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2035
ОглавлениеHendriks Blick fiel durch das Fenster hinaus zu den Baumkronen, die sich majestätisch im Wind hin und her wiegten. Das Rauschen der trockenen Zweige, die aneinander rieben, drang deutlich durch den undichten Fensterrahmen. Weiße Wolken jagten über den tiefblauen Himmel und die Sonne schien so hell, dass sie in seinen Augen schmerzte. Die letzten kalten Tage lagen hinter ihnen, der Frühling begann mit endlos scheinender Kraft und würde es bald unmöglich machen, ohne Schutz draußen herumzulaufen.
»Hendrik Prescott!«, die Klassenlehrerin Miss Turner hatte sich vor ihm aufgerichtet und starrte ihn wutentbrannt an. Im Klassenraum herrschte Stille und er spürte die Blicke der anderen Schüler wie Nadelstiche auf der Haut.
»Pass gefälligst auf, sonst kannst du den Nachmittag beim Nachsitzen verbringen.«
Die Highschool wurde ihm immer lästiger. Nichts von dem, was sie ihm erzählten, interessierte ihn. Und das, was ihn interessierte, brachten sie ihm nicht bei. Mathematik stand zwar auf dem Lehrplan der Schule, doch die Themen, die ihn interessierten fehlten dort.
Miss Turner versuchte seit einigen Wochen, am Rande der Verzweiflung, der Klasse die Grundlagen der Differentialrechnung beizubringen. Dabei hatte Hendrik dieses Stadium bereits hinter sich gelassen. Differentialrechnung, Differentialgleichungen, partielle Differentialgleichungen, nichtlineare partielle Differentialgleichungen, elliptische nichtlineare partielle Differentialgleichungen und so weiter. All das hatte auf seinem eigenen Lehrplan des vergangenen Jahres gestanden.
Die Hitzewelle des letzten Sommers hatte er in der Nähe der Klimaanlage der College-Bibliothek verbringen müssen. Die Stadt konnte sich keine eigene Bibliothek leisten, daher durften die Bewohner des Städtchens Lakeview die Bibliothek des Colleges mitbenutzen. Der Deal mit der Hochschule bestand daraus, dass die Stadt sich an den Betriebskosten beteiligte, einen Mitarbeiter stellte und das College kümmerte sich um den Rest. So durften die Schüler dort ihre Bücher ausleihen und sich im Lesesaal aufhalten, solange sie »die Regeln« beachteten. Die Erste und Wichtigste von diesen: leise sein! Die meisten Schüler schafften das nicht, da sie immer in Gruppen in den Lesesaal polterten, sich unterhielten und Unsinn trieben und so auch gleich wieder hinausgeworfen wurden.
Hendrik tauchte immer alleine auf und wurde so zum Liebling des alten Charles Fitch – des von der Stadt gestellten Mitarbeiters – der im Lesesaal für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Mr. Fitch, ein ehemaliger Soldat, zog aufgrund einer Kriegsverletzung aus dem zweiten Irak-Krieg sein rechtes Bein nach. Seine grauen Haare wuchsen dicht und er brauchte zum Lesen eine kleine Brille, die er meistens in der Brusttasche seines Holzfällerhemdes trug.
»Also Hendrik, kannst du mir sagen, was dabei herauskommt, wenn man die Funktion f von x ist gleich x hoch zwei ableitet?«, unterbrach Miss Turner seine Gedanken.
»Ja«, die Frage hielt er für eine Unverschämtheit. Natürlich konnte Miss Turner das nicht wissen, aber Hendrik hatte keinesfalls vor, auch nur ein weiteres Wort darauf zu verschwenden. Sein Blick wandte sich wie von selbst wieder den Baumkronen zu und seine Ohren konzentrierten sich auf das Rauschen des Windes, der mit den nackten Zweigen spielte.
Dann traf Hendrik eine Papierkugel am Hinterkopf. Beim Umdrehen erkannte er bereits die vom Hass verzerrten Gesichter seiner Mitschüler.
»Danke, du Arsch!«, zischte ihm Tommy-Lee zu, der zwei Bänke weiter saß.
»Auch du, Hendrik. Alle Bücher zu, wir schreiben einen Test. Bedankt euch bei eurem Klassenkameraden.«
Er seufzte tief, denn er wusste, was das bedeutete und was in den nächsten Wochen auf ihn zukam. Er konnte den zugeklebten Schulschrank schon vor seinem inneren Auge sehen. Wie seine Turnschuhe sich »zufällig« hoch oben in den Ästen eines Baumes wiederfanden, oder »von selbst« plötzlich über einer Stromleitung hingen. Er wusste, dass er viele platte Fahrradreifen würde aufpumpen müssen. Halt genau die Art von Rache, die seine Mitschüler aus dem Effeff beherrschten.
Er zog ein Blatt Papier aus dem Block, der vor ihm auf dem Pult lag, beantwortete die beleidigend einfachen Fragen in wenigen Minuten und verließ den Raum, lange bevor die Anderen auch nur daran denken konnten. Er legte den Zettel mit den Antworten auf den Tisch von Miss Turner, die ihn vorwurfsvoll ansah und sich gleich an die Korrektur machte. Augenblicke später hüpfte er bereits die Stufen der Treppe des Haupteingangs hinunter, lange bevor seine Klassenkameraden ihn abpassen und einem spontanen, überaus kreativen Racheakt unterziehen konnten. Denn die Mathematik-Stunde beendete den Schultag. Er nutzte die Gelegenheit, schwang sich auf sein Fahrrad und verschwand vom Schulgelände.
Er suchte seinen Lieblingsplatz am See auf, den er genauso einsam wie immer vorfand. Er brauchte diese Abgeschiedenheit, mit den Jungs seines Alters konnte er nicht viel anfangen. Und die Mädchen schienen umgekehrt mit ihm ein Problem zu haben.
Die Sonne glitzerte auf den kleinen Wellen auf dem Wasser des Stausees. Das Gelände gehörte der Stadt. Dort hatten vor Jahrzehnten einige Gebäude gestanden. Sie waren mittlerweile abgerissen worden und nur zwei der Fundamente erinnerten noch daran. Zwischen Bodenplatten und den Rissen wuchsen Gräser und kleine, blau blühende Pflanzen.
Als er sich auf den Beton einer ehemaligen Halle setzte, spürte er die Kälte der Platte durch seine Jeans hindurch. Er zog das Schulmathematik-Heft aus der Tasche (in das er nur das unwichtige Zeug aus der Schule hineinschrieb) und benutzte es als Unterlage für seinen Hintern.
Dann nahm er das »richtige« Heft hervor, sowie ein Buch mit dem Titel »Advanced Calculus«, schlug es auf und begann die Aufgaben am Ende des dritten Kapitels zu bearbeiten, zur Vertiefung des Inhalts.
Nachdem er das vierte Kapitel zur Hälfte durchgearbeitet hatte, sah er auf, blinzelte in das helle Licht und bemerkte, dass die Sonne auf ihn herunter brannte. Er stand auf und zog seine Jacke aus. Als er sich umdrehte, sah er ein Mädchen, das schräg hinter ihm auf einem alten, umgefallenen Baumstamm saß. Er erschrak so, dass er sich beinahe auf den Hintern gesetzt hätte – woraufhin sie so heftig lachen musste, dass sie in Gefahr geriet es ihm gleichzutun.
»Du warst total weg und hast mich gar nicht bemerkt«, das schien sie außerordentlich zu amüsieren.
Hendrik spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss.
»Was machst du hier?«
Sie setzte eine verdutzte Mine auf: »Brauche ich deine Erlaubnis, um hier zu sein?«
»Nein ... aber sonst kommt nie jemand her. Ich bin immer alleine hier.«
»Und so gefällt es dir?«
»Nicht immer - wenigstens besteht hier keine Gefahr, in einen Schrank gesteckt zu werden.«
Sie lachte wieder.
»Was machst du?«, fragte er mit einem Blick auf den Block, den sie auf ihrem Schoß balancierte.
»Ich zeichne nur etwas - katastrophal. Meine Karriere als Künstlerin ist in diesem Augenblick zu Ende gegangen.«
»Wann hat sie denn angefangen?«
»Vorhin«, Hendrik konnte nicht anders und stimmte in ihr Lachen ein.
Dann nahm er all seinen Mut zusammen und versuchte beiläufig zu klingen: »Es ist ganz schön warm, willst du ein Eis?«, ihm wurde heiß im Gesicht, das hieß, es musste eine puterrote Farbe angenommen haben. Pochend machte sich sein Herz bemerkbar.
»Fragst du mich nach einem Date?«
»Nein«, log er. »Es ist einfach nur warm. Mr. Winback wird mit dem Eiswagen wohl noch nicht vor dem Schwimmbad stehen, also müssen wir zum Supermarkt laufen, hast du Lust?«
»Wer ist Mr. Winback?«
»Er fährt im Sommer immer mit diesem weißen Monstrum von einem Eiswagen durch die Gegend. Meistens, wenn es besonders heiß ist, steht er beim Schwimmbad und verkauft über den Zaun Eis an die Kinder.«
»Hmm, kann sein, dass ich ihn schon einmal gesehen habe.«
Sie stand auf, packte ihren Zeichenblock und die Stifte in ihre Tasche und legte sich den Riemen auf die Schulter. Da sie kein Fahrrad dabei hatte, bot er ihr den Gepäckträger an, doch sie lehnte ab.
»Rachel«, sagte sie plötzlich am Waldrand, wo der Weg nach Lakeview entlang führte.
»Hendrik«, antwortete er.
Sie kamen auf die North-Lake Road und folgten ihr hinunter in das Stadt-Zentrum hinein. Den gesamten Weg musste er sein Fahrrad schieben, aber es machte ihm nichts aus.
Auf der linken Seite tauchte die Lewis & Clark-Mall auf. Sie »Mall« zu nennen grenzte an eine freche Übertreibung. Der Laden bestand lediglich aus vollgestopften zwanzig Quadratmetern Verkaufsraum. Es gab ein mageres Supermarktsortiment, eine Selbstbedienungsmaschine zum Ausdrucken von digitalen Fotos, einen kleinen Tabakshop sowie ein verschlossenes Regal mit Spirituosen. Hendrik schloss sein Fahrrad ab, sie gingen hinein und kauften für Rachel ein Himbeer-Limetten-Popsicle und für ihn ein Ben & Jerry's Chunky Monkey.
Als sie wieder rauskamen, brüllte jemand von hinten: »Prescott, du blödes Arschloch!«. Tommy-Lee stand dort, mit seinen geschätzten 200 Pfund Fleisch und Fett, sowie den zwei Gehilfen Brad und Ted an der Seite, die zu jeder Zeit um ihn herumwieselten.
Tommy-Lee machte einige Schritte auf Hendrik zu und blieb Bauch-an-Bauch vor ihm stehen, ihre Nasen berührten sich beinahe. Dann schrie er mit hochrotem Kopf: »Deinetwegen kann ich jetzt meine Mathe-Note vergessen!« Er riss Hendrik das Chunky-Monkey aus der Hand und wollte es ihm ins Gesicht drücken. Hendrik wäre nicht zur Seite gewichen, wie es jeder halbwegs intelligente Junge getan hätte, denn seine angeborene Sturheit stand ihm dabei im Weg.
In dem Moment, als Tommy-Lee seine Faust samt Ben & Jerry-Spezialität in Hendriks Gesicht versenken wollte, schrie er laut auf, ließ sich rückwärts auf den Boden fallen und hielt wimmernd seine Genitalien fest. Rachel machte einen Schritt vorwärts und sah über ihr Popsicle Brad und Ted an.
»Möchtet Ihr auch noch was abhaben?«, fragte sie die beiden in einem Ton, der Hendrik das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die Handlanger halfen ihrem zu Boden gegangenen Anführer auf die Beine und trugen ihn aus der Kampfarena. Als sie abzogen, drehte sich Rachel fröhlich um, als sei nichts geschehen: »Du brauchst ein neues Eis.«
Es lag auf dem Asphalt. Sie warf es in den Mülleimer und sah Hendrik freudestrahlend an.
Wortlos, erstaunt und stolz, ein solches Mädchen zu kennen, ging er hinein und kaufte eine zweite Portion.
Auf dem Rückweg nahm Rachel das Angebot, auf dem Gepäckträger zu sitzen an, und er bemerkte erfreut, dass sie sich während der Fahrt an ihn lehnte. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sie seinen Platz am See wieder erreicht hatten. Sie wählten ein Fleckchen auf der Wiese in der Sonne und sprachen über alles und nichts: Die Schule. Ihre Probleme damit. Ihre Eltern, Musik, Kino und ihre Telefone. Ob der neue Apple-Kommunikator die Übermacht der chinesischen Produkte endlich doch noch brechen konnte, nach dem das iPhone 12 zu einem wirtschaftlichen Debakel geworden war, ob sie studieren wollten und wo. Ob Autos mit Brennstoffzellen einen geringeren ökologischen Fußabdruck hatten, als solche mit Batterien. Den Geschmack von Popcorn. Und vieles mehr.
Nach der ersten Stunde ihres Gesprächs fiel Hendriks Schüchternheit von ihm ab und er redete mit Rachel wie mit seinen ältesten Freunden – er hatte genau drei. Als sich die Sonne hinter den Baumwipfeln auf der anderen Seite des Sees versteckte, begann es kalt zu werden. Ihre Hände und Lippen liefen blau an. Hendrik sprang sofort auf, als er es bemerkte und wollte sie nach Hause bringen. Doch sie sah ihn aus tief-schwarzen Augen an und flüsterte ihm zu: »Ich will aber noch nicht nach Hause.«
In diesem Moment platze ihm beinahe seine Halsschlagader vor Glück, eine Wolke von Adrenalin tanzte durch seinen Kreislauf, machte ihn unempfindlich gegen negative Umwelteinflüsse. Er zog die Jacke aus, und legte sie sanft über Rachels Schultern. Dann setzte er sich neben sie und rieb vorsichtig mit der Hand ihren Rücken, um ihr Wärme zu spenden. Als Reaktion darauf bekam er den ersten Kuss eines Mädchens auf die Lippen, was seinen Adrenalinspiegel weiter in die Höhe trieb und die Jeans zu eng werden ließ.
Rachel redete noch eine Weile, doch Hendrik bekam nicht viel davon mit. Er sah sie wie durch einen rosa Filter an und hörte, wie sie seltsame Laute von sich gab. Irgendwann wurde es Rachel endgültig zu kalt. Sie stand auf und reichte Hendrik seine Jacke.
Da sie sich nicht dem Fahrtwind aussetzen wollte, verweigerte sie erneut den Gepäckträger. Sie gingen den Weg zu ihrem Haus zu Fuß.
Die Manchesters lebten in einem zweistöckigen Holzhaus mit einer großen, überdachten Veranda, die fast um das gesamte Untergeschoss herumführte. Es stand auf einer sanften Erhöhung über der Straße. Die Wände hatten sie in hellem Grau gestrichen, genau wie die Säulen der Veranda. Türen und Fensterrahmen in Weiß. Es machte einen eleganten und teuren Eindruck. In der Einfahrt stand ein schwarzer BMW, aus dem in diesem Moment ein großgewachsener Mann in einem dunklen Anzug ausstieg. Er sah Rachel und winkte ihr zu. Dabei betrachtete er Hendrik freundlich, aber mit den wachsamen Augen des Vaters einer erwachsen werdenden Tochter.
»Ist dein Vater Großindustrieller?«, raunte Hendrik Rachel zu und hob seine Hand zum Gruß.
»Nein«, flüsterte sie zurück, »meine Mutter hat Geld. Er ist Physikprofessor.«
Hendrik fielen spontan dreißig oder mehr Fragen ein, die er Rachels Vater stellen wollte. Aber dann sah er wieder in ihre dunklen Augen und wie von einer Windbö verweht, erreichten sie niemals sein Sprachorgan.
»Hast du Lust, morgen etwas zu unternehmen?«, fragte er.
»Klar«, und ihre Augen strahlten in der beginnenden Dämmerung. »Selbe Zeit, selber Ort?«
»Ich bin da.«
Unter den wachsamen Augen des Elternteils traute sie sich nicht, ihm einen Abschiedskuss zu geben. Aber ihre Augen sagten ihm, dass er einen bekommen hätte, wenn sie alleine gewesen wären. Und das reichte ihm.
Er schwebte wie auf Wolken mit seinem Fahrrad durch die leeren Straßen. Den ganzen Abend über dachte er immer wieder an die magischen Momente dieses Nachmittags. Nach dem Abendessen verschwand er zur Überraschung seiner Eltern früh in seinem Zimmer, schloss leise die Tür ab und widmete sich unter der Decke einer intensiven Aufarbeitung der Geschehnisse.
* * *
Aus irgendeinem Grund hatte Hendrik Rachel vor ihrem ersten Treffen am See nie wahrgenommen. Jetzt leuchtete sie aus der Menge auf dem Schulhof heraus, als wäre sie permanent von einem Suchscheinwerfer bestrahlt. Um Probleme in der Schule bereits im Ansatz zu vermeiden, hatten sie verabredet, sich auf dem Schulgelände aus dem Weg zu gehen. Trafen sie sich dennoch zufällig, warfen sie sich verstohlene Blicke zu und lächelten oder berührten sich unauffällig an den Händen, wenn sie glaubten, nicht beobachtet zu werden.
Am letzten Tag des Schuljahres – einem brütend heißen Tag Mitte Juli – trafen sie sich nachmittags wieder am See. Sie hatten fast drei Monate freie Zeit vor sich. Weder Rachels noch Hendriks Eltern erwarteten von ihnen, dass sie einen Job über den Sommer annahmen. Hendriks Eltern galten nicht als reich im klassischen Sinn, aber die Familie gehörte der oberen Mittelschicht an – einer immer kleiner werdenden Klasse. Im Gegensatz dazu hatten Rachels Eltern viel Geld, aber sie zeigten es nicht. Sie besaßen ein schönes Haus, aber nicht übertrieben. Sie fuhren gute Autos und ernährten sich gesund. Wie reich sie jedoch wirklich waren, blieb ein Geheimnis.
Von daher mussten die beiden nicht ihr Taschengeld aufbessern. Und da sie keine Anschaffungen zu tätigen hatten, freuten sie sich auf einen langen, heißen Sommer, den sie überwiegend miteinander verbringen wollten.
Rachel trug an dem Tag eine enge Jeans, die knapp unterhalb ihrer Knie aufhörte, ein weites T-Shirt und klobige Arbeitsschuhe, die gerade als modern galten. Letztere zog sie aus und stellte sie neben die Decke, auf der sie sich niedergelassen hatten.
Hendrik zog seine Schuhe, Strümpfe, Hose und T-Shirt aus – die Badehose hatte er bereits an – und setze sich neben Rachel. Er spürte, wie die Sonne in den wenigen Minuten, in denen die Decke auf der Wiese lag, bereits den Stoff aufgeheizt hatte.
Rachel sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Sie konnte niemanden sehen. Dann zog sie einen roten Fetzen Stoff aus ihrer Tasche, zog unter ihrem T-Shirt ihren B.H. aus, das Bikini-Oberteil an und entledigte sich dann des weiten Shirts. Hendrik beobachtete sie dabei und wie so oft befürchtete er insgeheim, seine Halsschlagader (oder seine Hose) würde platzen. Unter ihrer Jeans trug sie bereits ihre Bikini-Hose. Dann sprangen sie gemeinsam ins Wasser, das ihnen einen kleinen Kälteschock versetzte.
Nach einer Weile kamen sie wieder raus und legten sich ausgekühlt auf die heiße Decke.
»Was sollen wir mit dem Sommer anfangen?«, fragte Rachel irgendwann zusammenhangslos.
»Ich dachte, wir verbringen ihn zusammen?«
»Ja schon, aber das hindert uns doch nicht daran, irgendetwas zu tun. So schön es hier am Wasser ist, könnte es auf die Dauer langweilig werden«, sie schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und sah ihn an.
