdessen hatte sie an jene männliche Intuition appelliert, die ihm verraten sollte, was sie in ihren Töpfen an Leckerem zubereiten würde.

Seit ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee zog sie ihn mit diesem Thema auf. Nach ein paar Plastikbechern Wein am Strand hatte er damals von der maskulinen Form der Eingebung gesprochen. Während beide verliebt den Sonnenuntergang beobachtet hatten, behauptete er: »Meine männliche Intuition sagt mir, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, archaische Veranlagungen in körperliche Aktivitäten umzusetzen. Ich finde, wir sollten das Bett der Ferienwohnung durchwühlen.«

Die umständliche Umschreibung seiner Begierden löste bei Anna einen Lachanfall aus. Schließlich erklärte sie mit ernster Stimme: »Männliche Intuition gibt es nicht!«

»Was macht dich da so sicher?«, erkundigte er sich und tat beleidigt.

»Du magst archaische Bedürfnisse haben, aber diesen Druck, den du verspürst …«, sagte sie und kicherte dabei albern, »… also der Druck, Genmaterial weiterzugeben, hängt ausschließlich mit frühzeitlichen männlichen Urängsten zusammen.«

»Wie bitte?«, erwiderte er mit gespieltem Unverständnis, legte schmollend den Kopf auf ihren Schoß und schaute sie vorwurfsvoll an. »Ich hasse es, als Mann nur auf das eine reduziert zu werden. Männer haben auch Gefühle!«

»Selbstverständlich! Hunger und Durst«, entgegnete sie und strich liebevoll mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar.

»Du verkennst Männer im Allgemeinen und mich im Besonderen. Y-Chromosom-Träger sind komplexe Lebensformen!«

»Chaotische Zellkonglomerate und erschreckend simpel strukturiert«, konterte Anna. »Männer haben leicht verständliche Bedienungsanleitungen. Frau muss sie nicht erst studieren, um zu wissen, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Seit Urzeiten hat sich daran nichts geändert. Essen, Trinken, Gene weitergeben.«

Protestierend hob er den Finger. »So siehst du mich?«

Statt eine Antwort zu geben, küsste sie ihn.

»Ich möchte an meine Ahnen erinnern, die vor 32 000 Jahren in der Chauvet-Höhle in Frankreich lebten. Ich stamme aus einer Linie feingeistiger Urväter, wie noch heute an den beeindruckenden Wandmalereien zu erkennen ist.«

Kopfschüttelnd formte Anna seine Haare zu einem Hahnenkamm, wie zuweilen Punks ihn tragen, und gab zu bedenken: »Woher willst du wissen, dass Männer die Bilder gezeichnet haben?«

Er blieb die Antwort schuldig. Schlimmer noch, er musste sich in Gedanken eingestehen, dass er eine andere Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen hatte.

»Wenn der Mann ständig durch den Wald rennt, um Mammuts zu jagen, entwickeln sich zwangsläufig Ängste. Hinter jedem Baum lauert die Gefahr, gefressen zu werden. Der Weg in die heimische Höhle wird aus unerklärlichen Gründen nicht mehr gefunden. Altersbedingt lassen einen die Mammutjägerkollegen als überdrüssige Last zurück. Zweifelsfrei hat das über Tausende von Jahren zu einem evolutionären Trauma geführt. Mit Intuition, gar männlicher, hat das nichts zu tun. Wenn deine Altvorderen nach Wochen nach Hause kamen, verspürten sie garantiert nicht das Bedürfnis, Wände zu bemalen.«

»Du bist gemein!«, hatte er schmollend geantwortet und behauptet, dass er bei derart negativen Äußerungen eine gewisse Verkümmerung verspüren würde.

Morgenstern stellte Annas Bild schmunzelnd zurück auf seinen Schreibtisch und nahm sich vor, ihr abends zu sagen, wie sehr er sie liebte.

Tatsächlich hatten sie es danach am Strand getrieben, wie Anna es zu nennen pflegte. Er hatte Bedenken geäußert und auf seine Position als Kriminalhauptkommissar hingewiesen. Erfolglos. Anna beherrschte seine Bedienungsanleitung perfekt.

Nein, Morgenstern machte sich im Moment Sorgen, weil eine innere Stimme ihm riet, den Tod der jungen Frau aus der Spree mit gebührender Vorsicht zu behandeln. Biondis Informationen über den Investor Walter Rogatz und die Vorliebe seiner Rechtsanwälte, unliebsame Zeitgenossen mit einem Stakkato von Klagen mundtot zu machen, waren legendär.

Verkompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass Herting darauf bestand, die schreckliche Nachricht vom Tod der Tochter persönlich zu überbringen. »Das schulde ich einem alten Freund«, hatte er mit pathetischer Stimme in der Dienstberatung verkündet und, ohne zu überlegen, behauptet: »Walter würde das Gleiche für mich tun!«

Morgensterns Gesicht musste wie ein offenes Buch zu lesen gewesen sein. Angesichts seiner unverholenen Ungläubigkeit hatte sein Chef verärgert gemeint, dass ein wichtiger Termin seine Anwesenheit fordere. Anschließend hatte er die Beratung missmutig und mit erhobenem Zeigefinger verlassen. »Ich bin durchaus in der Lage, persönliche Empfindungen und kriminalistische Anforderungen unter einen Hut zu bringen.«

Keiner hatte Hertings Predigt kommentiert.

Jeder von Morgensterns Kollegen wusste, auf welches Puzzleteil er sich bei dem Mordfall Sina Rogatz zu konzentrieren hatte. Nur die Vorstellung, Herting weitere zwei Jahre als Chef zu ertragen, sorgte für spürbare Resignation.

Morgensterns spätere Nachfrage, wie Walter Rogatz auf den Tod seiner Adoptivtochter reagiert habe, beantwortete Herting knapp mit den Worten: »Wie erwartet – beherrscht.«

° ° °

Linda Mörike versuchte zwar, ihren Status als Zugezogene zu kaschieren, aber da die Kriminalkommissarin ständig Formulierungen verwendete, die keinem Berliner über die Lippen kamen, verriet sie sich regelmäßig. Fragte ein Kollege danach, wann ihr Dienst begann, lautete ihre Antwort »Viertel vor neun« und nicht, wie in Berlin üblich, »Drei viertel neun«. Sie sagte »an Weihnachten« und nicht »zu Weihnachten«. Beim Bäcker verlangte sie Schrippen erst nach kurzem Zögern, als suche sie die passende Vokabel. Versuche, die Berliner Mundart zu verinnerlichen, scheiterten kläglich. Mit der verabreichten Muttermilch war ihr auch der rheinische Dialekt eigen geworden. Wenn es überhaupt jemanden gegeben hatte, der angenommen hatte, Linda habe Berliner Wurzeln, war er spätestens eines Besseren belehrt worden, als sie zum Nachmittagskaffee eine Spezialität kredenzt hatte, die es wahrscheinlich nur in ihrem Heimatort Niederkrüchten gab: Vollkornbrot dick mit Butter bestrichen und mit Spekulatius belegt. Zu ihrem einjährigen Jubiläum bei der Mordkommission brachte sie eine Platte mit den beliebten Leckerbissen mit. Hans Morgenstern verspürte augenblicklich das Gefühl spitzer Zähne. Paul Brenecke umschrieb die eigenwillige Komposition mit »Geschmacksfasching«. Max Herting, der einen Riecher zu haben schien, wann es in seinem Verantwortungsbereich Kulinarisches umsonst gab, nannte die Zusammenstellung »interessant«. Morgenstern probierte aus Höflichkeit und murmelte etwas von »Gewürznelkenallergie«. Einzig Bruno Biondi hatte die Komposition »spannend« gefunden und beherzt zugegriffen.

Niemand von ihnen wusste, wie es Linda Mörike gelungen war, ohne berufliche Erfahrung und direkt nach dem Studium einen Posten in der Mordkommission zu erhalten. Fragen beantwortete sie lapidar mit dem Hinweis »Glück gehabt!«. Dass dieses Glück dem männlichen Bedürfnis des amtierenden Polizeipräsidenten zu verdanken war, den sie bei der Verbesserung seiner Lebensqualität mit der Pressesprecherin des LKA erwischt hatte, behielt sie für sich. Auch über den wahren Grund, warum sie unbedingt in der Abteilung Mord arbeiten wollte, schwieg sie. Einer ihrer Kollegen war jener Mann, der sie mit Gewalt gezeugt hatte. Sie hatte sich geschworen, ihn zu finden.

Als Linda am Nachmittag Morgensterns Büro betrat, um ihm die Tatortfotos vom Märkischen Ufer zu bringen, stellte sie ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch, nahm seine Aktentasche vom einzigen Stuhl und setzte sich. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies zu tun pflegte, hatte Morgenstern anfänglich irritiert. Dennoch sah er keinen Anlass, die Vertrautheit zu unterbinden. Das heiße Gebräu kam stets zum richtigen Zeitpunkt, und sein Duft ließ ihn schwach werden. Menschen mit dem Hang zum Genießen besaßen keinen Standesdünkel. Die anfänglichen Differenzen zwischen dem Hauptkommissar und der Kommissarin hatten sich verflüchtigt. Linda gehörte zu Morgensterns Team, und er war froh darüber.

Anna hatte ihn als bestechlich verurteilt, als er von Lindas Kaffeekünsten und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn regelmäßig überfiel, berichtet hatte. Ihre Begründung: Es bedurfte lediglich eines meisterhaft zubereiteten Genussmittels, um ihn all seine hehren Grundsätze vergessen zu lassen.

