Читать книгу Rose - Die dunkle Seite - Stephan Wellnitz - Страница 6
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Frankfurt am Main, Februar 2020
Manchmal verbergen sich unsere größten Talente in unseren dunkelsten Tiefen.
Die Bierflasche gab ein leises Zischen von sich, als Karl sie öffnete. Es war zwar erst kurz nach vier am Nachmittag, doch es war ein Sonntag und das Tageslicht draußen trübte sich bereits mit feinen Fäden aus Zwielicht ein. Zu dieser Jahreszeit wurde es manchmal kaum richtig hell, vor allem an wolkenverhangenen Tagen wie heute.
Einzig das riesige, in intensiven roten Farben gemalte Bild hellte den Raum auf. Die Leinwand war viel zu groß für den kleinen Raum, beherrschte ihn, doch das störte Karl nicht. Das Haus war zu klein für dieses Bild, nicht das Bild zu groß für dieses Haus, so hatte er es schon immer gesehen.
»Karl? Kannst du mir eine von den großen Salatschüsseln aus dem Keller bringen?« Claudias Stimme drang über das Treppenhaus aus der Küche zu ihm in sein Arbeitszimmer.
Karl seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche. Das Bier schmeckte herb und kalt, angenehm erfrischend, doch der Alkohol verfehlte seine Wirkung. Sein Kopf wollte einfach nicht abschalten.
»Ja, mache ich gleich«, rief er zurück und wandte sich wieder seinem Laptop zu, der angeschaltet vor ihm auf dem Schreibtisch stand.
Eigentlich war er nie der Typ gewesen, der Arbeit mit nach Hause nahm oder an einem Sonntag seine E-Mails las. Seit 21 Jahren arbeite er bei der gleichen Bank, hatte nach der Schule erst Bankkaufmann gelernt und dann später berufsbegleitend noch seinen Betriebswirt obendrauf gesetzt, eine solide Karriere ohne nennenswerte Umwege oder Sprünge.
Er mochte es, mit Zahlen umzugehen. Zahlen waren zuverlässig, berechenbar und folgten einer Logik, ganz anders als Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit.
Doch vor etwa anderthalb Jahren war sein Chef auf ihn zugekommen und hatte ihn darüber informiert, dass man seine Abteilung schließen würde. Von Sparmaßnahmen war die Rede, davon, jetzt effizienter zu arbeiten, von Lean Workforce und Outsourcing und anderen, neudeutschen Formu–lierungen, bei denen Karl schon nicht mehr richtig zugehört hatte. Er wusste, was das bedeutete. Eine Menge Leute waren plötzlich ihren Job los, damit »die da oben« und vor allem die Aktionäre noch mehr Kohle scheffeln konnten.
Doch es kam ganz anders. Er hatte Glück. Irgendjemand, vielleicht sein Teamchef oder der Abteilungsleiter, hatte sein »Potenzial« im Umgang mit Zahlen erkannt, wie es jetzt immer so schön hieß, und seine Versetzung in die neue Tochtergesellschaft FinTech angeregt, wo man sich mit Produkten wie Cryptowährungen und NFTs für die Kunden beschäftigte.
Karl hatte vorher nicht viel über Crypto–währungen gewusst, nur mal hier und da den ein oder anderen Begriff wie Blockchain oder Bitcoin aufgeschnappt, doch schon am ersten Tag in seinem neuen Job begriff er, dass er hier endlich seine wahre Berufung gefunden hatte.
Es war so herrlich simpel und logisch. Am liebsten würde er den ganzen Tag nichts anders machen, als über NFT und die Blockchain zu fachsimpeln, was dazu führte, dass er jetzt auch abends und am Wochenende für seine Kollegen per E-Mail erreichbar war, sehr zum Ärger seiner Frau.
»Karl! Die Salatschüssel!«, rief Claudia gerade wieder.
Der Geruch von Schmorbraten lag in der Luft, dazu gedünstetes Gemüse, Claudias Spezialität.
Karl rollte mit den Augen, nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche und stand widerwillig auf.
Der Sonntag war der Familie vorbehalten, auch wenn die Kinder längst aus dem Haus waren. Tobias studierte bisher in Marburg Jura und stand kurz vor dem zweiten Staatsexamen, und wechselte jetzt doch noch nach Frankfurt, Annika hatte im Sommersemester ihr Lehramtsstudium in Heidelberg aufgenommen aber machte gerade ein Referen–dariat hier in Frankfurt.
Claudia bestand darauf, dass die Kinder an den Sonntagen zum Essen nach Hause kamen, zumindest an den meisten und Tobias und Annika taten ihr den Gefallen, zumindest meistens.
Karl verließ das Arbeitszimmer, stellte seine Bierflasche im Flur auf die Anrichte und ging in den Keller, wo es nach Heizöl, Waschmittel und Vergangenheit roch. Irgendwo zwischen der Weihnachtsdeko und der Campingausrüstung bewahrte Claudia den Teil ihrer Küchenutensilien auf, für die es oben in ihrer Küche keinen Platz gab, obwohl sich Karl hin und wieder bei der Frage ertappte, was sich dann in den immerhin sieben Küchenschränken befand, die zu der Einbauküche gehörten, auf der sie damals bestanden hatte.
Vor 25 Jahren, kurz nach Tobias‘ Geburt, hatten sie das Reihenhaus im Frankfurter Norden gekauft, damals noch erschwinglich, heute wäre es vermutlich unbezahlbar, denn die Immobilienpreise in der Region explodierten. Eigentlich war es für ihn und Claudia längst zu groß, doch wenigstens bot es so Raum genug, damit sie sich aus dem Weg gehen konnten.
Er griff nach einer der Salatschüsseln, die ordentlich aufgereiht in einem der Regale standen, zwischen dem Raclette und dem Fondue und ging wieder nach oben.
