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1Donnerstag

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<: Du zeigtest mir einen Ozean des Wissens und ich habe daraus getrunken.

In der obersten Etage eines Hochhauses im Frankfurter Finanzdistrikt stellte eine Sekretärin ihren Monitor an und wollte gerade zur Kaffeemaschine gehen. Zwei Stockwerke darunter traf sich ein Abteilungsleiter mit einer Mitarbeiterin zu einem frühen Schäferstündchen in seinem Büro. Wieder drei Stockwerke tiefer hatte ein Investmentbanker die Nacht in Verhandlungen mit seinen japanischen Kunden verbracht und wurde sich bewusst, dass er nicht noch einmal nach Hause gehen konnte, um sich frisch zu machen. Im zehnten Stockwerk saß ein Student, der sich mit einfachen Bürotätigkeiten etwas dazu verdiente, mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor dem Fenster, die Füße auf dem Tisch und sinnierte über den Möglichkeiten, das kommende Wochenende »sinnvoll« zu nutzen. Im siebten Stock stand eine Mitarbeiterin in der Abteilungsküche vor dem Fenster und wartete, dass der Wasserkocher mit dem Erhitzen fertig wurde. Und schließlich saß im dritten Stock ein Mitarbeiter der Poststelle gähnend vor seinem Monitor.

All diesen Leuten war gemeinsam, dass sie in kurzem Abstand nacheinander ein dunkles Objekt vor ihrem Fenster in die Tiefe stürzen sahen. Doch nur der Sicherheitsmann in der Lobby hörte den dumpfen Aufprall, von dem ihm plötzlich übel wurde. Es war Donnerstag, der 20. Juni, 06:27.

Im Polizeipräsidium wurde die Mordkommission dazu aufgefordert, bei den Vorbereitungen zum G7-Gipfel zu helfen. Alle anderen Ermittlungen hatten bis Sonntagabend, bis die »hohen Tiere« wieder abgereist waren, nachrangig behandelt zu werden, damit genug Ressourcen für die öffentliche Sicherheit zur Verfügung standen.

Igor Hohenstein schüttelte sich bei dem Gedanken, dass er, mit Schutzpanzer und Schlagstock ausgerüstet, im Getümmel der Demonstranten stehen sollte. Dafür war er mit Anfang fünfzig nun wirklich zu alt, was man ihm nicht ansah. Trotz seines einigermaßen runden Bauches konnte er sich einer gewissen Wirkung auf Frauen nicht erwehren. Er hatte noch immer dichtes, dunkles Haar – abgesehen von einigen grauen Strähnen. Ein distinguierter Kinnbart in Grau und Schwarz vervollständigte sein Aussehen als Intellektueller, vielleicht Universitätsprofessor oder Geheimrat oder reicher Philanthrop - ohne die Notwendigkeit der täglichen Arbeit. Letzterem Eindruck stand dann seine doch etwas schäbige Kleidung entgegen, aber wer wusste schon, ob das möglicherweise Absicht war? Nachdem die Sprache auf seine wirkliche Arbeit kam, hatte er oft erlebt, wie ihm zunächst etwas enttäuschte und später, nachdem die Sprache auf die Mordkommission kam, leicht entsetzte Blicke zugeworfen wurden. Unabhängig davon wusste jede Frau, was es bedeutete, einen Mann bei der Kriminalpolizei zu haben: Viele, lange, einsame Abende auf der Couch. Und das beendete in der Regel jegliche Verhandlung über weitere Treffen. Nicht, dass Hohenstein darauf gesteigerten Wert gelegt hätte. Schließlich hatte er vor fünf Jahren eine schmutzige, langwierige Scheidung hinter sich gebracht. Ihr war damals die Hauptschuld angelastet worden, er hatte ja »nur« gearbeitet. Doch trotz dieser Tatsache lebte sie mit den Kindern im Haus und er in einem kleinen, schäbigen Apartment im Nordend-West (nicht zu verwechseln mit dem Westend-Nord), um das er sich mit einer Horde Studenten hatte streiten müssen, die die Nähe zur Goethe-Universität gesucht hatten.

Von den Möbeln, die sie zusammen damals beim Einzug ins Haus gekauft hatten, passte praktisch nichts in dieses winzige Loch. Also kaufte er bei Ikea eine Reihe Billi-Regale (für seine Bücher), die zu den neuen Wänden seiner Behausung wurden und ein Bett. Mehr brauchte er zunächst nicht, und seit dem Einzug vor vier Jahren war auch nichts weiter dazu gekommen.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Kollegen auflachten. Den Scherz hatte er verpasst. Er blickte auf seine Armbanduhr: 07:33.

»Wo bist du?«, fragte Natalia Brandtner, seine Partnerin. Er schüttelte nur mit dem Kopf und hörte weiter dem Abteilungsleiter Hermann Borell zu.

»Kommen wir zurück zur Einteilung: Die Kollegen Schmitz, Mayer, Justan und Brandtner möchte ich in voller Montur in der ersten Reihe sehen. Sie unterstützen die Kollegen bei der Absicherung der Fahrtstrecke des amerikanischen Präsidenten in der Gegend um die Alte Oper. Die Einsatzkräfte vor Ort werden Ihnen die Details erklären.«

Brandtner hob den Arm, Borell reagierte sofort und zeigte auf sie: »Ja?«

»Ich wollte nochmal kurz auf die Stunden zu sprechen kommen. Der Präsident wird ja nicht vor neunzehn, zwanzig Uhr vorbeikommen. Wenn also alles glatt läuft, bin ich bis knapp einundzwanzig Uhr dort gebunden, obwohl ich am selben Tag für die Frühschicht eingeteilt bin. Da komme ich doch locker über die zehn Stunden Höchstbelastung.«

»Das ist korrekt, wir sind uns dessen bewusst. Wir können nicht garantieren, dass sämtliche Überstunden bezahlt werden,«, er wurde von einem lauten Aufheulen der Kollegen unterbrochen. Er hob beschwichtigend seine Arme und fuhr, als es wieder ruhiger wurde, fort: »... aber wir werden intern eine Ausgleichsregelung realisieren, mit der jeder zufrieden sein dürfte.«

So ging es weiter. Am Schluss stellte Hohenstein erstaunt fest, dass er nicht eingeteilt worden war. Die Kollegen verließen den Sitzungssaal geräuschvoll, während er noch sitzen blieb. Selbst Brandtner stand auf, streckte ihm ihren schmalen Hintern ins Gesicht und zog ihre Hosenbeine nach unten.

Sie musste einen guten Kopf größer sein als Hohenstein. Als sie wieder stand, wunderte sie sich, dass er sitzen geblieben war.

»Falls Du es nicht bemerkt hast, ich wurde nicht eingeteilt«, beantwortete er ihre nicht gestellte Frage. Sie hob eine Augenbraue und folgte den Kollegen.

Als der Raum fast leer war, ging er zum Abteilungsleiter und stellte ihm die Frage nach der Einteilung.

»Einige brauche ich hier, in der Zentrale.«

»Wieso ich? Glauben Sie, ich könnte keinen Beitrag leisten?«

»Igor, ich weiß, was Sie leisten können, aber Sie sind einer der Ältesten. Ich will Sie nicht in Situationen bringen, die Sie vielleicht körperlich nicht mehr bewältigen können.«

Hohensteins Gesicht nahm eine rote Färbung an. So etwas geschah äußerst selten. Borell bemerkte es, schaffte es aber lediglich, Hohenstein aufmunternd auf die Schulter zu klopfen und ihn stehen zu lassen.

In dem kleinen Büro, das er sich mit Brandtner teilte, setzte er sich, seufzte, wie es Generationen seiner russischen Vorfahren gemacht haben mochten und schüttelte die Enttäuschung, nunmehr zum alten Eisen zu gehören, einfach ab.

Brandtner tat so, als sei sie in einen Text auf ihrem Bildschirm vertieft. Doch sie sah immer wieder zu ihrem Kollegen herüber, um seine Laune einzuschätzen, die sonst, wie festzementiert auf »gut« stand – zu konstant, um echt zu sein.

Er hatte es natürlich bemerkt, seufzte erneut und sagte: »Nataschenka, wie meine Großmutter mütterlicherseits immer zu sagen pflegte: ›Höher als über deinen Kopf kannst du nicht springen‹.«

Plötzlich stand Borell im Türrahmen.

»Da ist einer von einem Hochhaus gesprungen, vermutlich Selbstmord. Schieben Sie das kurz dazwischen, dann können Sie sich den G7-Heinis voll und ganz widmen«, dabei legte er Hohenstein einen Zettel mit einer Adresse auf den Tisch und verschwand sofort wieder.

Der Kommissar sah gewohnheitsmäßig auf seine Uhr: 08:02.

Sie brauchten mit dem braunen Opel, der ihnen als Dienstwagen zugewiesen worden war, durch den Verkehr beinahe eine halbe Stunde für eine Strecke, die keine zehn Minuten hätte dauern dürfen. Und auch das Anschalten von Blaulicht und Sirene brachte sie nicht schneller ans Ziel. Der G7-Gipfel am Wochenende warf seine Schatten voraus. Während viele Kollegen bereits auf den Autobahnen Kontrollen fuhren, um gewaltbereite Demonstranten abzufangen, nach Waffen zu suchen, und Platzverweise auszusprechen, versuchten Schaulustige, Passanten, genervte Frankfurter und einfache Pendler, die nur von A nach B kommen wollten, quer durch die Stadt zu fahren.

Natalia Brandtner fuhr den Reuterweg entlang, vorbei an den glänzenden Fassaden der Privatbanken, Anwaltskanzleien, Steuerberatern und Versicherungen. Oder besser, sie wartete darauf, die Straßen entlangfahren zu können. Die Wagen vor ihr taten ihr bestes, eine Art Gasse frei zu machen, moderat eingeschüchtert vom Blaulicht und der ohrenbetäubenden Sirene. Aber trotzdem kamen sie nur langsam voran. Hohenstein merkte an, dass sie vielleicht hätten zu Fuß gehen sollen, das wäre durch den Park schneller und angenehmer gewesen.

Als sie endlich den richtigen Häuserblock erreicht hatten, suchten sie die Einfahrt, die sich in einer Seitenstraße versteckte, welche beide noch nicht kannten.

»Muss neu sein«, sagte Brandtner.

Und endlich standen sie vor dem schlanken Gebäude. Neben dem Eingang war der Firmenname in modernen, serifenlosen Bronzebuchstaben in die Wand eingelassen: »Sinclair, Barrows & Moss.«

Das Gebäude selbst war gebogen und drehte sich in einem viertel Kreis um einen runden Platz, der in modernem Design einigen kleinen Pflanzen Heimat bot. Ein Brunnen war dort zu finden, genauso wie diverse Sitzgelegenheiten. Was nicht ins Bild passte, war die Leiche. Er musste von ganz oben gesprungen sein, denn von seinem Kopf war nicht viel übrig. Hohenstein mutmaßte, dass es sich um einen Mann handelte, aufgrund des Anzugs und den schmalen Lederschuhen, von denen einer weiter weg lag. Ein Arm musste unter dem Oberkörper liegen, der zweite drehte sich in seltsamen Winkeln zur Seite und schien mehrfach gebrochen zu sein. Das rechte Bein musste beim Aufprall abgerissen worden sein und lag einen Meter von der Leiche entfernt – die Hose hatte gehalten, sodass das Bein ohne Kleidung, nur mit einer schwarzen Socke bekleidet dalag. Das linke musste ebenfalls diverse Male gebrochen sein.

