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3. Szene

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Zuerst dachte er, dass das Objekt vor ihm eine Fata Morgana sei. Aber es flimmerte nicht, und es wurde größer, als sich sein Auto näherte, also war es definitiv echt.

Es war eine zweistöckige Villa aus glänzend weißem Stein mit Fensterreihen in jeder Etage, die die frühnachmittägliche Sonne reflektierten. Der Haupteingang wurde von einem Überbau beschattet, der von einer Reihe strahlend weißer Marmorsäulen getragen wurde, und vor dem Haus war ein rechteckiger Fleck grünen Rasens, der sich stark von der öden Wüste rundherum abhob.

Er war schon früher einmal auf dieser Straße gefahren und konnte sich nicht erinnern, dass er etwas wie das hier gesehen hatte. Das war allerdings vor ein paar Jahren gewesen, und alles Mögliche hatte in der Zwischenzeit passieren können.

Die Autobahn führte vor dem Haus entlang, aber etwa dreißig Meter entfernt. Das Land rundherum war völlig flach und entbehrte jeglicher interessanter Dinge abgesehen von ein wenig Gestrüpp und ein paar einsamen Kakteen hier und da. Selbst die Berge, die in Kalifornien immer gegenwärtig waren, waren nur ein blauer Schmutzfleck am entfernten Horizont.

Er war zu sehr von seinem eigenen Leid eingenommen, als dass er der Villa mehr als nur eine kurze neugierige Aufmerksamkeit widmen hätte können. Seine Depression war eine schwarze Wolke, die alle anderen Anliegen überschattete, also ignorierte er die Villa und fuhr weiter.

Oder zumindest wollte er das. Ohne Vorwarnung begann sein Motor plötzlich zu spucken und starb ab, und der alte Corolla rollte langsam aus und hielt beinahe direkt vor der Einfahrt zu der Villa. Wenigstens schaffte er es noch, den Wagen von der Straße zu lenken, sodass er keinen Unfall verursachen konnte, sollte hier noch ein anderes Auto vorbeifahren. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr groß gewesen wäre.

Die Tankanzeige zeigte, dass der Tank halb voll war. Er versuchte ein paar Mal wieder zu starten, aber erhielt nur ein trostloses, surrendes Geräusch als Antwort. „Verdammt!“, schrie er die unbeugsame Maschine an und schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad. „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt! Wieso ich? Wieso jetzt? Ich wusste, ich hätte dieser Schrottkiste eine solche Reise nicht zumuten sollen.“

Er sah angewidert auf den Stapel Papiere von der Versicherungsfirma auf dem Beifahrersitz unter der Tüte mit den Kleidern, dann stieg er aus und warf wütend die Tür hinter sich zu. Er öffnete die Motorhaube um den Motor anzustarren. Es war ein zweckloses Unternehmen – er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte, und schon gar nicht, wie er es reparieren könnte.

Ungeduldig sah er auf seine Uhr. Zwölf Uhr fünfunddreißig. Die Temperatur war bestimmt schon über fünfunddreißig Grad und würde am Nachmittag noch auf die vierzig zugehen. Es regte sich kein Lüftchen. Er würde etwas unternehmen müssen, wenn er die Farm vor Einbruch der Nacht erreichen wollte.

Er griff in seine Hosentasche und zog sein Handy heraus. Das half ihm allerdings auch nichts – das Display zeigte keinen Empfang. Wer würde schließlich schon einen Sendeturm hier draußen für Hasen und Präriewölfe aufstellen? Er warf das Handy so weit er konnte in die Wüste. „Bin ich dich los!“, rief er ihm nach. „Was bringst du mir schon? Was bringt überhaupt irgendwas?“ Er trat das Auto frustriert und zitterte von einem schwer unterdrückten Schluchzen. „Was bringt denn alles noch?“

Was er tun wollte war, zurück ins Auto zu steigen. Auf den Rücksitz. Und sich dort heulend in kleines Häufchen Elend zusammenrollen. Vielleicht sogar Daumen lutschen. Das ganze Universum sollte ihn einfach nur in Ruhe lassen. Das wäre wahrscheinlich noch besser als das, was es in letzter Zeit mit ihm getan hatte.

Er hob seinen Blick und sah das Haus wieder. Nun, zumindest konnte er fragen, ob er von dort aus telefonieren konnte, um die Pannenhilfe zu rufen. Natürlich, so wie ihm das Glück gewogen war, würde niemand zu Hause sein.

Er sah an sich selbst herunter. Obwohl er Wasser über sich gegossen hatte, waren seine Kleider schon wieder staubtrocken in der Wüstenhitze. Er fuhr mit den Fingern ein paar Mal durch sein Haar, als Ersatz für einen Kamm. Dann begann er, die Einfahrt hinauf zu marschieren und war froh, dass es nicht eine dunkle, stürmische Nacht war; dann hätte er vielleicht erwarten können, in das Versteck von Dracula oder Frank N. Furter oder sonst eines Bösewichts zu gehen.