Claudia stand mit geröteten Wangen über den dampfenden Töpfen, während Annika an der Anrichte fleißig Salat schnippelte. Karl stellte die Salatschüssel ab und ging in das Wohnzimmer zu Tobias, der gerade durch die Sportkanäle zappte.
Karl setzte sich neben ihn. Eine Weile saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander und starrten auf den flimmernden Bildschirm, während sich die beiden Frauen in der Küche angeregt unterhielten.
Annika erzählte ihrer Mutter gerade mit aufgeregter Stimme von dem neuen Freund, den sie zu Beginn des Referendariats kennengelernt hatte. Markus befand sich bereits im letzten Semester und war wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein guter Fang offensichtlich.
»Er ist so klug, Mama, du musst mal hören, wie er über Geschichte spricht«, schwärmte Annika gerade.
Tobias schnalzte mit der Zunge und seine Mundwinkel zuckten. Er kannte das Gemüt seiner Schwester nur allzu gut. Annika verliebte sich schnell und häufig und immer war es dann »der Richtige«, davon konnte auch Karl ein Lied singen.
»Und, mein Junge, wie läuft es an der Uni?«, fragte Karl, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen.
Fast unmerklich zuckte Tobias zusammen und straffte sich.
»Ähm, gut, gut, ich lerne für das zweite Staatsexamen. Die Bib ist mein zweites Zuhause.«
Karl nickte anerkennend. Er hatte nie an einer Universität studiert, sondern nur neben der Arbeit an einer privaten Hochschule. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass aus seinem Sohn mal ein Rechtsanwalt oder sogar ein Richter werden würde.
»Und, was sind deine Pläne für danach?« Karl vermied es, seinen Sohn anzusehen. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie unangenehm ihm einst Gespräche dieser Art mit seinem eigenen Vater gewesen waren. Warum änderten sich manche Dinge eigentlich nie?
»Also, weißt du, ich habe mir überlegt, mich auf Umweltrecht zu spezialisieren«, sagte Tobias, die Augen fest auf den Fernseher fixiert.
Karl hob eine Augenbraue. »Umweltrecht? Ich dachte, du wolltest Firmenrecht machen.«
Tobias nickte langsam. »Ja, klar, das war eine Überlegung, schon wegen der Kohle und so. Aber weißt du, mir ist klargeworden, dass ich nicht mein Leben lang etwas nur wegen des Geldes machen möchte. Irgendwie brauche ich mehr als das. Eine Berufung oder so.«
»Verstehe«, brummte Karl, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er wirklich verstand. Die jungen Leute heute waren irgendwie ganz anders als er und Claudia damals.
Sie hatten sich damals danach gesehnt, einen Führerschein zu haben, ein Auto, bloß weg von zu Hause, auf eigenen Füßen zu stehen.
Tobias hingegen war nach dem Abitur erst einmal mit seinem Rucksack durch Südamerika gereist. Claudia war fast verrückt geworden vor Sorge. Immerhin war er danach brav sein Studium angetreten, doch einen Führerschein hatte er bis heute nicht.
Karl klopfte ihm auf das Knie. »Du wirst schon wissen, was du machst«, sagte er. Es sollte aufmunternd klingen, doch irgendwie verfehlte er den richtigen Tonfall.
»Karl!« Claudias Stimme klang eindeutig vorwurfsvoll.
Karl drehte sich um.
Claudia stand mit seiner geöffneten Bierflasche in der Hand in dem Durchgang zur Küche und schüttelte den Kopf.
»Jetzt habe ich einen Bierkranz auf der Anrichte im Flur.«
Karl verzog das Gesicht. Mist, das Bier hatte er vergessen, als er aus dem Flur zurückkam.
»Tut mir leid«, brummte er, stand auf und nahm die Flasche entgegen.
»Wir können essen«, sagte Claudia und es klang noch immer vorwurfsvoll.
Die Familie setzte sich an den Esstisch. Das Essen roch köstlich und schmeckte noch besser, was Karls Laune hob. Claudias Kochkünste waren unübertroffen, eine Eigenschaft, die er an ihr auch nach all den Jahren noch immer schätzte. Vielleicht lag es auch an dem Bier, das jetzt, nach der dritten Flasche, nun endlich eine kleine Wirkung zeigte.
Karl scherzte und lachte, die Stimmung wurde gelöst und ausgelassen. Familie war eben nicht nur eine Pflichtveranstaltung und die sonntäglichen Mittagessen hatten ja auch etwas für sich.
Sein Handy piepste und verriet ihm, dass er eine E-Mail bekommen hatte. Karl runzelte die Stirn.
»Ich muss mal kurz rüber ins Arbeitszimmer«, murmelte er.
Claudia verzog bedauernd den Mund. »Am Sonntag?«, fragte sie.
»Es ist nicht die Arbeit, es sind meine Aktien«, sagte Karl geheimnisvoll und stand auf. »Es hat köstlich geschmeckt, Schatz«, sagte er und gab Claudia einen Kuss auf die Wange, was sie leicht erröten ließ. Es kam nicht mehr oft vor, dass die beiden sich körperlich nahe waren.
Tobias blickte auf seine Uhr, dachte an seine Freunde. »Ich habe nicht mehr viel Zeit, mein Zug geht bald.«
»Ich kann dich mitnehmen, wenn ich fahre«, verkündete Annika, die keine Gelegenheit ausließ, ihren älteren Bruder damit aufzuziehen, dass er keinen Führerschein besaß.
»Das geht ganz schnell«, versicherte Karl und eilte in Richtung Treppe.
Im Arbeitszimmer angekommen schloss er die Tür und schaltete den Laptop ein. Er öffnete sein Mailprogramm und las die E-Mail erneut.