Hohenstein ging langsam, ohne Spuren zu zerstören, um den Aufschlagsort herum. Die Steinplatten unter der Leiche wiesen Risse auf.

Zwischen dem Toten und dem Eingang stand ein einsamer Streifenpolizist und versuchte erfolglos, ein rot-weiß gestreiftes Absperrband an der glatten Fassade zu befestigen.

»Sind Sie alleine?«, frage Brandtner.

Der Angesprochene drehte sich verwirrt um: »Ja, alle anderen sind mit dem G7 beschäftigt. Selbstmörder haben da keine Priorität. Deswegen warte ich auch schon fast eine Stunde auf den Krankenwagen«, der Polizist hatte offensichtlich nicht die geringste Lust, an diesem Ort zu sein und sich um einen vermeidbaren Tod zu kümmern. Auch Krankenhausangestellte gingen, zumindest mit den überlebenden Selbstmördern, nicht freundlich um. Sie hatten zu viele Menschen gesehen, die sterben mussten, aber nicht wollten, als dass sie noch akzeptieren konnten, dass ein gesunder Mensch sterben wollte, der nicht musste. So wusste Hohenstein aus eigener Erfahrung.

Er warf noch einmal einen Blick auf seine Armbanduhr, um die Zeit abzulesen: 8:45. Wenn der Polizist eine knappe Stunde wartete, musste er ungefähr um 7:45 vor Ort gewesen sein.

Er näherte sich dem Toten. Der Anblick war grausam. Doch Hohenstein blickte an dem Blut und den Gliedmaßen, die in unmöglichen Winkeln herumlagen vorbei, um den Menschen zu sehen. Wer war das? Ein junger Mann, der Kleidung und seinen Händen nach. Sein abgerissenes Bein zeigte keinerlei Haare. Der graue Stoff des Anzugs schimmerte etwas im sommerlichen Morgenlicht. Teuer, sagte sich Hohenstein.

Am Revers des Jacketts hing ein Ausweis. Brandtner hatte Gummihandschuhe angezogen, ging in die Hocke, nahm ihn ab und stand wieder auf.

»James Henry Cox«, las sie vor. »HFT Department, Sinclair, Barrows & Moss«, sie reichte den Ausweis Hohenstein. Er nahm ihn, nachdem er sich ebenfalls Gummihandschuhe angezogen hatte, und sah auf das Bild neben dem Namen. Wie erwartet ein hübscher, junger Mann mit dunklen Augen, braunen Haaren und einem weiß gebleachtem Lächeln, dass er professionell in die Kamera gehalten hatte.

Endlich kam ein Krankenwagen, die Sirene heulte laut und wurde von den Fassaden der Hochhäuser noch verstärkt.

Ein einzelner Arzt stieg aus und kam mit einem Koffer auf den Platz.

»Ach du Scheiße!«, rief er beim Anblick des Toten. »Was soll ich denn noch hier?«

»Den Tod feststellen?«, fragte Brandtner irritiert.

»Sein Kopf ist weg«, antwortete der Arzt sarkastisch, »das führt meistens zum Tode.«

Hohenstein ging von der Szene weg und durch die Drehtür in die Lobby der Firma. Hinter einem Tresen saßen zwei etwas blass wirkende Frauen und versuchten, nicht nach draußen zu sehen.

»Hohenstein, Kripo Frankfurt. Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte er die Blonde.

Sie antwortete, dass das der Security-Kollege getan hätte, der nur bis sieben Uhr in der Lobby saß und sich nun im Sicherheitsbüro im ersten Stock befand. Der Mitarbeiter sei noch nicht nach Hause gegangen, obwohl er schon längst Dienstschluss hatte.

Hohenstein fragte nach dem Weg, sie gab ihm vorher noch einen Besucherausweis, den er brauchte, um den Fahrstuhl zu benutzen. Sie tippte einige Dinge in ihren Computer, hielt einen Ausweis vor einen kleinen, schwarzen Kasten, um diesen zu kodieren, und reichte ihn Hohenstein.

»Sie müssen den Ausweis vor den schwarzen Leser halten, bevor Sie die Tasten drücken.«

Der Kommissar nickte und ging dann zu den Fahrstühlen. Er musste dafür an einer modernen und teuer aussehenden Sitzecke vorbei. Edle Hölzer, weiches Leder, eine vollständig verchromte Espressomaschine mit kleinen Tassen für die wartenden Gäste. Er widerstand der Versuchung, sie zu benutzen.

Im Aufzug hielt er den Ausweis vor den Leseapparat und drückte absichtlich die »2«. Der Fahrstuhl gab einen leisen Piep, der eine verneinende Antwort sein musste, von sich und rührte sich nicht von der Stelle.

Dann wiederholte er das Ganze, diesmal mit der »1«. Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl fuhr los, für einige Sekunden. Im ersten Stock war von dem edlen Eindruck der Lobby nicht mehr viel übrig geblieben. Hier schienen weniger wichtige Leute und Abteilungen untergebracht zu sein.

Er ging zur Zimmernummer, die die Sekretärin ihm genannt hatte und klopfte an, eine Klinke gab es nicht. Ein Summen öffnete die Tür.

»Hohenstein, Kripo Frankfurt«, sagte er zu den drei Männern im Raum, die vor einer riesigen Wand mit Überwachungsmonitoren saßen. Das Zimmer schien abgedunkelt zu sein und Hohenstein nahm geschlossene Rollos vor den Fenstern wahr - sowie die verbrauchte Luft. Auf einem der größeren Monitoren sah er die Leiche auf dem Vorplatz und seine Kollegin. Ein Leichenbestatter war vor Ort und überlegte angestrengt mit einem Kollegen, wie sie den Toten – und alle dazugehörenden Einzelteile – abtransportieren sollten.

»Wer sind Sie«, fragte Hohenstein in den Raum hinein und zog einen Notizblock aus der Innentasche seiner Jacke, um mitzuschreiben.

»Mein Name ist Warndorf, ich bin der Sicherheitschef«, drängte sich ein Mann vor. Er mochte um die vierzig sein, hatte eine Glatze und schien vor einer Weile mal recht muskulös gewesen zu sein. Doch langsam verwandelten sich die Muskeln zu Fett. Seine Nase war übersät von rötlichen Adern. In der linken Hand hielt er eine Tasse schwarzen Kaffees. Alle drei trugen dunkle Anzüge – Uniform mit einer kleinen Plakette auf der Brust, die Firmenname und Mitarbeiter kennzeichnete.

»Wer von Ihnen hat die Polizei gerufen?«

Ein dunkelhäutiger Mann hob vorsichtig seine Hand. Er hatte schwarze Haare, eine gebogene, unglaublich große Nase und schien sehr verunsichert.

»Mahmut Abdel Al-Fayet, ist mein Name.«

»Sind Sie Syrer?«, fragte Hohenstein.

»Deutscher«, antwortete er etwas beleidigt, dann schränkte er ein: »Ich bin in Ägypten geboren. Meine Eltern und ich wanderten nach Deutschland ein, als ich vier Jahre alt war.«

Hohenstein nickte und fragte noch den Letzten der Drei: »Und Sie?«

»Emanuel Stocktanz. Ich bin erst seit halb acht hier. Ich habe nichts mitbekommen.«

»Mit Ihnen«, sagte Hohenstein und zeigte mit seinem Kugelschreiber auf Al-Fayed, »würde ich mich gerne unter vier Augen unterhalten.«

»Das kann ich nicht erlauben«, wandte der Sicherheitschef ein, »ich muss bei jedem Gespräch dabei sein.«

»Ob Sie dabei sind oder nicht, entscheide ich. Und ich habe entschieden, mich alleine mit Herrn Fayed zu unterhalten«, er machte eine »komm-her«-Geste zu Al-Fayed, schob ihn in den Gang hinaus und schloss hinter sich die Tür.

»Al-Fayed«, sagte der Zeuge.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich Fayed genannt, aber mein Name ist Al-Fayed.«

»Oh, Entschuldigung. Gehen wir da vorne hin, da können wir uns ungestört unterhalten«, Hohenstein deutete auf eine Sitzgruppe, die vor einem Fenster stand. Nicht annähernd so feudal und hochwertig wie die in der Lobby. Diese hier war für Angestellte. Anstelle einer Kaffeemaschine stand ein Wasserspender daneben.

»Wann haben Sie die Polizei gerufen, Herr Al-Fayed?«

»Das muss so um sieben gewesen sein.«

»Hatten Sie da schon Dienstschluss? Die Sekretärinnen unten sagten mir, dass Sie nur bis sieben in der Lobby bleiben.«

»Nein, es gibt noch eine Übergabephase zwischen sieben und acht. Erst ab acht Uhr habe ich frei«, Hohenstein nickte und machte sich Notizen.

»Und wann genau haben Sie den Toten entdeckt?«

»Das muss so um sechs Uhr dreißig gewesen sein. Ich hörte einen dumpfen Aufprall. Sehr laut. Ich ging sofort zur Fensterfront in der Lobby und sah Herrn Cox.«

»Da liegt eine halbe Stunde dazwischen.«

»Bitte?«

»Sie haben eine halbe Stunde an der Fensterfront gestanden und dann erst die Polizei gerufen?«

»Nein, nein. Ich habe direkt nach dem Selbstmord meinen Chef angerufen.«

»Herrn Warndorf?«

»Genau.«

»Warum nicht die Polizei?«

»Ich bin angehalten, jegliche Vorgänge erst meinem Chef zu melden. Er entscheidet dann, was zu tun ist.«

»Und er hat wann entschieden?«

»Nachdem er sich selbst vom Tod von Herrn Cox überzeugt hat.«

»Das bedeutet, er kam zuerst herunter aus dem ersten Stock? Das dauert keine halbe Stunde.«

»Nein, er war zu diesem Zeitpunkt noch zu Hause. Er musste erst herkommen.«

»Und in dieser ganzen Zeit ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, die Polizei zu rufen? Da ist schließlich ein Mensch ums Leben gekommen.«

»Ich weiß, aber ich darf nichts tun, ohne dass mein Chef entscheidet.«

»Hm«, Hohenstein war mit dieser Erklärung gar nicht einverstanden.