Er war so sehr in die schwarze Wolke seiner Gedanken versunken, dass er schon mehr als die Hälfte der Einfahrt hinter sich gelassen hatte, ehe er den Schneemann sah, der auf dem Rasen neben dem Hauseingang stand. Es musste eine dieser Plastik-Weihnachtsdekorationen sein, überlegte er. Jemand hatte einen komischen Sinn für Humor, dass er ihn im Juli draußen stehen ließ. Entweder das, oder er war einfach zu faul ihn wegzuräumen.

Als er sich allerdings näherte, sah er immer wirklicher aus. Es war ein Standard-Schneemann aus drei Schneekugeln, wobei die unterste einen Meter Durchmesser hatte, die mittlere siebzig Zentimeter und die oberste vierzig Zentimeter. Seine Augen waren schwarze Pflaumen, seine Nase war eine süße Gewürzgurke und sein Mund war ein gepunkteter Strich aus Kirschen, der sich zu einem Lächeln bog. Er trug einen fröhlichen gelb-roten Schal dort, wo sein Hals wäre. Auf seinem Kopf, statt dem traditionellen Hut, hatte er eine Baseballkappe der Oakland As. Seine Arme waren unterproportional dünn, einfach ein paar blattlose Zweige, die in seinen Schultern steckten.

Er ging darauf zu und berührte ihn vorsichtig. Er war kalt. Er war aus Schnee. Und er stand draußen auf dem Rasen bei siebenunddreißig Grad Hitze unter der gleißenden Wüstensonne im Juli.

Langsam entfernte er sich von ihm, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Der Schneemann stand einfach nur da und zeigte keinerlei Absichten zu schmelzen.

Schließlich, mit einem schnellen Kopfschütteln, versuchte er, ihn zu vergessen. Es gab zu viele andere Probleme, die wichtiger waren. Er stieg die vier Stufen zu der großen Eingangstür hinauf und drückte den Klingelknopf.

Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür und gewährte ihm einen Blick auf die hübscheste junge Frau, die er je getroffen hatte. Sie war klein – er war nur eins dreiundsiebzig und sie reichte kaum bis zu seiner Nase – aber das war dann auch schon das einzige Merkmal, das er an ihr als unterdurchschnittlich bezeichnet hätte. Ihr Körper war perfekt proportioniert, weder zu vollbusig, noch zu jungenhaft. Ihr dunkelbraunes Haar, im Kurzhaarschnitt, umrahmte ein perfektes Gesicht mit großen, leuchtend braunen Augen, einer kecken Nase und einem kleinen aber ausdrucksstarken Mund.

Sie trug einen schwarzen Satin-Hosenanzug. Die untere Hälfte waren Hosen mit leicht ausgestellten Beinen, das Oberteil war weit offen, wie zwei breite Hosenträger, die sich nach oben zogen und sich in ihrem Nacken trafen. Sie hatte gewöhnliche, flache, schwarze Turnschuhe an und ihr Rücken war nackt. Sie war nicht ungesund dünn, aber da war sicher nirgendwo Fett. Um ihren Hals trug sie eine dünne Goldkette mit einem großen Medaillon, sicher zehn Zentimeter breit mit mindestens zehn Lichtern, die da blinkten. Sie sah nicht viel älter aus als zwanzig.

„Ja?“, sagte sie.

Er war so beschäftigt damit, den Anblick zu bewundern, dass er beinahe vergessen hatte, wieso er hier war. „Ähm, tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber mein Auto ist kaputt gegangen, dort an der Straße. Ich wollte fragen –“

„Also, stehen Sie doch nicht da in der Hitze 'rum“, sagte sie mit einer einladenden Handbewegung. „Kommen Sie rein, hier ist es klimatisiert, und machen Sie sich's bequem. Willkommen im Grünen Haus.“

„Danke“, sagte er und trat ein. Sie schloss die Tür hinter ihm und er badete in dem Gefühl. Seit Stunden war ihm nur heiß gewesen. Sie standen in einer Eingangshalle mit schwarz-weißen Marmorfließen und einem riesigen Kristallleuchter, der von der hohen Decke hing. Es gab einen langen Gang, der zum hinteren Teil des Hauses führte, und von dem in verschiedenen Abständen Türen zu verschiedenen Zimmern führten. Eine breite Treppe mit dunkelgrünem Teppich führte hinauf in das nächste Stockwerk.

„Es tut mir leid, dass ich Sie so belästigen muss –“, begann er, aber sie unterbrach ihn wieder.