BETREFF: SCHWARZE ROSE
NACHRICHT: ICH WEISS VON IHRER SCHWARZEN ROSE IN MADRID. TRANSFERIEREN SIE BIS FREITAG 5 BITCOIN AN DIE UNTENSTEHENDE WALLET ADRESSE, SONST SENDE ICH FOTOS UND WEITERE BEWEISE AN IHRE FRAU UND IHRE KOLLEGEN.
Karl wurde blass, ihm wurde übel. Er schmeckte bittere Magensäure auf der Zunge und für einen Moment befürchtete er, dass er den gesamten Schmorbraten samt Beilage wieder ausspucken würde.
Das musste ein Scherz sein. Ein schrecklicher, geschmackloser Scherz. Das konnte nicht real sein. Das durfte nicht real sein. Er schluckte, doch der widerliche Geschmack wollte einfach nicht verschwinden.
Wieder und wieder las er die Zeilen vor sich auf dem Bildschirm, doch der Inhalt veränderte sich nicht.
Panisch klappte Karl den Laptop wieder zu, als könnte das die E-Mail und ihren furchtbaren Text verschwinden lassen. Als er aufstand, hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm schwankte. Unsicher machte er einige Schritte und musste sich dann an der Rückenlehne seines Stuhls festhalten.
Karl keuchte. Der Raum um ihn herum schien sich zu drehen. Er rang nach Atem. Sein Herz raste. Krampfhaft versuchte er, sich zu beruhigen. Keinesfalls durften Claudia oder die Kinder ihn so sehen, zumindest nicht, bevor er sich eine gute Erklärung ausgedacht hatte.
Er schloss die Augen und zählte in Gedanken bis zehn. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, doch langsam, ganz langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Er gewann die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper zurück.
Er richtete sich auf, atmete einige Male tief durch und ging zu den anderen hinunter in das Esszimmer.
»Und, bist du schon Millionär?«, scherzte Tobias, der gerade von seinem Stuhl aufstand und seinem Vater die Hand zum Abschied hinhielt.
Karl zwang sich zu einem Lächeln. »Noch nicht«, sagte er augenzwinkernd und ergriff seine Hand.
Annika stand im Flur und zog sich gerade ihre Jacke an.
»Wir müssen jetzt los«, sagte sie und umarmte ihre Mutter zum Abschied. »Es war super lecker, Mama, wie immer. Ich freue mich schon auf das nächste Mal.« Sie küsste ihre Mutter auf beide Wangen, dann umarmte sie ihren Vater.
Der Geruch von Maiglöckchen stieg Karl in die Nase. So hatte die Kleine schon immer gerochen, unschuldig und süß. Er atmete tief ein. Für einen Moment gelang es ihm, den Riss, der durch seine Welt lief, zu vergessen.
Durch das Fenster beobachteten sie, wie die Kinder in das Auto stiegen und davonfuhren. Draußen war es längst dunkel.
Claudia seufzte tief und rieb sich über die Oberarme. »Sie sind so schnell groß geworden«, sagte sie und Wehmut lag in ihrer Stimme. »Ich werde dann mal die Küche aufräumen.«
Annika drückte auf den Knopf am Autoschlüssel und hörte das deutliche Klacken der Zentralverriegelung. Es war inzwischen dunkel geworden und es regnete leicht. Es war kalt.
»Hoffentlich kein Glatteis«, dachte sie und ging zu ihrem kleinen BMW an der Straßenecke. Tobias folgte ihr und checkte auf dem Handy seine WhatsApp Nachrichten. Annika schaute sich um und dachte sich, dass er aussah wie ein Geist, so im Dunkeln mit dem Licht vom Handydisplay im Gesicht. Fahl und blass. Sie machte sich Sorgen um ihren Bruder. Seit er aus den Semesterferien aus Argentinien zurück war, kam er mit dem Studium nicht weiter und hing mehr mit seinen Freunden ab, als sich auf das Studium zu konzentrieren.
Annika ließ sich auf den Fahrersitz fallen und startete den Wagen. Man hörte nichts als das leise Surren des I3. »Die Akkus sind noch fast voll, also kein Problem für die Fahrten in der kommenden Woche«, die sich öffnende Beifahrertür riss sie aus den Gedanken, Tobias ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sich an. »Das wird immer schlimmer.«
Annika antwortete nicht. Sie konzentrierte sich auf die Welt draußen und schaltete die Scheibenwischer ein. Knapp über Null Grad dachte sie und fuhr hinter einem Lkw auf die Auffahrt Richtung City. »Was meinst Du?«
Tobias blickt von seinem Handydisplay auf und murmelt »So spießig die beiden, immer diese Fragen von Papa.«
Annika reihte sich in den Verkehr auf der Autobahn ein und antwortete dann »So sind sie eben. Nichts Neues.«
»Doch, es ist anders als früher. Seit Papa in der neuen Bank arbeitet, benimmt er sich anders, so als hätte er ein Geheimnis. Das mit den Cryptowährungen nimmt ihn total ein. Hast Du gemerkt wie verändert er war, als er aus dem Arbeitszimmer zurückkam? Total krass.«
Annika blieb in der rechten Spur und hielt Abstand. Es war inzwischen ganz dunkel geworden und das Eissymbol im Display des I3 zeigte an, dass es glatt sein konnte. Die Scheibenwischer gingen monoton hin und her und der Gegenverkehr blendete sie immer wieder.