»Was hat Ihr Kollege gemacht?«

»Welcher?«

»Der im ersten Stock. Wenn die Lobby besetzt ist, wird doch wohl auch der Überwachungsraum besetzt sein?«

»Der Kollege hatte sich gestern überraschend krank gemeldet. Er hat dies erst kurz vor Dienstbeginn getan, sodass kein Ersatz mehr besorgt werden konnte. Der Überwachungsraum war leer die Nacht über.«

»Wie heißt dieser Kollege?«

»Marc van der Joost.«

»Haben Sie Kontaktdaten?«

»Nein, aber die können Sie von Herrn Warndorf bekommen.«

»Wieso sind Sie nicht hoch gegangen, als klar war, dass der Kollege nicht kommen würde? Der Blick auf die Monitore ist doch sicher wesentlich wichtiger, als dass jemand in der Halle unten sitzt?«

»Das mag sein, aber ich habe noch keine Schulung für die Überwachungsanlage erhalten. Ich darf sie nicht benutzen.«

»Wer hat denn entschieden, dass niemand die Überwachungsmonitore ansieht?«

»Solche Entscheidungen trifft nur der Sicherheitschef.«

Hohenstein nickte, er hatte diese Antwort erwartet.

»Woher wussten Sie, dass der Tote Herr Cox ist?«

»Er kam gegen fünf Uhr dreißig. So früh kommen wenige Kollegen. Er grüßte mich und ich konnte seinen Anzug und die braunen Schuhe sehen. Daran habe ich ihn wiedererkannt.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«

»An Herrn Cox?«

Hohenstein nickte.

»Nein«, Al-Fayed überlegte eine Weile, »vielleicht. Er schien es eilig zu haben. Er kam aus der Tiefgarage, grüßte mich dabei nur mit einem Finger«, Al-Fayed machte mit seiner rechten Hand eine Geste, die dem Gruß entsprechen sollte, »und ging direkt zu den Fahrstühlen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Gut, das wäre es fürs Erste. Ich möchte Sie bitten, sich für die nächste Zeit zur Verfügung zu halten, falls wir weitere Fragen haben.«

Er fragte ihn nach einer privaten Telefonnummer, und schrieb sich noch die Adresse auf.

Dann brachte er Al-Fayed zurück und nahm Warndorf mit zur Sitzecke. In diesem Moment kam Brandtner dazu, an ihrer Jacke hing ebenfalls ein Besucherausweis.

»Herr Warndorf, wenn ich das richtig verstehe, haben Sie darauf bestanden, dass Herr Al-Fayed nicht die Polizei ruft, bis Sie sich die Angelegenheit angesehen hatten. Stimmt das?«

»Das ist korrekt. Ich habe meine Mitarbeiter angewiesen, immer erst mir Bericht zu erstatten, bevor sie etwas selbst entscheiden.«

»Das bedeutet, dass der tote Herr Cox da einige Zeit auf dem Vorplatz lag, bevor Sie sich die Angelegenheit ansehen konnten.«

Brandtner hob eine ihrer Augenbrauen nur ganz leicht, ein Zeichen für Erstaunen, das nur ihr Kollege zu lesen wusste.

»Und Ihr Mitarbeiter durfte noch nicht einmal einen Krankenwagen rufen? Vielleicht hätte Herr Cox überlebt, wenn Sie nicht eine halbe Stunde vertrödelt hätten, bis endlich Hilfe gerufen wurde?«, das war übertrieben, aber Hohenstein wollte Warndorf unter Druck setzen, er schien etwas zu gefasst in der Situation.

»Unsinn. Der war doch sofort tot.«

»Woher wollen Sie das gewusst haben? Sie hatten ja nur die Information, die Ihr Mitarbeiter Ihnen gegeben hatte. Und der ist kein Arzt, wie ich vermute?«

»Er hatte mir am Telefon gesagt, dass der Mann keinen Kopf mehr hatte. Wie sollte er da noch leben?«, antwortete der Sicherheitschef gereizt.

»Immer schön freundlich bleiben«, warf Brandtner dazwischen.

Hohenstein machte unbeirrt weiter: »Wie kam es dazu, dass die Überwachungsmonitore unbesetzt waren?«

»Ein Mitarbeiter hat sich krank gemeldet. Die Zeit war zu knapp, um einen Ersatzmann zu besorgen. Al-Fayed kann mit der Anlage nicht umgehen und nachts passiert hier eigentlich nie irgendetwas. Die ganze Gegend ist mit Überwachungskameras gespickt, sodass sich das zwielichtige Gesindel erst gar nicht in die Straße reintraut.«

»Wie heißt der erkrankte Mitarbeiter?«, fragte Brandtner.

»Marc van der Joost.«

Brandtner sah zu Hohenstein herüber.

»Ich würde gerne einen Blick in die Personalakte von Herrn van der Joost werfen.«

Warndorf nickte, wenn auch sein Gesicht eine andere Antwort gab.

»Also gut, Herr Warndorf«, machte Brandtner weiter, »Ich möchte Sie bitten, sich in der nächsten Zeit zu unserer Verfügung zu halten, falls wir weitere Fragen haben. Sollte Ihnen, oder einem Ihrer Mitarbeiter, noch etwas einfallen, kontaktieren Sie uns bitte«, dabei übergab sie Warndorf eine Visitenkarte.

Sie standen schon auf und Brandtner drückte auf den Knopf des Fahrstuhls, als Hohenstein sich noch einmal zu Warndorf umdrehte: »Auch wenn niemand die Überwachungsanlage bedient, werden doch trotzdem Aufnahmen gemacht, oder?«

»Sicher, die Kameras bewegen sich nur nicht, also nehmen sie immer denselben Ausschnitt auf.«

»Können wir die sehen? Von heute Morgen, fünf Uhr dreißig?«

Warndorf winkte und sie folgten ihm zurück zum Überwachungsraum. Er zeigte auf einen IT-Schrank mit Glasfront. Hinter dem Glas befanden sich eine große Anzahl von DVD-Laufwerken. Hohenstein schätzte sie auf über zwanzig.

»Das sind die Langzeitspeicher. Auf denen speichern die die Kameras ihre Aufnahmen in so geringer Qualität, dass auf jede DVD zwei Tage Material passt. Mehrere Kameras teilen sich eine DVD und die Daten werden in Dateien darauf gebrannt. Nicht gerade der neueste Schrei der Technik, aber bewährt und zuverlässig. Die Firma, die das System herstellt, hat mit SB&M einen weltweiten exklusiven Vertrag geschlossen. Wir dürfen keine andere Technik einsetzen.«

»Dann zeigen Sie uns doch mal die Lobby um fünf Uhr dreißig.«

Stocktanz, der immer noch vor den Monitoren saß, bediente die Tastatur und klickte mit der Maus umher. Al-Fayed schien bereits gegangen zu sein.

Nach einigen Sekunden Tastaturgeklapper und Geklicke fragte Warndorf: »Was ist los?«

»Keine Ahnung, ich kann die Aufnahmen nicht finden«, antwortete der junge Mann vor den Monitoren. Dann stand er auf und öffnete den Schrank mit den Laufwerken. Er suchte kurz das korrekte Laufwerk und öffnete es. Eine leere Schublade kam herausgefahren.

»Was zum ...«

»Nichts mehr anfassen!«, rief Hohenstein.

Die folgende viertel Stunde stand Brandtner vor dem IT-Schrank, verhinderte damit, dass jemand sich daran zu schaffen machte und Hohenstein telefonierte auf dem Gang mit seinem Vorgesetzten. Er versuchte, Borell davon zu überzeugen, einen Trupp Spurenermittler zu schicken. Er vermutete einen Mord. Doch Borell wollte davon nichts hören. Er schrie so laut in den Hörer hinein, dass seine Stimme verzerrt klang: Hohenstein solle sich nicht einbilden, dass er dadurch irgendetwas gewinnen könne. Wenn ein Napfkuchen sich von einem Haus werfe, dann wäre das sicher nicht Borells Angelegenheit, besonders dann nicht, wenn es gerade einen G7-Gipfel vorzubereiten und abzusichern galt.

Hohenstein versuchte es noch einige Zeit weiter, doch biss auf Granit.

Dann legte er auf und informierte Warndorf, dass er alle Laufwerke öffnen wolle und sagte zu Stocktanz: »Bitte legen Sie eine Liste der Kameras an, die auf die jeweiligen Laufwerke schreiben, wenn diese leer sind. Beginnen Sie mit dem leeren Laufwerk, das wir bereits geöffnet haben.«

»Sagen Sie mir nur die Nummer des Laufwerks«, antwortete Stocktanz.

Hohenstein begann die Laufwerke zu öffnen, nachdem er sich einen Gummihandschuh angezogen hatte. Es dauerte einige Zeit, doch dann ergab sich ein Bild. Es fehlten sechs DVDs.

»Kann man die herausnehmen?«, fragte Hohenstein.

»Klar«, antwortete Stocktanz hastig, der junge Mann lief aus unerfindlichen Gründen knall rot an, »die können im laufenden Betrieb gewechselt werden.«

»Moment mal«, rief Warndorf dazwischen. »Sie können nicht einfach hier Sachen mitnehmen.«

»Doch kann ich. Das sind Beweisstücke«, zu Stocktanz fügte er leise hinzu: »Nehmen Sie bitte die leeren Laufwerke vorsichtig heraus und ziehen Sie vorher die hier an.«

Er reichte dem jungen Mann ein Paar blaue Gummihandschuhe.

Als sie fertig waren, trug Brandtner die sechs Laufwerke zu ihrem Wagen und legte sie vorsichtig, einzeln in Beweismittelbeutel verpackt, in den Kofferraum. Dann ging sie zurück, um mit ihrem Kollegen und dem Sicherheitschef das Dach zu untersuchen.

Mittlerweile hatte sich eine Traube aus Menschen angesammelt. Mitarbeiter und Schaulustige, die den Ort des Geschehens aus der Nähe betrachten wollten. Viele unterhielten sich aufgeregt untereinander. Andere schienen verstört.

In der Lobby hatten sich einige Gruppen von Menschen gebildet, die sich leise unterhielten. Eine Frau tupfte mit einem Taschentuch ihre Augen trocken und versuchte dabei, ihre Schminke nicht zu verwischen.

Der Fahrstuhl brachte sie in den 43. Stock. Warndorf musste seine Karte verwenden. Oben angekommen stiegen sie noch ein weiteres Stockwerk zu Fuß hinauf. Vom Prunk der Lobby war hier nichts mehr zu sehen. Die Korridore bestanden aus weiß gestrichenem Beton. An der Decke verliefen Rohre. Erhellt wurde alles vom grellen Neonlicht einiger Leuchtstoffröhren. Es gab keine Fenster.

»Vorsicht, hier kann es ziemlich stark wehen.«

Warndorf öffnete eine Stahltür. Plötzlich standen sie im prallen Sonnenschein. Nur ein leichter Wind wehte. Die Geräusche der Stadt hatten sie hinter sich gelassen. Es war beinahe friedlich.

»Er müsste von da vorne gesprungen sein«, Warndorf zeigte mit der Hand zum Rand des Dachs.

»Warten Sie bitte hier«, sagte Brandtner.