„Ach was. Es ist keine Belästigung. Sie können doch nichts dafür, wenn Ihr Auto kaputt geht, oder?“

„Nein“, sagte er mit einem tiefen Seufzen. „Ich hatte nur gehofft, Sie könnten mir kurz ihr Telefon leihen.“

„Würde ich, wenn ich eines hätte.“

„Sie leben hier mitten im Nirgendwo ohne Telefon?“

„Wenn ich ein Telefon hätte, würden mich die Leute ständig anrufen“, sagte sie. „Zu viele Leute wollen mit mir reden. Ich ziehe es vor, schwer erreichbar zu sein.“

„Aber was ist, wenn Sie ein Problem haben?“, fragte er weiter. „Was, wenn Sie mit jemandem sprechen müssen?“

„Ich kann problemlos mit jedem sprechen, den ich will“, sagte sie. „Und es gibt keine Probleme, die ich und meine Angestellten nicht bewältigen könnten.“

„Oh, Sie haben Angestellte. Ich nehme an, das macht es etwas besser.“

„Ja. Genau genommen, wollte ich gerade vorschlagen, dass sich mein Fahrer ihr Auto ansieht. Er weiß wahrscheinlich, wie wir es wieder hinkriegen.“

„Ich möchte Ihnen keine Mühe machen –“

„Es ist keine Mühe für mich. Fritz wird es machen. Dafür ist er da.“ Sie griff nach ihrem Medaillon und sprach hinein. „Fritz, da draußen steht ein Auto und funktioniert scheinbar nicht mehr. Kannst du es dir ansehen und versuchen es wieder zu starten?“

„Ja, mein Fräulein“, kam eine Stimme aus dem Medaillon. Der Akzent war so Hollywood-Deutsch, dass man beinahe die Hacken klacken hören konnte.

„Vielen, vielen Dank“, sagte er.

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Ich bin übrigens Polly.“

„Oh, ähm, hallo. Ich bin Rod.“

Sie legte den Kopf schief. „Du siehst nicht wie ein Rod aus“, sagte sie kritisch.

„Wie sieht ein Rod aus?“

„Nun, lang, zylindrisch und unbiegsam.“ Sie warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu. „Natürlich kann ich es verstehen, wenn es ein Spitzname ist.“

Er merkte, dass er knallrot wurde. „Es, ähm, ist die Abkürzung für, äh, Herodotus“, sagte er leise. Gleichzeitig fragte er sich, wieso er das gesagt hatte. Er erzählte das beinahe nie jemandem – und schon gar nicht einer völlig Fremden.

„Ah, der griechische Geschichtsschreiber“, kreischte Polly. „Wie hübsch.“

„Sie haben von ihm gehört?“

„Natürlich. Ich liebte die alten Griechen.“

„Ja, mein Vater auch. Er war ein Professor der klassischen Archäologie.“

„Er muss sie sehr gerne gehabt haben, dass er Ihnen einen so ehrenvollen Namen gab.“

Herodotus schnaubte spöttisch. „Herodotus Shapiro ist der schrecklichste Name, den man einem jüdischen Jungen geben kann.“

„Mir gefällt er. Darf ich dich Heros nennen?“

„Mir ist Rod wirklich lieber.“

„Du kannst mein Heros sein“, sagte sie wobei sie seine Beschwerde völlig ignorierte. „Das ist besser als Heer, nicht wahr?“

„Wie auch immer“, sagte er resignierend. Er hatte jetzt wirklich wichtigere Probleme in seinem Leben als wie ein dummes, reiches Mädchen ihn nannte. Und in diesem Moment war eines dieser Probleme, wie er seinen Blick von dem hinreißenden Körper des dummen, reichen Mädchens losreißen und verhindern konnte, dass er zu sabbern begann.

Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn auf das Zimmer rechts neben ihm zu. „Komm in die Stube und geselle dich zur Party.“

„Party?“ Er fühlte wie sich seine Brust plötzlich zusammenzog. Partys bedeuteten Menschen, normalerweise fröhliche Menschen. Fröhliche Menschen waren so ziemlich das Letzte, was er in seinem Leben in diesem Moment brauchte. „Ah, ich wollte nicht ungeladen –“

„Könntest du nicht einmal, wenn du wolltest“, erklärte Polly nachdrücklich.

Er war sich nur zu sehr dessen bewusst, dass er verschwitzt und ungekämmt war. „Ich weiß nicht, ob ich da hineinpassen würde. Ich kenne da wohl niemanden –“

„Mach dir keine Sorgen. Du wirst dich großartig amüsieren. Sie sind alle gute Leute. Andere lade ich nicht ein.“

„Aber. Ähm. Ich bin nicht wirklich passend gekleidet.“

„Mach dir keine Sorgen. Meine Partys haben keine Dress Codes. Sehr wenig formell. Ich finde, dass Menschen wichtiger sind als ihre Kleider. Komm schon.“

Sie öffnete die Schiebetür und führte ihn in eine sehr große Stube. Das Zimmer war voll mit Menschen. Im Hintergrund spielte eine fröhliche Instrumentalmusik, ohne zu stören, und die Leute unterhielten sich mit leisen, freundlichen Stimmen. Ab und zu konnte man ein Lachen hören.