»Total krass«, dachte sie »was soll das denn heißen?« aber sagte zu Tobias »Ja gut, seit er die neue Bank leitet und sich um die Zahlen kümmert und nicht mehr um die Kunden, ist er eben in seiner Welt. Ich verstehe sowieso nicht, warum man ein ganzes Berufsleben etwas macht, dass man nicht will. Mutti hat mir erzählt er wollte immer schon mit Zahlen arbeiten und ist deshalb zur Bank. Aber dann sind eben wir gekommen und er hat viele Kompromisse machen müssen, sagt sie, also wegen der Familie und so. Jetzt kann er aber etwas ganz Neues aufbauen, etwas das ihm Spaß macht. Zahlen, Mathematik und Crypto. Na gut, Blockchain und Hashtags, das ist jetzt seine Welt. Da fühlt er sich wohl. Mutti gefällt es auch, sie sagt er sei viel lockerer als früher.«
Tobias hatte sein Handy eingesteckt und blickte in die nasse Dunkelheit draußen. Nur noch ein paar Minuten bis zu seiner Wohnung. »In der WG werden sie wieder lachen, weil ich sonntags wieder bei den Eltern war. Die verstehen das nicht«, ging es ihm durch den Kopf. Seit gut einem halben Jahr wohnte er jetzt in der Dreier WG. »Zwei Männer und eine Frau, Nara, gut dass die auf Frauen steht, sonst gäbe das garantiert Stress, so scharf wie die aussieht. Aber irgendwie klappte es gut zu dritt, bisher gab es nur mal Streit um Geld wegen der Miete«, überlegte er halblaut. Alle drei studierten in Frankfurt, das klappte nur mit Job neben dem Studium. Aber der Streit damals war nur kurz, dann war wieder klare Luft. Er mochte Nara, sie dachte in vielen Dingen genau wie er. Eben überhaupt nicht zickig, eher wie ein Mann.
Nur mit einem halben Ohr hörte er Annika zu, während er laut an Nara dachte. »Ja, habe ich auch gedacht, aber jetzt denke ich, da ist noch etwas anderes. Papa ist so oft unterwegs, das war früher nicht so, da war er immer im Büro. Jetzt ist er so oft auf Reisen. Das verändert ihn auch.«
Annika bog in die Straße am Mainufer ein und suchte nach einem Platz, um Tobias aussteigen zu lassen. Direkt vor dem Haus, in dem Tobias wohnte, fand sie eine Lücke und hielt den Wagen an. In der Wohnung von Tobias` WG brannte Licht und sie konnte Nara sehen, wie sie in der Küche stand und aus dem Fenster blickte, das Fenster war geöffnet und Nara rauchte eine Zigarette. Annika blickte zum Fenster und sah, dass Nara sie erkannt hatte. Sie winkte kurz und Nara winkte zurück. Die Glut der Zigarette leuchtete kurz heller als vorher.
Tobias öffnete die Türe und stieg aus. »Danke fürs herfahren, und bis Sonntag. Wir telefonieren. Hasta luego!«
Annika schaute weiter zu Nara hin und antwortete kurz »Gern geschehen, big brother. Wir telefonieren. Adios!«
Tobias ging durch den leichten Nieselregen zum Haus und verschwand im Hausflur hinter der schweren Holztüre.
Eigentlich wollte Annika schon längst wieder losgefahren sein, aber sie blickte weiter zu Nara zum Fenster. Nara zog an der Zigarette und der leichte rote Schein der Glut beleuchtete kurz ihr Gesicht. Annika konnte sehen, dass sie zu ihr hinschaute und merkte, dass die Innenbeleuchtung gerade erst ausgegangen war. Sie sah wie Nara den Rauch langsam wieder ausatmete. In ihre Richtung. Sie schien den Blick nicht abzuwenden. Der Rauch ließ Naras Gesicht undeutlich werden, aber Annika wollte auch ihren Blick nicht abwenden. Sie hatte Nara nur einmal kurz im Sommer in der WG bei der Welcome-Party von Tobias getroffen und erfahren, dass sie Südamerikanerin war und in Frankfurt studierte.
Es waren damals nur ein paar Worte gewesen, die sie mit ihr gesprochen hatte, aber Naras leichter Akzent hatte sie in ihren Bann gezogen. Dazu dieses Lächeln dieser Frau. Das Blitzen in ihren Augen, wenn sich ihre Blicke getroffen hatten. Und dieses kleine Tattoo auf ihrer Schulter, eine kleine Rose, ziemlich unscheinbar aber doch eingebrannt in Annikas Gedächtnis. Immer wieder dachte sie zurück an diese erste Begegnung, aber hatte doch nie den Mut gefunden, das Gespräch fortzusetzen. Sie dachte zurück an die Begegnung und erinnerte sich, dass Nara damals nichts unter dem hellen Tanktop anhatte und ihre festen Brüste sich unter dem dünnen Stoff deutlich abzeichneten. Bei diesen Gedanken an Naras Tattoo, ihr Tanktop auf der Party und Naras Blicken auf ihren Körper machte sich ein wohliges Gefühl in ihrem Bauch bemerkbar und stieg langsam höher bis sie es in ihrer Brust spüren konnte. »Dabei wäre es so einfach, schließlich wohnt mein Bruder in der WG«, hörte sie sich selbst sagen und löste dann doch den Blick von Nara.
Sie fuhr langsam los und dann dauerte es nur wenige Minuten bis zu ihrer Wohnung. Annika wusste, dass dort niemand auf sie wartete, nur die kleine gemütliche Wohnung, und das große leere Bett. »Aber vielleicht gab es ja eine Nachricht von Markus«, murmelte sie auf dem Weg zur Haustüre, »warum hat er eigentlich kein Handy? Diese Ablehnung von Technik war schon eigenartig, immer nur Festnetz und Anrufbeantworter, nie eine WhatsApp, ich werde ihn mal fragen.« Annika ging die Stufen hinauf und öffnete die Türe zu ihrer leeren Wohnung.
In der Vorstadt verging der Rest des Abends in gemeinsamer Stille mit einem weiteren Bier und einer Tierdokumentation im Fernsehen. Erst als Karl später neben Claudia im Bett lag und ihren langsamen, gleichmäßigen Atemzügen lauschte, fiel ihm die E-Mail wieder ein und er lag plötzlich wieder hellwach in der Dunkelheit.