»Kein Problem, ich bin kein Freund von Höhen.«

Die Kommissare näherten sich vorsichtig der angewiesenen Stelle. Der Boden bestand aus Betonplatten. Bis zum Rand konnte Hohenstein keine Spuren erkennen. Nichts deutete darauf hin, was geschehen war. Am Rand sah er in die Tiefe hinab. Fast genau unter ihnen befanden sich die Menschenmenge und der leere Bereich in der Mitte mit dem großen Blutfleck. Der Leichnam war bereits abtransportiert worden.

»Wenn es wirklich Mord war, hat er sich vermutlich nicht gewehrt«, sagte Brandtner. »Er wurde vielleicht überrascht?«

»Hm, vielleicht«, Hohenstein war still geworden. »Oder er ist doch selbst gesprungen.«

»Und die fehlenden Überwachungs-DVDs?«

»Ein Versehen?«

»Glaubst Du das?«

Hohenstein zog die Mundwinkel runter und gleichzeitig die Schultern hoch. »Wer weiß?«, er drehte sich um und blickte Warndorf an: »Kommen hier viele Leute her?«

Der schüttelte den Kopf. »Ist verboten.«

»Verbieten die Regeln dann nicht das Öffnen der Tür?«, fragte Brandtner.

»Für die Meisten. Cox hatte Sonderrechte – in vielem«, Warndorf bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck, der Wut, Neid oder etwas anderes sein konnte.

Hohenstein blickte zu den Hochhäusern der Banken. Einige größer, andere kleiner. Von einer der Straßen in Sichtweite stieg dichter, roter Qualm auf.

»Was ist das?«, fragte er Brandtner.

»G7 vermutlich, da hat jemand eine Rauchfackel gezündet.«

Die rote Wolke wurde immer dichter und größer, vernebelte sogar die Sicht auf die Häuser in der Straße.

»Da geht's ja richtig ab«, sagte Hohenstein.

Brandtner nickte und ging in Richtung Tür, die wieder ins Gebäude führte. »Wir möchten uns gerne das Büro von Herrn Cox ansehen.«

Warndorf schien seine abwehrende Haltung gegen eine wortlose Akzeptanz eingetauscht zu haben. Er öffnete die Tür mit seinem Ausweis, hielt sie offen, schloss sie wieder hinter den Kommissaren und ging zum Fahrstuhl. Im fünfunddreißigsten Stock hielt dieser an und sie stiegen aus. Der kalkweiße Beton war hier durch ein etwas wohnlicheres Ambiente ersetzt worden. Den Boden zierte ein dunkelgrauer Teppich, der die Geräusche dämpfte. Über allem hing der Geruch von zu oft geatmeter Luft und abgestandenem Kaffee, punktuell unterbrochen von Parfüm- oder Aftershavewolken, die aus den Büros entwichen, die links und rechts vom Gang lagen. Der Flur mündete in ein Großraumbüro, in dem acht Reihen von Tischen standen. Auf diesen befanden sich Wände von Monitoren, meistens vier, teilweise sechs neben- und übereinander. Viele Geräte zeigten Diagramme und blinkende Tabellen von – so vermutete Hohenstein – Börsenkursen. Auf anderen wurde nur Text oder bindfadenartig Geschriebenes angezeigt, das wie ein Zug Ameisen quer über den Bildschirm verlief.

Seltsamerweise saß niemand vor den Monitoren. Der Raum schien verlassen, die blinkenden Informationen auf den Schirmen verstärkten nur den Eindruck.

Am Ende des Großraumbüros, das geschätzt zwanzig Leuten Arbeitsplätze bot, lag zur linken Hand ein Glaskasten, auf den Warndorf deutete, ohne selbst hineinzugehen. Hohenstein sah an dem Büro vorbei, dahinter mochte sich eine Art Küche oder Gemeinschaftsraum befinden. Er ging zunächst dort hin, weil er Rücken von Menschen sehen konnte. Als er ankam, hörte er die Stimme eines Mannes:

»... mehr wissen wir nicht, außer, dass James sich wohl heute Morgen vom Dach in den Tod stürzte.«

Ein erschrockenes Einatmen kam aus den Reihen der Anwesenden.

»Ich möchte euch bitten, soweit Ihr könnt, mit eurer Arbeit fortzufahren. Wie es weiter geht und was mit der Abteilung geschieht, wird in den nächsten Tagen entschieden werden. Ich muss euch sicher nicht sagen, dass die Abteilung erst mit James' Ein- und Aufstieg in SB&M möglich wurde.«

Der Mann räusperte sich und schien das Brechen seiner Stimme verhindern zu wollen.

»Wir werden einen Umschlag herumgehen lassen. Jeder der will, kann etwas zu einem Kranz beisteuern«, nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das war's, ich habe keine weiteren Informationen.«

Die Mitarbeiter drehten sich um und blickten erschrocken in das fremde Gesicht Hohensteins. Er wiederum sah in die verquollenen Augen einiger Frauen. Er sah Männer, die so jung schienen, dass sie sich noch nicht rasieren mussten. Und diverse von ihnen steckten in Kleidung, wie sie Skater tragen mochten, aber keine Investmentbanker.

Die Mitarbeiter drückten sich schüchtern an Hohenstein vorbei zu ihren Arbeitsplätzen im Großraumbüro. Ohne ein Wort der Erklärung ging der Kommissar direkt auf den jungen Mann zu, der das Wort ergriffen hatte.

»Hohenstein, Kripo Frankfurt.«

Der Mann nickte, »Ich habe Sie schon erwartet. Taxler, Carsten Taxler«, er gab dem Kommissar die Hand und drückte sie fest.

»Ist das österreichisch?«, fragte Brandtner.

»Nein, der Name ist armenischer Herkunft. In Wien werde ich immer blöd angesehen, weil er dort eine andere Bedeutung hat. Ich bin der stellvertretende Abteilungsleiter«, auch dieser Mensch schien viel zu jung, um in leitender Position in einer Bank tätig zu sein. Er trug keinen Anzug, stattdessen ein T-Shirt mit buntem, unleserlichen Aufdruck, eine abgewetzte Jeans und Checkers.

»Sie waren demnach der Stellvertreter von Herrn Cox?«

»Das ist korrekt.«

»Werden Sie nun seinen Posten übernehmen?«

»Das bezweifele ich«, er lachte beinahe, »Zum einen ist es üblich, den Leiter nicht aus der Abteilung zu rekrutieren und zum anderen könnte ich nicht in James' Fußstapfen treten. Die waren mir mindestens drei Nummern zu groß.«

»Warum nicht aus der Abteilung?«, fragte Hohenstein. Brandtner gab ihm ein Zeichen, dass sie sich in Cox Büro umsehen wollte und er nickte kurz.

»Weil das immer böses Blut gibt. Hielte man es so, wäre die Gefahr zu groß, dass sich mehrere Leute aus der Abteilung Chancen auf den Posten ausrechnen. Nur einer kann es werden und sofort beginnen die Grabenkriege zwischen denen, die leer ausgingen und dem neuen Leiter.«

»Verstehe. Was macht Ihre Abteilung?«

»Wir sind für das High-Frequency-Trading von SB&M zuständig.«

»Für was?«

»Den Hochfrequenzhandel. Wir programmieren Computer so, dass sie eigenständig mit den verschiedenen Handelsplattformen der Börsen kommunizieren, Aufträge absetzen und stornieren können. Dies geschieht in aller Regel in Bruchteilen von Sekunden – hochfrequent eben.«

»Das bedeutet, Ihre Mitarbeiter sind keine Banker?«

»Korrekt, die meisten sind Informatiker, diverse Mathematiker, ein Physiker und ein Biologe.«

»Und wie kommt da das Fachwissen der Banker hinzu? Oder brauchen Sie das nicht?«

»Das steuern die Kollegen vorne in den Einzelbüros bei. Sie verwenden die von den Programmierern erzeugte Software, um Trends und Gegentrends zu bewerten und der Handelsplattform eine entsprechende Richtung vorzugeben. Der Rest geschieht dann automatisch. Das Ganze ist natürlich sehr viel komplizierter, ich gebe Ihnen hier nur den groben Überblick.«

»Schon klar«, Hohenstein blickte nachdenklich auf die Reihen von Mitarbeitern im Großraumbüro, »schon klar«. War das die Zukunft? Investmentbanking wurde von einer Horde Programmierer erledigt?

»Was für ein Landsmann war der verstorbene Herr Cox?«

»Amerikaner, soviel ich weiß. Aber außer einem sehr leichten Akzent war davon nichts zu bemerken. Er sprach ausgezeichnet Deutsch.«

»Hat er schon immer hier gearbeitet? Oder war er vorher in Amerika tätig?«

»Er war in der Zentrale, bevor diese Abteilung aufgebaut wurde. Er kam herüber mit dem Auftrag, den Hochfrequenzhandel in Europa für die SB&M aufzubauen.«

»Eine ziemlich große Aufgabe für einen so jungen Mann wie den Herrn Cox?«

»Absolut. Aber er war außergewöhnlich. Sein Verständnis der Materie: Überragend. Sein Durchsetzungswille und sein Gespür für die Mitarbeiter: Unvergleichlich. So einen wird die Firma nicht noch einmal finden.«

»Aha«, Hohenstein waren die jungen Genies immer etwas suspekt.

»Wo befindet sich die Zentrale?«

»An der Wallstreet«, als ob es das Natürlichste der Welt wäre: »New York.«

»Kommen wir zu den Aufgaben von Herrn Cox zurück. Was genau machte er?«

»Er hatte die Leitung der Abteilung inne. Das bedeutet, er musste die administrativen Dinge erledigen, für die er Hilfe von der Sekretärin in Anspruch nahm. Und natürlich ließ er es sich nicht nehmen, in der Forschung mit dabei zu sein.«

»Forschung?«, Hohensteins Augenbrauen hoben sich.

»Was ist daran so erstaunlich?«

»Sie sind Banker. So wie ich es verstanden habe, kaufen und verkaufen Sie Aktien?«

»Ah«, kam als Antwort. Taxler überlegte kurz und setzte die Unterhaltung auf null zurück.

»Wir handeln nicht einfach nur mit Aktien und Derivaten. Im Gegenteil, wir wollen uns da raushalten. Das, was wir anstreben, ist eine Handelsplattform zu entwickeln, die selbstständig den Handel übernimmt. Die beobachtet, Trends entdeckt und autonom nutzt.«

»Und das machen Sie mit diesen ganzen Gerätschaften hier?«

In dem Moment musste Taxler wirklich lachen.

»Nein. Wir haben ein einhundertfünfzig Millionen Euro teures Rechenzentrum, in dem die Berechnungen stattfinden.«

Brandtner kam zurück. Sie hielt einen schwarzen Laptop in die Höhe, der in einer Beweismitteltüte steckte.

»Den müssen wir leider mitnehmen. Gibt es hier jemanden, der das Passwort kennt?«, fragte sie.