Der Teppichboden war hellblau, bedeckt mit zwei Persischen Teppichen mit marineblauen offenen Teilen. Die Tapete war ein dazu passendes Pastellblau mit horizontalen, königsblauen Streifen oben an der Decke und unten. Es gab ein langes, blaues Brokat-Sofa und fünf Stühle überzogen mit lindengrünem Jacquard mit ein paar Glockenblumen in Diamanten-Muster und einen babyblauen Flügel in der hinteren Ecke. Kleine Mahagoni-Tische umringten die Kommode an der Fassade unter dem großen Platinspiegel mit schrägen Kanten. Alle Leute standen und unterhielten sich; niemand saß auf der luxuriösen Einrichtung.

Er ließ seinen Blick über die große Menschenmenge schweifen aber konnte keine Gesichter finden, die er kannte. „Wie hast du all diese Leute hier heraus in die Wüste bekommen?“

„Ich habe sie eingeladen“, sagte Polly einfach. „Menschen kommen gern zu meinen Partys.“

Sie drückte einen Knopf in ihrem Medaillon und ein leises aber hartnäckiges Klingeln hallte durch den Raum. Die Leute unterbrachen ihre Unterhaltungen und sahen hinüber zur Tür.

„Hallo alle zusammen“, rief sie. „Ich hoffe, ihr unterhaltet euch gut.“

Die meisten nickten, andere gaben zustimmende Geräusche von sich. „Gut“, sagte Polly. „Wenn es irgendwelche Probleme gibt, sagt mir einfach Bescheid. Ich möchte euch meinen Heros vorstellen. Eigentlich ist sein Name Herodotus Shapiro, aber ich finde, Heros passt zu ihm. Heißt ihn willkommen.“ Entsprechende Rufe kamen aus der Menge, sodass Herodotus sich nur noch unwohler fühlte.

Polly drehte sich wieder zu ihm um. „Du siehst aus, als könntest du was zu trinken gebrauchen.“

„Ich bin nicht wirklich ein großer Trinker –“

„Nur ein Gläschen Wein. Oh, Fifi“, rief sie.

Eine schöne, kecke, junge Blondine in einer schwarz-weißen Hausmädchen-Uniform kam zu ihnen herüber, in der Hand ein Tablett mit einigen gefüllten Weingläsern. Ihr Kostüm war sehr kurz und ließ wenig der Vorstellung über, besonders den ausgestellten Beweis ihres Säugetier-Stammbaums. „Oui, Mademoiselle?“, fragte sie.

Polly nahm mit einem geübten Handgriff zwei Gläser von dem Tablett und gab eines Herodotus während sie das andere für sich selbst behielt. „Fifi, ich möchte, dass du dich darum kümmerst, dass Heros alles bekommt, was er wünscht.“

Das Hausmädchen sah zu Herodotus' Gesicht hoch und lächelte. „Ich werde mich bemühen“, versprach sie, mit plötzlich heiserer Stimme. Ihre Schultern und Hüften waren komplett gegeneinander verdreht, als würden sie zu unterschiedlichen Trägern gehören.

Polly hob ihr Glas in Herodotus' Richtung. „Auf neue Freundschaften“, sagte sie und sie stießen an.

Herodotus sah die goldene Flüssigkeit in dem Glas an und kostete sie vorsichtig. Es war köstlich – süß aber nicht zu sehr, glatt auf der Zunge, kühlend in der Kehle und im Abgang knackig und fruchtig. Er nahm noch einen zweiten, größeren Schluck.

Sie sah ihm mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu. „Schmeckt's?“, fragte sie.

„Er ist sehr gut, ja.“

„Er ist von meinem eigenen Weingut“, prahlte sie. „Er heißt Zufriedenheit, der Wein von zufriedenen Trauben. Sie wachsen gleich neben einem anderen meiner Weingärten, wo die Trauben der Wut aufbewahrt werden. Den behalte ich für spezielle Ereignisse auf.“

„Sieh her, Polly, ich –“

„Es tut mir leid, dass ich dich vorübergehend alleinlassen muss, aber ich muss mich unter die Gäste mischen. Gastgeberinnenpflichten und so. Rede mit den Leuten, mach es dir gemütlich. Wenn du etwas brauchst, werden Fifi oder James dir gerne helfen.“

„Wer ist James?“

„Mein Diener. Ich komme sofort zurück und dann können wir uns unterhalten.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und stürzte sich in das Getümmel. Sie wurde von allen angelächelt, bis sie in der Menge verschwand.