Seine Gedanken flogen zurück zu einem Tag im Herbst vor zwei Jahren, jenem Tag, an dem alles angefangen hatte, an dem er wieder zu leben begonnen hatte.
Dortmund, September 1990
Als er aufwachte spürte er sofort, dass es wieder passiert war. Wieder einmal hatte er diese Träume voller Angst gehabt und war nachts nicht aufgestanden, sondern liegengeblieben und nun waren der Schlafanzug und die Bettwäsche vollkommen durchnässt.
Peter begann zu weinen, weil er wusste was passieren würde. Sein Vater würde ihn verachtend anschreien und seine Mutter nur traurig wegsehen. Die Tränen liefen über seine Wangen als er noch in dem nassen Schlafanzug in die Küche zu seiner Mutter lief. Sie blickt ihn nur stumm an und fing auch an zu weinen.
»Sofort in den Keller! Du Null, du Flasche, Du vollkommener Versager!«, schrie sein Vater, der vom Küchentisch aufgestanden war und langsam den Ledergürtel aus den Laschen seiner schweren Arbeitshose zog. Peter spürte, dass es heute schlimmer werden würde als sonst, denn er konnte den üblen Alkoholgeruch im Atem seines Vaters riechen. Immer, wenn sein Vater schon morgens getrunken hatte, schlug er ihn und auch seine Mutter.
Wieder und wieder klatschte der Ledergürtel auf Peters nackten Rücken, »Ich werde nicht schreien, ich werde nicht schreien, ich werde nicht schreien«, presste Peter wimmernd durch seine geschlossenen Lippen, während sein Vater über ihm stand und mit dem Gürtel auf seinen Sohn einschlug.
Peter spürte den beißenden Schmerz eines jeden Treffers auf seinem Körper und mehr Tränen liefen über sein Gesicht.
»Ich werde nicht schreien! Nie wieder!«, schrie es jetzt in seinem Inneren, und plötzlich spürte er wie etwas in seinem Inneren zerbrach, Peter spürte den Schmerz nicht mehr. Er hörte nur noch das Klatschen des Riemens auf seiner Haut, aber es war nicht sein Körper, der davon getroffen wurde. Peter M. verlor das Bewusstsein und sackte in sich zusammen auf den kalten Kellerboden.
Madrid, Oktober 2018
Gleißend hell flirrte das Sonnenlicht über dem bunten Mosaikfußboden der Hotellobby, die sich unter einem hohen, gewölbten Glasdach befand.
Obwohl es bereits später Oktober war, waren die Temperaturen hier noch immer angenehm. Karl trug ein Polohemd, ein feiner Schweißfilm lag trotz der allgegenwärtigen Klimaanlagen in seinem Hotelzimmer und in den Konferenzräumen auf seiner Haut, doch er fühlte sich angenehm leicht, irgendwie unbeschwert.
Lag es an den Themen der Konferenz? Fünf Tage lang ging es um nichts anderes als Cryptowährungen und das Potenzial mit ihnen Geld zu verdienen. Experten aus aller Welt kamen hier in Madrid zusammen, um über Trend, Entwicklungen und Nutzungsmöglichkeiten zu fachsimpeln und obwohl Karl noch ziemlich neu in dem Thema war, fühlte er sich in diesem Bereich schon jetzt zu Hause.
Er ging zu der Hotelbar, bestellte sich ein Tonic Water und trank es mit großen Zügen. Während er sich umsah, bemerkte er die Frau, die mitten im Raum, da, wo die Sonne am hellsten schien, vor einer Leinwand saß.
Sie schien völlig versunken in ihr Tun. Alles an ihr war fließend, ihre langen, schwarzen Haare, die sich in sanften Wellen ihren Rücken entlangschlängelten, ihre weiten, bunten Kleider, die ihrem zierlichen, weiblichen Körper schmeichelten, ihre feinen, eleganten Bewegungen, mit denen sie den Pinsel über die Leinwand führte.
Fasziniert beobachtete Karl sie. Da sie mit dem Rücken zu ihm saß, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen und es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen.
Auf der Leinwand waren viele kräftige Pinselstriche zu sehen, einige in leuchtendem, dunklem Blau, andere in Grün und in Schwarz, dazwischen Rot.
»Wer ist das?«, fragte er den Barkeeper, ein glatzköpfiger Mann Anfang 20, der gerade ein Glas polierte.
»Das ist Rosa«, sagte er mit starkem Akzent. »Sie kommt hierher, um zu malen. Sie sagt, an keinem Ort in Madrid ist das Licht so perfekt wie in der Lobby. Die Gäste mögen es, ihr zuzusehen, sie wird sogar in einem Reiseführer erwähnt.«
Karl beobachtete die zierliche Frau weiter. Etwas an ihr zog ihn in ihren Bann. War es die Art, wie sie malte? So als gäbe es nichts Anderes auf der Welt um sie herum, kein Hotel, keine Gäste, niemand, der sie beobachtete?
»Was malt sie da?«, fragte er, mehr zu sich selbst als zu dem Barkeeper.
Der Barkeeper lachte. »Das müssen Sie sie selbst fragen. Das weiß nur Rosa allein.«
Vorsichtig trat Karl näher.
Die Schultern der Frau verharrten kaum merklich für einen Augenblick in der Bewegung, als sie seine Nähe registrierte, doch sie drehte sich nicht zu ihm um. Sie malte einfach weiter, so als existierte der Rest der Welt gar nicht.
Schließlich hielt Karl es nicht länger aus.
»Was ist das, was Sie da malen?«, fragte er auf Englisch.
Die Frau hielt mitten in der Bewegung inne, der Pinsel in der Luft, den Blick weiter gerade aus.
»Ein Abgrund«, sagte sie.