»Mit dem Passwort kommen Sie nicht weit. Jeder hier hat ein zusätzliches Security-Token«, dabei zog er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und zeigte ihnen ein kleines Plastikgerät, auf dem ein Display und ein Knopf angebracht waren. Er drückte drauf und eine zehnstellige Zahl erschien.

»Das ist ein Einmal-Code. Dreißig Sekunden gültig. Schaffe ich es nicht, mich in dieser Zeit anzumelden, muss ich einen neuen Code erzeugen. Man braucht den Benutzernamen, den Code und das Passwort, um sich zu authentifizieren.«

»Verstehe. Jeder hat hier einen solchen Security ...«

»... Token. Ja, jeder, der mit Computern arbeitet.«

»Und dasselbe trifft auf das Rechenzentrum zu?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn Sie sich im Rechenzentrum anmelden, dann brauchen Sie auch diese Codes?«

»Ja, schon. Aber niemand geht in das Rechenzentrum. Genaugesagt darf da keiner rein. Nicht einmal diese Abteilung, die vollen Zugriff auf die Rechner hat – selbst James und ich können da nicht ohne triftigen Grund hinein. Konnten ...«, er ließ plötzlich den Kopf hängen.

»Wie arbeiten Sie dann mit Ihren teuren Maschinen?«, lenkte Hohenstein ihn ab.

»Wir brauchen nicht vor Ort zu sein, um mit ihnen zu arbeiten. Es reicht eine Leitung von hier nach da.«

»Vielleicht kommen Ihnen unsere Fragen unsinnig vor, aber wir müssen uns ein Bild von der Arbeit des Herrn Cox machen, um zu verstehen, was geschehen ist.«

»Kein Problem«, er sah auf seine Uhr, offensichtlich dauerte ihm das Gespräch zu lange.

Hohenstein fragte ihn noch nach Adresse und sonstigen Informationen von Cox. Danach reichte er Taxler eine Visitenkarte und bat um einen Anruf, sollte ihm oder einem seiner Mitarbeiter etwas einfallen.

Sie verließen mit Warndorf, der sich die ganze Zeit wortlos im Hintergrund gehalten hatte, das Büro.

»Was Auffälliges am Schreibtisch?«, fragte Hohenstein Brandtner leise, sodass Warndorf es nicht hören konnte.

Sie schüttelte den Kopf.

Hohenstein blickte auf die Uhr, als sie aus dem Gebäude kamen: 11:52. Die Sonne verwandelte den Platz vor der Bank in einen Ofen mit reflektierenden Wänden. Er zog seine Jacke aus.

»Das hat länger gedauert, als ich dachte. Etwas essen und dann in die Wohnung?«, schlug Hohenstein vor.

»Ich habe ein schlechtes Gefühl mit dem G7-Schwachsinn. Vielleicht sollte ich zurück ins Präsidium und mich da nützlich machen. Er wird auch noch am Montag tot sein.«

»Und Du wirst an diesem Wochenende noch genug Überstunden anhäufen. Schone Dich zwischendurch, sonst bist Du irgendwann so alt und hässlich wie ich.«

Brandtner lachte gehässig. Sie gingen in ein chinesisches Restaurant in der Nähe. Ein kleiner, dunkler Schlauch, mit einer offenen Küche hinter der Theke am Eingang, wo Kunden ihre Bestellungen aufgaben und bezahlten. Die meisten der Leute kamen kurz herein, tauschten Geld gegen Ware und verschwanden mit weißen, unbedruckten Plastik-Tüten.

»Was hältst Du davon?«, fragte Hohenstein seine Partnerin.

»Schwer zu sagen, aber das meiste deutet auf einen Selbstmord hin. Allerdings haben wir noch keinen Abschiedsbrief gefunden. Vielleicht steckt der im Laptop? Möglicherweise sogar per E-Mail verschickt?«

»Hm, ich denke, dass es am Ende genau darauf hinauslaufen wird. Irgendwas ist ihm heute Morgen über die Leber gelaufen und er springt vom Dach. Nur die fehlenden DVD's machen mich stutzig. Aber vermutlich hat ein Dummkopf vergessen, sie nachzufüllen.«

»Käme Borell gerade recht.«

»Pff. Der kann mich mal«, er schob sich einen Haufen gebratenen Reis in den Mund.

Brandtner kicherte leise in sich hinein.

»Was, wenn die DVD's nicht vergessen wurden?«

Hohenstein trank einen Schluck Wasser und antwortete nachdenklich: »Dann haben wir ein Problem. Denn das bedeutet, dass jemand von den Sicherheitsleuten lügt.«

»Warum? Es war doch niemand im Überwachungsraum.«

»Glaubst Du, dass da irgendjemand einfach so reinspazieren und sich an den Geräten zu schaffen machen kann? Da müssen Schlüssel, Codes, Ausweise oder sonst was benutzt worden sein.«

»Davon sollte es ein Protokoll geben.«

»Das denke ich auch.«

»Sollten wir checken«, ihr Mobiltelefon spielte plötzlich Y.M.C.A. von den Village People.

»Brandtner«, meldete sie sich.

»Wir sind noch die Umstände am überprüfen«, Hohenstein hörte eine Stimme am anderen Ende der Leitung, sie kratzte und keifte so laut, dass er es auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches hören konnte.

»Schon gut, ich komme ja gleich, kein Grund ausfallend zu werden«, dann drückte sie auf den Knopf zur Beendigung des Gesprächs. Sie sah das Telefon kurz an und murmelte dann: »Der kann mich ebenfalls.«

Nun war es an Hohenstein zu kichern. Sie aßen in Ruhe zu Ende. Dann verabschiedete sich Brandter und nahm den Dienstwagen. Hohenstein ging zur nächsten Ecke und stieg in eine U-Bahn zur anderen Main-Seite. James Cox hatte sich in Sachsenhausen einquartiert.

Als er endlich das Haus gefunden hatte, sah er auf die Uhr: 13:21.

Er klingelte bei »Thorens/Cox« – nichts passierte. Er nahm den Schlüsselbund, den er Cox abgenommen hatte, aus seiner Umhängetasche und probierte den ersten, der aussah, wie ein Haustürschlüssel. Er passte.

Es gab keinen Fahrstuhl, er musste die vier Stockwerke zu Fuß gehen. Im Zweiten kam er bereits ins Schnaufen. Oben angekommen brauchte er eine Minute, um wieder Luft zu bekommen. Im Treppenhaus war es heiß und stickig. Mehrere große Fenster ließen viel Licht herein und die Sonne konnte ungehindert Thermodynamik-Experimente durchführen: Wie heiß kann ein Treppenhaus werden, bevor sich die Stufen wellen?

Er klingelte noch einmal. Dann benutzte er denselben Schlüssel an der Wohnungstür. Sie ging sofort auf, nicht abgeschlossen.

Vorsichtig folgte er dem Flur, der sich zu einem freizügigen Wohn- und Essbereich öffnete. Die hintere Wand bestand praktisch nur aus Fenstern, die sich über zwei Stockwerke erhoben. Eine Maisonnette Wohnung.

Hinter den Fenstern befand sich eine Dachterrasse mit einer modernen, geraden Sitzecke und einem Gasgrill. Sie lag nur halb in der Sonne. Im Hintergrund erkannte Hohenstein über den Dächern anderer Gebäude die Frankfurter Skyline. Der Raum besaß eine seltsame geometrische Form, er musste an einer Stelle liegen, an der mehrere Dächer aneinanderstießen. An den hohen Wänden hingen bunte, abstrakte Bilder. Die dunkle Küche machte eher den Eindruck eines Kunstwerkes statt eines Arbeitsplatzes. Und die wenigen, aber mit viel Geschmack ausgesuchten Möbel gaben dem Raum ein Flair jener »Schöner-Wohnen« Beispiele, die er beim Besuch bei seiner Zahnärztin im Wartezimmer regelmäßig las. Die Wohnung zu mieten war sicher teuer, aber die Einrichtung musste ein Vermögen gekostet haben.

»Hallo! Ist jemand hier? Kriminalpolizei.«

Plötzlich ging über Hohenstein eine Tür auf und eine Frau in einem Bademantel kam auf die Galerie.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie, aufgeregt und etwas wütend.

»Entschuldigen Sie, ich hatte zwei Mal geklingelt. Hätte ich gewusst, dass jemand hier ist, hätte ich den Schlüssel nicht benutzt.«

»Wie kommen Sie an den Schlüssel?«, fragte sie verwirrt und kam eine Wendeltreppe herunter. Sie lief beinahe lautlos barfuß auf dem Holz der Treppe und dem Parkett und zog den Bademantel mit jedem Schritt enger um ihre Hüften. Sie hielt ihn am Ausschnitt fest mit ihrer rechten Hand geschlossen.

»Vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich setzen. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«

Sie sagte nichts, setzte sich auf die vorderste Kante einer schwarzen Designer-Ledercouch und sah auf den niedrigen, wengefarbenen Tisch vor ihr.

»Sie sind Frau Thorens?«, er mutmaßte das von der Klingel.

»Juliane Thorens. Ich bin die Freundin von James.«

»Sie leben hier zusammen?«

Sie nickte, »Seit zwei Jahren.«

Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel. Die Tür zur Dachterrasse war geschlossen und so heizte sich der Raum langsam aber sicher immer weiter auf. Hohenstein schwitzte.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Cox heute Morgen verstorben ist.«

Sie sah ihn mit großen Augen an, »Was?«

»Er ist vom Dach des Bankgebäudes gefallen, in dem er gearbeitet hat.«

Eine Träne lief ihre Wange herab.

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

Sie schluchzte laut, fing sich dann wieder und antwortete: »Heute Morgen. Er verabschiedete sich ganz früh von mir.«

»Früher als sonst?«

Sie nickte, »Es passierte hin und wieder, dass er sehr früh zur Arbeit ging. Er sagte, dass er dann seine Ruhe hätte. Ich habe mir nichts dabei gedacht.«

Hohenstein bemerkte ein Rumpeln von oben.

»Ist da noch jemand?«

Die junge Frau sah ihn abwesend an, »Das ist niemand.«

Hohenstein stand auf und rief: »Sie da, kommen Sie bitte runter.«

Es dauerte etwas, dann ging die Tür erneut auf und ein Mann mit extrem durchtrainiertem Körper trat auf die Galerie heraus. Er trug eine Jeans und schlüpfte in ein T-Shirt, sodass der Kommissar noch im letzten Moment einen Blick auf ein perfektes, gebräuntes Sixpack werfen konnte.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Soyler, Frank Soyler.«

»Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«

Der Mann nahm aus der hinteren Tasche seiner Jeans eine Brieftasche und reichte Hohenstein die Ausweiskarte.

»Seit wann sind Sie hier?«

Soyler sah auf Thorens, die leise nickte und gab dann an: »Ich kam um zehn.«

Der Kommissar notierte sich Name und Anschrift und entließ den Mann. Er wusste, was hier vorgegangen war.