»Was wolltest du schon lange mal machen, hattest aber nie die Zeit oder wolltest es nicht alleine machen?«
Er überlegte: »Ohne Einschränkungen?«
»Okay«, sie wurde neugierig.
»Ich würde unheimlich gerne mal ein Observatorium besuchen. Mauna-Kea zum Beispiel.«
Sie starrte ihn an, als hätte er gerade seinen Kopf abgenommen und aus seinem Hals wäre eine Jack-in-the-box Clownsfigur herausgesprungen. Seine Antwort musste falsch sein!
»Was würdest du gerne tun?«, Hendrik hatte den Eindruck, seine erste, wirklich wichtige Lektion im Umgang mit Frauen gelernt zu haben.
»Ich will nach San Francisco. Oder in irgendeine andere große Stadt. Mir geht dieses Nest auf die Nerven.«
»Und was willst du in der Stadt machen?«
»Alles Mögliche, in coolen Cafés sitzen, shoppen gehen, vielleicht mal in ein Museum.«
Nun war es an Hendrik den Jack-in-the-box-Blick aufzusetzen. Zumindest brachte sie die Unterhaltung zum Lachen und wurde nicht der Grund für einen Streit.
Rachel fischte aus ihrer Tasche zielsicher eine Flasche Sonnencreme heraus und hielt sie ihm hin. Dann nahm sie ihre schulterlangen Haare, drehte sie vom Rücken weg und legte sich auf den Bauch. Er ließ kleine weiße Kleckse auf ihren Rücken fallen und verrieb sie ungeschickt. Rachel öffnete das Oberteil ihres Bikinis, sodass er sie leichter eincremen konnte. Danach wechselten sie. Schließlich blieben beide auf dem Bauch auf der Decke liegen und sprachen von ihrem letzten Schultag.
Irgendwann ließ Rachel die Bombe platzen: Sie erzählte ihm, dass sie sich auf dem Schulhof in ihn verknallt hatte, aber keine Chance gesehen hatte, wie sie sich in der Schule kennenlernen konnten. Also hatte sie ihm bis zum See verfolgt und tauchte dort einige Tage später auf – total »zufällig« natürlich.
Erst gegen acht Uhr zogen sie sich wieder an. Die Sonne hatte noch nicht die Bäume am Ufer gegenüber erreicht. Als Rachel ihre Jeans hochzog, sagte sie plötzlich »Scheiße«, und drückte mit einem Finger auf ihren Unterschenkel, der den Nachmittag über in der Sonne gebraten hatte. Ein weißer Fleck bliebt im Rot zurück, das sie vorher nicht bemerkt hatte.
Sie begutachtete Hendriks Beine, deren Färbung sie an gekochten Hummer erinnerte.
»Das gibt einen Sonnenbrand. Wir hätten uns sorgfältiger eincremen sollen.«
Hendrik brummte zustimmend.
Auf der Rückfahrt schrie sie auf Hendriks Gepäckträger vor Schmerz auf, wenn er über eine Bodenwelle fuhr und ihre Hose am Sonnenbrand rieb. Lachte aber auch gleichzeitig dabei. Sie nannte so etwas immer keinen »richtigen« Schmerz.
Als sie bei Rachels Haus ankamen, stand ihre Mutter in der Einfahrt, lud Einkäufe aus ihrem SUV aus und bekam einen Schreck, beim Anblick ihrer Tochter.
»Seid Ihr wahnsinnig? Wisst Ihr denn nicht, was Ihr damit Eurer Haut antut?«, sie nahm Rachels Kinn in die Hand, drehte es hin und her, um ihr Gesicht zu untersuchen. Dann erst bemerkte sie die starke Rötung an Rachels Beinen und gab einen lang gedehnten, wimmernden Ton von sich.
»Und du bist auch keinen Deut besser«, warf sie Hendrik vor.
»Das ist nicht so schlimm, es ist kein richtiger Sonnenbrand. Es ist nur rot und morgen wird man es kaum noch sehen«, entschuldigte sich Rachel. Ihre Mutter bedachte die Bemerkung nur mit einem kritischen Blick, bei dem sie ihren Mund zu einem waagerechten Strich werden ließ.
»Komm' rein, ich mache gleich Abendessen«, sagte sie dann resignierend. »Willst du mit uns essen?«
Hendrik wusste nicht, was er tun sollte, die Einladung kam überraschend. Er sah zu Rachel herüber, die kurz lächelte. Dann wusste er Bescheid und nickte Mrs. Manchester zu.
Sie drückte beiden jeweils eine braune Papiertüte mit Einkäufen in die Hand. Rachel ging vor und zeigte Hendrik den Weg. Die Wohnzimmereinrichtung zeugte von gutem (teurem) Geschmack. Eine aus zwei dunklen Couchen bestehende Sitzgruppe orientierte sich zu einem breiten Kamin, der mit rötlichem Holz abgesetzt den Raum dominierte. Im hinteren Bereich hatte Rachels Vater eine Arbeitsecke. An einem Whiteboard an der Wand standen diverse mathematischen Berechnungen, die so kompliziert waren, dass Hendrik sie nicht einmal ansatzweise verstand.
Ohne zu fragen, ging er näher heran, um sie sich genauer anzusehen. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass unter dem Schreibtisch ein voluminöser Computer stand. So etwas benutzen Leute seit Jahren nicht mehr. Der Rechner musste entweder alt oder sehr leistungsfähig sein, sodass er nicht in die übliche, integrierte Bauweise passte. Er gab ein sehr leises Rauschen von sich. Ein Lüftungssystem, dachte Hendrik.
Dann wanderte sein Blick wieder zum Whiteboard. Er sah Differentialgleichungen, diverse Symbole, die er nicht zuordnen konnte und Integrale. Aber die Integralrechnung hatte er sich erst für nächstes Jahr vorgenommen. Daher wusste er darüber noch nichts.
»Hallo?«, Rachels Stimme riss ihn aus seinem Staunen heraus.
Hendrik wurde rot, »Entschuldige, ich wollte nur mal schauen.«
»Das ist das Zeug, mit dem sich mein Vater beschäftigt – total langweilig, wenn du mich fragst.«
Hendrik schüttelte den Kopf: »Ich wünschte, mein Vater würde sich mit so was beschäftigen.«
Sie gingen in die Küche, wo Rachels Mutter die Einkäufe in die Schränke verteilte. Auch die Küche konnte als innenarchitektonische Meisterleistung durchgehen. Modern und offen, mit weitläufigen Flächen dunklen Holzes, sodass der Landhausstil des restlichen Hauses erhalten blieb.
»Und damit beschäftigt sich meine Mutter«, ätzte Rachel.
»Mit der Küche?«, fragte Hendrik verwirrt.
»Mit vielen verschiedenen Küchen«, erklärte Mrs. Manchester, »Ich verkaufe in meiner Firma hochwertige Kücheneinrichtungen.«
»Zu astronomischen Preisen, in sofern haben sich meine Eltern einander angenähert.«
Sie ignorierte die zynische Bemerkung ihrer Tochter: »Wir beliefern fast die gesamte Westküste mit unseren acht Filialen, von Seattle bis San Diego.«
»Gähn, komm, wir gehen nach oben.«
»Sag' deinen Eltern Bescheid, dass du zum Essen hier bleibst«, rief Rachels Mutter Hendrik hinterher. Er nickte eifrig, machte eine Handbewegung über seiner Uhr, welche die Nummer seiner Mutter wählte. Sie meldete sich und ihr winziges Bild erschien im runden Ziffernblatt.
»Hallo Mom, ich bleibe heute zum Essen bei Rachel, wenn das okay ist?«
»Wenn das ihren Eltern recht ist?«
»Ja, Mrs. Manchester hat mich eingeladen.«
»Dann viel Spaß. Soll ich dich nachher abholen?«
»Nein, schon gut. Ich habe mein Fahrrad dabei.«
Er drückte auf die Uhr und das Bild seiner Mutter wurde wieder durch die Darstellung eines Zifferblattes ersetzt.
Durch das Telefonat hatte er Rachel aus den Augen verloren und stand am Ende der Treppe auf einer Galerie, von der einige Türen abgingen, die alle offen standen.
»Rachel?«
Sie erschien an einem Türrahmen mit einem Handtuch vor ihrem Oberkörper. Er folgte in ihr Zimmer und sah dabei, dass sie kein Oberteil mehr trug. Im Raum herrschte eine fürchterliche Unordnung – ganz im Gegensatz zu seinem eigenen. Er setzte sich auf die Bettkante, einer der wenigen freien Stellen, wo er Platz zum Sitzen fand.
Im Gehen öffnete sie mit einer Hand den Gürtel ihrer Jeans, die über ihren Hintern rutschte und auf dem Boden liegen blieb. Sie drehte sich so, dass sie ihren Rücken in der Spiegel-Tür des Schranks sehen konnte und zog die Bikini-Hose zu einem Streifen zusammen, sodass sie auch ihre Pobacken betrachten konnte. Zwei harte Grenzlinien verliefen quer über ihren schmalen Hintern. Dort wo ihre Bikini-Hose die Sonne abgeschirmt hatte, trennte sie weiße von roter, verbrannter Haut.
»Oh, Mann, ich glaube, wir hätten doch besser aufpassen sollen. Mom wird durchdrehen, wenn es morgen noch rot ist.«
Hendrik glotze auf ihren Hintern und dachte an andere Dinge als Rachels Mutter.
Sie nahm aus dem halboffenen Schrank ein weiches, hellgrünes Sommerkleid an einem Bügel heraus. Dann ließ sie ohne Vorwarnung das Handtuch fallen und Hendrik blickte auf die schönsten Brüste, die er je gesehen hatte. Sein Bauch drehte sich im Kreis, seine Gedanken überschlugen sich und er versuchte, dabei so cool wie nur irgend möglich auszusehen.
Sie warf sich das Kleid über den Kopf und verdeckte die Aussicht. Dann griff sie mit ihren Händen unter das Kleid und zog ihre Bikini-Hose aus, ohne dass Hendrik etwas sehen konnte. Aber er wusste, dass sie fortan nichts unter ihrem Kleid trug.
Schließlich kam sie auf ihn zu, strich ihm über die Wange, drehte sich um und verließ das Zimmer.
»Es ist noch so schön draußen«, rief sie ihm über ihre Schulter zu. Das sollte wohl bedeuten, dass sie nicht im Haus bleiben wollte.
Nachdem sie eine Weile auf der Veranda bei einem kalten Apfelsaft verbracht hatten, bog der schwarze BMW von Rachels Vater lautlos in die Einfahrt ein.
»Jetzt kannst du ihm deine brennenden Fragen stellen«, sagte sie nicht ohne eine gehörige Portion Sarkasmus.
Hendrik wollte in der Tat Fragen stellen, doch dann begriff er, dass er einen guten Zeitpunkt dafür abpassen sollte. Und es konnte keine gute Sache sein, mehr Gesprächsthemen mit dem Vater seiner Freundin gemein zu haben als mit ihr selbst. Die zweite Lektion, die er lernte.
Mr. Manchester kam die Treppen zur Veranda herauf und stutzte kurz bei Hendriks Anblick.
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte er freundlich und kam auf Hendrik zu. Er stand auf und reichte Rachels Vater die Hand.
»Nein, Sir. Ich bin Hendrik Prescott. Rachel und ich besuchen dieselbe Highschool.«
»Wohnst du in der Nähe?«
»Ja, in der Cedar Road, gleich um die Ecke.«
Manchester nickte, strich im Vorbeigehen seiner Tochter über den Kopf und ging hinein. Hendrik fühlte sich unbehaglich.
»Habt Ihr ein Problem miteinander?«
Rachel schüttelte nur wortlos den Kopf. Das Gespräch kam nicht mehr in Gang, bis ihre Mutter kurz den Kopf aus der Tür steckte und ihnen sagte, dass das Essen fertig sei.
Als er zur Tür hereinkam, bemerkte er, dass im Haus eine Klimaanlage lief. Das Wohnzimmer war angenehm herunter gekühlt und nicht mehr so stickig, wie am Anfang, als sie die Tüten hereingetragen hatten.
Hendrik merkte, wie sein vom Schweiß leicht feuchtes T-Shirt blitzartig kalt wurde und er erschauerte etwas.
»Mom!«, rief Rachel, »Warum hast du es wieder so kalt gemacht? Wir brauchen doch nur die Fenster aufzumachen!«, das blieb allerdings ohne Reaktion. Hendrik bemerkte auf Rachels Armen Gänsehaut.
Sie setzten sich gemeinsam an den Esstisch. Hendrik bemerkte erfreut, dass sie kein Gebet sprachen.
»Gib mir deinen Teller, Hendrik«, sagte Mrs. Manchester und hielt ihre Hand in seine Richtung. Er gab ihn ihr und sie häufte gedünstetes Gemüse, einen Getreide-Bratling und ein paar Kartoffeln auf den Teller. Hendrik wollte protestieren, dass es zu viel sei - zu spät.
»Wir essen vegetarisch. Daran musst du dich gewöhnen, solltest du öfters herkommen«, sagte sie, als sie ihm den Teller zurückreichte. Rachel verdrehte die Augen.
Sie begannen wortlos zu essen. Dann plötzlich durchbrach Mr. Manchester die Stille: »Hat jemand mitbekommen, dass in Nordkorea ein Putsch stattgefunden hat? Kim-Jong-Un wurde getötet und ein großer Teil seiner Leibgarde. Die Chinesen sind nicht gerade begeistert.«
Keine Reaktion von Rachel oder ihrer Mutter – Hendrik begann, sich unwohl zu fühlen.
Rachels Vater schnaubte laut durch seine Nase, dann wandte er sich an Hendrik: »Hendrik, was möchtest du einmal werden?«
»Ich möchte Physik studieren. Ich interessiere mich sehr für Astrophysik.«
Manchester hob die Augenbrauen und deutete mit der Hand auf ihn und sah triumphierend seine Frau an.
Als niemand mehr ein Wort sagte, ergriff Hendrik die Initiative: »Sie haben da ein paar ziemlich komplizierte Gleichungen an Ihrem Whiteboard. Worum geht es da?«
Manchester lächelte, dann überlegte er kurz: »Weißt du, wo die Kometen herkommen?«
»Aus der Oortschen Wolke?«
»Genau. Weißt du auch, wie die Oortsche Wolke geformt ist?«
»Mehr oder weniger kugelförmig?«
»Kann man so durchgehen lassen. Bei einer Kugelform ist es wahrscheinlich, dass die Objekte der Wolke sich in einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Sehr langsam zwar, aber trotzdem sind sie gravitativ an die Sonne gebunden. Trotzdem gibt es aber immer wieder Ausreißer. Und die häufen sich sogar. Etwa alle 26 bis 30 Millionen Jahre gibt es eine Häufung von Meteoriteneinschlägen auf der Erde, die statistisch mit diversen Massensterben in der erdgeschichtlichen Urzeit korrelieren. Natürlich gibt es zu wenig Daten, um verlässliche Aussagen zu treffen, aber es gibt Hinweise. Und aus Hinweisen erwachsen Theorien.«
»Nemesis ...«, platzte es aus Hendrik heraus.
Wieder lächelte Manchester: »Genau, nur glaube ich nicht, dass Nemesis ein Stern ist – was die landläufige Meinung darstellt. Ich tippe auf einen großen Gesteinsbrocken, oder ein sehr kleines schwarzes Loch. Auf jeden Fall ist Nemesis schon seit sehr langer Zeit in der Oortschen Wolke und möglicherweise verdanken wir ihr unsere Existenz, indem ein von Nemesis aus seiner Bahn geworfener Meteor auf die Erde knallte und die Dinosaurier umbrachte.«
»Gehts noch?«, rief Rachel plötzlich in den Raum, sprang auf und rannte hinaus.
Hendrik und Mr. Manchester sahen verwirrt Rachel hinterher.
»Wow, ich bin begeistert. Zwei Genies bei der Arbeit zu sehen ist ...«, der Kommentar von Mrs. Manchester troff vor Sarkasmus. Sie schüttelte resigniert den Kopf, stand ebenfalls auf und verschwand irgendwo im Haus.
Manchester lächelte wieder, diesmal aber ohne jegliche Freude.
»Wie du siehst, kann ich nicht besonders gut mit Frauen umgehen.«
»Was ist passiert?«, fragte Hendrik verwirrt.
Er zog die Mundwinkel nach unten: »Meine Tochter glaubt, dass ich mich nicht für sie interessiere. Und meine Frau glaubt, dass, weil sie den Unterhalt der Familie bestreitet und ich nur ein kleiner College-Professor bin, sie bestimmen kann, wo die Familie leben soll. Ginge es nach ihr, wären wir schon lange nach San Francisco gezogen. Dort könnte sie sich viel besser um ihre Firma kümmern und ich hätte – nach ihrer Meinung – eine bessere Position in Berkeley.«
»Stimmt das denn nicht?«
»Berkeley ist eine sehr renommierte Universität. Wenn ich dort arbeitete, müsste ich meine Forschung an der Strategie des Fachbereiches orientieren. Das heißt, ich müsste mich mit Dingen beschäftigen, die in das Konzept der Uni oder des Fachbereichs passen. Hier an dem kleinen College, die froh sind, mich zu haben, kann ich alle Freiheiten genießen.«
Er wischte sich mit der Servierte seinen kurz getrimmten Bart ab.
»Soll ich dir erklären, womit sich mein Computer gerade beschäftigt?«
»Klar!«
Sie gingen in den Arbeitsbereich, den ein niedriges Regal vom Wohnzimmer trennte. Der Rechner unter dem Tisch rauschte immer noch.
»Der ist aber ziemlich laut«, sagte Hendrik, obwohl die Maschine nur ein kaum wahrnehmbares Ventilationsgeräusch von sich gab. Computer, die man hören konnte, gab es schon eine lange Zeit nicht mehr.
»Ja, aber er befindet sich gerade unter Volllast. Das bedeutet, seine 32 2K-Prozessoren arbeiten auf 100 % Leistung.«
»2K ...?«
»... Prozessoren sind eine Neuentwicklung und haben 2048 Kerne auf einem Die.«
»Das sind 65536 Cores?«
Manchester brummte anerkennend, da Hendrik keinen Taschenrechner gebraucht hatte, um die Zahlen zu multiplizieren, wie das sonst vermutlich bei allen anderen Jugendlichen seines Alters der Fall gewesen wäre.
»Das Ding kostet ein Vermögen!«, sagte Hendrik.
»Kein Vermögen, aber ich bin froh, dass die Universität dafür aufkam«, Manchester lachte leise.
Dann fuchtelte er mit der Hand vor den 3D Sensoren herum und das Bild eines Würfels kam zum Vorschein. In diesem Würfel befanden sich farblich codierte Bereiche. Das Diagramm mochte nur Manchester verständlich vorkommen, denn er erklärte sofort: »Das ist eine quantengravimetrisch korrekte Simulation des Sonnensystems inklusive Oortscher Wolke. Das Modell berechnet in jeder Minute eine Million Jahre. Das bedeutet, alle zwanzig bis dreißig Minuten erzeugt es einen Meteoriten-Schauer.«
Dann tippte er auf eine rot codierte Stelle: »Und das ist Nemesis.«
»Ich dachte, Nemesis sei nur Theorie? Und die Vereinigung von Quantentheorie und Relativitätstheorie ist doch auch noch nicht gelungen.«
Manchester lachte freundlich.
»Ja, du hast natürlich recht. Aber dies ist kein Modell der Wirklichkeit, sondern ein Test meiner eigenen Theorie«, dabei zeigte er vage hinter sich auf das Whiteboard.