Das war nicht die Antwort, mit der Karl gerechnet hatte, und erst überlegte er, ob er sich verhört hatte.
Langsam, mit einer katzengleich geschmeidigen Bewegung, drehte sich die Frau zu ihm um.
Karl blickte gebannt in ein schmal geschnittenes Gesicht mit großen Augen, in denen ein dunkles Feuer brannte, eine fein geschwungene Nase über vollen Lippen mit einem eigensinnigen Kinn. Sie war jung, aber nicht zu jung. Er schätzte sie auf Mitte 30.
»Was für ein Abgrund?«, wollte er wissen.
»Den Abgrund, den Nietzsche meinte«, sagte sie mit sanfter Stimme und einem hinreißenden spanischen Akzent. »Den Abgrund, der in jedem von uns lauert und der uns zu jeder Zeit verschlingen kann.«
Karl schluckte. Etwas an ihren Worten beunruhigte und faszinierte ihn zugleich.
»Ich bin Karl«, stieß er hervor.
Der Blick ihrer schwarzen Augen bohrte sich in ihn hinein, mitten in seine Seele.
»Was ist dein Abgrund?«, fragte sie.
Karls Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet. Er überlegte, ob er zur Theke zurückkehren und sich noch ein Tonic Water bestellen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Er wollte die Konversation nicht abbrechen, nicht bevor er ihren Namen kannte, ihren ganzen Namen. Eigentlich wollte er alles über sie wissen.
»Wie ist dein Name?«, wollte er wissen.
»Ich bin Rosa«, sagte sie. »Rosa Negra.«
»Die schwarze Rose?«
»Genau die.«
Mit diesen Worten wandte sie sich wieder ihrer Leinwand zu und malte weiter, mit energischen, beinahe wütenden Pinselstrichen trug sie Strich um Strich immer neue Farbe auf. Karls Anwesenheit schien sie schon wieder vergessen zu haben.
Nach dieser Begegnung fand sich Karl an allen folgenden Tagen zur Mittagszeit in der Lobby ein, um Rosa zu beobachten. Meistens registrierte sie ihn kaum, hin und wieder schenkte sie ihm einen kurzen Blich oder ein Lächeln, indem sie die Mundwinkel ein wenig hob. Selten konnte er lange genug bleiben, um zu sehen, wie sie eines ihrer Bilder fertigstellte.
Schließlich wurde es Donnerstag. Am nächsten Tag, am Nachmittag, ging sein Flug zurück nach Frankfurt. Der Gedanke daran war für Karl unerträglich. Er wollte Rosa nicht verlieren. Er musste einen Weg finden, sie wiederzusehen. Und so nahm er all seinen Mut zusammen und ging zu ihr.
»Ich möchte eines deiner Bilder kaufen«, sagte er.
Rosa ließ den Pinsel sinken. Dunkelrote Farbe in dem Ton getrockneten Bluts tropfe herunter auf die Farbpalette, die sie in der linken Hand hielt.
Erstaunt sah sie ihn an. Dann zog ein spöttischer Ausdruck auf ihr Gesicht.
»Ist das so? Welches meiner Werke möchtest du denn erwerben?«
Karl hüstelte. Über diesen Teil seines Plans hatte er sich noch keine Gedanken gemacht.
»Irgendeins«, sagte er.
Rosa hob eine Augenbraue. »Nun, dann schlage ich vor, dass du heute Abend in mein Atelier kommst und dir eines aussuchst.«
Sie trug ein übergroßes Männerhemd in Dunkelgrün, das sie an der Taille mit einem breiten Ledergürtel zusammengebunden hatte, in dem sie absolut hinreißend aussah. Sie griff in die Brusttasche und zog eine Karte hervor.
Darauf stand: Rosa Negra, Artista und eine Adresse in La Letras, dem Künstlerviertel der Stadt.
»Ich bin ab acht Uhr zu Hause«, sagte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Das große Hemd verrutschte leicht und Karl konnte die kleine Tätowierung auf ihrer Schulter sehen. Eine kleine schwarze Rose.
Für einen Moment stand Karl da, unfähig sich zu bewegen, so als hätte er gerade den Schlüssel zu einem anderen Universum erhalten, dann berappelte er sich und drehte sich mit der Karte in der Hand um.
Langsam ging er aus der Lobby Richtung Aufzug und fuhr hinauf in den vierten Stock. Dort lag sein Zimmer und das fand er inzwischen nach einer Woche im Hotel fast im Schlaf.
Vor der Türe oben angekommen blickte er wieder auf die Karte, die er immer noch in der Hand hielt. Es stand Rosa Negra darauf und die Adresse in La Letras, eine unscheinbare Karte, ohne viel Kunst oder Verzierungen. »Nicht wirklich eine Künstlerkarte«, dachte er und öffnete die Zimmertüre. Er ging hinein und legte die Karte auf den kleinen Tisch am Spiegel.
Die Türe schlug hörbar hinter ihm zu. Er legte das Sakko ab und hängte es auf den Bügel, zog die Schuhe aus und legte sich auf das Bett, um ein paar Minuten zu relaxen. Das hatte er in den letzten Jahren gelernt, sein früherer Chef hatte es ihm erklärt und es »power napping« genannt. Mit etwas Übung schaffte Karl es so für wenige Minuten alles um sich herum zu vergessen und neue Kraft zu finden. In den letzten Monaten hatte er das oft gebraucht, der Wechsel in die neue Aufgabe hatte ihn mitgenommen, er fühlte, dass er Urlaub brauchte. Da war eine Erschöpfung, die er so nicht kannte. Aber auch eine Energie, die ihn antrieb, Neues kennenzulernen. Karl fühlte sich verwundbar, wenn er nicht die volle Kontrolle über die jeweilige Situation hatte.