Neugierig schaute Morgenstern die Tatortfotos durch. Sie waren tadellos, auf das Wesentliche fokussiert, sie bewahrten Distanz. Zwar zeigten sie das Schreckliche in allen Facetten, aber Hannes Gärtner schien über einen emotionalen Filter zu verfügen, der eine Tragödie in etwas Sachliches verwandelte. Ihm gelang es, einen verwesten Körper wie ein Biotop erscheinen zu lassen. Ein zerschmettertes Gesicht sah auf seinen Bildern wie das Ergebnis einer Laborprobe aus, an der die mechanische Einwirkung eines schweren Gegenstands überprüft worden war. Schusswunden wirkten wie die Krater ferner Gestirne, die eine hochgerüstete Sonde detailliert aufgenommen hatte. Niemand beherrschte das Spiel mit Licht und Fokus so perfekt wie Gärtner. Es gab Kollegen, die derartige Abzüge als kalt bezeichneten. Linda war spontan der Begriff »entmenschlicht« eingefallen. »Den Aufnahmen fehlt jegliche Nähe«, hatte sie noch hinzugefügt.

Morgenstern verspürte Dankbarkeit dafür, dass ihn Gärtners Fotos nicht in seinen Träumen verfolgten.

Eines der Bilder, die nun auf seinem Tisch lagen, zeigte eine Tätowierung. Sie befand sich unterhalb der rechten Schulter der Toten. Gärtner hatte sie mit einem Textmarker eingekreist. Eine Vergrößerung des Ausschnitts zeigte ein stilisiertes Chamäleon.

»Hatte das Opfer noch andere Tätowierungen?«

»Nein, es ist die einzige. Ein eher selten gewähltes Motiv«, antwortete Linda und nippte an ihrem Kaffee. Dann ergänzte sie: »Erfahrungsgemäß wird ein Tattoo bewusst ausgewählt, und meist symbolisiert es eine Überzeugung. Das Chamäleon steht womöglich für Wandelbarkeit.«

»Möglicherweise hat Sina ja nur eine Wette verloren. Oder sie mag diese Viecher.«

»Glaube ich nicht. Vielleicht, wenn es ein Häschen wäre. Von mir aus auch ein Schmetterling. Aber ein Chamäleon? Zu speziell!«

Nachdenklich betrachtete Morgenstern die Vergrößerung. »Was meinst du mit Wandelbarkeit?«, erkundigte er sich und sinnierte gleichzeitig darüber, welche Gründe es geben mochte, dass Menschen sich Endgültiges in die Haut tätowieren ließen.

»Die Wissenschaft bezeichnet das Verhalten dieser Tiere als Mimese, gemeint ist die Fähigkeit, sich der Umgebung in Gestalt, Farbe und Haltung anzupassen. Eine Variante ist die Thanatose, die sogenannte Schreckstarre, eine Strategie, die vor einer potenziellen Bedrohung schützen soll.«

Morgenstern betrachtete das Tattoo erneut. Es war meisterhaft gestochen. Es musste von jemandem gesetzt worden sein, der sein Handwerk verstand. »Wäre interessant herauszufinden, warum sich Sina ausgerechnet für dieses Motiv entschieden hat. Vielleicht kannst du das Studio ausfindig machen. Thana … Wie hieß das doch gleich?«

»Thanatose. Benannt nach Thanatos, einem griechischen Totengott. Glaubt man den Überlieferungen, lebt der an einem Ort, wo Nacht und Tag einander begegnen. Angeblich wohnt dort auch der Schlaf.«

Morgenstern ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Lindas Überlegungen waren interessant. Er würde dem nachgehen, wie jedem Anhaltspunkt, der zur Klärung des Falls verhalf. Besser gesagt, sie würde dem nachgehen.

Bevor Linda das Büro verließ, betrachtete sie Morgenstern zum wiederholten Male eingehend. Sie scannte jeden Mann im LKA nach verräterischen Gesichtszügen. Ihr Chef hatte den Kopf gedreht und studierte die Daten auf einem Wandkalender. Sein Profil wirkte männlich – markante Züge und ein kräftiges Kinn. Morgenstern war zu jung, um ihr Vater zu sein. Bevor Linda die Bürotür schloss, fragte sie sich, ob sie sich ihm anvertrauen könne. Würde er ihr helfen, ihren Erzeuger zu finden?

Seit einem Jahr lebte Linda in Berlin. Nach anfänglichen Querelen hatte sie ihren Platz in der Mordkommission gefunden. Dass die meisten Kollegen sie für eine Karrieristin hielten, lag auch daran, dass sie neben ihrer Arbeit für eine Dissertation forschte. Entwicklung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in der BRD im Hinblick auf Vergewaltigungsopfer. Die Doktorarbeit diente einzig und allein dazu, unauffällig im Archiv arbeiten zu können. Neugierige Fragen blieben ihr erspart. So erkundigte sich keiner, warum sie in alten Akten recherchierte und sich für Fälle interessierte, die alle aus dem Jahr 1986 stammten, ihrem Geburtsjahr.