»Hatten Sie Probleme in Ihrer Beziehung?«

»Nicht mehr, als alle anderen. James verließ die Wohnung immer früh und kam erst spät abends wieder zurück. Meistens hatte er dann keine Energie mehr, schlief oft ein oder ging gleich ins Bett. Wir hatten eher eine Wochenendbeziehung. Während der Woche war er mit seiner Arbeitsstelle verheiratet. Ich hatte mit ihm darüber geredet und wir kamen zu der Übereinkunft, dass wir sexuell keine Ausschließlichkeit erwarten können. Er, weil er zu viel arbeitete, und ich, weil ich es von ihm nicht verlangen konnte, wenn ich es selbst nicht einhielt«, ihr liefen wieder dicke Tränen über die Wangen. Hohenstein bemerkte in diesem Moment erst, wie schön sie war.

»Glauben Sie, dass ihn das belastet hat?«

Sie zuckte mit den Schultern, dann erst begriff sie: »Hat er sich umgebracht?«

»Das wissen wir noch nicht, aber es ist eine der Möglichkeiten.«

Ihr ging allmählich ihre Fassung verloren. Sie weinte nun haltlos und schlug ihre Hand vor den vor Schreck geöffneten Mund. Sie hielt den Bademantel nicht mehr fest und Hohenstein konnte den Ansatz ihrer Brüste sehen.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Warum ziehen Sie sich nicht etwas an und wir gehen eine Runde spazieren? Sie dürfen sich jetzt keine Vorwürfe machen. Es ist noch überhaupt nicht klar, ob es Selbstmord war«, er versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen.

Sie zog wieder ihren Bademantel zu, nickte und stieg die Wendeltreppe hinauf.

Wenige Minuten später stand sie in Jeans und kurzärmeligen Oberteil vor ihm.

»Ich will nicht raus«, sagte sie.

»Kein Problem. Ich muss mir die persönlichen Sachen von Herrn Cox ansehen. Hatte er einen Arbeitsplatz? Einen Computer?«

»Ja, ein Büro. Es ist hier gleich links«, sie deutete auf eine Tür auf der unteren Ebene, die neben dem Eingang vom Flur abging.

»Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«, fragte sie beiläufig, mit den Gedanken woanders.

»Gerne, nur mit Milch«, sagte er in der Hoffnung, dass sie dadurch etwas abgelenkt würde.

Er öffnete die Tür zum Büro. Ein teuer anmutender Glastisch, weiße Schränke an den Wänden und ein flacher iMac auf dem Tisch. Sonst schien der Raum leer zu sein. Unter dem Tisch stand ein Schubladenschrank. Er war verschlossen. Hohenstein setzte sich auf den bequemen, schwarzen Stuhl und benutzt einen kleinen Schlüssel vom Bund, um ihn zu öffnen.

In der obersten Schublade lagen nur Stifte und Post-It-Blöcke. Die zweite enthielt dünne Heftordner mit Abhandlungen zu Bank-Themen. Alle hatten einen wertig anmutenden Einband, am unteren Rand mit dem Firmennamen: »Sinclair, Barrows & Moss« in schwarzen, modernen Buchstaben und dem unmissverständlichen Hinweis: »Nur für den internen Gebrauch!«

Er las die Titel: »Neuronale Netze mit harmonisch gedämpftem Feedback zur Simulation von Märkten im Hausse-Zustand«, »Elliptische nichtlineare partielle Differentialgleichungen und ihre Anwendung in der Charttechnik im elektronischen Börsenhandel«, »Nash-Equilibrium und die Auswirkung von strategischen Opfern im Hochfrequenzhandel« und so weiter. Hohenstein verstand von diesen Titeln nur wenige Worte. Geschweige denn den Inhalt, den er vereinzelt überflog und Formeln über Formeln sah, teils über mehrere Seiten hinweg ohne ein einziges Wort Text, »Ach du Scheiße«, murmelte er.

In der dritten und untersten Schublade befand sich nur Papier und etwas Büromaterial. Offensichtlich waren die Heftordner das, was es durch das Schloss zu schützen galt.

Als er die Schubladen schloss, stieß er gegen den Tisch. Die Maus verschob sich um einen Millimeter und der Bildschirm ging an. Er blickte auf eine Login-Maske. Benutzername »James«, darunter ein Feld für das Passwort, das er nicht kannte.

»Ich kenne es auch nicht«, sagte Juliane Thorens, sie balancierte eine Tasse auf einer Untertasse in den Raum und stellte sie vorsichtig auf dem Tisch ab.

»Ich würde den Computer gerne an unsere IT-Heinis übergeben. Vielleicht können die daran.«

Sie nickte.

»Was ist in den Schränken?«, Hohenstein deutete auf die weißen Türen hinter sich.

»Ich weiß nicht, das ist James' Zimmer. Es war eine unausgesprochene Regel, dass er hier seinen Rückzugsraum hatte, aus dem ich mich raushalten sollte.«

Er ging zur mittleren Tür und öffnete sie. Reihen von Aktenordnern kamen zum Vorschein. Alle identisch und sorgfältig beschriftet. Die nächste Tür zeigte dasselbe. Die Dritte, die Letzte vor dem Fenster, enthielt Elektronikzeug. Netzteile in einer weißen, durchsichtigen Plastikkiste. Fotoapparate verschiedener Größe und Qualität. Eine Schale mit veralteten Mobiltelefonen. Pappkisten mit allem möglichen Zeug.

»Halten Sie es für möglich ...«, begann Hohenstein einen Satz und brach ab.

»... dass er sich umgebracht hat?«, Juliane beendete ihn.

Sie überlegte eine Weile und antwortete dann vorsichtig: »Wie gut kann man überhaupt jemanden kennen? Wir waren zwar schon vier Jahre zusammen, aber es gibt doch immer Geheimnisse. Wenn Sie mich direkt fragen, ob er sich umgebracht hat, antworte ich: Nein. Aber sicher kann ich mir nicht sein.«

Hohenstein wechselte das Thema: »Was arbeiten Sie?«

»Personal Trainer«, sie sprach es englisch aus.

»Sie trainieren Leute?«, fragte er ungläubig.

»Ja«, sie sah ihn verwirrt an, »ist daran etwas auszusetzen?«

»Nein, gar nicht. Nur wenn Sie reden, klingen Sie nicht wie ein ... Personal Trainer.«

»Ich habe nach der Schule Jura studiert. Aber vor dem zweiten Staatsexamen hab ich hingeworfen. Das Referendariat in einer Kanzlei zeigte mir deutlich, dass ich mich auf dem Holzweg befunden hatte. War danach für ne Weile auf Ibiza, als Animatöse. Später hielt ich mich mit Jobs in Bars und Cafés über Wasser. Da kam ich dann auf eine Art Gesundheitstrip und blieb einfach dabei. Zurück in Deutschland hab ich zuerst in Fitnessstudios gearbeitet. Später frei als Personal Trainer. So haben James und ich uns kennengelernt«, Tränen liefen ihr wieder über die Wangen.

»Wissen Sie eigentlich, was genau Herr Cox gemacht hat? Womit sich die Abteilung beschäftigt? Ich hatte einen Mitarbeiter gefragt, aber nichts verstanden.«

»Das ging mir ähnlich«, sie schniefte und Hohenstein reichte ihr ein Taschentuch.

»Danke. Er hat nicht viel über die Arbeit geredet. Meinte, dass mich das langweilen würde.«

Hohenstein nickte, ihm gingen langsam die Fragen aus, um sie abzulenken. Übrig blieben die Fragen, die sie weiter aus der Fassung bringen würden. Er entschied sich, sie für diesen Tag in Ruhe zu lassen.

»Frau Thorens, ich möchte Sie bitten, morgen Vormittag ins Polizeipräsidium zu kommen«, er reichte ihr eine seiner Visitenkarten. Seine Vorletzte, er musste Nachschub bestellen. »Es reicht, wenn Sie gegen zehn da sind. Ach so«, er unterbrach sich mit einem Gedanken, »arbeiten Sie morgen? Wir können das auch an Ihre Termine anpassen.«

»Nein, das passt. Ich habe meine Trainings eher abends, außerhalb der üblichen Dienstzeiten.«

Hohenstein überlegte kurz und schnappte sich dann den Stapel Veröffentlichungen aus der zweiten Schreibtischschublade. Er steckte sie in seine Umhängetasche, verabschiedete sich von Juliane Thorens und verließ die Wohnung gegen halb drei.

Die nachmittägliche Hitze nahm ihm beinahe den Atem. Die Sonne brannte auf seine dunklen Haare, er fing sofort an zu schwitzen. Hohenstein musste an einer stark befahrenen Straße entlang laufen, um zum U-Bahnhof zu kommen. In den Gängen konnte er endlich wieder einfacher atmen, aber dafür waren die Wagons der Bahn so überfüllt, dass er an die Grenzen seiner latent vorhandenen Klaustrophobie stieß. Er hasste es, wenn er an Rucksäcken hängenblieb, wenn Fremde ihn berührten, sie auf seine Füße traten oder er beim Festhalten an den Stangen ihre Hände ergriff und sich entschuldigen musste.

Je näher er dem Stadtzentrum kam, desto voller wurde die U-Bahn. Dahinter nahm es nur langsam wieder ab. Er konnte in der U3 bleiben und stieg Miquel-/Adickesallee aus. Das Präsidium befand sich direkt neben dem Ausgang Eschersheimer Landstraße. Bereits unten auf dem Bahnsteig wiesen Schilder die Richtung, für Leute, die fremd waren.

Als Hohenstein endlich am Schreibtisch saß und eine Flasche Wasser öffnete, trank er die Hälfte in einem Zug leer. Das folgende Aufstoßen versuchte er zu tarnen und leise entweichen zu lassen.

»Das ist ziemlich ekelhaft«, sagte Brandtner mit dem Blick auf ihren Bildschirm.

»Entschuldige, wären Dir Ausgewachsene lieber?«

»Trink einfach langsamer.«

Er rülpste in wändeerschütternder Art. Von draußen kam ein »Wohl bekomms'« sowie ein »Solang es die Schneidezähne aushalten« von den Kollegen durch die offene Tür hereinkommentiert.

Brandtner hob wieder ihre Augenbraue und tippte weiter auf der Tastatur herum.

»Was machst Du?«

»Ich arbeite, solltest Du auch mal versuchen.«

»Was ist Dir denn über die Leber gelaufen?«, Hohenstein wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und versuchte, seine Körpertemperatur in akzeptable Bereiche zu senken.

»Einsatzplanung. Das, was Borell tun sollte, aber offensichtlich keine Lust zu hat.«

»Wann beginnt der Zirkus?«

»Morgen ab acht Uhr werden die ersten Absperrungen aufgebaut und der Verkehr umgeleitet«, sie redete langsam und abgelenkt, während sie schrieb.

Dann hielt sie kurz inne und warf Hohenstein eine dünne Akte herüber, um gleich wieder weiter zu tippen. Er wusste, worum es sich handelte, zu viele davon hatte er bereits gelesen.