»Kontrollverlust, so ein blödes Wort«, dachte er und schloss die Vorhänge. Die Sonne drang dennoch hindurch und es wurde nur ein wenig dunkler im Raum.
Es waren noch ein paar Stunden bis zu dem Treffen mit Rosa, und er fühlte sich aufgeregt, wie ein kleiner Junge. Karl schloss die Augen, aber konnte nicht abschalten. Der Blick dieser schwarzen Augen war so intensiv gewesen und mit so viel Macht auf ihn eingedrungen, dass er ihr Gesicht noch immer vor sich sah. »Was macht sie mit mir«, dachte er und setzte sich wieder auf. Er nahm die Karte vom Tisch wieder zur Hand und roch daran. Ihm war in diesem Augenblick nicht klar, was genau passierte, aber er wollte die Karte nicht nur sehen, sondern sie auch fühlen und sie riechen. Sie roch leicht nach Rosen und nach noch einer anderen, viel schwereren Sache, »vielleicht Erde oder das Öl der Farben«, dachte er und schloss die Augen.
»Nein, es ist etwas Anderes«, ging es ihm durch den Kopf und behielt die Karte in seiner Hand während er sich wieder auf die Tagesdecke sinken ließ. Er hielt die Karte gegen das Licht und sah in der Ecke der Karte ein kleines, schwarzes Symbol. Karl konnte es in dem schwachen Licht im Raum nicht genau erkennen und dachte, »klar, das ist eine Rose«.
Ohne zu ahnen, wie sehr er sich hier irrte, steckte er die Karte in die Brusttasche seines Hemdes.
Nach einigen Minuten ohne wirklich Ruhe gefunden zu haben, stand Karl auf und ging ins Badezimmer, duschte und machte sich frisch für den Abend mit Rosa.
»Schon lange her«, ging es ihm durch den Kopf als er sich rasierte, »dass Du ein Date hattest. Ist das denn ein Date?« Sein Spiegelbild antwortete nicht. Er zog sich leger an und ging zum Telefon am Schreibtisch und rief die Rezeption an, um ein Taxi für 19:30 Uhr zu bestellen.
»Es ist jetzt doch noch Zeit an die Hotelbar zu gehen und einen Drink zu nehmen, bevor das Taxi kommt. Und ein Glas Wein kann nicht schaden«, sagte er halblaut zu sich selbst und auch das Spiegelbild im Flur widersprach ihm nicht als er einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel warf, bevor er die Hotelzimmertüre öffnete und hinausging.
Punkt acht Uhr fuhr das Taxi an der angegebenen Adresse vor. Karl hatte nichts dem Zufall überlassen. Er trug Jeans und ein Button-Up Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. Er hatte das neue After-Shave aufgelegt, dass Annika ihm zu Weihnachten geschenkt hatte und von dem Claudia behauptet hatte, es sei viel zu süß für einen Mann in seinem Alter. Aber was wusste Claudia schon?
Das Gebäude erschien ihm wie eine ehemalige Fabrik. Eine Klingel gab es nicht, die Tür unten stand offen.
Karl ging die breiten Treppenstufen nach oben. Es roch nach scharfem Essen und nach Farben, und nach etwas Anderem, das er nicht benennen konnte, ein intensiver, aufregender Geruch, der seine Haut zum Kribbeln brachte. Sein Herzschlag beschleu–nigte sich unmerklich.
Als er oben ankam, stand Rosa in der Tür. Sie trug einen Kimono und hatte das lange schwarze Haar hochgesteckt, so dass sie aussah wie eine Geisha.
»Bienvenido Carlos!«, sagte sie.
Als er hörte, wie sie seinen Namen hauchte, setzte Karls Herz für einige Schläge aus. Er wusste in diesem Augenblick, er war verloren, doch er wehrte sich nicht. Wenn dies sein Abgrund war, dann war er bereit, sich verschlingen zu lassen, mit Haut und Haaren. Wann er diese Entscheidung getroffen hatte, wusste er nicht, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr.
Rosa bewohnte die gesamte Etage, weit mehr als 200 Quadratmeter, wobei »bewohnte« das falsche Wort war. Überall sah er Leinwände und Skulpturen, Farben, Werkzeuge, auch Möbel, Schneiderpuppen und andere Gegenstände, die er nicht benennen konnte. Große Fenster ließen die warmen Strahlen der abendlichen Sonne in den Raum und tauchten ihn in ein angenehm warmes Licht. Alles war bunt, kreativ, ein wildes Chaos, in dem dennoch eine Art von Ordnung herrschte.
Claudia würde hier den Verstand verlieren, dachte Karl und verwarf den Gedanken an Claudia sofort wieder, doch ihn elektrisierte dieser Ort, dieser Moment. Von diesem Ort ging eine unmittelbare erotische Spannung aus, die Karl auf der Haut und in seinem ganzen Körper spürte.
»Möchtest du Wein?«, fragte Rosa.
Karl nickte.
Sie ging zu der dunklen Kommode gegenüber den riesigen Fenstern und schenkte ihm ein Glas Vino Verde ein, leicht, köstlich und kalt. Karl nahm einen kleinen Schluck und hatte sofort das Gefühl, von diesem einen Schluck betrunken zu werden, oder lag das an ihrer Anwesenheit?
»Komm, ich zeige dir meine Werke«, sagte sie.
Mit wiegenden Schritten ging sie vor ihm her und er folgte ihr, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen.
Sie zeigte ihm verschiedene Bilder, einige auf übergroßen Leinwänden, immer mit kräftigen Farben, stets ein wenig düster.
»Was ist das hier?«, wollte er wissen.
Er stand vor einer 2 x 2 Meter großen Leinwand, die ganz und gar in Blau- und Schwarztönen bestrichen war.
»Das ist der Leviathan«, sagte sie.