Inzwischen hatte Linda eine Liste aller Mitarbeiter des LKA erstellt, die damals tätig gewesen waren und aufgrund ihres Alters als ihr Erzeuger infrage kamen. Jüngere oder erheblich ältere Kollegen schloss sie aus. Ihre Mutter war damals 29 gewesen. Einige von den Männern auf Lindas Liste arbeiteten im Landeskriminalamt, andere waren die Karriereleiter hinaufgeklettert, wenige hatten, aus welchen Gründen auch immer, den Dienst quittiert. Schließlich war die Gruppe der Verdächtigen auf zwölf Personen geschrumpft. Mit einigen von ihnen arbeitete sie zusammen.

° ° °

Da sich Max Herting freiwillig verpflichtet hatte, die Familie Rogatz zu informieren, beschloss Hans Morgenstern, den Nachmittag damit zu verbringen, die Wohnung der Toten zu besichtigen. Dank Klausens Identifizierung konnte Morgenstern problemlos Sina Rogatz’ Wohnanschrift ermitteln. Sie hatte in einer Wohngemeinschaft in Moabit gelebt.

Wie befürchtet, befand sich die Wohnung im obersten Stock, und natürlich besaß das Haus keinen Fahrstuhl. Morgenstern klingelte, und statt der Frage, wer Einlass begehre, vernahm er nur die verrauschte Stimme einer Frau. »Vierte Etage!«

Morgenstern rannte die Treppe im Vorderhaus hinauf, schnell, ambitioniert, den angefutterten Kilos den Kampf ansagend. Außer Atem stand er schließlich vor der Wohnungstür und klingelte erneut.

Eine junge Frau öffnete und taxierte ihn abfällig. Sie erwartete offensichtlich jemand anderen. »Bringen Sie die Bestellung?«, fragte sie. Die hochgewachsene und sportlich wirkende Frau trug eine zu enge englische Schuluniform. Der karierte Rock war allerdings beträchtlich kürzer, als es an derartigen Lehranstalten üblich war. Er gab den Blick auf grobmaschig bestrumpfte Beine frei, und die gewählte Bluse wurde nur von zwei Knöpfen geschlossen, denen die von einem Korsett gehaltenen Brüste jeden Moment den Garaus zu machen drohten.

Morgenstern hielt entschuldigend seinen Dienstausweis hoch und musste sich zwingen, keinen Ton der Bewunderung über derart prachtvoll dargebotene Üppigkeit von sich zu geben. »Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Wohnt hier Sina Rogatz?« Im selben Augenblick wurde ihm klar, wie absurd die Frage war. »Wohnte«, hätte er fragen müssen.

»Sie ist nicht hier«, antwortete die Frau verunsichert.

Morgenstern schaute auf die Namen an der Klingel. »Und Sie sind?«

»Constanze Kilian.«

»Kann ich Sie kurz sprechen? Es wäre angebracht, das nicht im Treppenhaus zu tun.«

Constanze trat einen Schritt zur Seite, und noch bevor die Wohnungstür hinter Morgenstern ins Schloss fiel, fragte sie: »Ist sie tot?«

Sie stellte die Frage so selbstverständlich, wie sich andere nach der Uhrzeit erkundigten oder danach, ob es notwendig wäre, bei bedecktem Himmel einen Regenschirm mitzunehmen.

Morgenstern schaute sie erstaunt an. »Warum vermuten Sie das?«

»Ich zieh mich schnell um. Setzen Sie sich in die Küche. Kaffee ist gerade durchgelaufen. Ich nehme auch einen. Milch, zwei Stück Zucker.«

Ein paar Minuten später nahm sie die Tasse, rührte kurz um und trank einen Schluck. Sie trug ein ausgewaschenes Sweatshirt und eine Jogginghose, die gemütlich wirkte. Auch wenn ihr jetziges Aussehen die Konzentration auf das Wesentliche förderte, so bedauerte Morgenstern den Kleidungswechsel. Sobald sie am Tisch saß, fragte er: »Warum glauben Sie, dass Sina tot ist?«

»Sie hat ständig damit gedroht – oder besser gesagt, kokettiert.« Constanze zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Ohne ihn zu fragen, ob er einverstanden sei, zündete sie sich eine an.

»Wir haben ihre Leiche heute früh aus der Spree geborgen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.«

Die Frau blies den Rauch über ihre Köpfe und bemühte sich, ihre Bestürzung unter Kontrolle zu halten. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Noch bevor sie die ersten Tränen vergoss, zog Morgenstern ein gebügeltes Stofftaschentuch aus seinem Jackett und bot es ihr an. Sie schüttelte den Kopf und legte die Zigarette in den Aschenbecher. Dann stand sie auf, riss ein Blatt Papier von einer Küchenrolle ab und schniefte hinein. Danach setzte sie sich zurück an den Tisch, nahm die Zigarette und wies damit auf das Taschentuch.

»Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Alte Schule, oder?«

Morgenstern antwortete nicht, steckte das Tuch aber wieder ein. »Sind Sie eine Kommilitonin von Sina?«

»Nein, Sina ist schon seit Jahren mit dem Studium fertig. Wir teilen uns nur die WG.«

»Wohnt noch jemand hier?«

»Das dritte Zimmer ist nie vermietet worden. Sina und ich haben zwar darüber nachgedacht, dann aber beschlossen, uns die Kosten für die Wohnung zu teilen.

»Darf ich fragen, was Sie studieren?«

»Betriebswirtschaft. Noch zwei Semester, dann habe ich meinen Master.«

»Das Studium finanzieren Sie, indem Sie sich per Webcam präsentieren?«

Constanze schaute ihn prüfend an. »Vom Alter her könnten Sie einer meiner Kunden sein.«

Morgenstern sparte sich einen Kommentar, auch wenn er sich fragte, warum Männer seines Alters virtuelle Frauen realen vorzogen.

»Männer ab einem bestimmten Alter sind großzügig, wenn sie ihre Fantasien verwirklicht sehen«, beantwortete sie die Frage, obwohl er sie nicht laut gestellt hatte. »Ich habe einen festen Kundenkreis. Zehn Herren insgesamt. Der Älteste ist 78. Sie zahlen für eine Selbsttäuschung. Jeder glaubt, dass ich Gefühle für ihn empfinde.« Sie zog an ihrer Zigarette und bemerkte mit trotziger Stimme, als müsse sie sich entschuldigen: »Das ist anständig verdientes Geld.«

»Hat Sina auch derartige Dienstleistung angeboten?«

»Sina?« Constanze zögerte, bevor sie die Frage beantwortete. »Gut zwei Jahre. Anfänglich dachte ich, sie wollte es nur ausprobieren. Macht ausüben und so. Sina war echt talentiert darin. Dabei hatte sie es nicht so mit Männern. Auf Frauen stand sie allerdings auch nicht.«

»Wie kommen Sie denn zu dieser Einschätzung?«

Constanze schaute Morgenstern an, drückte ihre Zigarette energisch im Ascher aus und sagte mit einem leichten Bedauern: »Ich bekomme nicht oft einen Korb. Egal, ob von Männern oder Frauen. In Sina habe ich mich getäuscht. Sie war asexuell.«

Morgenstern brauchte einen Augenblick, verstand dann aber. »Kennen Sie Sinas Kunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht ihre Namen.«

»Bekam Sina oft Besuch?«

»Nein, niemals.«

»Freunde? Kollegen? Ehemalige Kommilitonen?«

Wieder verneinte sie.

»Können Sie mir sagen, was Sina sonst so in ihrer Freizeit gemacht hat?«

»Freizeit war ein Fremdwort für sie. Sie verbrachte jede freie Minute in ihrer Firma. In der Nacht beglückte sie Kunden. Ein schwerer Fall von Workaholismus. Dienstags ging sie regelmäßig zur Therapie.«

»Sie hatte eine Firma?«

»Chromosoph. Ein Start-up. Hat sie gemeinsam mit zwei Studienfreunden gegründet.«

Morgenstern überlegte, welche Frage er stellen wollte, bekam aber auch diesmal die Antwort, bevor er sich entschieden hatte.

»Ich habe keine Ahnung, was Chromosoph macht. Sie tat immer sehr geheimnisvoll. Einmal erwähnte sie, dass eine Menge Geld mit ihrer Forschung zu verdienen sei.«

»Wissen Sie, was für eine Therapie Sina gemacht hat?«

»Wahrscheinlich so eine ›Meine-Kindheit-war-scheiße‹-Therapie.« Augenblicklich bereute Constanze die Formulierung und machte eine entschuldigende Geste. »Wem es hilft!«

»Haben Sie die Adresse von dem Therapeuten?«

Sie stand auf, nahm eine Visitenkarte von einem Wandbrett und reichte sie Morgenstern über den Tisch. »Doktor Bedürftiger. Kein Witz! Der Kerl heißt wirklich so.«

»Können Sie mir sagen, warum Sina glaubte, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen?«

»Ich weiß nicht viel über sie. Geheimnisse waren ihr Steckenpferd.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Morgenstern das Gefühl, dass er nicht die volle Wahrheit erfuhr. »Ich möchte gern Sinas Zimmer sehen.«

° ° °

Sich fremde Wohnungen anzuschauen empfand Morgenstern immer als eine Verletzung der Privatsphäre. Die unbekannten vier Wände verrieten nicht nur etwas über den Geschmack und den Lebensstil der Person, die dort lebte, sondern gaben auch Details preis, die Dritten verborgen bleiben sollten. Sofort fiel Morgenstern auf, dass Sinas Zimmer mustergültig aufgeräumt war. Das Bett war gemacht, nichts lag herum, der Inhalt der Schränke war nach praktischen Erwägungen sortiert. Dann bemerkte er, dass sie auf jegliche Verschönerung verzichtet hatte. Keine Bilder, Plakate oder Fotos. Auch der Schreibtisch verriet nicht, dass an ihm gearbeitet wurde. Ein paar Bücher, allesamt Fachpublikationen, standen, der Größe nach aufgereiht, in einem schlichten Regal. Das Zimmer wirkte nicht wie jenes einer jungen Frau aus gutsituiertem Hause. Der einzige Unterschied zu dem Zuhause eines nach eremitischen Grundsätzen lebenden Menschen schien der Computer zu sein. Auch wenn Morgenstern kein Spezialist war, konnte er doch erkennen, dass es sich um ein hochwertiges Gerät handelte.