Hendrik riss die Augen auf vor Erstaunen und Ehrfurcht: »Sie haben die Vereinigung geschafft?«
»Oh, so weit würde ich nicht gehen! Mir ist ein kleiner Schritt gelungen – zumindest denke ich, dass er mir gelungen ist. Das alles ist noch sehr vage und in weiten Teilen unbewiesen. Diese Simulation hilft mir, die Änderungen in der Raumzeit-Geometrie zu verstehen.«
Hendrik konnte nichts mehr sagen, Manchester wurde in wenigen Minuten zu seinem Vorbild, Hero und Superhelden in einer Person. Er beschäftigte sich genau mit den Dingen, die Hendrik am meisten interessierten – abgesehen von Rachel natürlich.
»So, ich denke, ich muss hier noch einige Wellen glätten«, Manchester stand auf und ging ins Wohnzimmer.
»Vielen Dank, dass Sie mir das gezeigt haben. Es ist sehr interessant. Ich wünschte, ich wäre schon weiter mit Mathe, dass ich etwas davon verstehen könnte.«
»Das kommt noch, und wenn du in diesem Sommer etwas Zeit aufbringen kannst, die nicht von Rachel in Beschlag genommen wird, kann ich dir noch ein paar Dinge erklären. Wenn du möchtest?«
Hendrik konnte nicht verhindern, dass ein breites Grinsen sein Gesicht verzerrte. Daraufhin gab ihm Manchester einen verabschiedenden Klaps auf die Schulter.
Hendrik hüpfte die Treppe mit einem Sprung hinunter und in einer Bewegung auf sein Fahrrad. Jagte die Idaho Road entlang, bog links in die North Lake Road ab und hätte beinahe Rachel übersehen, die auf dem Bordstein saß. Sie hatte sich dort in ihrem grünen Sommerkleid vor einem im Sonnenlicht rot leuchtenden Hydranten zusammen gekauert. Sie trug dünne, weiße Turnschuhe an den Füßen, hatte ihre Beine angezogen, die sie mit ihren Armen umschlungen hielt und sah nach unten auf den heißen Asphalt.
Hendrik brachte sein Fahrrad im letzten Moment zum Stehen.
»Hier bist du!«, rief er, als ob er sie schon eine ganze Weile gesucht hätte. Eine Notlüge, da er sie in der Tat über seine Begeisterung für ihren Vater ganz vergessen hatte.
Sie sah zu ihm auf. In dem Moment erkannte er erst, dass ihr Tränen die Wangen herunter liefen.
»Was ist los?«, er ließ sein Fahrrad an Ort und Stelle umfallen und setzte sich neben sie.
Sie stieß ihn der Vollständigkeit halber einmal von sich weg, lehnte sich dann aber an ihn. Er legte ihr seinen Arm um die Schultern. Er fühlte, wie die Sonne seine linke Gesichtshälfte aufgeheizt hatte, trotzdem sie fast am Horizont kratzte, brannte sie mit der vollen Kraft des frühen Sommers.
Rachel schniefte kurz: »Er hat mit mir im letzten Monat weniger geredet, als mit dir an einem Abend.«
Hendrik kam sich vor, als hätte er Rachel etwas Wichtiges gestohlen, aber er konnte natürlich nichts dafür.
»Er hat mich gerade rausgeworfen, damit er sich um Euch kümmern kann. Deinem Vater gehen sicher sehr viele Dinge durch den Kopf, für die du dich nicht interessierst. Vielleicht will er dich nicht damit langweilen?«
»Vielleicht sollte er sich dann einfach mehr um diese Welt kümmern, als um andere.«
Sie blieben noch eine Weile dort sitzen, bis sich Rachel schließlich verabschiedete, um nach Hause zu gehen. Hendrik sah ihr hinterher und sprang dann wieder auf sein Rad. Er bog in die Cedar Road ab – das dritte Haus auf der rechten Seite gehörte seinen Eltern.
Er wusste, dass sein Vater noch in der Garage sitzen und an der Modell-Eisenbahn arbeiten würde. Er schob das Fahrrad hinein und sah im Schein der alten Schreibtischlampe Theodore P. Prescott, der erwartungsgemäß ein blaues Hemd mit hochgekrempelten Armen trug, das er vermutlich auch im Büro angehabt hatte. Sein Vater untersuchte durch eine Lupe das Modell einer schwarzen Dampflokomotive. Als er Hendrik hörte, sah er auf und lächelte.
»Hallo, Sohn.«
Hendrik hob die Hand zur Begrüßung und ging ins Haus. Genau wie bei seinem Vater wusste er, wo sich seine Mutter befinden würde, nämlich vor dem Fernseher. Seine Eltern hatten stark ritualisierte Tagesabläufe. Sie wussten immer, was der andere gerade machte und hatten ihre Freiräume exakt aufeinander abgestimmt. Hendrik kam das fürchterlich langweilig vor, aber es hatte etwas sehr Verlässliches.
Ihr Haus konnte man sicher keine arme Hütte nennen, doch im Vergleich zum Anwesen der Manchesters zeigten sich dann doch deutliche Unterschiede. Hendrik nahm sie nicht wahr. Er wusste, dass seine Eltern sich als Steuerberater und Inhaberin eines Friseursalons gut schlugen. Sie mussten viel arbeiten und kamen zu einem moderaten Wohlstand. Sie zahlten ihre Steuern, hatten ein Kind und wenn Hendriks Vater nicht gegen Haustiere allergisch gewesen wäre, besäßen sie wohl auch einen Hund.
»Wie war es?«, fragte seine Mutter aus dem Wohnzimmer heraus, als er ins Haus kam.
Hendrik nahm sich aus dem Kühlschrank eine Cola und lehnte sich gegen den Rahmen des Durchgangs, der vom Essbereich ins Wohnzimmer führte.
»Sie haben ein schönes Haus.«
Das Telefon klingelte. Hendriks Mutter hob die dünne, durchsichtige Scheibe hoch, die auf der Lehne lag und drückte auf das grün blinkende Hörer-Symbol.
Sie sprach freundlich mit jemandem. Nach dem kurzen Gespräch hob sie das Kinn und sah Hendrik über ihre Schulter an: »Mrs. Manchester, sie haben uns für Sonntag zum Grillen eingeladen«, in diesem Moment hörte Hendrik den niederländischen Akzent deutlich, den seine Mutter in den vielen Jahren nicht hatte loswerden können.
* * *
Das Grillen ähnelte eher einer Groß-Veranstaltung. Kleine Gruppen von Gästen bevölkerten den Garten. Neuankömmlinge bildeten entweder eine eigene Gruppe oder schlossen sich einer bestehenden an, je nach Vorliebe.
Am Grill stand ein in weiß gekleideter Koch, der unter seiner Kochmütze elend schwitzte. Das ganze Wochenende über herrschten beinahe unerträgliche Temperaturen.
Es gab ein Buffet und eine Bar. Ein junger Mann mit langer Schürze mixte verschiedenste Cocktails in der Abend-Sonne.
Es grenzt an Fehlplanung die Party nachmittags zu beginnen, dachte Hendrik.
Er fühlte, wie sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Seine Mutter hatte ihn gezwungen, ein Hemd zu tragen, das gerade damit begann, an seinem Rücken festzukleben.
Rachel in diesem Rahmen wiederzusehen kam ihm seltsam vor. Auch sie trug Kleidung, die Hendrik an ihr noch nie gesehen hatte. Die Prescotts entschlossen sich, mit Nachbarn von ihnen – den McDougals – eine weitere Gruppe nahe des rechteckigen Pools aufzumachen. Dort standen sie im Schatten der Bäume im hinteren Teil des Gartens. Sie befanden sich damit zwar weiter von der Bar entfernt, aber das Wasser des Schwimmbeckens schien die Luft etwas abzukühlen und unter den Bäumen fühlte es sich wesentlich angenehmer an als auf der Terrasse.
Rachel fand sie nach einer Weile.
»Willst du was essen?«, fragte sie Hendrik nach der Vorstellungsrunde.
»Ja, geht nur«, platzte es aus Hendriks Mutter heraus, »wir reden hier nur langweiliges Zeug.«
Als sie sich außer Hörweite aufhielten, sagte Hendrik: »Ich glaube, meine Mutter ist schon blau von zwei Cocktails.«
Rachel grinste breit, »Das macht das Wetter. Ich schätze, dass heute viele Leute blau sein werden, bevor die Sonne untergeht. Sie redet komisch.«
»Sie stammt aus Holland.«
Sie bestellten beim Koch zwei Hamburger, belegten sie ordentlich am Buffet und zogen sich in einen schattigen Bereich neben dem Haus zurück. Dort stand eine kleine Sitzecke, am Durchgang zwischen Vorgarten und hinterem Garten. Bisher saß dort noch niemand. Sie genossen ihre Ruhe und den Schatten.
»Ich dachte, du bist Vegetarierin?«, fragte Hendrik mit Blick auf ihren Burger und biss in seinen mit Genuss hinein.
»Meine Eltern sind es, das macht mich nicht automatisch auch zu einer. Abgesehen davon, warum glaubst du, dass du gerade Fleisch isst?«
Hendrik sah verwundert auf seinen Burger-Paddie zwischen dem Salat und dem Ketchup, der genau die richtige Konsistenz und einen feinen Rauchgeschmack hatte.
»Im Ernst?«
»Ja, gut nicht?«
Hendrik nickte und biss noch einmal ein großes Stück ab.
Gesättigt lotste Rachel ihn ins Obergeschoss zu ihrem Zimmer. Dort blieben sie ungestört und mussten nicht dem Smalltalk ihrer Eltern zuhören.
»Sorry, ich konnte die Einladung nicht mehr abwenden. Ich hätte dir das gerne erspart«, sie warf sich aufs Bett und stützte ihren Kopf mit einer Hand.
»Kein Problem, ich finde es nicht schlimm«, er ging zum Fenster und sah hinaus in den Garten, auf die vielen Menschen herab.
In diesem Moment bemerkte Hendrik erst, dass im Haus die Klimaanlage lief. Sein Hemd wurde am Rücken kalt und er fror ein wenig. Sein Körper entspannte sich und er konnte endlich wieder problemlos atmen. Die Nachmittagssonne entwickelte eine brutale Kraft, mit der sie die Menschen verbrannte.
»Ihr kennt viele Leute«, sagte er abwesend.
»Das meiste sind Angestellte und Kunden meiner Mutter. Ich kenne die auch nicht.«
»Und wie geht es deinem Sonnenbrand?«
Sie hob den Saum ihres Kleides an. An ihrer Wade hingen viele kleine, weiße Hautfetzen. Er lachte bei dem Anblick, der dem seines Rückens ähnelte.
»Willst du etwas spielen?«, fragte sie, sprang auf und öffnete einen modernen Schrank gegenüber ihres Bettes. Dahinter verbarg sich ein großer, flacher Fernseher und eine ArcadeNow-Konsole. Sie nahm beide Controller in die Hand und warf Hendrik einen zu. Sie entschieden sich für ein kooperatives Jump-and-Run-Spiel, mit dem sie den Nachmittag verbrachten. Es war kompliziert und anstrengend. Aber jedes Mal, wenn Rachel sich blöd anstellte, drückte sie ihr Gesicht an Hendriks Brust, was ihm gefiel. Nach einer Weile dachte er, dass sie absichtlich schlecht spielte, denn sie drückte ihr Gesicht immer öfter gegen ihn und sie beide verloren die Konzentration. Aber sie lachten viel und so vergingen Stunden im Flug.
Rachels Mutter kam plötzlich ins Zimmer, meinte, dass sie sich lange genug abgesondert hätten, und schaltete unter Rachels Protest mit erfahrener Geste in einer eleganten Bewegung die Konsole und den Fernseher aus, bevor sie den Spielstand speichern konnten.
Die Sonne hatte den Himmel unzähligen Sternen überlassen. Und der Garten glich einem Meer aus Lichtern. Ein Großteil der Gäste hatte sich auf den Heimweg gemacht. Der Rest saß in losen Runden auf der Wiese verteilt und zwei Kellner sorgten für ausreichend Getränke.
Neben dem Pool saßen Hendriks Eltern mit den Manchesters zusammen. Sie verteilten sich auf die freien Stühle. Hendriks Eltern sahen aus, als ob sie viel Spaß gehabt hätten. Seine Mutter strahlte ihn an, was vermutlich an den Cocktails lag, die sie in der Hitze konsumiert hatte.
»Wir haben uns was ausgedacht«, begann Mr. Manchester. Hendrik hörte ein leises »Oh, nein«, von Rachel, die zu seiner Rechten saß.
»Ich muss nächsten Monat für eine Woche zum VLBT, dem ...«
»Very Large Binocular Telescope«, fiel Hendrik ihm ins Wort.
»... ganz genau«, Manchester lachte Hendriks Mutter an, die gerade vor Stolz platzte und rote Wangen bekam.
»Es ist zwar kein Großstadturlaub, eher das Gegenteil, aber ich könnte nachfragen, ob Ihr zwei mitkommen und auf dem Gelände zelten dürft. Da das Areal eingezäunt ist, besteht keine Gefahr, von Bären oder Berglöwen gefressen zu werden. Wir könnten tagsüber – wenn ich ausgeschlafen habe – etwas unternehmen. Nur nachts müsstet ihr euch selbst beschäftigen. Sofern wir uns darauf verlassen können, dass Ihr keinen Unsinn treibt.«
»Dad!«, rief Rachel und Hendrik glaubte, im Kerzenschein zu sehen, dass sie rot anlief.
»Könnte ich mir das Teleskop auch ansehen?«, fragte Hendrik.
»Um ehrlich zu sein hatte ich gehofft, dass du mir etwas zur Hand gehst. Ich könnte einen Assistenten gebrauchen – und eine Assistentin«, er bemühte sich ernsthaft, wie Hendrik fand. Er sah Rachel an, wobei Hendrik schlecht einschätzen konnte, wie sie die Idee bewertete. Ihre Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und sie starrte ihren Vater an.
»Ihr wollt uns doch nur unter Kontrolle haben«, platzte es aus ihr heraus.
»Ach Schätzchen«, ihre Mutter machte ein mitleidiges Gesicht, »wenn Ihr den ganzen Tag am See verbringt, wissen wir doch auch nicht, was ihr macht.«
»Wir müssen das ja nicht sofort entscheiden«, Hendriks Vater bemerkte Rachels Zurückhaltung angesichts dieser Idee.
»Ich fände das supergut!«, Hendriks Mutter verfiel immer stärker in ihren niederländischen Akzent, der Mrs. Manchester zum Lachen brachte. »Hendrik wollte schon lange ein Teleskop besuchen«, sie hatte Schwierigkeiten, das Wort »Teleskop« richtig auszusprechen.
Am nächsten Tag holte Rachel Hendrik ab, da sie vorgeschlagen hatte, zur Abwechslung mal an den Strand zu fahren. Sie kam mit einem großen, roten Fahrrad die Auffahrt hoch, wo Hendrik gerade dem Vorderreifen seines Rades etwas mehr Luft verpasste. Sie fuhren gemeinsam die North-Lake Road Richtung Westen, bis diese nach links auf den Highway abbog. Sie folgten einer schmalen Straße nach rechts, wo eine Unterführung unter dem Highway hindurch führte, der Lakeview vom Pazifik trennte. Dahinter mündete die Straße auf einen Parkplatz, der mehr Platz bot, als je genutzt worden war. Auf dem stand einsam ein roter Nissan. Sie ließen ihre Räder dort stehen, schlossen sie am Fahrradständer ab und folgten einem Pfad in die Dünen. Der Highway hinter ihnen überschwemmte die Gegend mit dem Rauschen von Reifen, dem Geheul alter Verbrennungsmotoren und dem monotonen Gesang der modernen Elektroantriebe. Der Weg führte sie über diverse Dünen immer weiter vom Highway weg. Und mit jeder Düne, die sie zwischen sich und die Straße brachten, wurde der Verkehrslärm leiser. Schließlich endete der Weg mit der letzten Düne und sie hatten einen gut zweihundert Meter breiten Stand zu überqueren, bevor sie das Wasser erreichten. Die Sonne brannte auf ihre Rücken. Mit jedem Schritt sackten sie im weichen Sand ein, das machte das Vorwärtskommen schwer und sie brauchten eine gefühlte Ewigkeit, den Strand hinter sich zu bringen. Als sie es schließlich geschafft hatten, standen sie an einem wunderschönen Stück Ufer, an dem sich hohe, gefährlich aussehende Wellen brachen. Jedes Mal, wenn eine Welle auf den Strand donnerte, konnte Hendrik es in seinem Bauch fühlen. Weiße Gischt stob in die Luft und er schmeckte Salz auf seinen Lippen.
»Ich glaube nicht, dass wir schwimmen können«, schrie Rachel ihn durch das Getöse an, »die Strömung ist zu stark!«, ihre Haare wirbelten in wildem Chaos um ihren Kopf.
Hendrik nickte und sie bauten zuerst ihr Picknick auf. Rachel legte eine große, karierte Decke in den Sand. Sie hatte für sich ein Kissen dabei und Hendrik nahm ein dickes Buch mit dem Titel »Advanced Calculus II« aus seiner Tasche.
Als Rachel es sah, lachte sie und legte es auf eine Ecke der Decke, damit der Wind sie nicht wegtragen konnte. Die Sonne schien gleißend hell, die Wellen brachen sich am feinen, gelben Sand und am Himmel konnte er keine einzige Wolke entdecken. Hätte Hendrik den Tag mit nur einem Wort beschreiben müssen, seine Wahl wäre auf »perfekt« gefallen.
Eine Frau – Hendrik vermutete, dass ihr der Nissan gehörte – warf in weiter Entfernung einen Ball in die Dünen, damit ihr Hund danach suchte. Ansonsten hatten sie die weitläufige Bucht, die sich in beide Richtungen gute zwei Kilometer erstreckte, für sich alleine. Der Wind blies in starken, unregelmäßigen Böen vom Pazifik her und ließ sie die Kraft der Sonne nicht spüren.
Hendrik betrachtete Rachel, sie reckte ihr Gesicht der Sonne zu und der Wind riss ihre Haare aus ihrem Gesicht. Einige Sommersprossen blühten auf ihrer Nase und den Wangen, die an diesem Tag besonders deutlich hervortraten. Sie bemerkte plötzlich, dass er sie beobachtete, drehte sich zu ihm um und gab ihm einen langen Kuss.
Ihr »Picknik« bestand aus einer Tüte Cheetos, die Rachel gerade aufriss und einer Flasche Dr. Peppers.
Rachel redete nicht viel, sie sah über das Wasser hinaus und schien in Gedanken versunken. Der Wind bemächtigte sich der Tüte Cheetos und riss sie einige Meter über den Sand. Hendrik sprang hinterher und ergriff sie, bevor sie weiter wegfliegen konnte. Rachel stand plötzlich neben ihm: »Wenn wir zu diesem blöden Teleskop fahren, versprichst du mir, dass du nicht die ganze Zeit mit meinem Vater zusammen sein wirst?«
Er sah ihr in die Augen und erkannte, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass sie nicht das Wichtigste für ihren Vater sein könnte.
»Ich will nicht, ... du weißt schon ... das fünfte Rad am Wagen sein.«
Hendrik lächelte sanft und strich ihr Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Du hast keine Ahnung, wie wichtig du für uns bist«, er legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zurück zur Decke.
»Ich glaube, dein Vater will uns mitnehmen, weil er mit dir zusammen sein will. Ich bin nur die Ausrede.«
Sie hielt ihn an und drehte ihn zu sich um. Sie sah in seine Augen, als ob sie zu erkennen versuchte, ob er auch wirklich die Wahrheit sagte.
Dann zog sie ihn auf die Decke und küsste ihn innig.
* * *
Zwei Wochen später stand früh morgens Manchester mit seinem BMW vor dem Haus der Prescotts. Als Hendrik das Ritual der Verabschiedung mit diversen Umarmungen seiner Mutter, einem kräftigen Händedruck und einer kurzen Umarmung seines Vaters hinter sich gebracht hatte, sah er, wie Rachel ihn durch die Scheibe des Wagens anstrahlte. Sie hatte ihre Ansicht gegenüber diesem Ausflug in den letzten Tagen geändert. Sie freute sich ernsthaft und vielleicht – so dachte Hendrik – konnte er wie ein Katalysator wirken, damit sie und ihr Vater wieder ins Reine kamen.