Herodotus fühlte sich sehr alleine und unwohl. Die Menschen sahen alle freundlich aus, aber er war nicht gerade in der Stimmung für Gesellschaft – nicht heute. Er bahnte sich den Weg zum Sofa und setzte sich vorsichtig auf ein Ende davon, ehrfürchtig vor dem offensichtlichen Alter des Möbelstücks, und versuchte, sich selbst so unauffällig wie möglich zu machen.

Ein paar Minuten später kam ein Mann und setzte sich neben ihn. Er sah aus, als wäre er in seinen späten Sechzigern, mit einem verwitterten, ledrigen Gesicht und einem weit zurück gehenden Ansatz reinweißen Haares. Er hatte einen dünnen Körper mit einem wachsenden Bierbauch und sein Gesicht war runzelig, aber auf eine nette Art. Es gab dort viele Lachfalten.

„Wie lange kennen Sie sie schon?“, fragte der Mann um eine Unterhaltung zu beginnen.

„Sie? Sie meinen Polly?“

„Nennt sie sich heutzutage so? Ja, Polly.“

„Ich habe sie erst vor ein paar Minuten kennen gelernt.“

Der alte Mann nickte. „Bei mir sind es jetzt fünf Jahre. Meine Frau und ich waren dreiundvierzig Jahre lang verheiratet, und sie war in ihrem ganzen Leben nie krank gewesen, abgesehen von einem Husten oder zwei. Dann kam Alice ins Krankenhaus und drei Wochen später starb sie an Krebs. Meine ganze Welt brach zusammen. Ich dachte, ich könnte genauso gut sterben und zu ihr gehen. Dann kam diese Krankenschwester zu mir ins Besucherzimmer und hielt meine Hand. Ich bin nicht jemand, der öffentlich seine Gefühle zeigt, aber ich heulte wie ein Baby an ihrer Schulter, ich machte ihren Kittel ganz nass. Es schien sie nicht zu stören. Ich erzählte ihr alles über Alice. Mensch, wir mussten wohl Stunden da gesessen und uns unterhalten haben. Wissen Sie, ich hatte einige Freunde, die versuchten, mich aufzumuntern, indem sie sagten, dass Alice an einen schöneren Ort ging. Polly erzählte mir keinen solchen Unsinn. Sie war einfach nur da, und das war genug, und bald war auch der Rest der Welt da – ein wenig leerer ohne Alice, aber bei weitem nicht so trostlos wie ich gedacht hatte.“

Er hielt inne. „Was ist Ihre Geschichte?“, fragte er.

Herodotus errötete. Nach der Geschichte des alten Mannes, was konnte er da schon sagen? „Mein Auto steht vor der Tür und startet nicht mehr“, sagte er fast entschuldigend.

Der alte Mann sah ihn eine Weile lang an, die leiseste Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Schließlich stand er auf. „Klar“, sagte er, streckte die Hand aus, und klopfte Herodotus auf die Schulter. „Vergessen Sie nicht, wie Polly sagt: die Dinge sind nie hoffnungslos, außer man verliert alle Hoffnung.“ Und er ging weg.

Herodotus trank noch einen Schluck Wein und beobachtete die anderen Partygäste. Nach noch ein paar Minuten kam ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das an eine Maus erinnerte, in grauem Anzug und gestärktem weißen Hemd und roter Krawatte herüber zur Couch. Anstatt sich hinzusetzen, ging er herum, bis er hinter Herodotus stand, beugte sich hinunter und flüsterte in dessen Ohr: „Verschwinden Sie hier, solange sie noch können“, sagte er Unheil verkündend.

„Was?“

„Sie haben mich verstanden. Verschwinden Sie, bevor es zu spät ist.“ Dann ging er ohne weitere Erklärung weg.

Herodotus fragte sich, in welcher Art Bärenhöhle er da gelandet war, als er den Mann weggehen sah. Aber er hatte keine andere Wahl als zu bleiben, es sei denn, er wollte achtzig oder noch mehr Kilometer durch die sommerliche Wüstenhitze wandern.

Sich leichtfüßig einen Weg durch die Menschenmenge bahnend, kam eine langhaarige schwarze Katze mit goldenen Augen auf ihn zu. Sie steuerte direkt auf das Sofa zu, sah Herodotus forschend an und sprang dann auf seinen Schoß. Vorsichtig streichelte Herodotus ihr Fell. Die Katze ließ es sich gefallen und begann zu schnurren, während sie seine Oberschenkel mit ihren Samtpfoten massierte.

Und dann war Polly wieder zurück, sie trug nun einen schmucken Gymnastikanzug – vertikal rot-weiß gestreift, mit blauen Rändern mit weißen Sternen oben und unten. Ihre Schultern, Arme und Beine waren bloß und ihre Füße steckten in Ballerinas.