Normalerweise stellte sich bei ihm ein Gefühl für die Person ein, deren Lebensmittelpunkt er in Augenschein nahm. Diesmal schwieg sein Inneres. Vielleicht war es die Enttäuschung darüber oder einfach nur jahrelange Routine, die ihn veranlasste, die Tastatur zur Seite zu schieben. Darunter lag ein Briefumschlag. Adressiert war er nicht, er schien aber schon eine Weile in Benutzung zu sein. Mit dem Taschentuch, das Constanze nicht hatte benutzen wollen, zog er den Umschlag hervor. Der war unverschlossen und enthielt Polaroidaufnahmen. Morgenstern nahm sie vorsichtig heraus und musste schlucken. Sie zeigten ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, und einen Mann beim Sex. Das Gesicht des Mädchens war deutlich erkennbar, das des Mannes war mit einem Retuschierpinsel unkenntlich gemacht worden. Bei dem Mädchen handelte es sich eindeutig nicht um Sina. Die Physiognomie war eine andere. Behutsam steckte Morgenstern die Fotos ein. Es kam ihm so vor, als seien die Polaroidaufnahmen so platziert worden, dass sie gefunden werden sollten.

Die übrigen Räume der Wohnung erschienen ihm uninteressant. Ein weiteres Zimmer enthielt nur einen leeren Wäscheständer und ein paar zusammengefaltete Umzugskisten. Auch das Bad wirkte spartanisch, mit billigen Schränken ausgestattet und mit einer schmalen Dusche versehen.

° ° °

Wieder im Büro, fasste Morgenstern alle Erkenntnisse in einer Akte zusammen und notierte Fragen, denen nachzugehen war. Gegen achtzehn Uhr beschloss er, Feierabend zu machen. Anna Balin wartete auf ihn.

Er hatte sich angewöhnt, mit der S-Bahn zu fahren, wenn er Anna besuchte. Der anschließende Spaziergang vom Bahnhof zu ihrer Wohnung half ihm nicht nur beim Kampf gegen die Pfunde, sondern auch dabei, den stressigen Tag zu vergessen.

Nachdem er aus der Bahn gestiegen war, erwarb er einen Strauß Gladiolen, von denen er wusste, dass es ihre Lieblingsblumen waren. Das Leben auf dem Savignyplatz pulsierte. Alle schienen die warmen Tage genießen zu wollen. Touristen ließen das tagsüber Erlebte vor den Cafés und Restaurants Revue passieren und planten die Höhepunkte für den kommenden Tag. Ein paar junge Roma standen vor den Tischen und spielten mechanisch eine Melodie. Zwischendurch rief einer von ihnen »Freude« und strahlte jeden auffordernd an, dessen Blick in seine Richtung ging. Wenige lächelten zurück. Die meisten ignorierten ihn. Einige schauten demonstrativ weg. Morgenstern empfand die Musik als nervig. Er gab aus Prinzip nie Geld. Anna dagegen suchte regelmäßig einige Cent zusammen. Als sie einmal keine Münzen in ihrer Tasche gefunden hatte und er mosernd seine Brieftasche plündern musste, hatte sie gefragt, ob es ihm lieber wäre, wenn er beruflich mit diesen Jungs zu tun hätte. Er hatte nicht darauf geantwortet.

Schon im Hausflur roch Morgenstern, dass Anna etwas Neues versucht hatte. Ihre Begeisterung für das Ausprobieren von exotischen Rezepten war dafür mitverantwortlich, dass er fünf Kilo auf der Habenseite verbuchen musste. Eine Tatsache, die ihm Sorgen bereitete. Anna war eine brillante Köchin und er, zugegebenermaßen, ein williges Opfer kulinarischer Experimentierfreude.

Anna öffnete die Tür und begrüßte ihn in einem farbenfrohen Kaftan. Erfreut nahm sie ihm die Blumen ab. Ihre Umarmung war leicht, und dennoch spürte er die Wärme und die Rundungen ihres Körpers, die von dem weichen Stoff verführerisch umflossen wurden. Sie küsste ihn zur Begrüßung flüchtig auf den Mund und zog ihn aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Tisch war exotisch gedeckt und die Dekoration bis ins kleinste Detail auf das Essen abgestimmt.