Manchester ging um das Heck des Wagens herum und kam über den Rasen zu Hendriks Eltern.
»Ich werde gut auf ihn aufpassen«, sagte er und schüttelte ihre Hände.
Hendrik ging zum Kofferraum des BMWs und warf seine Tasche hinein. Dann setzte er sich auf die Rückbank und berührte von hinten Rachels Schulter. Sie trug ein Spaghetti-Träger Shirt, sodass er ihre warme Haut spürte. Sie drehte ihren Kopf, lächelte ihn an und berührte sanft seine Hand.
Manchester hielt noch einen kurzen Smalltalk mit Hendriks Eltern und verabschiedete sich dann ebenfalls.
Der Wagen fuhr elektrisch, ohne ein Geräusch an und Hendrik sah durch die Scheibe, wie seine Mutter einige Tränen vergoss.
»Ich weiß gar nicht, warum sie so einen Aufstand macht. Ich bin nicht zum ersten Mal unterwegs«, sagte er mehr zu sich selbst.
Sie fuhren nach North Bend, wo Manchester den Wagen am Flughafen abstellte. Zwei Stunden später landeten sie in Phoenix, Arizona. Mit einem Mietwagen ging es in die Wüste hinein.
Sie verließen die Stadt und folgten dem wie mit einem Lineal gezogenen Highway 60, parallel an einer Bergkette entlang, deren Ende weit jenseits des Horizonts lag. Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, bestand die Landschaft nur noch aus vertrockneten Büschen und gelblichem, trockenem Boden. Vereinzelt ragten Kakteen zwei, drei Meter in die Höhe. Gegen Mittag machte der schnurgerade Highway eine Kurve nach links, endlich fuhren sie auf die Berge zu, die allerdings immer noch so weit in der Ferne lagen, dass sie keine Einzelheiten erkennen konnte.
Hendrik musste eingedöst sein, er schreckte hoch, als der Wagen stehen blieb. Sie standen an einer Zapfsäule und Manchester tankte den Wagen voll, bevor sie tiefer in die Berge kamen. Mit einem elektrischen Wagen konnte man sich nicht über so weite Strecken trauen, ohne zu riskieren, im nirgendwo liegen zu bleiben.
Rachel zog Hendrik aus dem Wagen und ging mit ihm in die künstliche Kälte des Verkaufsraumes. Sie standen an der Tiefkühltruhe mit bunten Eis-Packungen, als Manchester zu ihnen kam.
»Ich werde noch einen Kaffee trinken«, sagte er abwesend, deutete auf etwas, das sich außerhalb der Tankstelle befand und ging zur Kassiererin.
Rachel wusste offensichtlich, was das bedeutete und legte das Eis, das sie sich ausgesucht hatte, wieder zurück. Sie folgten ihrem Vater zum Wagen. Er fuhr keine fünfzig Meter weiter zu einem Restaurant. Ein hässliches, flaches Gebäude, das früher einmal jemand lieblos mit gelber Farbe angestrichen hatte. Überall blätterte sie ab und hinterließ grauen Beton. Große, staubige Fensterscheiben gaben den Blick ins Innere frei und über dem Eingang hing ein Schild: »Jim's Highway Diner«.
Am Eingang empfing sie eine Welle kalter Luft sowie eine blondierte Kellnerin mit dunklen Augenbrauen und zu viel Make-up. Wenn sie redete, sah Hendrik, dass Lippenstift an ihren Zähnen klebte. Er sah sich um, fand aber niemanden, der wie ein Jim aussah. Manchester bestellte einen Kaffee, Rachel eine Diet-Coke und Hendrik ebenfalls einen Kaffee, er wollte die Fahrt nicht vollständig verschlafen.
»Ganz schön langweilige Gegend, was?«, fragte Rachels Vater, als die Kellnerin hinter dem Tresen verschwand.
Hendrik nickte nachdrücklich. Rachel schwieg und las weiter die Karte durch.
»Wollt Ihr etwas essen? Könnte noch eine Weile dauern, bis wir ankommen und ich habe keine Ahnung, ob wir zwischendurch noch einen Stopp machen können.«
»Ich nehme ein Club-Sandwich. Wenn es zu viel ist, kann ich den Rest mitnehmen«, sagte Rachel bestimmt.
Hendrik stimmte zu: »Gute Wahl, das nehme ich auch.«
Als die Kellnerin die Getränke brachte, bestellten sie drei Club-Sandwiche und warteten.
»Wie lange wird es noch dauern, Mr. Manchester?«
»Ich schätze noch etwa zwei Stunden, aber auf den Bergstraßen weiß man nie, wie man durchkommt. Und du kannst mich ruhig James nennen, wenn wir von nun an zusammenarbeiten«, er zwinkerte mit seinem linken Auge.
»Okay, James«, Hendrik musste lachen.
Als die Sandwiche kamen, traute Hendrik kaum seinen Augen. Er schätzte, dass eine kleine Familie davon hätte satt werden können.
Sie bestellten sofort einiges an Alu-Folie, in der Gewissheit, dass eine Portion für sie drei gereicht hätte.
Als sie nach dem Essen aus dem Restaurant kamen, schlug ihnen die heiße Luft wie ein dickes Kissen ins Gesicht. Es fiel ihnen schwer, die zähe Luft zu atmen, der Asphalt unter ihren Füßen brannte durch ihre Schuhe hindurch und die Sonne begann unmittelbar, auf jede unbedeckte Stelle der Haut einzustechen. Sie gingen so schnell wie möglich zum Wagen, aus dem sie erst einmal mit offenen Türen die Luft herauslassen mussten. Die Sitze hatten sich derartig aufgeheizt, dass Rachel beim Einsteigen kurz aufjaulte. Nach einigen Minuten arbeitete die Klimaanlage und machte die Temperatur angenehmer. Sie erreichten den Fuß der Berge nach einer halben Stunde und endlich wurde die Fahrt interessanter. Es gab wenigstens ein paar Kurven und viele recht bizarre Felsformationen. In einem Örtchen namens »Globe« verließen sie den Highway 60 und wechselten auf den Highway 70.
»Die Stadt sieht aus wie aus einem Western«, sagte Rachel, als sie durch Safford kamen.
»Stimmt, fehlt nur noch Clint Eastwood, der mit seinem Pferd zum Saloon reitet«, Rachels Vater sah belustigt in die Runde aber die mangelnde Reaktion der Jugendlichen sagte ihm, dass sie keine Ahnung hatten, wer dieser Clint Eastwood war.
In Swift Trail Junction verließen sie endgültig die »guten« Straßen und begaben sich auf einen Weg in die Berge hinein. In immer engeren Kurven schlängelte sich die Straße die Flanken der Berge hinauf. Die Bäume behinderten die Aussicht, aber die Luft wurde angenehm. Sie schalteten die Klimaanlage aus und öffneten die Fenster. Warmer Wind brauste durch den Innenraum, doch ab und zu fielen kühle Brisen von den Berghängen herab.
Seit gut einer Stunde hatten sie keinen anderen Wagen mehr gesehen und sie fuhren immer weiter in die Wildnis hinein. In einer Haarnadelkurve standen sie plötzlich dem riesigen Truck eines Park-Rangers gegenüber. Die Wagen fuhren langsam aneinander vorbei, bis die Fahrerfenster auf gleicher Höhe lagen und sie anhielten.
»Guten Tag auch«, sprach sie der Ranger mit einem breiten Dialekt an. Er hatte lange, glatte, schwarze Haare, die unter seinem breiten Hut herausquollen und seine Gesichtsform wie auch seine tief-schwarzen Augen verrieten sofort seine indianische Abstammung. An seinem Handgelenk trug er einen breiten, silbernen Armreif, in den ein riesiger Türkis eingefasst war.
»Wenn Sie zum Campingplatz wollen, haben Sie die Abfahrt verpasst. Da oben gibt es nicht mehr viel außer dem Observatorium.«
»Genau da wollen wir hin«, antwortete Manchester freundlich.
Der Ranger sah Manchester abschätzend an und dann die Jugendlichen. Er schien sich zu wundern: Eine solche Gruppe wäre in seiner Vorstellung wohl besser auf dem Campingplatz aufgehoben. »Achten Sie bitte darauf, kein offenes Feuer zu entfachen und Ihre Abfälle in den dafür vorgesehenen Containern zu entsorgen. Und bleiben Sie im Auto, hier laufen einige unfreundliche Gesellen herum. Einen schönen Tag noch«, er verabschiedete sie mit zwei Fingern, die er sich lässig an die Hutkrempe hielt und gab Gas.
»Was meint er wohl mit 'unfreundlichen Gesellen'?«, fragte Rachel.
»Bären?«, fragte ihr Vater und zog die Augenbrauen hoch.
Die Straße folgte einem Höhenzug entlang eines steilen Abhangs, der ihnen einen atemberaubenden Blick über das Flachland weit unter ihnen gab. Schließlich erreichten sie ein neu aussehendes, mit Stacheldraht bewehrtes und gute drei Meter hohes Metalltor, das die Straße versperrte. Manchester stieg aus und öffnete es mit einem Schlüssel, den er an seinem Bund trug.
Das Gelände umgab ein ebenfalls drei Meter hoher, gut gepflegter Zaun, in – soweit Hendrik sehen konnte – einwandfreiem Zustand. Sie brauchten noch eine viertel Stunde, bis sie den Wohntrakt erreichten. Rachel ließ ein: »Puh, endlich«, heraus und Hendrik konnte seinen Blick nicht von dem riesigen Kasten abwenden, der etwa hundert Meter über ihnen auf einem Bergrücken stand. Alleine die Größe des Gebäudes erschien ihm, auch aus dieser Entfernung, irrwitzig und er fragte sich automatisch, was so etwas in der Wildnis zu suchen hatte. Tagsüber blieb es zu, erst in der Dämmerung würden sich die gigantischen Luken öffnen und die beiden parallel angebrachten Teleskope auf die Sterne richten.
Noch bevor sie den Wagen verließen, kam eine etwa 50-jährige Frau aus dem Wohntrakt. Sie trug eine Jeans, ein kariertes Holzfällerhemd und ein entwaffnend freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht, das ausschließlich um die Augen herum einige Lachfältchen aufwies.
»James, wie schön dich wiederzusehen«, sie schüttelte ihm die Hand, doch dann entschied sie sich anders und umarmte ihn.
»Und ihr müsst Rachel und Hendrik sein, nicht wahr?«, sie begrüßte sie ebenfalls sehr herzlich.
»Das stimmt«, sagte Manchester, »und vor euch steht die bedeutendste Astrophysikerin der USA: Dr. Elenore Thomson.«
»Ach, halt doch den Mund«, feixte Thomson, »hier nennen mich alle nur Ellie. Ihr müsst ja ziemlich müde sein von der langen Reise. Kommt, ich zeig Euch erst einmal, wo es etwas zu essen gibt.«
Sie führte sie in die Kantine, einen recht großen Ess- und Aufenthaltsbereich, in dem aktuell nur zwei Männer saßen und sich leise unterhielten. Sie teilte drei elektronische Karten aus, die zum Bezahlen in der Kantine verwendet wurden.
»Nehmt Euch, was Ihr wollt, mit den Dingern könnt ihr alles bezahlen.«
»Ich konnte leider keine zusätzlichen Zimmer bekommen, wir sind total ausgebucht.«
»Das macht nichts«, antwortete Rachel, »wir haben ein Zelt dabei.«
»Oh, gut. Das wird bestimmt lustig. Es gibt nur einige Regeln, die Ihr einhalten müsst.«
»Es wäre gut, wenn du sie ihnen gleich beibringst«, sagte Manchester.
»Okay, also zunächst: tagsüber ist das meiste erlaubt. Denn am Tag laufen praktisch nur die Untersuchungen am Sonnenteleskop und das ist nicht besonders empfindlich. Ihr müsst in der Nähe der Unterkunft nur leise sein, da die meisten Kollegen bis in den frühen Nachmittag hinein schlafen. In der Kantine und abseits der Wohnbereiche könnt ihr Euch austoben. Sobald die Sonne untergeht und die Untersuchungen beginnen, gelten anderer Regeln. Mobiltelefone sind zum Beispiel verboten. Sie stören die empfindlichen Empfänger, also müsst Ihr sie bei Sonnenuntergang ausschalten. Taschenlampen sind in der Nähe des Teleskops verboten. Am besten ist es, wenn Ihr gar nicht in die Nähe des Teleskops geht. Schon die Erschütterungen, die Ihr erzeugt, wenn Ihr über die Straße geht, können die Messungen stören.«
»Wie machen es denn die Wissenschaftler?«, fragte Rachel.
»Die gehen auch nicht zum Teleskop hinauf, sie sitzen alle im Kontrollraum, zwei Häuser weiter. Sie nähern sich höchstens am Tage den Geräten. Aber wenn die Messungen stattfinden, bleiben sie so weit davon entfernt, wie möglich.
Das sind die grundlegenden Regeln, solange Ihr die einhaltet, kann nichts passieren. Alles Weitere findet sich dann.«
»Danke, Dr. Thomson«, stammelte Hendrik.
»Du sollst mich doch Ellie nennen«, sie strahlte ihn an.
»So, was habt ihr jetzt geplant?«
»Ich denke«, begann Manchester, »ich werde meine Sachen ins Zimmer bringen und dann bauen wir Euer Zelt auf.«
Sie standen gemeinsam auf, und folgten Thomson in das angrenzende Gebäude. Ein schmaler Gang führte an diversen, mit Nummern versehenen Türen vorbei. Es erinnerte an ein billiges Motel. An Nummer 23 blieb Thomson stehen und schloss mit einem Schlüssel auf, den sie danach an Manchester übergab.
»Wenn Ihr irgendetwas braucht, lasst es mich wissen!«, sagte sie und verabschiedete sich.
Den Raum winzig zu nennen, war eine Untertreibung. Links stand ein schmales Bett und rechts ein mickriger Schreibtisch vor dem Fenster, das einen atemberaubenden Ausblick in die Berge bot. Darunter lugte eine Reihe Steckdosen und Netzwerkanschlüsse aus der Wand, was darauf hindeutete, dass sich Manchester nicht in einem Motel aufhielt. Neben der Tür führte ein Durchgang in das kleinste Badezimmer, das Hendrik je gesehen hatte.
Rachels Vater warf die Tasche aufs Bett, seinen Laptop auf den Tisch und schloss die Tür ab. Sie trugen das Zelt zwischen Kantine und Wohnbereich hindurch einen schmalen Pfad entlang, der von den Nadelbäumen, die auf dem ganzen Berg wuchsen, überschattet wurde. Nach etwa zehn Metern endete der Weg auf einer Lichtung, die sich als ideal zum Campen herausstellte. Rachel bestimmte, dass sie das Zelt nahe an den Abhang heran stellen sollten, sodass sie über die Bäume hinweg die Aussicht genießen konnten, und begannen es aufzubauen.
In dem großen Zelt konnte Hendrik ohne Weiteres stehen. Sie würden Platz für ihre Sachen haben und ausreichend Raum für die Schlafsäcke. Es hatte sogar einen Außenbereich mit Dach, der sie vor Sonne oder Regen schützte.
Hendriks Augen leuchteten und er rief in der Mitte des Zelts: »Das ist klasse!«
Rachel hielt sich nach außen zurück, doch auch ihr gefiel das Zelt. Und die Reise insgesamt - bisher.
»Hey, ich will mich vor heute Abend nochmal aufs Ohr hauen«, Manchester stand am Zelteingang. Hendrik bemerkte seine tiefen Augenringe. »Für die Inneneinrichtung braucht ihr mich ja nicht.«
Und dann verschwand er. Denn Rachels Vater musste tagsüber schlafen, um nachts fit zu sein. Auch wenn er versprochen hatte, sich um sie zu kümmern. Doch sie hielt das für eine Ausrede und bemühte sich, in diesem Zusammenhang ihre Erwartungen auf das absolute Mindestmaß zu reduzieren, damit er sie nicht enttäuschen konnte.
In aller Ruhe packten sie ihre Sachen aus und legten die Schlafsäcke an die ausgesuchten Positionen. Hendrik fand in seiner Tasche eine Pappschachtel, von der er sich nicht erinnern konnte, sie eingepackt zu haben. Er nahm sie heraus, doch wurde er aus der bunten Verpackung nicht schlau. Rachel kicherte laut.
»Was hast du denn vor?«
»Ich weiß nicht, wie das in meine Tasche gekommen ist.«
»Ach ja. Und das soll ich dir glauben?«
»Was ist es denn?«
Sie lachte wieder: »Kondome!«
In dem Moment wurde Hendrik alles klar. Seine Mutter musste sie ihm eingepackt haben. Sie konnte in solchen Dingen sehr unverkrampft sein. Ihm stieg die Hitze ins Gesicht und er wollte sie prompt wieder in der Tasche verschwinden lassen.
»Moment!«, rief Rachel und griff nach der Schachtel, riss sie auf und nahm eine der quadratischen Einzelverpackungen heraus. In wenigen Sekunden hatte sie ihn sich über Zeige- und Mittelfinger gestülpt und roch daran. Sie machte ein angewidertes Gesicht.
»Das soll Erdbeergeschmack sein? Riecht wie einer von diesen Einmal-Handschuhen.«
Sie streckte ihre Zunge heraus und berührte mit der Spitze das Kondom und verzog erneut das Gesicht. Hendrik bekam dabei ein seltsames Gefühl in seinem Bauch.
»Das schmeckt überhaupt nicht nach Erdbeeren. Die haben deine Mutter über den Tisch gezogen.«
Sie steckte das Kondom zurück in die Schachtel und warf sie zielsicher aus einiger Entfernung in Hendriks offene Reisetasche.
»Das brauchen wir noch nicht«, statuierte sie feierlich.
Sie besorgten sich aus der Kantine etwas zu trinken. An der Kasse saß eine dickliche Indianerin. Auch sie trug Silberschmuck mit großen Türkisen und ihre schwarzen Haare fielen wie ein dunkler Wasserfall über ihre Schultern herab.
Sie gab ihnen den Tipp, die Flaschen aufzubewahren. Auf dem Gelände gäbe es eine kleine Quelle mit sauberem Bergquellwasser. Sie erklärte ihnen in kurzen Worten, wo sie die Quelle fänden. Da sie nichts anderes zu tun hatten, suchten sie danach. Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie an einem etwa drei Meter hohen Felsvorsprung standen. In der Mitte entsprang, wie beschrieben, ein kleiner Wasserfall.
Das Wasser floss auf dem Vorsprung zwischen Felsen und Kies hindurch und fiel dann über den Rand in die Tiefe und bildete so einen weiteren Wasserfall.
Rachel stieg als erste hinüber und sammelte etwas von dem Wasser in ihren Händen. Sie trank einen Schluck und sagte schlicht: »Gut.«
Sie setzten sich an den Vorsprung und hatten von dort eine phantastische Aussicht über die Bäume hinweg. Weit in der Ferne lag eine Ebene, unterbrochen von kreisrunden, künstlich bewässerten Feldern.
»Boah, bin ich müde«, sagte Rachel plötzlich und Hendrik merkte, dass ihm die Reise auch zugesetzt hatte.
Sie gingen zurück zum Zelt und legten sich auf ihre Schlafsäcke. In wenigen Minuten schliefen sie beide. Hendrik wachten erst wieder auf, als er keine Hand vor Augen sehen konnte.
Er suchte blind nach seiner Taschenlampe. Als er sie anschaltete, bemerkte er, dass Rachel noch schlief. Er stand auf und ging hinaus. Er atmete die kühle Luft tief in seine Lungen ein. Dann blickte er nach oben und erschrak, noch nie in seinem Leben hatte er so viele Sterne gesehen. Unzählbare Lichtpunkte hoben sich vom tiefsten Schwarz ab. Das Band der Milchstraße kreuzte das Firmament.