„Ah, du hast Midnight gefunden“, sagte Polly lächelnd.

„Eigentlich hat eher er mich gefunden“, entgegnete Herodotus.

„Ich sehe, du bist daran gewöhnt, Dinge aus der Katzenperspektive zu sehen.“

„Ich habe mit einigen zusammen gelebt“, gab er zu.

„Das freut mich zu hören. Katzen sind der lebende Beweis dafür, dass Gott nur einen Spaß machte, als er sagte, wir sollten vor ihm keine anderen Götter haben.“ Sie bückte sich um die Katze auch zu streicheln. Diese schnurrte noch lauter.

Polly ließ sich neben ihm auf das Sofa fallen und ließ sich ein paar Mal mit all dem Anstand einer ungestümen Zehnjährigen zurückfedern und endete schließlich seitlich sitzend im Schneidersitz, ihm zugewandt. Die Katze zuckte nicht einmal. „Nun, worüber sollen wir reden?“, fragte sie.

Herodotus schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wirklich in der Stimmung zum Reden. Ich möchte einfach, dass mein Auto wieder funktioniert, und dann verschwinde ich hier und geh dir nicht weiter auf die Nerven.“

Pollys Stimme klang mitfühlend. „Hast einige Probleme, hä?“

„Ich sagte, ich möchte nicht darüber reden.“ Sein Tonfall war schärfer als beabsichtigt.

„In Ordnung“, sagte sie, wobei sie immer noch die Katze streichelte. „Dann reden wir über mein Lieblingsthema – mich. Stell mir deine Fragen. Ich weiß, du hast welche, ich sehe es in deinen Augen. Frag mich, was du willst. Ich bin ziemlich gut drauf, also hast du eine einmalige Chance, für die manche Männer morden würden.“

Sie hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihn in Ruhe zu lassen, also konnte er sie auch unterhalten. „Pflanzt du hier viele Blumen?“

Sie war tatsächlich mehrere Sekunden lang sprachlos und belustigt. „Ich muss zugeben, diese bekomme ich nicht oft. Meistens ist es sowas wie 'Was ist der Sinn des Leben' oder 'Wieso ist mir das passiert?'. Ja, ich habe ein kleines Blumenbeet draußen im Hinterhof, aber nicht größer als Versailles. Wieso fragst du?“

„Nun, als ich ankam, sagtest du 'Willkommen im Grünen Haus.'“

Polly lachte. Es war ein Klang wie ein Glockenspiel, ein Klang, der den ganzen Raum erstrahlen ließ, ein Klang, der Freude, destilliert auf ihre reinste Essenz, war. „Damit ist nicht das Grün draußen gemeint, sondern die Farbe des Hauses.“

„Dein Haus ist weiß.“

„Ja, aber das 'Weiße Haus' ist schon vergeben, nicht wahr?“

Herodotus schloss die Augen. Sein Gehirn fühlte sich, als wäre es plötzlich in einen dichten Nebel geraten. „Ich weiß nicht, ob das irgendeinen Sinn ergibt.“

„Sinn? Im Vertrag steht nirgendwo etwas von 'Sinn'. Oder 'fair', wenn wir schon darüber sprechen. Nicht einmal im Kleingedruckten. Ich habe es alles gelesen.“

Herodotus bekam das unbehagliche Gefühl, dass Polly ein wenig zu lange allein gelebt hatte. Er wollte gerade aufstehen und sagen, dass er doch draußen warten würde, als der Diener auf das Sofa zukam. Er war ein großer Mann im Smoking, sein Haar schütter und an den Seiten grau werdend. Er trug sich selbst mit einer überlegenen Haltung und er trug ein silbernes Tablett mit Häppchen in seiner rechten Hand. Er senkte das Tablett elegant und sagte mit einem Oxford-Akzent: „Erfrischungen?“

„Danke, James“, sagte Polly und nahm ein ungewöhnlich aussehendes Hors d'Oeuvre vom Tablett wobei sie Herodotus ansah. „Lust auf etwas?“

Er besah sich die Auswahl. Die meisten Partys, zu denen er ging, hatten ein Angebot von Chips mit Saucen, Käsebällchen oder Nüssen oder Keksen. Auf dem Tablett vor ihm befand sich nichts, das bekannt aussah. „Äh, was empfiehlst du?“

„Oh, sie sind alle großartig“, sagte Polly. „Ich habe sie selbst gemacht.“

Herodotus schaute noch ein wenig weiter und entschied sich dann für etwas, das wie eine kleine, rot-braune Blume auf einem Cracker aussah. Er biss vorsichtig hinein; es war eine Spur salzig und eine Spur süß. „Das ist lecker“, sagte er und aß auch den Rest davon.