»Heute gibt es afrikanische Pasteten«, verkündete sie und machte eine einladende Geste, die seinen Blick auf schwarze Steingutteller, Holzlöffel im Giraffendesign, machetenähnliche Messer und Serviettenhalter aus Ebenholz lenkte.

Ob die schon immer Bestandteil ihres Haushalts waren, konnte Morgenstern nicht mit Bestimmtheit sagen. Er bemühte sich aber, seine fehlende Begeisterung durch ein Interesse vortäuschendes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihm nur unzureichend, schon allein deshalb, weil er an Insekten, Termiteneier und fette Maden denken musste, die, zu einem Brei verarbeitet, serviert wurden. Er hatte davon in einem Buch über die Essgewohnheiten eines Volkes am Victoriasee gelesen. Der Autor berichtete, wie sämtliche Dorfbewohner, mit Töpfen und Netzen bewaffnet, Moskitoschwärme jagten, um aus deren Masse Mückenburger zu braten.

Morgenstern zog das Jackett aus, reichte es Anna, schlüpfte in die Schlappen, die neben dem Tisch standen, und setzte sich auf seinen Platz. Es tat gut, hier zu sein. Dennoch fühlte er sich von so viel Fürsorglichkeit überfordert, wie des Öfteren in letzter Zeit.

»Afrikanische Pasteten? Aha, klingt fantastisch!«, bemerkte er, nahm den Ebenholzlöwen hoch, in dessen Rücken eine aufwendig gefaltete Serviette steckte, und betrachtete ihn misstrauisch. Dann stellte er ihn vorsichtig zurück. »Das schmeckt bestimmt interessant«, dachte er laut und bereute im selben Moment seine Wortwahl.

Annas Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Alle Zutaten sind europäisch!«, erklärte sie verärgert und verschwand mit energischen Schritten in der Küche.

Morgenstern war zu müde, um ihr zu folgen. Erschöpft von der Hitze des Tages und den düsteren Aussichten, einen Fall aufklären zu müssen, den die Presse gierig zum Stopfen des Sommerlochs ausweiden würde, goss er sich ein Glas Wasser ein. Dann betrachtete er die mit afrikanischen Motiven gestaltete Karaffe, in der Minzblätter schwammen, um den Geschmack des Wassers aufzubessern. Alles war perfekt. Zu perfekt? Er gestand sich ein, dass er den Abend auch gerne in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg bei einem kühlen Bier und mit Nichtstun vertan hätte. Annas Hinweis auf ihr Kennenlernjubiläum hatte den Gedanken jedoch schon im Ansatz verkümmern lassen. Ihre deliziöse Einladung auszuschlagen hatte sich von selbst verboten.

Er trank einen Schluck und lauschte den temperamentvollen Aktivitäten in der Küche. Noch schien Anna sich über ihn zu ärgern. Nach seiner Einschätzung handelte es sich bei diesem Stimmungsbeben höchstens um die Stufe zwei von zehn möglichen. Erfahrungsgemäß hielten derart negative Schwingungen zwei, maximal drei Minuten an. Es war ratsam, eine Zeit lang zu warten, um Nachbeben zu vermeiden.

»Du bist übrigens in der Abendzeitung. Die Presse schreibt, dass die Leiche einer jungen Frau am Märkischen Ufer gefunden wurde. Es wird gemutmaßt, dass ein Sexualverbrechen vorliegt. Kümmerst du dich darum?« Annas Frage klang so, als würde sie ihn bitten, einen Mantel aus der Reinigung zu holen oder den Dichtungsring eines tropfenden Wasserhahns auszutauschen.

»Die Ermittlungen befinden sich ganz am Anfang. Sind alles nur Mutmaßungen. Nichts Konkretes.«

Anna kam aus der Küche, legte die Zeitung neben seinen Teller und tippte auf das Foto. »Gut siehst du aus!«, bemerkte sie und strich über seine Schultern.

Er überflog den Artikel, der reißerisch geschrieben war. Eine zweifelhafte Mischung aus Abscheu und erotischem Kalkül. Sex and Crime – das bewährte Muster, um die voyeuristischen Bedürfnisse der Leserschaft zu befriedigen. Die Redaktion hatte schnell gearbeitet. Das Foto musste von jenem Paparazzo stammen, dem Anstand fremd gewesen war. Offensichtlich war es ein Leichtes gewesen, den Namen des Besitzers der Spreeschnuppe zu ermittelt. Am Nachmittag war die Pressemeldung des LKA veröffentlicht worden. Sobald bekannt geworden war, dass es sich bei der Toten um Sina Rogatz handelte, durften in manchen Redaktionsstuben Sektkorken geknallt haben. Ein Mord in der oberen Schicht der Gesellschaft. Das Loch der Langeweile war gestopft, der journalistische Sommer gerettet.