Plötzlich hörte er Schritte. Er drehte sich um und sah jemanden mit einer Taschenlampe durch den Wald kommen.
»Hendrik!«, er erkannte Manchesters Stimme.
»Ich wollte nur mal nachsehen, ob bei Euch alles in Ordnung ist.«
»Alles klar. Ich habe mir gerade die Sterne angesehen, ich wusste nicht, dass man so viele sehen kann.«
»Ist ein ziemlicher Schock, nicht wahr? Da sieht man erst, wie Licht-verschmutzt unsere Atmosphäre ist.«
Einige kurze Geräusche erregten Hendriks Aufmerksamkeit: Tack-Tack-Tack, schnell hintereinander. Sicher nichts Natürliches.
»Das ist der Laser«, sagte Manchester beruhigend. »Sie kalibrieren damit das Teleskop.«
»Wie spät ist es?«
»Erst kurz nach neun. Ich hatte es schon einmal versucht, aber ihr habt fest geschlafen.«
»Was ist los?«, Rachel kam schlaftrunken und mit rauer Stimme aus dem Zelt geklettert.
»Wenn ihr euch zu müde fühlt, könnt Ihr auch weiter schlafen.«
Rachel ging an Hendrik vorbei und schlang ihre Arme um ihren Vater. Hendrik sah im dünnen Lichtschein der Taschenlampe, wie glücklich er plötzlich aussah.
»Ich werde auf jeden Fall weiterschlafen«, sagte Rachel und schlich wieder zurück ins Zelt.
»Und was ist mit dir?«
»Ich komme mit! Schlafen kann ich später noch.«
Er ging zum Zelteingang und fragte: »Ist das okay, wenn ich dich hier zurücklasse?«
Aus dem Dunkeln kam nur noch ein »Hmm«, was Hendrik als Zustimmung auffasste.
Sie gingen wieder durch den Wald zurück zu den Gebäuden unterhalb des Teleskops.
»Mach' dir keine Sorgen«, sagte Manchester, »auf dem Gelände befinden sich nur Wissenschaftler, die sich für das Teleskop oben auf dem Berg mehr interessieren als für alle Frauen dieser Welt«, er lachte leise.
»Aber warum gibt es dann diesen hohen Zaun?«
»Vor allem wegen der Tiere. Ein Elch oder ein Bär könnte eine Messung komplett unbrauchbar machen. Und dann gibt es noch die Versicherungen, die Vorgaben machen. Aber letzten Endes befinden sich hier nur Geräte, mit denen normale Leute nichts anfangen können. Auch wenn das VLBT mehr als eine Milliarde gekostet hat, könnte ein Dieb nichts davon teurer verkaufen als den blanken Materialwert. Und an solche Materialien kommt er vermutlich einfacher heran. Mal abgesehen davon, dass hier rund um die Uhr Leute aufpassen und er einen verdammt langen Fluchtweg ohne Abzweigungen hätte.«
Sie standen vor der Tür zum Kontrollraum. Manchester zog seine Karte durch den Kartenschlitz und der Öffner summte. Der Kontrollraum war genau das, was der Name vermuten ließ: ein großer, rechteckiger Raum. Dort saßen an diversen Tischen verteilt Menschen vor Computerbildschirmen. Zwei Beamer projizierten allerhand Daten an die Wände.
Einige der Wissenschaftler benutzten Laptops, andere stationäre Rechner. Sie alle hatten Zugriff auf das wissenschaftliche Netz vor Ort, in dem sämtliche Daten des Teleskops und der daran befestigten Detektoren und Sensoren in die lokale Storage-Cloud gespeichert wurden. Von dort konnten die Astronomen die Daten gleichzeitig abrufen, für sich nachbearbeiten und auswerten. Gleichzeitig mit hunderten anderer Astronomen weltweit, die ebenfalls auf diese Daten unmittelbar zugreifen konnten.
Hendrik sah einige Doktoranden um einen Tisch herum sitzen. Auf ihren riesigen Bildschirmen hatten sie mehrere Fenster geöffnet, in denen Daten angezeigt wurden oder Berechnungen abliefen. Zwischen all den Programmen und Shell-Fenstern lag ein kleiner Rahmen, in dem eine uralte Version von Quake-Arena lief. Offensichtlich machte ihnen das so viel Spaß, dass die gesetzteren Astronomen ihnen von Zeit zu Zeit böse Blicke zuwarfen.
Hendrik zeigte auf die Doktoranden und frage: »Dürfen die das?«
»Die sind selbst verantwortlich für ihre Zeit. Sollten sie die mit Quatsch verplempern, werden sie nicht mehr eingeladen. Aber bei denen mache ich mir da keine Sorgen. Zwei von ihnen haben bereits diverse Ehrungen erhalten und ich glaube, mehrere Universitäten schlagen sich bereits um sie. Ich denke, sie müssen auf irgendetwas warten und vertreiben sich so die Zeit.«
Er setzte sich und zog für Hendrik einen Stuhl heran. Dann zeigte er auf seinen Bildschirm und erklärte, was gerade am Teleskop gemacht wurde.
»Wie du sicher weißt, sind die meisten Dinge, die man mit solchen optischen Teleskopen beobachtet, sehr weit weg. Und sie sind dazu noch so lichtschwach, dass man sehr viel Licht einsammeln muss, um überhaupt etwas erkennen zu können. Und da das Licht so schwach ist, muss man es halt eben über lange Zeit einsammeln. Daher dauert es manchmal so lange, dass die Astronomen Zeit haben, Spiele zu spielen«, er sah lächelnd zu den jungen Leuten herüber.
»Unser Timeslot – also die Zeit, in der wir das Teleskop unter unserer Kontrolle haben – wird heute Nacht gegen halb zwei sein.«
»Wir?«
»Ja, du und ich«, lachte Manchester, »und natürlich noch ein paar Kollegen von der Universität zu Hause, die eine parallele Datenanalyse im Labor machen.«
»Die sind auch gerade wach?«
Manchester nickte.
»Könnten sie das nicht auch morgen machen?«
»Sie könnten, aber sie wollen nicht.«
»Hey, Professor M., haben Sie ein Wunderkind dabei?«, einer der Quake-Spieler stand neben dem Tisch. Er trug ein offenes knallbuntes Hawaii-Hemd über einem weißen T-Shirt, dreiviertellange Skater-Hosen, die modischen Arbeitsschuhe, die auch Rachel so gerne trug – nur vier Nummern größer – und in seinen wilden, dunklen Haaren steckte eine Sonnenbrille.
»Ja, er wird mein Nachfolger an der Universität. Ich arbeite ihn gerade ein.«
Der junge Mann lächelte und ging mit einem gigantischen Kaffee-Becher in der Hand wieder zum Tisch der Quake-Spieler.
»Willst du auch einen Kaffee? Bedien dich einfach, der ist kostenlos.«
»Möchtest du auch einen?«, fragte Hendrik.
»Nein, danke. Wenn ich ihn jetzt schon trinke, werde ich zu früh wieder müde.«
Hendrik ging zur Kaffeemaschine, nahm sich eine Tasse und drückte auf der Maschine den Knopf mit der Aufschrift: »Kaffee schwarz«. Hinter ihm standen zwei Männer, die sich in einer Sprache unterhielten, die Hendrik nicht einordnen konnte. Sie klang hart und abgehackt. Er schüttete sich noch etwas Milch in den Kaffee und ging zu seinem Stuhl.
»Was für eine Sprache sprechen die da drüben?«
»Die an der Kaffeemaschine?«
»Ja.«
»Das sind Deutsche vom Max-Planck-Institut für Astronomie. Einige deutsche Organisationen sind mit 25% an dem Teleskop beteiligt. Hast du nicht Deutsch als Fremdsprache in der Schule gewählt?«
»Nein, meine Mutter meinte, dass Spanisch wichtiger sei und dass sie mir Deutsch auch selbst beibringen könnte, wenn ich wollte. Aber dann hätte ich sie eigentlich verstehen müssen«, Hendrik überlegte. »Vielleicht sprechen sie einen Dialekt, den ich nicht kenne.«
»Kommt deine Mutter nicht aus den Niederlanden?«
»Ja, aber viele Niederländer sprechen gut Deutsch.«
Manchester hatte offensichtlich alles, was er an seinem Laptop zu tun hatte erledigt, lehnte sich im Stuhl zurück und faltete seine Hände hinter seinem Kopf. Er sah müde aus und im hellen, diffusen Licht der OLED-Felder an der Decke, traten seine Augenringe noch deutlicher hervor, als am Nachmittag.
»Tja, das ist die Haupt-Tätigkeit eines Astronomen während einer Beobachtungsphase: Warten.«
»James, erzähl dem Jungen keinen Unsinn. Nachher studiert er noch so etwas Schlimmes wie Politikwissenschaften.«
Ein kleiner Mann mit dunkler Haut, pechschwarzen Haaren und freundlichen, braunen Augen stand plötzlich neben ihnen. Um seinen Hals hing eine Brille an einer goldenen Kette. So etwas hatte Hendrik bisher nur bei älteren Damen gesehen.
»Avi!«, Manchester sprang auf und umarmte den Mann wie einen alten Freund.
»Hendrik, das ist Professor Avi Goldbach.«
Hendrik schüttelte die Hand des Mannes.
»Du kannst mich ruhig Avi nennen. Auf einem Berg sind Titel nichts wert, denn jeder hat einen.«
»So poetisch wie immer. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Was ist denn so wichtig, dass es dich aus deinem Büro getrieben hat?«
»So dies und das. Man sitzt in seinem Büro, denkt so vor sich hin und plötzlich«, er schnippte mit den Fingern, »ist man in ein Forschungsprojekt verwickelt und hat eigentlich gar keine Zeit dafür.«
»Du Armer, hat dich wieder jemand gezwungen, Geld anzunehmen?«
»Ganze Koffer voll. Die Suche nach Exoplaneten ist immer noch so publikumswirksam, dass sie mir meine eigene Forschung für fünf Jahre finanzieren, wenn ich ein Jahr lang nach Planeten suche.«
»Klingt nach einem guten Deal.«
»Ja, aber es ist fürchterlich langweilig. Man untersucht eine Sonne und – puff – findet fünf Planeten. Aber man untersucht die Planeten nicht, es geht eigentlich nur darum, so viele Planeten wie möglich zu finden. Aber seien wir doch mal ehrlich: Nach dem aktuellen Verständnis der Entstehung von Sternen sind Planeten ein absolut unausweichliches Nebenprodukt. Es wäre mal eine besondere Ausnahme, wenn wir einen Stern fänden, der keine Planeten besäße. Es sei denn, der Stern ist ein roter Riese, der seine Planeten schon aufgefressen hat.«
Sie lachten. Avi nahm Hendrik für eine Weile unter seine Fittiche. Er zeigte ihm die Daten, die sie aktuell sammelten und stellte ihn seinem Team vor. Nach dem fünften Namen verlor Hendrik den Überblick und grüßte nur noch die Wissenschaftler höflich und zurückhaltend. Avi erklärte ihm auch im Detail, worum es bei seiner Forschung ging. Dafür machte er auf dem vollgekritzelten Whiteboard etwas Platz und schrieb einiges an Formeln auf.
Auf diese Weise verging die Zeit bis halb zwei recht schnell und Hendrik spürte noch keine Müdigkeit. Dann endlich kam Manchesters Time-Slot. Er stand per Video-Chat mit seinen Kollegen an der Universität in Kontakt und sie begannen, das Teleskop auf recht nahe Ziele zu richten. Keines davon lag weiter als zwei Lichtjahre entfernt. Die Daten kamen in Form von Belichtungsinformationen in die Computer. In der Regel startete es auf Manchesters Bildschirm mit einem schwarzen Quadrat. Dann begannen Punkte aufzutauchen, die im Laufe der Zeit anwuchsen. Hatte der Sensor genug Licht gesammelt, wechselte das Teleskop zur nächsten Position und die Lichtsammlung fing von vorne an. Dieser Prozess hatte etwas ausgesprochen Meditatives. Hendrik beobachtete das Quadrat und die Punkte darin und merkte gar nicht, wie er am Tisch einschlief.
Manchester berührte ihn später an der Schulter und Hendrik schreckte hoch.
»Hey, Meisterastronom. Die Messung ist beendet. Du kannst jetzt ins Bett.«
Hendrik war es peinlich, eingeschlafen zu sein. Aber er freute sich darauf, im Schlafsack die Beine ausstrecken zu können. Manchester begleitete ihn noch das Stück zur Lichtung, wo das Zelt stand, und verabschiedete sich dann.
Er schlich, so leise er konnte, in das dunkle Zelt und schaffte es nicht mal mehr, sich auszuziehen.
Rachel wachte am Morgen natürlich als erste auf und fing an, ihn zu ärgern, damit er ebenfalls aufstand, aber sie schaffte es nicht.
Als Hendrik dann endlich mit offenen Augen im Zelt lag, schwitzte er. Es stand bis zum frühen Nachmittag in der Sonne, was sie beim Aufstellen nicht bedacht hatten. Und es heizte sich dabei wie eine Sauna auf, sodass er nicht mehr ans Einschlafen denken konnte. Er wechselte seine Kleidung zu Shorts und T-Shirt und öffnete den Reißverschluss, um nach draußen zu kommen.
Vor dem Zelt lag Rachel auf einem Handtuch und sonnte sich in einem äußerst knappen Bikini. Als sie ihn hörte, schützte sie mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne und fragte: »Na? Wie war’s?«
»Cool«, antwortete er kurz und gähnte ausgiebig.
»Schon fit? Oder willst du weiter schlafen?«
Er schüttelte den Kopf und gähnte noch einmal. Rachel lachte und sagte, sie hätte Hunger, weil sie mit dem Frühstück auf ihn gewartet hatte. Er sah auf seine Uhr, sie zeigte erst kurz nach zehn an.
Rachel schnappte sich ein dünnes Kleid, zog es über und forderte ihn auf, mitzukommen.
Die Kantine hatte zwar geöffnet, aber außer ihnen befand sich niemand dort, abgesehen von der indianischen Kassiererin. Sie stellten sich jeweils auf einem Tablett ein Frühstück zusammen und bezahlten mit ihren Karten.
»Wann kommen denn die anderen?«, fragte Rachel die Kassiererin.
»Die ersten gegen Mittag. Ist alles verschoben. Normalerweise sieht man von fünf Uhr morgens bis mittags keinen Menschen. Wir könnten die Kantine auch einfach schließen.«
»Das wäre für uns unpraktisch«, sagte Hendrik, »aber warum macht ihr das nicht einfach?«
»Ham' nen 24 Stunden Vertrag. Wir müssen ständig offenbleiben«, auch die Indianerin gähnte ausgiebig.
Hendrik nickte, dann setzten sie sich an einen Tisch am Fenster. Als sie fertig waren, ging die Tür der Kantine auf und Manchester kam herein.
»Morgen«, rief er in den fast leeren Raum hinein. Er sah frisch aus, nahm sich einen Kaffee und setzte sich zu ihnen.
»Ich habe etwas recherchiert. Hier gibt es in der Nähe einiges, das wir uns ansehen könnten.«
»Wüste?«, fragte Rachel ironisch aber nicht unfreundlich.
»Nicht nur. Na ja, ich gebe zu, dass vieles davon mit Wüste zu tun hat. Aber zumindest gibt es nicht allzu weit entfernt einen Wasserpark mit einigen spektakulären Wasserrutschen.«
»Sind wir da nicht etwas zu alt für?«, fragte Rachel.
»Mir macht so was Spaß«, sagte Hendrik.
Manchester zog die Schultern hoch und signalisierte damit, dass Rachels entscheiden sollte.
»Okay, von mir aus«, sie verdrehte die Augen.
Sie packten ihre Sachen zusammen und fuhren gute zweieinhalb Stunden vom Berg herunter. Eine Weile durch die verbrannte Erde Arizonas, bis sie die ersten Schilder sahen, die auf den Wasserpark hinwiesen. Pünktlich zur Mittagshitze hielten sie ihre Karten in den Händen, für die sie nicht lange anstehen mussten. Manchester suchte sich ein Platz im Schatten, wo er in eine Badehose gekleidet auf einem Liegestuhl platz genommen hatte, seinen Computer auf seinem Schoß balancierte und die Daten der letzten Nacht analysierte. Dazu gönnte er sich einen Cocktail mit einem kleinen Schirmchen. Doch nur wenig später fiel sein Kopf nach hinten und er schnarchte leise vor sich hin.
Rachel zog Hendrik durch die Sonne. Ihre Füße schmerzten vor Hitze auf den Steinplatten der Wege zwischen den Pools. Sie hatte anscheinend ein bestimmtes Ziel: Eine fast senkrechte Rutsche, die sie unbedingt als Erstes ausprobieren wollte. Sie stiegen den Turm hoch und kamen sofort dran. Sie wurden jeweils auf eine Plattform gestellt und angewiesen, ihre Arme fest gegen ihre Körper zu drücken. Dann drückte ein Mitarbeiter einen Knopf und die Plattformen klappten unter ihnen weg. Hendrik hörte einen hohes, durchdringendes Kreischen, das nur von Rachel kommen konnte. Sie fielen einige Meter, bis sie schließlich Kontakt zur Rutsche bekamen. Sie wurden immer schneller und schneller, bis sich die Rutsche um 45 Grad abgeflacht und einem Becken zugewendet hatte. Dann schossen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit in tiefes, kühles Wasser hinein.
Hendriks Schläfen pulsierten und Adrenalin flog durch seinen Körper. Dann hörte er Rachel schreien. Sie schwamm ungelenk im Becken und hielt ihre Hände auf ihren Brüsten. Sie hatte ihr Oberteil verloren und befahl Hendrik, es zu suchen.
Nach einigem hin und her schwimmen fand er es schließlich am Gitter eines Abflusses. Sie drehte sich zu ihm, um von neugierigen Blicken geschützt zu sein - auch wenn niemand in der Nähe war - und band es sich um. Wieder komplett angezogen wollte sie sofort die anderen Rutschen ausprobieren. Hendrik wunderte sich, nachdem sie sich anfangs geziert und behauptet hatte, schon zu alt dafür zu sein, entwickelte sie einen erstaunlichen Enthusiasmus.
Die nächste Rutsche erschien wesentlich weniger steil und sie konnten einen Zweier-Bob bilden. Hendrik genoss ihre Nähe, ihren Rücken auf seinen Beinen. Ihre Hände an seinen Knöchel, an denen sie sich festhielt.
Früher als erwartet, mussten sie wieder zurück. Die Fahrt dauerte fast drei Stunden und Manchester wollte sich vor seiner Nachtschicht noch einmal hinlegen.
Sie kamen erst gegen halb acht auf dem Gelände des Observatoriums an. Manchester verschwand sofort in seinem Zimmer. Rachel und Hendrik in ihrem Zelt. Sie ließen den Zelteingang offen, um die heiße Luft herauszulassen.
Erschöpft vom Tag und der nicht unerheblichen Sonnen-Dosis fielen sie auf ihre Schlafsäcke. Rachel wurde es zu warm, sie zog ihr T-Shirt und die Shorts aus und lag nur noch in Unterwäsche da. Hendrik hatte Unterwäsche zum Wechseln vergessen, sodass er, als er seine nasse Badehose im Park ausziehen wollte, nur ohne alles in seine Hose steigen konnte. Aber das T-Shirt zog er sich über den Kopf.
Plötzlich kam Rachel näher. Sie legte ihren Kopf auf Hendriks linken Arm und streichelte sanft über seinen Bauch.
Er roch das Chlor in ihren Haaren, strich mit seiner Hand über ihre Schulter und wusste, diese Sommerferien konnten nicht mehr schlecht werden.
In der folgenden Nacht zeigte Manchester ihm einige der ersten, vorläufigen Ergebnisse. In der Tat konnte auch er als Laie in dem roten Fleck in der Mitte eines rechteckigen, sonst blauen Diagramms Nemesis erkennen.