»Schon?«

»Er meinte, es sei nichts los gewesen und hat die Obduktion gleich noch am Vormittag gemacht.«

»Wie schön, dass wenigstens einer wenig zu tun hat.«

Er sah auf seine Armbanduhr: 15:14.

Den Bericht las er langsam und gründlich. Doch nichts deutete auf einen Täter hin. Keine Drogen im Blut, keine Wunden, die nicht dem Sturz zugeordnet werden konnten – wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass wenn es solche gegeben hätte, diese sehr schwierig von Wunden des Sturzes zu unterscheiden gewesen wären. Es gab keine Spuren von Fesselungen oder Sonstigem.

Die Hitze im Büro wurde langsam unerträglich.

»Nataschenka, darf ich die Klimaanlage einschalten?«, sie bestand darauf, dass ein offenes Fenster genug Kühlung lieferte und war der Meinung, dass eine Klimaanlage nur zu Erkältung und Dienstausfällen führte.

Sie brummte: »Wenn es unbedingt sein muss.«

Er lächelte, schloss das Fenster und schnappte sich die Fernbedienung der Anlage. Kurz darauf fiel kühlschrankkalte Luft auf ihn herab und er begann die Erleichterung zu spüren. Der Sommer hatte schon einige Hitzerekorde gebrochen, doch dieses Wochenende sollte, laut Vorhersage, das Heißeste des Jahres werden. Gewitter wurden erst für Montag erwartet.

Der Kommissar startete auf seinem Bildschirm einen Webbrowser und sah sich auf einer der Online-Nachrichtenseiten die Berichte über die Vorbereitungen auf den G7-Gipfel an. »Frankfurt im Ausnahmezustand«, titelte ein Artikel. »Stadt überfordert«, stand darin. »Von offizieller Seite wurde bekannt gegeben, dass im gesamten Innenstadtbereich mit erheblichen Behinderungen des Verkehrs gerechnet werden muss. Nicht nur aufgrund von Straßensperren, sondern auch wegen diverser, angekündigter Demonstrationen von verschiedenen Organisationen der Globalisierungsgegner.«

Das wird ein »heißes« Wochenende, in jeder Hinsicht, dachte Hohenstein.

In einer E-Mail an die Abteilung ließ Borell keinen Zweifel aufkommen, dass alle Mitarbeiter in den kommenden Tagen wenig zu Hause sein würden.

Hohenstein seufzte wieder. Am Sonntag wollte er mit seinen Kindern etwas unternehmen. Das hatten sie schon lange geplant. Vielleicht könnte er es trotzdem irgendwie einrichten.

Er sah auf das Bild neben seinem Monitor. Es hing unsymmetrisch im Rahmen, weil nicht nur die Kinder, sondern auch seine Ex-Frau abgebildet waren. Er hatte es kurz nach der Scheidung so umgeknickt, dass sie nicht mehr zu sehen war und das Foto wieder in den Rahmen gesteckt.

Irina siebzehn und Kevin zwölf. Der Name des Jungen war ihre Idee. Er hatte auf den Namen der Tochter bestanden, seiner Großmutter zu Ehren, und so durfte seine Ex den Namen des Sohnes aussuchen. Hohenstein rief den Jungen immer Kolja. Auf dem Foto waren sie natürlich viel jünger, aber er hatte kein anderes Bild von ihnen. SIE hatte alle behalten.

Borell riss ihn aus seinen Gedanken: »Ist die Selbstmordsache abgeschlossen?«

»Nein, es gibt ein paar Ungereimtheiten, die ich gerne noch klären möchte, bevor ich die Sache abschließe.«

»Was für ›Ungereimtheiten‹?«

»Nun, es fehlen Überwachungs-DVD's genau der Teile des Gebäudes, die für diese Untersuchung von Belang wären. Die Lebensgefährtin des Toten ist der Überzeugung, dass er nicht gefährdet gewesen war und es gibt keinen Abschiedsbrief.«

»Überzeugt mich nicht.«

»Was Kollege Hohenstein noch nicht weiß, ist«, Brandtner mischte sich plötzlich ein, »dass der Tote wohl Schulden hatte. Ich habe sein Mobiltelefon prüfen lassen. Die SIM Karte hat den Sturz überlebt. Daraufhin konnte der Mobilfunkprovider uns den Inhalt des SMS Konto und den Inhalt der Mobil-Box zusenden.«

Sie doppelklickte und stellte die Lautsprecher neben ihrem Monitor lauter. Eine unangenehme Stimme ertönte: »Ok, Du Yuppi-Arsch, das ist Deine letzte Chance. Heute Abend bringst Du mir die Kohle oder Du bekommst Besuch von meinem Freund Alexej und seiner Kneifzange. Und glaub mir, er weiß damit umzugehen.«

Hohenstein blickte seine Kollegin entgeistert an, wie konnte sie ihm das vorenthalten?

»Na gut«, sagte Borell, »aber wir haben diese G7-Scheiße am Hacken und ich kann auf Sie beide nicht verzichten!«, danach jagte er durch den Flur davon.

»Was soll das?«, fragte Hohenstein.

»Sorry, ich wollte es Dir sagen. Dann hab ich es beim Tippen vergessen. War keine böse Absicht.«

»Hmm«, das würde sie wieder gutmachen müssen. »War noch mehr da?«

»Nichts Interessantes. Seine Freundin hat ihm zwei Mal draufgesprochen und ein paar SMS geschickt. Die Dateien liegen auf dem Server.«

Den restlichen Nachmittag verbrachte Hohenstein mit den Daten des Mobiltelefons. Dann schrieb er eine E-Mail an die IT-Forensik, dass Cox' privater Computer abgeholt werden musste. Und er kümmerte sich um die Berichte, die er in der Wohnung von Cox mitgenommen hatte.

Letztere bereiteten ihm große Schwierigkeiten. Er war in Mathematik nie gut gewesen. Er mochte die Beweisführung und die Logik, aber mit den Formeln hatte er sich nie anfreunden können.

Als Brandner ihm, nachdem sie für sie beide Kaffee geholt hatte, über die Schulter sah, flüsterte sie: »Ach du Scheiße«.

Hohenstein quälte sich gerade durch einen Bericht, der den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Beobachtung von Trends im Börsenhandel beschrieb. Die Formeln ließ er aus und konzentrierte sich auf den Text dazwischen. Er musste sich jedes zweite oder dritte Wort von Wikipedia erklären lassen, was die Lektüre erheblich in die Länge zog. Dabei notierte er sich Fragen, die er Taxler stellen würde.

Danach hatte er das Gefühl, hinlänglich zu wissen, worum es ging.

Er schloss den Bericht und sah auf die erste Seite. Unter der Überschrift stand: »James Henry Cox«. Kein weiterer Name. Alle Berichte trugen nur diesen einen Namen.

»Smartes Bürschchen«, kommentierte er.

Brandtner sah zu ihm rüber, sie hatte tiefe Augenringe und sah müde aus.

»Nataschenka, geh nach Hause.«

»Ich bin noch nicht fertig«, stöhnte sie.

Im Gegensatz zu Hohenstein hatte Brandtner ein funktionierendes Zuhause. Sie lebte seit mehreren Jahren mit ihrer Freundin zusammen, die einen kleinen Jungen aus einer vorherigen Ehe mitgebracht hatte. Sie bildeten einen Familien-Nukleus, der für Brandtner Dreh-, Angel- und Mittelpunkt ihres Handelns darstellte. Hohenstein freute sich für seine Kollegin, aber insgeheim beneidete er sie auch darum, weil er etwas Vergleichbares gehabt und verloren hatte. Brandtner hatte ihn diverse Male eingeladen, zu Geburtstagsfesten oder grundlosen Grillabenden. Einmal war er dazugekommen, hatte sich unter den vielen weiblichen Pärchen jedoch deplatziert gefühlt. Brandtner versprach daraufhin, das nächste Mal ein paar Schwule und vielleicht noch eine Hetero-Frau einzuladen. Zu einem nächsten Mal war es bisher nicht gekommen.

Die Telefonnummer des Geldeintreibers wurde vom Mobilfunkprovider mitgeliefert. Sie stand im Dateinamen kodiert, neben Datum und Uhrzeit des Anrufs. Die Nummer gehörte zu einer zwielichtigen Person, die bereits mehrfach der Polizei aufgefallen war und dem »Glückspiel-Schrägstrich-Rotlicht-Milieu« zuzuordnen war: Peter Zamblowski.

Brandtner knallte ihren Zeigefinger lautstark auf die Tastatur und sagte: »Genug für heute. Mir brennen die Augen.«

»Willst Du noch diesen Zamblowski aufsuchen?«

»Na gut, aber dann ist wirklich Schluss.«

Hohenstein sah auf seine Uhr: 19:23.

Als sie in den Hof des Polizeipräsidiums traten und plötzlich von klimatisierter Luft in die Hitze des Sommerabends kamen, fühlte Hohenstein sich wie mit einem Kissen geschlagen.

»Meine Güte, wie heiß soll es denn noch werden?«

Im Wagen sah er an Brandtner, die auf dem Fahrersitz saß, vorbei auf das Display und erkannte, dass die Außentemperatur bei 35 Grad lag.

»Morgen soll es noch heißer werden. Sie reden von bis zu 40 Grad«, kommentierte sie seinen Blick.

»Das geht doch gar nicht, nicht in Deutschland!«

Brandtner schaltete freiwillig die Klimaanlage an. Sie fuhren in die Nähe des Hauptbahnhofs und parkten in zweiter Reihe neben einer Ausfahrt. Gleich daneben befand sich der Eingang zu einem Nachtclub mit dem Namen: »Ständer' Garanti«.

Abgesehen davon, dass der Name einen Rechtschreibfehler und ein Deppen-Apostroph enthielt, Zweifel am Versprechen aufkommen ließ, der Club noch geschlossen war und das Haus einen so abstoßenden Eindruck machte, dass Brandtner am liebsten in Schutzkleidung angerückt wäre, stank es im Treppenhaus des Nebeneingangs so erbärmlich und widerlich, dass sie beide den Tag verfluchten, an dem sie bei der Polizei angefangen hatten.

Die Tür war offensichtlich vor einiger Zeit aufgebrochen worden, es hatte sich aber niemand um eine Reparatur gekümmert. Stattdessen war jede weitere Tür im Haus doppelt und dreifach gesichert. Das machte das Treppenhaus zu einer Art demilitarisierten Zone, in der die Überreste von Sex, Drogenkonsum und Notdurft koexistieren.

Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf. Auf dem Weg dorthin schlief auf einem Absatz ein Mann in einem infernalisch stinkenden Schlafsack.

Sie klingelten an der Tür. Nach einer Weile öffnete ein nahezu unbekleideter Mann. Kaum eins siebzig groß, muskulös und vielfach tätowiert.

»Wat?«

»Brandtner und Hohenstein, Kripo Frankfurt. Sind Sie Herr Zamblowski?«, Igor hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Nase.