»Ich hoffe, du überführst den Kerl!«

Morgenstern schaute Anna erstaunt an. »Wen meinst du?«

»Na, Professor Unrat! Wie heißt der gleich?«

Fassungslos schüttelte Morgenstern den Kopf. Seit sie einander kannten, hatte es sich Anna zur Gewohnheit gemacht, nicht nur am Anfang eines Kriminalromans den Mörder vorauszusagen, sondern auch regelmäßig den Täter eines Mordfalls zu prophezeien. Der Erfolg beider Prognosen betrug, statistisch betrachtet, ein Drittel, was Anna aber nicht davon abhielt, jedes Mal erneut zu spekulieren.

»Der Mann heißt Mathias Klausen. Wie kommst du darauf, dass er die Frau umgebracht hat?«

»Ist doch offensichtlich! Das klassische Rachemotiv. Seine ehemalige Studentin hat dafür gesorgt, dass ihm die Professur entzogen wurde. Die Ehe wurde geschieden. Gesellschaftlich ist Herr Professor erledigt. Der Kerl fährt mit einem Kutter durch Berlin und bespaßt Touristen. Geschieht ihm recht, diesem Schwein!«

Wütend schlug Morgenstern mit der Hand auf die Zeitung. »Anna, Professor Klausen wurde damals von allen Vorwürfen freigesprochen! Es gibt keinen Beweis für ein Fehlverhalten.«

»Natürlich, wahrscheinlich steckte der Richter mit ihm unter einer Decke!«

Morgenstern faltete die Zeitung zusammen und reichte sie energisch Anna. »Erstens war es eine Richterin. Zweitens – seit wann bildest du dir deine Meinung aus diesem Machwerk?« Er war ungehalten.

Verwundert setzte sie sich auf seinen Schoß, legte die Zeitung beiseite und wollte ihn küssen. Unwillkürlich zog er den Kopf zurück. Morgenstern und Anna schauten sich erschrocken an. Unvermittelt wichen beide dem Blick des anderen aus. Seufzend stand Anna auf und ging in die Küche. Das Geräusch des zuschlagenden Mülleimerdeckels verriet, dass sie das Machwerk entsorgt hatte. Ein paar Sekunden lang tat das Schweigen weh.

»Die Pasteten werden dir garantiert schmecken, und dann erwarte ich Abbitte, Herr Kommissar!«, erklärte sie schließlich, als wäre nichts geschehen. Stolz stellte sie ein Tablett mit duftenden, aber unbekannten krapfenförmigen Gebilden auf den Tisch, die mit einer gebackenen Kruste aus exotischen Körnern überzogen waren.

Anna liebte Körner. Er liebte Anna.

° ° °

Das Essen war eine Offenbarung. Morgenstern entschuldigte sich für die haltlosen Verdächtigungen, die er ihren Topfinhalten entgegengebracht hatte. Er berichtete von seinem Zwiegespräch mit dem Geliebtinnenbild, auf dem sie so charmant lächelte. Beide schmunzelten. Die Gereiztheit löste sich in Lust auf. Statt des obligatorischen Nachtischs ließ Anna den Kaftan über ihre Schultern gleiten und präsentierte ihre nackte Silhouette im Mondlicht. Was am Ostseestrand funktionierte, verfehlte seine Wirkung auch über den Dächern Berlins nicht. Gierig liebten sie sich auf der Dachterrasse, in jenem monströsen Strandkorb, den ein Kran in die oberste Etage gehievt hatte. Ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem 35. Geburtstag.

Die Idee, sich im Strandkorb zu vergnügen, war Annas Einfallsreichtum entsprungen. Niemand konnte sie hier sehen, geschweige denn hören. Anschließend amüsierten sie sich, durchgeschwitzt und erschöpft, köstlich über seine moralischen Prinzipien, die ihre Jubiläumsfeier fast zum Desaster hatten werden lassen. Anna imitierte seinen strengen Gesichtsausdruck, während er ihr gespieltes Beleidigtsein mit verstellter Stimme nachahmte. Schuldbewusst gelobte Morgenstern Besserung. Er versprach, künftig erst auf den Klingelknopf zu drücken, wenn der moralisierende Bulle weggesperrt war und stattdessen das animalische Ungetüm mit den Hufen scharrte. Zur Belohnung oder zur Stärkung, so ganz klar war ihm das nicht, gab es dann doch noch den obligatorischen Nachtisch. Warmer Voodoo-Schmarren, die afrikanische Variante des Kaiserschmarrens. Es war einer jener Abende, die in Erinnerung blieben. Beide waren zu müde, um sich noch zu duschen. So wie sie waren, krochen sie ins Bett.

Kurz bevor Morgenstern einschlief, flüsterte er: »Ich liebe dich, Anna!« Sie antwortete nicht, legte stattdessen fürsorglich ihren Arm um ihn. Augenblicklich war er besorgt. Er lauschte in sich hinein und beschloss, nicht jeder Befürchtung Gehör zu schenken. Dennoch dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis das Rattern in seinem Kopf verstummte. Morgenstern schlief tief und fest, froh, am Abend nicht in den eigenen vier Wänden versauert zu sein.

Verschwiegene Wasser

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