»Das ist der erste, direkte Nachweis«, erklärte Manchester. »Das ist für Wissenschaftler eine ziemlich große Sache. Als Erster etwas nachzuweisen.«
Hendrik nickte.
Die kommenden Nächte im Kontrollraum langweilten Hendrik. Er redete mit so vielen Wissenschaftlern, wie er konnte, die ihm auch bereitwillig über ihre Arbeit Auskunft gaben. Doch die von Manchester vorgeschlagenen »Assistenten-Dienste« erschienen eher als Entschuldigungen zu dienen, damit Hendrik überhaupt Zutritt zum Kontrollraum bekam. Ernsthaft etwas zu tun hatte er nicht. Manchester dafür schon. Und so konnte Hendrik die meiste Zeit eigentlich nur entweder ihm, Avi oder einem der anderen Anwesenden die Zeit stehlen. Er hatte zum Glück ein gutes Gespür dafür, wann die Wissenschaftler ihm noch freundlich antworteten, beziehungsweise wann es kippte und sie das Gespräch wieder beenden wollten. Nach der dritten Nacht entschied er sich, bei Rachel zu bleiben. Manchester reagierte darauf neutral, aber Hendrik hatte den Eindruck, dass es ihm im Grunde ganz recht war.
In dieser vierten Nacht hatten sie nichts vor. In der Kantine saßen sie alleine herum und das einzige Geräusch kam von einer kaputten Neonröhre, die blinkte. Die Wissenschaftler – so vermuteten sie – befanden sich im Kontrollraum. So gab es nichts weiter für sie zu tun, also legten sie sich auf eine Decke vor ihrem Zelt und betrachteten gemeinsam die Sterne. Die Luft fühlte sich ungewöhnlich warm an, sodass sie sich bis aufs Nötigste auszogen. Und es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Sterne vergaßen. Auch wenn Rachel keinen Sex wollte und die Kondome nicht um Einsatz kamen, hatte Hendrik das Gefühl, dass ihre Freundschaft mehr wurde, sehr viel mehr. In den folgenden Tagen gingen sie vertrauter miteinander um, als zuvor und in Hendrik kam zu der Überzeugung, dass dies der schönste Urlaub seines Lebens wurde. Aber wie jeder Urlaub, neigte er sich, schneller als erwartet, seinem Ende zu.
Am Morgen ihres letzten Tages hatte Manchester eine Führung organisiert. Thomson holte sie bei ihrem bereits fertig gepackten Wagen ab und brachte sie mit einem kleinen Elektro-Karren zum VLBT-Gebäude hinauf zum Bergkamm. Als sie davor standen, begriffen sie erst die Ausmaße dieses gigantischen Klotzes. Inmitten der unberührten Natur der Berge wirkte der Würfel aus Aluminium auf seinem runden, drei Stockwerke hohen Sockel völlig deplatziert.
Thomson führte sie ins Innere durch Korridore und über Treppen, mehrere Stockwerke nach oben.
»Luft anhalten«, sagte sie schließlich und öffnete die letzte Tür, die sie in den zentralen Raum brachte, wo das Teleskop stand. Alle, selbst Rachel und sogar ihr Vater verstummten vor der schieren Größe dieser Konstruktion. Zunächst sahen sie einfach nur unzählige Rohre, die fast planlos miteinander verschraubt zu sein schienen. Doch sie folgten definitiv einem Plan, der sie an den Seiten zu zwei Gelenken führte, die das gesamte Gewicht des aus zwei Teleskopen bestehenden Geräts trugen.
Es war mit Abstand die größte Maschine, die Hendrik je gesehen hatte. Staunend und mit offenem Mund lief er Thomson hinterher und hörte nur mit einem Ohr ihren Erklärungen zu.
»Die Verwendung von zwei gleichen Teleskopen nebeneinander führt dazu, dass wir eine erhebliche Steigerung der Leistung erreichen. Die zwei, wenn sie zusammen arbeiten, haben eine höhere Auflösung, als ein doppelt so großes Teleskop. Die beiden Spiegel mit jeweils einem Durchmesser von knapp 15 Meter sammeln so viel Licht, wie ein Teleskop mit einem Durchmesser von guten 21 Metern.«
»Das ist aber weniger als das Doppelte«, warf Hendrik ein. Rachel verschränkte die Arme und setzte ein Gesicht auf, als ob sie betrogen worden wäre, und sah Thomson an.
»Das ist richtig junger Mann, aber wir haben einen Trick parat, der sich Interferometrie nennt. Das ist ein Verfahren, in dem diese beiden Teleskope dasselbe Objekt beobachten. Aber dadurch, dass sich die Teleskope an geringfügig anderen Positionen befinden, erhalten wir nach Überlagerung der Daten eine sogenannte Interferenz, die uns zusätzliche Informationen über das Objekt liefert. Damit erreichen wir eine Auflösung, die einem Teleskop mit einem 40 Meter Spiegel entspricht. Das ist mehr als das doppelte«, sie lächelte ihn an, »aber gut aufgepasst.«
Sie führte sie eine Stahltreppe hinauf, die mehrere Stockwerke hoch sein musste. Manchester atmete schwer ein und aus, Hendrik merkte, wie er in sein T-Shirt schwitzte. Rachel schien es nichts auszumachen. Überraschenderweise genauso wenig, wie Thomson, die während der ganzen Zeit zusätzlich noch weiter die Technik des Systems erklärte und nicht einmal kurz Luft zu holen schien. Oben gab es eine Plattform mit einem löchrigen Metallboden. Hendrik konnte zwischen seinen Füßen hindurch viele Meter hinunter sehen und ihm wurde etwas flau im Magen.
»Von hier aus könnt ihr die beiden Hauptspiegel sehen«, sie deutete in die Konstruktion hinein und Hendrik entdeckte zwei nebeneinanderliegende Wände, die aus sechseckigen Spiegeln bestanden. »Sie sind aus vielen dieser wabenförmigen Reflektoren zusammen gesetzt. Jeder dieser Spiegel kann elektronisch kalibriert werden. Das Licht, das von ihnen eingefangen wird, fällt auf den Sekundärspiegel, der es dann in diese 3.1 Gigapixel CCD Kamera leitet«, dabei zeigte sie auf einen Kasten, neben der Hauptachse des Teleskops.
»Weitere Experimente können hier ebenfalls installiert werden, die dann gleich an Ort und Stelle das Licht abfangen.
Über die Datenkabel kommen die Daten dann in den Kontrollraum«, sie zeigte auf zwei dünne graue Kabel.
»Das ist es im Prinzip. Spiegelteleskope sind relativ einfach konstruiert. Die Herausforderung besteht darin, sie in dieser Größe zu bauen und trotzdem die Präzision zu garantieren, die wir für unsere Messungen brauchen.«
Nach der Führung fuhren sie mit dem Elektro-Wagen wieder zurück nach unten und verabschiedeten sich von Thomson.
»Ich hoffe, ich sehe dich irgendwann mit einem Abschluss in der Tasche hierher zurückkommen?«, fragte Thomson.
»Das würde ich sehr gerne«, Hendrik schüttelte ihr die Hand. Sie winkte ihnen noch eine Weile hinterher, bis sie zwischen den Bäumen verschwand.
Der Weg zurück durch die Wüste erschien Hendrik schneller als der Hinweg, da er ihn schon kannte. Irgendwo in der Einöde machten sie eine kurze Pause. Das Restaurant, bei dem sie hielten, erschien ihm noch schäbiger, als das Diner, das sie auf dem Hinweg besucht hatten. Sie setzten sich an einen Tisch in einer mit rosa Plastik bezogenen Sitzecke. Die spröde Oberfläche hatte Risse und die Schaumstofffüllung aus dem Inneren quoll heraus. Rachel ekelte sich, mit ihrer kurzen Hose darauf zu sitzen. Sie bestellten nur etwas zu trinken, da sie der Küche nicht vertrauten und Rachel verschwand in Richtung Toilette.
»Hendrik, ich möchte dir danken.«
»Wofür?«
»Rachel und ich hatten in den letzten Jahren ein schwieriges Verhältnis. Ich bekam keinen Draht zu ihr und egal was ich machte, führte es nur zu einer Verschlimmerung der Situation. Aber in dieser Woche hatte ich das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung kommen könnte. Und ich glaube, dass das irgendwie mit dir zusammen hängt.«
»Ich, äh«, Hendrik wusste nicht, was er sagen sollte.
»Schon gut, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Aber wenn du irgendetwas brauchst, du hast bei mir mächtig was gut.«
»Danke«, stammelte Hendrik verlegen, der nicht wusste, wie er reagieren sollte. Rachel rettete ihn aus der Situation. Sie setzte sich auf eine Serviette, um ihre Beine zu schützen und flüsterte: »Geht nicht auf die Toilette, das ist der reinste Horror.«
Sie tranken schnell aus und fuhren weiter zum Flughafen. Als sie endlich in Lakeview ankamen, war die Sonne bereits unter gegangen. Manchester steuerte seinen BMW am Haus der Prescotts vorbei und blieb stehen. Er zog Hendriks Tasche aus dem Kofferraum, verabschiedete sich mit einem Händedruck und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Du bist jederzeit bei uns willkommen.«
»Danke«, stammelte Hendrik.
Rachel umarmte ihn lange und schien ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen, hatte Hendrik das Gefühl.
»Ich komme doch morgen wieder vorbei, wenn du willst.«
»Natürlich will ich«, flüsterte sie und ließ ihn schließlich doch noch los.
»Da seid ihr ja endlich«, rief Hendriks Mutter freudig von der Veranda in ihrem unverwechselbaren, aber an diesem Abend recht unauffälligen, niederländischen Akzent herunter und flog mit offenen Armen ihrem Sohn entgegen.
Manchester und Rachel verabschiedeten sich noch von ihr und sie bedankte sich umständlich, dass sie Hendrik mitgenommen hatten. Nach etwas notwendigem Smalltalk fuhren sie los. Hendrik sah, wie sich Rachel im letzten Moment, bevor der Wagen abbog, nach ihm umsah.
»Und? Wie war es?«, fragte sie dann, als sie mit ihrem Sohn alleine in der Auffahrt stand.
»Es war groß«, antwortete er und ging zur Tür.
Sie blieb verwirrt stehen und sah ihrem Sohn hinterher.
* * *
Der August verging wie im Flug. Rachel und Hendrik trafen sich täglich am See und brachten nur noch ihre Badesachen mit. Seit ihrem Tag am Strand hatte er kein Mathematikbuch mehr dabei gehabt, wenn sie sich trafen. Anfang September, in den letzten Tagen ihrer Ferien, konnten ihre Eltern sie kaum noch zu Hause antreffen. Sie gingen morgens zum See und blieben den Tag dort. Rachels Haut hatte über den Sommer eine so tiefbraune Farbe angenommen, dass sie mit einer Inderin verwechselt werden konnte.
Ende August hatte es eine Zeit gegeben, in der Hendrik dachte, dass der Sommer seine Kraft verloren hätte. Doch dann wurde es noch einmal heiß und im Augenblick erlebten sie den wärmsten September-Anfang seit Beginn der Aufzeichnung der Wetterdaten, wie es abends von den Meteorologen im Fernsehen behauptet wurde.
Sie saßen in der Sonne und keine noch so kleine Welle störte das Wasser des Sees. Wind gab es keinen und die Luftfeuchtigkeit erreichte eine Höhe, dass sie das Atmen schwer machte.
Rachel trug ihren neuen, weißen Bikini, der ihre Haut noch dunkler erscheinen ließ. Auch Hendriks Haut hatte zum ersten Mal seit langer Zeit, eine bräunliche Farbe angenommen.
Das Verhältnis von Rachel zu ihrem Vater hatte sich weiter gebessert, was Hendrik zu Manchesters Liebling machte. Ihre Mutter hatte einen Waffenstillstand mit ihrem Mann vereinbart und Rachel machte dies glücklich, was Hendrik in ihren Augen sehen konnte.
An jenem Freitag wurde es nachmittags plötzlich düster. Es schoben sich große, dunkle Wolken vor die Sonne und kündigten einen lange ersehnten Regen an. Auf der Wiese, auf der sie den Sommer verbracht hatten, wuchs nur noch raues, vertrocknetes Gestrüpp. Die Blätter der Bäume hingen aufgerollt und gelb an den Zweigen. Aber der Regen ließ auf sich warten und sie schwitzten in der schwülen Hitze, von der sie hofften, dass sie endlich in ein Gewitter umschlug.
»Komm, lass uns ins Wasser gehen«, Rachel stand auf und reichte Hendrik ihre Hand.
Das Wasser brachte kaum Abkühlung, die Sonne hatte den Sommer über aus dem See eine warme Badewanne gemacht. Sie schwammen weiter hinaus als sonst. Dort, fast in der Mitte des Sees kamen sie sich näher und Rachel legte ihre Arme um Hendriks Hals. Sie küsste ihn leidenschaftlich und schob seine rechte Hand unter ihr Oberteil.
Ein Blitz schlug in der Nähe ein und gleichzeitig krachte der Donner über den See. Rachel sprang fast senkrecht aus dem Wasser und fiel wieder zurück, sah sich ängstlich um.
»Wir sollten schnell aus dem Wasser raus«, rief Hendrik. Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an und schien nicht zu begreifen, in welcher Gefahr sie schwebten.
Er übernahm die Führung und zog sie hinter sich her. Sie schafften es fast bis zum Ufer, als der nächste Blitz einschlug und sein Donner fühlte sich an, wie ein Erdbeben. Sofort merkte Hendrik, wie Strom durch sie hindurch fuhr. Glücklicherweise befanden sie sich weit genug entfernt und die Stromstärke konnte ihnen nichts anhaben. Das meiste musste in den Boden abgeleitet worden sein.
Rachel kreischte vor Angst und versuchte, sich an Hendrik festzuklammern. Sie rutschte ab und ging plötzlich unter. Hendrik tauchte ihr in Panik hinterher. Er griff nach ihrem Arm und schaffte es, sie beide unbeschadet auf ihre Decke zu bringen. Sie schrie die ganze Zeit.
»Was ist los?«, frage er sie verzweifelt, doch dann sah er endlich ihren völlig verdrehten Fuß. Sie musste einen Krampf im Bein haben. Er hielt sie fest an Ferse und Spann und drehte ihn in die natürliche Position. Er kämpfte, so fest er konnte, gegen die Muskelspannung an.
Nach einigen Minuten und mehreren Blitzen, die jeweils die Anspannung in Rachels Bein weiter verstärkten, entspannte sie sich endlich und Rachel konnte aufstehen. Hendrik reagierte mehr automatisch, als dass er nachdachte. Sie mussten dort weg, solange die Blitze um sie herum einschlugen. Er packte alles zusammen, zog Rachel ihr Kleid an, setzt sie auf den Sattel ihres Rades und schob sie den Weg nach Lakeview hoch. Auf halbem Weg zum Haus der Manchesters, begann der Regen. Es fühlte sich an, als ob jemand Eimer voll Wasser über ihnen ausgoss. Blitze schossen aus den Wolken und Hendrik bemerkte erleichtert, dass der Donner erst einige Sekunden danach die Fensterscheiben der Häuser erschütterte und zum Klirren brachte.
Völlig durchnässt erreichten sie das Haus. Hendrik schob das Rad mit Rachel darauf direkt durch die Seitentür in die Garage hinein. Rachel stand neben sich, sie zitterte, hielt ihre Arme vor ihrem Oberkörper verschränkt und sagte kein Wort.
Hendrik brachte sie in ihr Zimmer und holte aus dem Bad Handtücher. Er zog das Kleid über ihren Kopf, trocknete sie ab und legte sie aufs Bett. Sie ließ es geschehen, als ob sie eine Puppe wäre. Dann ging er zum Fenster, um hinaus zu sehen. Gute zehn Zentimeter stand das Wasser auf der Straße. Er hatte Schwierigkeiten, die Häuser auf der anderen Straßenseite zu sehen. Die Bäume wurden vom Wind brutal hin und her geworfen, Blätter und ganze Äste wurden abgerissen. Sie fielen in das Wasser auf der Straße und trieben langsam davon.
Blitze tauchten die Häuser von Zeit zu Zeit in gespenstisches, weißes Licht. Und Hendrik zählte die Sekunden, bis der Donner kam. Wieder vergrößerte sich die Entfernung und der Donner klang gedämpfter. Plötzlich stand Rachel hinter ihm und legte ihre Arme um ihn. Er streichelte ihre Unterarme und spürte an seinem Rücken, wie sie atmete. Wie sich ihr Brustkorb im regelmäßigen Rhythmus weitete. Sie hatte sich beruhigt und atmete viel langsamer.
Dann ließ sie ihn los. Er drehte sich um und erkannte im grauen Zwielicht der Gewitterwolken, dass sie nackt vor ihm stand. Um die kleinen Vorhöfe ihre Brüste hatte sie Dreiecke weißer Haut, wo ihr Bikini sie vor der Sonne geschützt hatte. Genauso »unten« und – so vermutete Hendrik – auf ihrem Hintern.
So weit waren sie noch nie gekommen, also endete hier seine Erfahrung und er wurde unsicher, was er tun sollte. Er entschied sich, näher zu kommen. Sie küssten sich leidenschaftlich und seine Erregung kannte keine Grenzen, abgesehen von denen seiner noch feuchten Jeans.
Sie begann ihn auszuziehen.
»Kommen deine Eltern nicht bald nach Hause?«
Sie schüttelte den Kopf, »ich habe das Haus bis Sonntagabend für mich alleine«, dann sah sie ihm in die Augen, »oder für uns?«
Er hatte natürlich kein Kondom dabei, aber was er an diesem Nachmittag erlebte, war auch so unendlich schön und er würde es niemals vergessen. Die über den Sommer angestaute Erregung explodierte in Rachels Zimmer während des Gewitters und weit in die Abendstunden hinein.
Im Dunkeln lagen sie eng aneinandergeschmiegt, erledigt, erleichtert, stolz und etwas erwachsener. Hendrik dachte sich einen Vorwand für seine Eltern aus, damit er das Wochenende bei Rachel bleiben konnte. Als er seine Mutter anrief, durchschaute sie die Situation natürlich sofort und riet ihm, vorher noch die Packung Kondome zu holen, die sie ihm schon für die Reise eingepackt hatte. Er hasste seine Mutter manchmal für ihre europäische Direktheit.
* * *
Im Nachhinein betrachtete Hendrik dieses Wochenende als das letzte Wochenende des Sommers. Mit dem Gewitter kam eine Kaltfront, die einen beträchtlichen Temperatursturz mit sich brachte. Ihre Badesaison – und alles, was damit zusammenhing – war damit beendet. Ihre gemeinsamen Aktivitäten gingen natürlich weiter, die sich unangenehmer weise in ihren Zimmern und damit unter indirekter Beobachtung ihrer Eltern abspielen mussten.
Mit Rachels Vater hatte Hendrik regelmäßige Treffen vereinbart, in denen er ihn in die Algebra und Differentialgeometrie einführte, die er zum Verständnis von Manchesters Theorie benötigte.
Mitte September begannen die Regenfälle - keine Gewitter, nur die stetigen, nicht mehr enden wollenden Niesel- und Dauerregen, die der Grund für die Entstehung der feuchten Urwälder im nördlichen Westen der USA waren.
An einem verregneten Dienstag, Ende September begleitete Hendrik Rachel nach der Schule nach Hause. Sie teilten sich einen Schirm, doch trotzdem wurden ihre Hosen und Jacken nass. Als sie die Einfahrt zum Haus hochliefen, sah Hendrik bereits die Schreibtischlampe auf Manchesters Tisch leuchten.
»Muss dein Vater nicht arbeiten?«
»Er hat ein Sabbatical angefangen.«
»Sein was?«
»Eine Auszeit von der Uni. Er konzentriert sich auf seine Forschung, kann zu Hause arbeiten und wird vermutlich in dieser Zeit ein Buch schreiben oder so was.«
»Cool.«
»Sei nicht albern. Kannst du dir denn nicht vorstellen, was das bedeutet?«
Hendrik sah sie verblüfft an.