„Nun, du brauchst nicht so überrascht zu klingen“, sagte Polly.

„Was ist es?“

„Nach dieser wenig überzeugenden Reaktion, glaube ich nicht, dass ich dir das sagen werde. Das genügt erst mal, James.“

„Wie Sie wünschen, Madam.“ Der Diener richtete sich auf und ging im Raum herum um die anderen Gäste zu bedienen.

Polly sah zu, wie Herodotus den letzten Bissen des Canapés hinunterschluckte, und sagte dann: „Also, wo waren wir?“

„Ich glaube, wir waren nicht wirklich irgendwo.“

„Oh ja, du warst dabei, mich mit deinen geistreichen Bemerkungen auszufragen. Mach weiter, ich kann die nächste kaum erwarten.“

Herodotus trank seinen Wein aus, um sich einen Moment zu verschaffen, wo er seine Gedanken sammeln konnte. Mit einem Seufzen entschied er, zu sagen, was ihn so verwirrte. Nun, eines der Dinge, die ihn verwirrten. Polly schien ihm seine Unverblümtheit nicht übel zu nehmen.

„Wusstest du“, fragte er nachdrücklich, „dass da ein Schneemann vor dem Haus in deinem Garten steht?“

„Oh, McCool? Ich dachte, er war im Hinterhof. Er muss nach vorne gegangen sein, denn er sieht gerne den Autos zu, die vorbeifahren.“

Das war zu viel für ihn. „Du machst Scherze.“

Sie schenkte ihm ein breites Lächeln, das den Raum erhellte wie eine Lichterkette. „Ja klar, Dummkopf“, sagte sie und streckte ihre Hand aus, um sie beruhigend auf sein Knie zu legen. „McCool kann nirgendwo hingehen – er hat keine Beine. Das habe ich mich bei Frosty immer gefragt. Wie konnte er herum tanzen, wenn Schneemänner doch gar keine Füße und Beine haben? Aber es ist ein süßes Lied.“

Mit der Berührung ihrer Hand auf seinem Knie durchzuckte ihn ein Gefühl von... etwas. Es war nicht Wärme, obwohl ihm auch trotz der Klimaanlage immer noch sehr warm war. Es war auch keine Elektrizität, obwohl sein ganzer Körper kribbelte. Es war nicht sexuell, obwohl ihr Gymnastikanzug die Weiblichkeit ihrer Präsenz betonte. Es war einfach etwas, und es war jedenfalls gut.

Er begann zu stammeln: „Aber wie –“, als sie ihm ins Wort fiel.

„Die Fragestunde ist erst einmal vorbei. Vielleicht später mehr, wenn du brav bist. Jetzt gerade ist meine Trainingszeit. Ich wollte eigentlich gerade anfangen, als du auftauchtest. Daher bin ich so angezogen. Komm mit hinauf in den Fitnessraum und leiste mir Gesellschaft.“

„Und die Gäste?“

„Oh, die werden es eine Weile ohne mich aushalten. James und Fifi können sich um sie kümmern.“

„Ich mache nicht viel Sport“, sagte Herodotus, und behielt seine Meinung für sich, dass das einzige, was schlimmer war, als Sport zu treiben, war zuschauen, wenn jemand anders es tat. „Geh du nur. Ich bleibe inzwischen hier sitzen und streichle deine Katze und warte darauf, dass dein Chauffeur mein Auto wieder repariert.“

„Oh nein, das wirst du nicht“, sagte sie, sprang vom Sofa auf und ergriff seinen Arm. Midnight befand das für ein Zeichen, dass er von Herodotus' Schoß springen sollte, was er tat bevor er gemütlich weiter wanderte. „Ich liebe es, anzugeben“, fuhr Polly fort, „und das kann ich nicht, wenn du hier unten sitzt.“ Sie zog ihn hoch und hinter sich her. „Sieh es als deine Chance, meine Gastfreundschaft zurück zu bezahlen.“

Nachdem er erkannte, dass sie etwas war, was der Unwiderstehlichen Kraft so sehr entsprach, wie nichts Anderes, was er je treffen würde, folgte er ihr wieder hinaus in den Flur und den Korridor entlang zum hinteren Teil des Hauses. Es gab schlimmere Arten, seine Zeit zu verbringen, als einem schönen Mädchen zuzusehen, wie sie schwitzte.

Sie erreichten das Ende des langen Korridors, wo sich eine Liftkabine befand, die auf sie wartete. Polly drückte auf Nummer drei. Herodotus bemerkte, dass die Knöpfe bis Nummer dreizehn gingen, dazu einer, worauf „R“ stand.