»Ja, und?«

»Können wir kurz hereinkommen? Hier draußen stinkt es fürchterlich.«

»Ist der schon wieder da?«, der Mann ging zum oberen Rand der Treppe, sah auf den Schlafsack herab und fing an, laut zu brüllen: »Du krankes Arschloch, ich hab gesagt, dass Du verschwinden sollst!«

Von unten kam nur ein raues Brummen.

Zamblowski watschelte wieder in seine Wohnung und ließ die Tür offen, was die Kommissare als Einladung verstanden. Der Flur war dunkel und es stand nicht näher erkennbarer Kram herum.

Das Wohnzimmer wurde von drei hohen Fenstern in Licht getaucht, auch wenn es durch vergilbte Gardinen stark gefiltert hereindrang. Ein großer Flachbildschirm lief und Zamblowski saß auf einer alten, durchgesessenen Couch, die älter als er selbst sein musste. Irgendjemand hatte sie mit schwarzem Stoff bezogen, der mit orangefarbenen Blüten bedruckt worden war.

Vor der Couch stand ein Wohnzimmertisch mit braunen Kacheln als Oberfläche.

Brandtner stürmte vor: »Wo waren Sie heute Morgen gegen sechs Uhr dreißig?«

»Wieso?«, er schob mit einer kleinen Maschine Tabak in eine leere Zigarettenhülse und steckte sich die Seite mit dem Filter in den Mund.

»Antworten Sie bitte«, sagte Hohenstein sanft.

Zamblowski hob die Augenbrauen, ließ sich gegen die Rückenlehne fallen, rieb sich mit der Hand, in der er die Zigarette hielt das rechte Auge.

»Da hab ich den Club geschlossen. Ist die morgendliche Routine. Die besoffenen Kunden rausschmeißen, die Fifi’s abkassieren, aufpassen, dass die Putzkolonne nix aus der Bar klaut und, wenn alle gegangen sind, Tür abschließen und ins Bett fallen.«

»Kann das jemand bezeugen?«, fragte Brandtner.

»Natürlich. Ein Haufen Leute.«

»Woher kennen Sie James Cox?«

»Die Pissnelke?«, er nahm einen tiefen Zug durch seine Zigarette und blickte Brandtner starr durch den Qualm an.

»Hat der sich beschwert? Hat er eine Anzeige erstattet?«

»Nein, er ist tot.«

Einen kurzen Moment – für die Kommissare aber deutlich erkennbar – ließ der Mann seine Maske fallen und sie sahen einen Anflug von Entsetzen. Nur eine halbe Sekunde, dann hatte er sich wieder im Griff. Für Hohenstein war diese Reaktion ein klares Zeichen, dass Zamblowski nichts mit dem Tod zu tun gehabt haben konnte.

»Der blöde Sack. Macht hier Schulden und lässt uns hängen.«

»Wieviel?«, fragte Hohenstein.

»Zwanzig Riesen.«

»Wie ging das? Hatte er ein paar Mädchen und dann anschreiben lassen?«

»Quatsch, der hat die nicht angefasst. Hat in der Poker-Runde mitgemacht. Letztes Wochenende hatte er mal keinen guten Lauf, wie sonst. Hat immer weiter verloren. Bei zwanzig in den Miesen ist er raus.«

»Haben Sie eine Glücksspiellizenz?«, fragte Brandtner.

Zamblowski sprang auf die Füße, »Ich sag gar nichts mehr. Wenn Sie noch was wissen wollen, fragten Sie meinen Anwalt.«

»Schon gut«, beruhigte ihn Hohenstein und reichte ihm seine letzte Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

Auf der Straße unten konnten sie wieder Luftholen. Die Häuser und der Asphalt strahlten noch die Hitze des Tages ab. Doch langsam wurde es kühler.

Sie stiegen in den Wagen und Hohenstein fragte, ob Brandtner etwas Trinken gehen wollte. Doch sie lehnte ab, lud ihn im Gegenzug ein, mit zu ihr zu kommen. Er lehnte ebenfalls ab und ließ sich in der Nähe seiner Wohnung absetzen.

Statt in das kleine Apartment zu gehen, lenkte er seine Schritte in einen nahegelegenen Biergarten. Unter den alten Kastanien würde er den Abend verbringen. Ein weiteres Mal sah er auf die Uhr: 20:58.

Er setzte sich an einen grünen Plastiktisch, einen von der Sorte, bei der man immer im weiß gestrichenen Metallgestänge hängen blieb. Die dazu passenden Stühle waren unbequem und schmerzten in Hohensteins Rücken. Eine Kellnerin kam und er bestellte einen großen Sauergespritzen.

Aus seiner Umhängetasche fischte er sich einen weiteren von Cox' Berichten, sah kurz hinein und steckte ihn wieder zurück in die Tasche und nahm stattdessen eine Ausgabe der FAZ heraus und überflog einige Artikel. Bei einem blieb er hängen: Eine Hackertruppe hatte diverse Investmentfirmen und Banken gehackt. Ob dies auch der SB&M geschehen könnte? Die Truppe nannte sich kryptisch »m2.corps«. Nachdem er eher abwesend noch ein oder zwei Artikel zu lesen versucht hatte, saß er einfach nur da, beobachtete die kleinen Bläschen in seinem Glas dabei, wie sie aufstiegen und dachte nach.

Eine Weile später – der Biergarten hatte sich gefüllt – fragte ihn ein Mann, ob er sich dazu setzen könne. Hohenstein deutete stumm auf die freien Stühle.

Der Mann war groß und gut gekleidet. Seine blonden Haare trug er etwas länger - er musste sie beim Hinsetzen aus dem Gesicht streichen. Das Hemd ließ den Blick auf seine Brust frei, ein älteres, da schon grünlich gefärbtes, Tattoo lugte hervor - aber zuwenig, um erkennbar zu sein. An einer goldenen Kette baumelte ein russisches Kreuz auf der haarlosen Haut.

Seine Augen waren dunkelbraun und Hohenstein bemerkte dies, da der Mann ihm fest in die seinen starrte. Offensichtlich hatte er Hohensteins Musterung bemerkt.

»Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«, fragte der Fremde nicht unfreundlich.

»Entschuldigen Sie, Berufskrankheit.«

Der Mann lächelte, »Sind Sie Kriminalbeamter?«

»Steht das auf meiner Stirn?«

»Nein, aber die Bezeichnung ›Berufskrankheit‹ als Entschuldigung vorzubringen, bei etwas Harmlosen wie starren ...«

Sie kamen ins Gespräch, trotzdem auch Hohensteins Gegenüber mit Lesestoff in den Biergarten gekommen war. Eine aktuelle Prawda-Ausgabe. Bei der überlasteten Kellnerin bestellte er sich ein alkoholfreies Bier.

»Sind Sie Spätaussiedler?«, fragte der Mann Hohenstein.

»Nein, meine Eltern sind aus der UdSSR geflohen, als ich ein kleiner Junge war. Sie haben im Westen ihren russischen Namen abgelegt und einen deutschklingenden angenommen. Ich glaube, der wurde ihnen von einer Behörde empfohlen.«

»Politische Flüchtlinge?«

Hohenstein nickte nachdenklich, so genau war das von seinen Eltern nie erklärt worden.

»Ich kenne die genauen Umstände nicht. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist die Flucht über einen kalten Fluss irgendwo in der Tschechoslowakei und die Angst, die ich dabei empfand. Und natürlich der Trennungsschmerz, meine Großeltern nie wieder zu sehen.«

»Sie hatten ein inniges Verhältnis zu Ihren Großeltern?«

Hohenstein bekam langsam ein seltsames Gefühl bei dieser Fragerei.

»Entschuldigen Sie«, begann sein Gegenüber, »ich komme Ihnen vermutlich sehr neugierig vor. Das ist auch bei mir eine Art Berufskrankheit.«

»Und was arbeiten Sie?«

»Ich investiere in Menschen, so zusagen.«

»Musik?«

»Entertainment im weitesten Sinne. Da muss man ein Gespür dafür entwickeln, wer einem in Zukunft Probleme bereiten wird, und wer nicht.«

»Was sagt Ihr Urteil über mich?«

»Problemlos.«

Hohenstein lachte laut, »Da müssten Sie mal mit meinem Vorgesetzten reden, der würde Ihnen etwas ganz anderes erzählen.«

Hohenstein trank einen großen Schluck, dann setzte er nach: »Sie sind auch russischer Herkunft, nehme ich an?«, dabei deutete er auf die Ausgabe der Prawda.

»Das ist korrekt. Falls Sie sich über meine Sprache wundern, meine Mutter stammte von Wolgadeutschen ab und hat darauf bestanden, dass ihre Kinder zweisprachig aufwachsen.«

»Wie viele Kinder?«

»Ich habe noch zwei jüngere Schwestern.«

»Die sind auch hier?«

»Nein, sie leben in Moskau. Beide verheiratet.«

Inzwischen hatte Hohenstein drei große Gespritzte getrunken und die nötige Bettschwere entwickelt. Er verabschiedete sich freundlich aber bestimmt von seinem Gegenüber, der offensichtlich noch weiter reden wollte, zahlte und überließ den Fremden seiner Prawda.

Auf der Treppe vor seiner Wohnungstür saß eine siebzehnjährige mit rot gefärbten Haaren in schwarzen Klamotten, die irgendwie zerrissen aussahen. Nach seinem Einzug hatte sie einen Schlüssel von Hohenstein bekommen, doch ihm eine Woche später gebeichtet, dass sie ihn schon verloren hatte.

Ein Paar schwarze Springerstiefel hatte sie ausgezogen und neben sich gestellt. Ihre fast weißen Füße wirkten unfertig, glatt. Die Fingernägel hatte sie vor einiger Zeit schwarz lackiert, doch der Lack wurde brüchig und splitterte ab. Sie sah ihn mit dunklen Augen an.

»Habt Ihr Euch wieder gestritten?«, fragte Hohenstein.

Sie nickte, nahm die Springerstiefel in die Hand und stand auf.

»Wird ziemlich heiß werden. Es kommt einfach kein Wind auf.«

»Macht nichts. Ab einer bestimmten Wärme ist es egal, und alles ist durchgeschwitzt.«

In seiner Wohnung hing die schwüle Hitze des Tages und er riss die Fenster auf. Nur das Licht der Straßenlaternen fiel ins Zimmer. Aus dem Dunkel heraus sah er die Straße entlang. Eine jener alten Alleen des Nordends mit großen Bäumen und zu vielen Autos, die wild geparkt worden waren.

Rey, so ließ sie sich von ihren Freunden nennen – den von ihren Eltern gegebenen Namen mochte sie nicht – ging direkt in das kleine Bad und stellte sich unter die Dusche.

Eine große, schwarze Limousine startete den Motor, weiß-bläuliches Licht kam aus punktförmigen Scheinwerfern. Als sie vorbei fuhr, sah der Fahrer kurz zu Hohenstein hinauf, schien ihn direkt anzusehen. Das letzte Mal an diesem Tag prüfte Hohenstein seine Armbanduhr. Die Zeiger leuchteten sanft phosphorgrün: 23:02.

Hochfrequent

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