»Wir werden ein halbes Jahr nicht mehr für uns alleine sein. Zumindest nicht in diesem Haus«, sie steckte ärgerlich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
»Na, ihr zwei?«, rief Manchester fröhlich vom Wohnzimmer aus.
»Hallo James«, Hendrik konnte sich nicht daran gewöhnen, ihn mit seinem Vornamen anzureden. Es blieb ein seltsames Gefühl.
Rachel ging direkt die Treppe hinauf. Dabei stampfte sie mit ihren Füßen mehr, als nötig. In ihrem Zimmer ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Hendrik setzte sich neben sie. Er bemerkte die unangenehme Feuchtigkeit seiner Jeans.
»Was ist heute? Dienstag?«
Sie nickte.
»Dann ist meine Mutter den ganzen Tag zu Hause. Sie hat ihren freien Tag.«
»Das sollte verboten sein. Wir haben auch ein Recht auf Privatsphäre. Und ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie es mit dir ist«, dabei drückte sie sich an ihn und küsste ihn auf den Hals.
»Es gibt da dieses alte Fabrikgebäude am Tomahawk Creek.«
Sie richtete sich auf und hörte ihm aufmerksam zu.
»Ich weiß nicht genau, ob es da eine Möglichkeit gibt, allein zu sein. Aber ich denke, dass man wissen muss, wo es liegt. Da kommen nicht einfach so Leute vorbei.«
»Klingt interessant. Ist es dort schmutzig?«
»Es ist alt und verfallen«, er zuckte mit den Schultern.
Sie stand ohne ein weiteres Wort auf und ging die Treppe hinunter.
»Wir brauchen zwei Schirme, sonst sind wir völlig durchnässt, bis wir da sind«, sagte sie und schnappte sich einen großen, braunen Schirm aus dem Ständer neben der Eingangstür.
»Wollt ihr nochmal weg?«, rief Manchester ihnen nach.
»Nur kurz in die Stadt.«
»Aber es regnet. Soll ich Euch fahren?«
»Nein, danke.«
Er sprang aber schon auf und kam zur Tür gelaufen.
»Nein, Dad!«, sagte Rachel eindringlich. Manchester machte ein Gesicht, als hätte er aus Versehen beim Weihnachtsessen den Baum umgestoßen, und zog sich wieder in seinen Arbeitsbereich zurück.
Sie liefen die North-Lake Road entlang und wechselten anstatt in Richtung See einzubiegen in die alte Forststraße, die vom See wegführte. Dabei passierten sie eine niedrige Schranke, die verhindern sollte, dass Autos die Straße benutzten. Die Straße bestand aus Schotter und sie mussten einigen großen Pfützen ausweichen. Es rocht dort nach feuchter Erde. Kühle Luft fiel durch den Wald den Hang herab und der Weg wirkte dunkel und unheimlich.
Sie benötigten eine Stunde, bis sie vor einem halb verfallenen Gebäude standen. In den Fenstern fehlte das Glas, vermutlich von Jungs eingeworfen. Die Wände bestanden aus grauem, unansehnlichem Beton. Das rostige Wellblechdach schien noch fast vollständig erhalten zu sein. Es konnte also darinnen trockene Räume geben.
»Ich hätte meine Kondome mitbringen sollen«, sagte Hendrik und spürte, wie sich beim Aussprechen etwas in seinem Bauch regte.
»Keine Sorge«, sagte sie ganz beiläufig, »im Moment kann nichts passieren.«
Sie gingen weiter und fanden einen offenen Eingang. Auf dem Boden lag ein verrostetes Schild mit der Aufschrift »Betreten verboten«.
Innen roch es muffig und es war kalt aber trocken. Der erste Raum, in dem sie standen, sah wie eine alte Montagehalle aus. Unter der Decke hingen die Reste eines Krans. Sie gingen durch eine Tür rechts von ihnen. Ein dunkler Raum, der ein Büro gewesen sein mochte. Sie folgten einem Gang und einer Treppe nach oben. Auf dem Boden lag ein alter, modriger Teppich, der ihre Schritte dämpfte.
Am Ende des Gangs befand sich ein großer Raum, mit demselben, muffigen Teppich. Er besaß eine Fensterfront, die über zwei Seiten des Raums verlief und von der gut die Hälfte der Scheiben noch erhalten waren, einem Schreibtisch auf dem eine dicke Staubschicht sedimentierte und gegenüber der Tür lag ein Sessel auf der Seite. In dem Zimmer musste einmal der Besitzer sein Büro gehabt haben.
Hendrik schnappte sich den Sessel und trug ihn in die Ecke, wo die Fensterfronten aufeinanderstießen. Dort waren die meisten Scheiben noch intakt. Er ließ sich auf den Sessel fallen und eine Staubwolke stob in die Luft.
»Sehr romantisch«, lachte Rachel.
Sie sah sich in dem Raum um. In den Wänden eingelassenen Regalen fehlten die Regalbretter, was sie zu nutzlosen Rahmen machte. Genauso erging es den Schubladen des Schreibtischs. Rachel ging langsam zur Tür und prüfte, ob sie sich bewegte. Sie schloss sie, aber im Schloss steckte kein Schlüssel.
Dann kam sie auf Hendrik zu, der immer noch im Sessel saß und nervös wurde.
»Wie lange weißt du schon von diesem Ort?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Und wie viele unschuldige Mädchen hast du hier verführt?«
»Hmm«, er zog seine Mundwinkel nach unten, »nicht mehr als zweihundert.«
»Und was hast du mit ihnen gemacht, nachdem du sie missbraucht hattest?«
Hendrik ging auf das Spiel ein und verstellte seine Stimme: »Sie fingen immer an, zu schreien. Ich kann das nicht ab.«
»Wo sind sie heute?«, sie streichelte seinen Schritt.
»Hab sie vergraben«, er wollte ihren Hintern streicheln, aber sie drückte seine Hände nach unten – er sollte nichts tun.
»Hier?«
»Hinter der Halle.«
»Böser Junge.«
»War nicht meine Schuld. Die Stimme hat es mir befohlen.«
Rachel prustete laut und konnte nicht mehr ernst bleiben.
»Für einen Typen, der sich für Mathe interessiert, kann man ziemlich viel Spaß mit dir haben.«
Sie setzte sich auf seinen Schoß, öffnete ihre Jacke und zog ihr Portmonee heraus. Sie öffnete es und legte Hendrik zwei Kondome auf die Brust.
»Nur, um sicher zu sein.«
Dann beugte sie sich vor und küsste ihn leidenschaftlich.
Hendrik hätte es für ein Erdbeben halten können, er wurde plötzlich aufmerksam und lauschte. Ein leichtes Zittern ging durch das Gebäude. Auch Rachel spürte es: »Was ist das?«
»Keine Ahnung, aber es klingt nicht gut.«
Sie standen beide auf und gingen zum Fenster, von dem sie auf die Rückseite des Gebäudes sehen konnten. Hendrik betrachtete den Hang, ein Sturzbach ergoss sich von oberhalb und schien vor dem Gebäude gestaut zu werden.
Offensichtlich gab es dort normalerweise keinen Bach und das Wasser suchte sich in diesem Moment einen Weg. Davon irritiert blickte er den Hang nach oben. Plötzlich bewegte sich alles vor den Fenstern, die Bäume, die dort standen, knickten um und kamen in irrwitziger Geschwindigkeit auf sie zu.
»Wir müssen raus hier!«, schrie Rachel. Sie dachte noch an die Schirme und lief auf die Tür zu. Bei der Tür erreichte Hendrik sie und riss sie herum. Ohne ein Wort drückte er sie zurück in die Ecke, wo der Sessel stand. Er schlug ohne darauf zu achten, was mit seinen Händen passierte, durch die Fensterscheiben, die sofort zerbrachen, umklammerte den Eck-Träger und klemmte Rachel damit zwischen sich und dem Träger ein.
Dann ging alles ungeheuer schnell. Ein ohrenbetäubendes Krachen, der ganze Raum schwankte. In einem Moment dachte Hendrik, dass der Boden unter ihnen wegsacken würde, aber es war nur der alte Teppich, auf dem sie standen und der fortgerissen wurde. Er bekam einen festen Stand und klammerte sich weiter an der alten Konstruktion fest. Seine Finger schmerzten unter der ungewohnten Belastung. So schnell es gekommen war, so schnell war es auch wieder vorbei.
Als das Dröhnen abflaute und die Bewegung zum Stillstand kam, machte er langsam die Augen auf. Rachel versuchte, ihn wegzudrücken, aber er ließ sie nur langsam frei. Er öffnete seine linke Hand und drehte sich auf der Stelle. Sie trauten ihren Augen nicht: Das Gebäude, in dem sie gerade noch gestanden hatten, gab es nicht mehr. Die Stahlstrebe, an der sie sich festhielten, gehörte zu den letzten noch aufrecht stehenden Teilen. Das Büro, zudem das kleine, dreieckige Stück Boden, auf dem sie standen gehörte, war ebenfalls verschwunden. Unter ihnen lag eine Schlammlawine, die das Gebäude abgerissen und die Reste unter sich begraben hatte.
Er fing zu zittern an, Adrenalin pulsierte durch seinen Kreislauf.
»Alles okay bei dir?«, fragte er Rachel.
Sie begriff noch nicht genau, was gerade geschehen war. Aber eins wusste sie genau: »Jetzt hast du mir zum zweiten Mal das Leben gerettet«, dann warf sie ihm ihre Arme um den Hals und schluchzte laut.
»Noch nicht, ich weiß nicht genau, wie lange wir hier noch stehen können, bevor der Rest auch zusammenklappt. Ich denke, es wäre am besten, wenn wir versuchen, auf der Außenseite herunterzuklettern.«
Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu lösen, doch in ihrem Gesicht stand die pure Angst.
»Es ist alles in Ordnung, ich versuche nur, uns von hier wegzubringen. Halte dich fest«, dabei drückte er ihre rechte Hand an die Reste der Fensterfront, zu seiner linken.
Als er den Eindruck hatte, dass sie sicher stand, probierte er, um den abgebrochenen Rand zu seiner Rechten herumzuklettern. Aber das stellte sich als unmöglich heraus. Er entschied sich, das Fenster wegzutreten. Nach einigen gezielten Fußattacken blieb nur noch ein dünner Rahmen aus Holz übrig. Er sah nach draußen, sie hätten wenig Halt, aber im Schlamm würden sie weich landen, sollten sie fallen.
Er erklärte Rachel in langsamen Worten, was er vorhatte.
»Wir müssen um dieses Ding herum«, dabei schlug er mit seiner Hand gegen den Träger, der ihnen das Leben gerettet hatte. »An der Außenseite können wir dann herunterklettern. Ich gehe zuerst und fange dich auf, solltest du Schwierigkeiten haben. Du brauchst keine Angst zu haben, unten ist alles knietief voller Schlamm. Wenn du fällst, dann landest du weich. Wir müssen dann nur unsere Sachen waschen«, er schenkte ihr ein selbstbewusstes Lächeln, zumindest das beste, das er unter diesen Umständen zustande brachte. Sie lächelte zurück, dankbar für seine Zuversicht. Dann gab er ihr einen Kuss und schwang sich durch den Fensterrahmen auf die Außenseite des Trägers. Er kletterte ungelenk nach unten und sprang den Rest, als er keinen Halt mehr hatte. Bei der Landung sackte er tiefer ein, als er angenommen hatte. Dann rief er zu Rachel hoch, sie sollte auch heraus klettern. Sie hatte Angst und bewegte sich enervierend langsam, aber schließlich begann sie ihren Abstieg und ließ an derselben Stelle los, wo Hendrik es getan hatte. Er schaffte es, ihren Fall zu verlangsamen, aber auch sie sackte bis zu den Oberschenkeln in den Schlamm ein.
»Fuck, wie sollen wir hier raus kommen?«
»Egal«, sagte er, »Hauptsache, wir sind aus dem Ding raus.«
Er versuchte, sich umzudrehen, nahm ihre Hand und zog, so fest er konnte, an ihr, damit sie zur Seite aus dem Schlamm herauskamen. Es dauerte eine gute Stunde, bis sie eine Stelle erreichten, wo der Dreck so flach wurde, dass sie hindurch waten konnten. Wenig später standen sie unter einem Baum und sahen sich die Lawine und den Rest von dem Industriegebäude an. Rachel fing an zu weinen. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und versuchte, sie zu trösten. Dann fiel ihm auf, dass mit ihren Füßen etwas nicht stimmte. Sie waren viel zu klein trotz der dicken Schlammschicht darauf.
»Meine Schuhe sind stecken geblieben«, sagte sie mit gebrochener Stimme, als sie seinen Gedanken erriet.
Hendrik musste sich einen Moment hinsetzen, seine Beine gaben nach und er knickte ein. Auch Rachel setzte sich auf den nassen Boden, unfähig zu erfassen, was gerade mit ihnen geschehen war. Einige Minuten später ertönten Sirenen, jemand musste den Erdrutsch beobachtet und Hilfe gerufen haben. Zwei große Löschwagen der Feuerwehr kam die schmale Schotterstraße herauf gefahren. Ihre Sirenen dröhnten in Hendriks Ohren. Sie fuhren vorbei bis dorthin, wo der Schlamm anfing und die Straße überdeckte.
Ein Polizeiwagen fuhr hinterher und blieb bei Rachel und Hendrik stehen. Eine große Frau in Uniform stieg auf der Beifahrerseite aus und kam auf sie zu.
»Hallo ihr zwei, wart ihr in der Nähe, als das passiert ist?«, die Frage schien überflüssig, denn beide starrten vor Schmutz und Schlamm klebte an ihnen bis unter die Arme.
Hendrik nickte.
Die Polizistin merkte, dass es Rachel nicht gut ging. Sie brachte ihr eine Decke, die sie aus dem Kofferraum des Streifenwagens hervorholte.
»Wir wollten nur ein wenig alleine sein«, sagte Hendrik entschuldigend.
»Keine Sorge, Junge«, der Polizist, der den Wagen gefahren hatte, stand neben ihnen. »Das war ein Unglück, mit dem ihr nichts zu tun hattet. Wir wollen nur sicher gehen, dass Euch nichts passiert ist und ihr gut nach Hause kommt.«
Rachel nahm Hendriks rechten Arm und hielt sich daran fest. Sie schien abwesend zu sein.
Der Polizist sprach einige Schritte abseits von ihnen in ein Funkgerät. Als ein Krankenwagen vorbeikam, hielt er ihn an und ließ die Sanitäter nach Rachel sehen. Hendrik beobachtete das alles aus einer mentalen Distanz, als ob es im Fernsehen geschah.
Eine halbe Stunde später setzten die Polizisten Hendrik zu Hause ab. Seine Hose war so steif, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine Mutter, die das Blaulicht gesehen hatte, kam aus dem Haus gelaufen und redete schnell auf Hendrik ein, so schnell, dass er ihre Fragen nicht verstand. Sie legte ihren Arm um seine Schultern, führte ihn zum Haus und sprach gleichzeitig mit den Polizisten, um Informationen zu bekommen, die ihr Sohn ihr nicht geben konnte.
»Warte«, sagte er auf der Veranda laut, »ich mach das ganze Haus dreckig«, dabei öffnete er seinen Gürtel.
»Das ist doch egal! Geh rein«, sagte sie.
Aber er bestand darauf, er zog seine fast nur noch aus getrocknetem Schlamm bestehenden, Schuhe und die Hose aus, sowie seine Jacke und den Pullover. In T-Shirt und Unterhose ging er dann schließlich hinein.
Seine Mutter redete noch eine Weile auf die Polizisten ein, während Hendrik nach oben ins Bad ging, sich blitzschnell duschte, umzog und wieder herunterkam.
»Was machst du?«, fragte seine Mutter, die immer noch mit den Polizisten in der Diele stand.
»Ich muss ins Krankenhaus«, sagte er, ohne einen Widerspruch zuzulassen. Grietje Prescott sah ihren Sohn verdutzt an, verstand aber, dass es keine Diskussion darüber geben würde.
»Ich fahre dich«, sagte sie dann nur kurz. Die Polizisten verabschiedeten sich, nachdem Hendrik sich bei ihnen bedankt hatte.
Das Krankenhaus lag etwas außerhalb, sie mussten einige Minuten über den Highway fahren und folgten dann den Schildern. Im Warteraum der Notaufnahme stand Manchester mit verwirrtem Gesicht und geröteten Augen. Er wusste nichts, man hatte ihn nur angerufen und gesagt, er solle zu Rachel ins Krankenhaus kommen. Weitere Informationen hatte man ihm nicht gegeben. Hendrik erzählte ihm in kurzen Worten von ihrem Erlebnis und verschwieg dabei vorsichtshalber die gefährlichen Details. Er beschrieb es so vage, dass Manchester und seine Mutter davon ausgehen mussten, dass er und Rachel sich nie in dem Gebäude befunden hatten – auch wenn er es nicht explizit sagte.
Eine Stunde später kam Rachels Mutter in die Notaufnahme. Sie war von San Francisco herübergeflogen, wo sie in einem Meeting gesessen hatte, als sie die Nachricht erreicht hatte.
Nach einer Weile kam ein Arzt zu ihnen: »Machen Sie sich keine Sorgen, sie wird wieder völlig gesund. Sie hat nur einen kleinen Schock erlitten. Wir müssen sie über Nacht hierbehalten, um handeln zu können, sollte es Komplikationen geben.«
»Können wir zu ihr?«, fragte Mrs. Manchester.
»Sicher, folgen Sie mir«, sagte der Arzt. Er führte sie einen Gang entlang, an dessen Ende ein großes Behandlungszimmer lag. Es gab dort mehrere Betten, die Plastikvorhänge voneinander trennten. Rachel lag im dritten Bett auf der rechten Seite. Man hatte ihr einen weißen, mit blass-blauen Blümchen verzierten Kittel angezogen. Sie hing an einem Tropf. Aber sonst schien sie wohlauf. Ihre Sachen hatten die Pfleger in einem schwarzen Müllsack neben dem Bett verstaut.
Rachels Mutter fing an zu weinen, schlang ihre Arme um ihre Tochter und schien sie nicht mehr loslassen zu wollen. Als sich alle beruhigt hatten, fragte Mrs. Manchester: »Wieso wart ihr überhaupt bei diesem alten Ding?«
Rachel sah zu Hendrik, er druckste etwas herum und meinte dann ausweichend: »Wir wollten einfach etwas alleine sein«, und schoss dann abschwächend hinterher, »Nur um uns ungestört unterhalten zu können.«
»Rede keinen Unsinn«, fiel seine Mutter ihm ins Wort, »das könnt ihr in deinem Zimmer genauso ungestört. Wie alles andere auch. Du weißt, dass ich damit kein Problem habe.«
»Moment, damit hätte ich aber ein Problem«, warf Rachels Mutter ein.
»Mom, bitte!«, warf Rachel flehend ein. »Keine Szene! Hendrik hat mir gerade das Leben gerettet.«
Drei aufgerissene Augenpaare starrten sie an und Hendriks Mine verriet ihr, dass sie das lieber nicht hätte sagen sollen.
»Was?«, die Stimme von Rachels Mutter nahm spontan einen hysterischen Unterton an. Dann drehten sich die drei Augenpaare auf Hendrik und erwarteten Rede und Antwort.
Hendrik ließ die Schultern sinken und erklärte: »Wir waren in dem Gebäude, als die Lawine abging. Glücklicherweise befanden wir uns in einem Teil, der nicht beschädigt wurde«.
»Schwachsinn!«, rief Hendriks Mutter. »Der Polizist sagte, dass das Gebäude komplett verschwunden sei und ihr Glück gehabt hättet, nicht drinnen gewesen zu sein.«
Hendrik fühlte sich zu müde und zu erledigt, um sich noch weitere Schlenker auszudenken. Schließlich erzählte er, was geschehen war, ohne etwas auszulassen. Als er seine Beschreibung beendete, ging James Manchester auf ihn zu und umarmte ihn.