»Der was?«
»Der Leviathan. Ein Seeungeheuer. Es lauerte in den Tiefen des Ozeans, bereit, während eines Sturms aufzutauchen und ein Schiff samt seiner Mannschaft zu verschlingen«, erklärte Rosa. »Thomas Hobbes gebrauchte den Begriff, um einen mächtigen Staat zu beschreiben, der den chaotischen Naturzustand des Menschen zähmt, der uns alle in den Untergang stürzen würde.«
»Aha«, sagte Karl und blickte auf das Bild.
Rosa lächelte. Sie schien amüsiert.
»Die See steht für das mächtige Unterbewusstsein, jener Ort, an dem alle unsere Erinnerungen und Erfahrungen gespeichert sind, auch jene, die wir kollektiv als Menschheit besitzen, all das Grauen und das Schreckliche, das wir als Mensch versuchen zu verdrängen und am liebsten gar nicht wissen oder haben wollen, auch unsere Triebe, unsere Lust, die Sexualität.«
Die Art und Weise, wie sie diese Worte aussprach, jagte Karl einen Schauer über den Rücken. Ein Beben lief durch seinen Körper und er hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
»Der Leviathan erhebt sich als Botschafter dieses Unterbewusstseins, als Personifizierung all dieses Verdrängten und bricht an die Oberfläche«, sagte sie und ging weiter.
Karl betrachtete das Bild noch einen Moment, dann folgte er ihr.
Das nächste Bild war ganz und gar in Schwarz gemalt, schwarze zerrissene Striche, die Formen bildeten, die Menschen anzudeuten schienen, Menschen, die irgendwie bedrohlich wirkten. Das Bild hatte eine unangenehme Ausstrahlung.
»Dieses Bild kann ich nicht verkaufen«, erklärte Rosa. »Es hat eine besondere Bedeutung für mich. Es sind die Schatten meiner Vergangenheit, all die Männer, die ich geliebt habe, und die mich verletzten. Ich habe sie in diesem Bild eingesperrt, damit sie mir nie wieder weh tun können.«
Karl betrachtete das Bild. Die Vorstellung in einem Bild von Rosa »eingesperrt« zu werden, war mehr als unangenehm, bereitete ihm ein fast körperliches Unbehagen, auch wenn er für solche Dinge sonst nicht sehr empfänglich war.
»So ist das mit meiner Kunst. Ich übergebe ihr alles, was in mir ist, was mich bewegt, beunruhigt, verletzt, aufregt. Das verleiht ihr ihre Kraft. Ihre Magie.« Sie sah Karl direkt in die Augen, ihr Blick schien zu lodern. Für einige Sekunden stand die Zeit still, die Welt um ihn herum schien zu verschwinden.
Es gab nur noch sie und ihn, doch dann unterbrach sie die Verbindung und ging weiter.
Rosa stand nun vor einem anderen Bild, ebenfalls groß, aber in leuchtendem Rot und blassem Rosa gemalt, die sich wirbelnd ineinander drehten.
»Worum geht es in diesem Bild?«, wollte er wissen.
»Die Befreiung meiner Kundalini«, erklärte Rosa.
Karl blickte sie fragend an.
Rosa legte ihre linke Hand auf ihren Körper oberhalb ihres Venushügels und berührte mit der Außenseite ihrer rechten Hand leicht Karls Unterarm. »Ich habe mein Wurzelchakra von all den Verletzungen des Patriarchats und der Vergangenheit geheilt und gereinigt und meine weibliche Urkraft befreit. Ich bin seitdem eine ganze Frau.« Sie sah ihm direkt in die Augen.
Karl verschluckte sich und hustete.
Rosa lächelte.
»Dieses Bild möchte ich kaufen«, sagte Karl hastig.
Rosa schien überrascht. »Bist du sicher?«
»Ja.«
»Es ist teuer.«
»Ist mir egal.«
»Es ist groß. Es nach Deutschland zu verschicken, wird teuer.«
»Macht nichts.«
»In Ordnung.«
Rosa stellte ihr Weinglas auf die Marmorplatte des kleinen Tisches neben der Staffelei, ein durchdringender, klarer Laut.
Langsam ging sie auf Karl zu, streckte die Arme aus und griff nach dem Kragen seines Hemdes.
Sie so nahe zu spüren, überwältigte Karl beinahe. Sein Atem ging schwer. Erregung jagte durch seinen Körper wie eine ungekannte Macht. Rosa duftete verführerisch, weiblich und animalisch zugleich, fremd und vertraut.
Ihre Lippen öffneten sich. »Ich weiß, warum du hier bist«, sagte sie und ihre Stimme war rau, aufregend und ein wenig bedrohlich.
Karl spürte ihre Lippen auf seinen Lippen und wie sich ihre Arme ganz leicht auf seine Schultern legten. Einige Augenblicke später vergaß Karl alles um sich herum und was ihn dorthin gebracht hatte.
Während draußen vor den Fenstern des alten Fabrikgebäudes, ein lautes Gewitter ausbrach, zog Rosa Karl zu ihrem Futon, der sich mitten im Raum befand, streifte ihren Kimono ab und dann liebten sie sich, verzweifelt, leidenschaftlich und wahrhaftig. Blitze, Donner und Sturm begleiteten die nächsten Stunden einer tiefen Hingabe wie Karl sie noch nie erlebt hatte.
»Was ist das?«, fragte Claudia rund vier Wochen später entsetzt, als die Spedition das Bild lieferte.
»Ich hänge es in mein Arbeitszimmer.«
»Seit wann interessierst du dich denn für Kunst?«, wollte Claudia wissen.
»Ich habe es in Madrid gekauft. Madrid ist eine Künstlerstadt.«
»Aber … es ist so groß.«
»Es ist perfekt«, sagte Karl und spürte, wie die Erinnerung an dieses Beben durch seinen Körper fuhr, das er in jener Gewitternacht in Madrid gefühlt hatte.