Genau in diesem Moment stieß Theodore Prescott zu ihnen.
»Warum erzählt mir eigentlich niemand, dass etwas passiert ist?«
* * *
Das Unglück in der alten Fabrik hatte etwas Gutes hervorgebracht: Rachel und Hendrik hatten einen Rhythmus gefunden, in dem sie regelmäßig entweder in seinem oder in ihrem Zimmer alleine und ungestört sein konnten. Dienstags, sowie die Wochenenden blieben Ausnahmen. Sie mussten ihren Eltern versprechen, dass sie nie wieder in alte Gebäude stiegen oder sonst irgendwelche baufälligen Ruinen besuchten.
Manchester entwickelte bei Hendriks »Nachhilfestunden« einen ungeahnten Enthusiasmus und ging mit ihm die grundlegende Arbeit von Albert Einstein durch: »Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen«. Hendrik offenbarte ein natürliches Verständnis für Mathematik und begriff selbst die abstraktesten und kompliziertesten Konstrukte, die als Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie dienten, ohne die geringsten Probleme.
Mittags am 24. Dezember stiefelte Hendrik durch eine Schicht dünnen Neuschnees die North-Lake Road entlang. Es waren nur wenige Autos unterwegs. Die Luft fühlte sich klar und kalt an, sein Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Der Himmel, genau wie das Licht, blieben grau und verhießen weiteren Schnee.
Hendrik bog in die Idaho Lane ab und steuerte auf die Nummer 32 zu, wo die Manchesters wohnten. Wie er wusste, wartete Rachel auf ihn. Ihr Vater hielt bis zum späten Nachmittag Vorlesungen an der Universität und ihre Mutter besuchte in San Diego eine ihrer Niederlassungen. Rachel würde gegen fünf mit ihrem Vater ihre Mutter vom Flughafen in North-Bend abholen und sie alle sollten um acht zu Hendriks Eltern kommen, zu einem gemeinsamen Weihnachtsessen. Das war der Plan.
Hendriks Mutter hatte ihn aus der Küche geschickt, sie würde bis zum Abend genug zu tun haben, ohne dass er ihr im Weg herumsaß. Lakaien-Dienste musste sein Vater ausführen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als Rachels Einladung, zu ihr zu kommen, anzunehmen.
Der Weg zur Veranda der Manchesters war glatt, er musste aufpassen, dass er sich nicht auf den Hintern setzte. Dann klingelte er. Einige Sekunden später machte Rachel die Tür nur einen Spalt auf und ließ ihn herein. Sie trug keinerlei Kleidung und strahlte ihn an, als er in der Diele stand und es bemerkte. Sie flog praktisch mit ihm an der Hand die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, schloss ab und riss ihm die Kleider vom Leib. Sie liebten sich, solange sie konnten.
Gegen drei wurde das Risiko zu groß, dass ihr Vater unerwartet auftauchte. Sie gingen in die Küche und tranken Kaffee. Es hatte, wie erwartet, anfangen, in dicken Flocken zu schneien. Sie saßen nebeneinander an der Theke, hielten ihre heißen Tassen in den Händen und beobachteten durch die breiten Fenster, wie der Schnee langsam eine weiche, weiße Decke über den Garten legte. Das Licht wurde immer grauer und in der Küche wurde es düster, denn sie hatten die Lampen nicht angeschaltet. Rachel berührte sanft Hendriks Arm und flüsterte im Dämmerlicht: »Ich liebe dich«.
Hendrik wollte antworten, doch sie legte ihm einen Finger auf den Mund. Jedes Wort konnte zu viel sein. Er versank in ihren dunklen Augen und ihr Blick war so voller Liebe, dass ihm die Brust zu platzen drohte.
Dann klingelte es an der Tür.
Sie löste sich langsam und ging zum Eingang. Irritiert nahm Hendrik wahr, dass auf die Wände der Küche blaue und rote Blicklichter fielen. Er stand auf und folgte Rachel.
In der Diele standen zwei Polizisten. Hendrik erkannte einen davon als jene Polizistin, die sie nach der Schlammlawine gefunden hatte.
Er ging zu Rachel, dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab.
»Es gab einen Unfall«, sagte sie, ergriff Hendriks Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte.
»In welchem Krankenhaus liegt er?«, fragte sie.
Die Polizistin suchte nach Worten, aber offensichtlich gab es keinen Weg, das, was sie zu sagen hatte, vorsichtig zu formulieren: »Kind, dein Vater ist von einem Lastwagen überrollt worden. Er war auf der Stelle tot.«
Wie ein Faustschlag traf ihn diese Nachricht. Er konnte nicht denken, nicht fühlen, er war wie betäubt. Rachel warf sich in seine Arme, doch er konnte nicht reagieren. Er streichelte ihr abwesend mit der Hand über den Rücken, hörte sie schluchzen und nahm entfernt wahr, dass die Polizisten auf sie einredeten. Aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagten.
Sie nahmen Rachel mit. Sie mussten ihre Mutter am Flughafen abholen. Hendrik blieb alleine vor der Tür der Manchesters zurück, sah Rachel hinterher, die ihm aus dem Fond des Wagens einen Blick zuwarf, der sein Herz zerriss.
Schnee fiel ihm auf den Kopf, mechanisch setzte er die Wollmütze auf. Seine Füße fanden automatisch den Weg in die Cedar-Road. Seine Mutter kam aus der Küche heraus, als er nicht auf ihre Fragen antwortete, die er gar nicht wahrgenommen hatte. Sie erschrak bei seinem Anblick. Er war bleich und sein Blick leer. Sie schob ihn in die warme Küche, setzte ihn auf einen Stuhl und verlangte von ihm, sofort zu erfahren, was passiert war.
Sein Vater kam durch die Kellertür in die Küche, hielt zwei Dosen in seinen Händen und fragte: »Welche Bohnen wolltest du?«
»Shh!«, rief sie ihm zu und drehte sich zu Hendrik.
Er sah sie an und plötzlich konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Mr. Manchester hatte einen Unfall. Er ist tot.«
Sie hielt vor Entsetzen eine Hand vor den Mund und konnte sich nicht bewegen.
»Oh, Sohn, das tut mir wirklich leid«, sagte sein Vater. Er legte Hendrik eine Hand auf die Schulter. Dann umarmte ihn seine Mutter.
* * *
Anfang Januar wurde er beerdigt. Es fanden sich mehr Menschen ein, als Hendrik zählen konnte. Nachbarn, Kollegen von der Uni, Freunde der Familie, Angestellte von Mrs. Manchesters Firma, selbst Kunden. Hendrik erkannte Ellie Thomson, die er am Observatorium kennengelernt hatte. Und viele andere, die er nicht zuordnen konnte.
Das Loch in der Erde öffnete sich, wie ein dunkler Schlund, im Gegensatz zum Weiß des Schnees, der den restlichen Friedhof bedeckte.
Er war Rachel in der letzten Woche aus dem Weg gegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Vielleicht wollte sie ihn nicht sehen, hatte ihren Kopf mit anderen Dingen voll. Und wenn er zu ihr ging, worüber sollten sie reden? Er wusste es einfach nicht und fühlte sich von seinen Eltern im Stich gelassen, die ihm keine Anleitung gegeben hatten, wie er sich in so einer Situation zu verhalten hatte.
Ein Priester sprach Worte vom Jenseits, von einem besseren Leben, von Leid und Schuld. Sie fügten sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammen, Hendrik hörte auf, zuzuhören, und schaute sich um. An Rachels Augen blieb er hängen. Dunkle, schwarze Pupillen, die sich in ihn bohrten. Sie sah ihn direkt an und in ihrem Blick lag nichts mehr von jenem Blick, den sie ihm in der Küche geschenkt hatte. Er hielt nicht stand, er sah auf seine Füße und schämte sich.
Zwei Tage nach der Beerdigung, zwang ihn seine Mutter, endlich zu Rachel zu gehen. Bevor er auf den Klingelknopf drücken konnte, riss sie die Tür auf.
Ohne einen Augenblick zu zögern, schlug sie ihm mit der vollen Wucht des aufgestauten Ärgers ihre Hand ins Gesicht.
»Wo warst du?«, schrie sie, so laut sie konnte. Ihre Stimme wurde von den Häusern der Straße zurückgeworfen.
»Wo warst du, als ich dich am meisten gebraucht habe?«, fügte sie leiser hinterher.
Hendrik starrte sie an und konnte kein Wort herausbringen. Ihr letzter Geduldsfaden riss, sie machte eine abwehrende Geste und warf die Tür ins Schloss.
Er strich noch einmal über das Holz zum Abschied und drehte sich um.
Rachel fehlte in der Schule für zwei Wochen. Als sie wieder kam und von ihren Mitschülern gemieden wurde, weil auch sie nicht gelernt hatten, mit dem Tod umzugehen, gab es keinen Suchscheinwerfer mehr wie früher. Er schaffte es, ihr meistens aus dem Weg zu gehen, obwohl er sich in jeder freien Minute nach ihr verzehrte. Er hatte zwei geliebte Menschen auf einmal verloren.
Der Februar wurde ungewöhnlich warm und ließ den Schnee des Januars vergessen. Heftige Frühjahrs-Stürme peitschten den Pazifik an und überschwemmten Teile der Küste und den Highway. Wolken jagten über den Himmel und ließen immer wieder ein kleines Stück blau sehen.
Hendrik ging jeden Tag nach der Schule am Haus der Manchesters vorbei, auch wenn es ein Umweg bedeutete. Er wollte nicht, dass ihre Beziehung endete. Und er hatte sich vorgenommen, Rachel zu erklären, warum er Abstand gehalten hatte. Dass es mit Unsicherheit zutun hatte und er ihr nicht zur Last werden wollte, dass er sie in ihrer Trauer nicht stören wollte.
Er hatte sich einen Katalog von Argumenten und Antworten auf mögliche Fragen zurechtgelegt. Aber trotzdem traute er sich nicht, den letzten Schritt zu machen.
Mitte Februar steckte im Vorgarten der Manchester das Schild eines Immobilienmaklers – das Haus sollte verkauft werden.
Als er Anfang März am Haus vorbeikam, standen riesige Möbelwagen davor. Kartons und leere Regale warteten auf der Wiese darauf, in die LKW's verladen zu werden. Ein einsames, braunes Sofa hielt Wache.
Er blieb stehen und feuerte sich innerlich an, endlich zu Rachel zu gehen, bevor es zu spät war.
Dann sah er sie aus der Garage heraus kommen. Sie trug staubige Arbeitsklamotten und ein buntes Kopftuch, das ihre Haare schützte. Sie hielt einen offensichtlich schweren Karton vor ihrer Brust und schleppte ihn die Auffahrt herunter zum offenen Transporter.
»Hallo Rachel«, sagte er sanft.
»Was willst du?«, antwortete sie. Nicht abweisend, eher weil sie noch so viel zu tun hatte, dass keine Zeit für lange Gespräche blieb.
Er gab sich selbst einen Tritt: »Was ich will ist, dass alles zwischen uns wieder so wie früher wird. Aber ich weiß, dass ich alles kaputt gemacht habe und ich weiß nicht, wie ich es in Ordnung bringen kann.«
Sie seufzte, zog sich das Tuch vom Kopf und strich sich durch ihre dunklen Haare.
»Ein angetrunkener Lastwagenfahrer hat alles kaputt gemacht. Du hast dich nur benommen wie ein Arsch.«
Er fühlte, wie seine Wangen heiß wurden.
»Wo zieht ihr hin?«, fragte er in einer Übersprunghandlung.
»San Francisco. Mom hat endlich ihren Willen durchgesetzt, damit sie sich besser um ihre Firma kümmern kann.«
»Willst du es denn?«
»Zumindest will ich nicht länger in diesem Haus leben, wo mich jede Ecke an meinen Vater erinnert«, ihre Stimme brach.
»Kann ich Euch helfen?«
Sie lächelte müde, »Hilfe können wir jede gebrauchen, die wir kriegen können. Auch, wenn du das bisher nicht mitbekommen hast.«
Er zog sofort die Jacke aus und warf sie mit seiner Schultasche auf einen der Stühle auf der Veranda. Rachel wartete an der Garage auf ihn und reichte ihm ein paar Arbeitshandschuhe. Dann zeigte sie auf das Regal, das die gesamte Breite der Rückwand einnahm und mit unnützem Kram vollgestopft war, von dem Hendrik sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand ihn aufheben wollte.
»Das alles, muss in die da«, dabei zeigte sie auf einen Stapel noch nicht gefalteter Umzugskartons, »und dann in den Transporter. Ganz einfach, keine Relativitätstheorie, sorry.«
Er stürzte sich in die Arbeit, damit sie nicht bemerkte, wie verzweifelt er war, dass sie wegzog.
»Braucht ihr das alles noch?«, fragte er, als er ein kaputtes Dreirad in einen Karton legte.
»Wir haben darüber geredet und keiner von uns will die Sachen durchsehen und Entscheidungen treffen. Also nehmen wir alles mit und sortieren später aus. Das Haus ist groß genug.«
Sie brauchten zwei Stunden, bis das Regal endlich leer vor ihnen stand.
»Ich brauche was zu trinken«, Rachel verließ die Garage durch die Seitentür. Dann kam sie noch einmal zurück und steckte ihren Kopf herein: »Du auch?«
Hendrik nickte und folgt ihr.
Die Küche befand sich in einem Zustand puren Chaos. Aber anscheinend hatten sie die Einrichtung mit dem Haus zusammen verkauft. Alles, was sich in den Schränken befunden hatte, stand auf dem Boden, den freien Fläche auf der Anrichte, der Arbeitsplatte und dem Esstisch. Halb leere Kartons standen dazwischen verteilt. Rachels Mutter saß auf dem Boden und versuchte aus ihrem angefangenen Durcheinander nachträglich schlau zu werden.
Rachel goss zwei Gläser Wasser ein und reichte Hendrik eins.
»Wie läuft es in der Garage?«, fragte Mrs. Manchester beiläufig, ohne aufzusehen.
»Mit Hendriks Hilfe bin ich schon fertig.«
Mrs. Manchester hob den Blick und lächelte Hendrik zu. »Schön, dass du mal wieder vorbeigekommen bist. Wir haben dich vermisst.«
»Ja, ich habe mich benommen wie ein Arsch«, er wiederholte Rachels Worte.
»Nun, so würde ich es nicht ausdrücken, aber: Ja«, sie nickte und lächelte sanft.
»Gut, dass du da bist. Wir haben für dich eine Kiste gepackt.«
Sie fragte Rachel: »Zeigst du sie ihm?«
Rachel ging vor und Hendrik folgte ihr in den ehemaligen Arbeitsbereich von James Manchester. Sie deutete auf einen Karton, auf dem Jemand mit einem Marker »Hendrik« geschrieben hatte. Er öffnete ihn und fand darin einige Mathematik- und Physikbücher. Sowie diverse persönliche Aufzeichnungen, zwei Notizbücher, in denen Manchester anachronistisch mit einem Stift herum-gekritzelt hatte. Und eine mobile Festplatte, von der Hendrik wusste, dass sie mit Manchesters Computer verbunden gewesen war.
»Sorry, der Computer gehörte der Uni. Den haben sie abgeholt«, Rachel zog die Schultern hoch.
»Das wollt ihr mir geben?«, fragte Hendrik.
»Wir können nichts damit anfangen. Und wir hatten die Hoffnung, dass du vielleicht wirklich Physik studierst und die Arbeit meines Vaters zu einem Abschluss führen könntest«, erklärte sie.
Hendrik fehlten die Worte, »Ich... ich...«, stammelte er, »ich verspreche, dass ich sie in Ehren halten werde.«
Rachel kam plötzlich auf ihn zu und umarmte ihn. Er drückte sein Gesicht in ihre Haare und lebte für einen Augenblick in ihrem Geruch. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
Sie drückte ihn fest an sich.
Da der Umzug in der folgenden Woche stattfand, erfand Hendriks Mutter eine Ausrede für die Schule, sodass er mitfahren konnte. Sie erreichten am Montagabend nach einer achtstündigen Fahrt mit Mrs. Manchesters Auto das neue Anwesen. Die Möbelwagen würden auf einem Gelände der Umzugsfirma in der Nacht ankommen, deshalb konnten sie nicht sofort mit dem Auspacken anfangen.
Das Gebäude lag im Sea Cliff Bezirk, einem kleinen, exklusiven Stadtteil. Das Haus sah so aus, als seien mehrere kleinere Bungalows zu einem Komplex zusammen geklebt worden. Es hatte einen dunkel grauen Anstrich und bordeauxfarbene Fensterrahmen. Von der Straße aus konnte man das Haus praktisch nicht sehen. Eine hohe Mauer und hochgewachsene Pflanzen verhinderten, dass Neugierige hineinsehen konnten. Im Inneren gab es einen großen Wohnraum, dessen hintere Wand nur aus Glas bestand. Von dort hatten sie eine atemberaubende Aussicht auf den weit unten liegenden Strand und in der Ferne auf die Golden-Gate Bridge.
Vom Wohnraum aus verzweigten sich Flure in die angrenzenden Gebäudeteile. Der rechte Teil würde zum neuen San Francisco Office der Firma werden, und der linke Teil zum Privatbereich.
Rachel zeigte ihm stolz ihr Zimmer. Es hatte eine private Terrasse, vor der bis zum Boden reichenden Fensterfront. Von dort aus konnte sie weit auf den Pazifik hinaus schauen. Ein starker, kalter Wind blies ihnen ins Gesicht, als sie auf den Balkon traten.
»Ist wohl eher was für den Sommer«, meinte Hendrik nicht ohne eine Spur Sarkasmus. Er konnte sich nicht einmal entfernt vorstellen, was ein solches Haus in dieser Lage kostete.
An diesem Abend ließen sie alles liegen und bestellten eine Familienpizza. Im Schein von zwei Kerzen aßen sie auf dem dunklen Holzboden sitzend. Rachels Mutter spendierte eine Runde Rotwein aus Pappbechern.
Da sie beinahe beim Essen einschliefen und ihre Knochen schmerzten, beschlossen sie, früh schlafen zu gehen. Rachel zog Hendrik in ihr Zimmer, was er nicht erwartet hatte. Aber sie schliefen nicht miteinander. Sie lagen auf dem harten Boden und redeten noch eine Weile.
Der folgende Tag bestand aus harter Arbeit und Hendrik verausgabte sich beim Tragen der Möbel und dem Einräumen der Einrichtung. Abends konnte er, wie am Vortag, kaum noch die Augen aufhalten und wollte am Tisch einschlafen. Zu Essen gab es eine weitere Pizza und Rotwein, den sie diesmal aus großen, filigranen Gläsern, tranken.
Am Morgen des dritten Tages brachte Mrs. Manchester Hendrik zum Bahnhof, von wo aus er in Richtung North-Bend fahren wollte.
Mrs. Manchester verabschiedete sich im Auto. Es gab keinen freien Parkplatz und sie musste um den Block fahren. Rachel brachte ihn zum Zug. Sie verabschiedete ihn innig und liebevoll. Hendrik hätte denken können, dass alles wieder im Lot war, doch die Verabschiedung enthielt auch eine gewisse Endgültigkeit, es gab keine Beziehung mehr und nichts konnte das ändern.
Sie versprachen sich gegenseitig, in Kontakt zu bleiben und zu besuchen, doch Hendrik wusste, dass das nicht geschehen würde.
Als ihn seine Mutter in North-Bend abholte, musste er ihr alle Details von dem Haus erzählen. Sie saugte die Informationen auf, dabei bemerkte sie die Traurigkeit ihres Sohnes.
»Ihr könnt Euch besuchen. Das wird bestimmt schön«, munterte sie ihn auf.
»Ja, vielleicht«, antwortete er, doch auch sie begriff, dass es ein Abschied ohne Wiedersehen bedeutete.