„Ich hätte schwören können, dass dein Haus nur zwei Stockwerke hat“, sagte er, als sich die Lifttüren schlossen. Die Kabine schoss viel schneller aufwärts, als irgendein gesunder Lift sich das getraut hätte. Herodotus hatte das Gefühl, als würden seine Knie gleich an seinem Kinn vorbei schießen und aus seiner Schädeldecke kommen, während sein Magen sich anfühlte, als wäre er im Parterre zurückgeblieben.

„Ah, du hast es wohl nur von vorne gesehen“, sagte Polly spontan. „Hinten ist es viel größer. Hier wären wir.“

Der Lift blieb abrupt stehen und Herodotus fühlte sich wie ein Turm Wackelpudding auf einer zitternden Feder. Die Türen öffneten sich und offenbarten etwas, das wie der Korridor eines Luxushotels aussah, mit Türen an beiden Seiten. Es standen keine Nummern an den Türen, und auch keine anderen Hinweise darauf, was sich dahinter befinden könnte, außer, dass eine der Türen weiter den Flur hinunter leuchtend grün gestrichen war.

Mit federnden Schritten marschierte Polly den Gang entlang. Sie musste Herodotus nun nicht mehr an der Hand hinter sich her ziehen. Seine Nerven klirrten noch von der Fahrt mit dem Lift und er hatte Angst, zurück zu bleiben und sich in der immer verwirrenderen Villa zu verlaufen.

Sie blieb neben der grünen Tür stehen. „Du kannst hier nicht hinein gehen“, sagte sie.

„Wieso sollte ich das wollen?“

„Weil es verboten ist“, sagte sie finster. „Sie wollen immer hinein gehen, wenn ich sage, dass es verboten ist.“ Sie ging weiter und blieb an einer Tür zu ihrer Linken stehen, etwa in der Mitte des Korridors. „Hier ist der Fitnessraum“, sagte sie. „Komm herein.“

Es war ein großer Saal, so groß wie der Turnsaal eines Gymnasiums. Es war nicht gerade das, was Herodotus erwartet hatte. Kein Laufband, keine Hometrainer, keine Rudermaschinen, keine Treppen – keine der modernen Apparaturen. Stattdessen gab es ein Turnpferd, einen Stufenbarren, ein Trapez und ein mehrere Meter langes Seil horizontal gespannt in der Luft. Viele graue Matten lagen am Boden.

„Also bist du eine Akrobatin?“ riet Herodotus.

„Onry Phirosophicarry“, sagte sie mit gespieltem chinesischem Akzent.

Herodotus war verwirrt und sein Gesicht musste das gezeigt haben.

„Du hast doch Tony Randall in Die 7 Gesichter des Dr. Lao gesehen“, meinte Polly halb fragend. Als Herodotus den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: „Oh, das musst du sehen! Regisseur George Pal, Drehbuch Charles Beaumont. Es ist ein Film der eine Heiligsprechung verdient.“

Dann kam sie wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. „Akrobatik bietet mir ein gutes Training und hilft mir, die mädchenhafte Figur zu behalten, die du bewundert hast, als du meintest, dass ich es nicht bemerkte.“

Herodotus errötete, aber da war nur Stolz in Pollys Gesicht, als sie sagte: „Sieh her.“

Neben dem Trapez hing ein Seil und Polly kletterte daran zwei Meter hoch, bis sie die Stange erreichen konnte und kletterte dann hinüber. Sie begann, vor- und rückwärts zu schwingen, wobei sie immer höher wurde, bis sie mit einer geschmeidigen Bewegung einen Salto rückwärts machte, sodass sie danach mit den Knien an der Trapezstange hing. Sie zog sich hoch in eine sitzende Position, dann noch höher, bis sie stand, die Füße breit auf der Stange stehend. Herodotus begann zu klatschen, aber sie brachte ihn zum Schweigen. „Ach, das war gar nichts“, sagte sie mit einem ganz leichten Hauch Gereiztheit in ihrer Stimme. „Behalte dir deinen Applaus bis zum Ende der Vorstellung.“

Sie lehnte sich nach vorne und begann zu fallen, während sie gleichzeitig ihre Hüfte beugte und die Trapezstange mit beiden Händen ergriff. Mit dem Schwung, den sie mitnahm, machte sie eine volle Umdrehung um die Stange, wonach sie ihre Beine spreizte und schließlich im Handstand auf der Stange stand. Sie blieb dort bewegungslos wie ein Stein gut fünfzehn Sekunden stehen, dann plötzlich ließ sie los und fiel gerade nach unten, bis, im allerletzten Moment, ihre Knöchel sich an den Seile an den Enden der Trapezstange festhielten und ihren Fall stoppten. Dann bewegte sie ihr linkes Bein langsam zur Seite, sodass ihr ganzer Körper einfach nur mehr an ihrem rechten Knöchel hing.

Sie hielt diese Stellung noch ein paar Sekunden, nur um zu zeigen, dass es kein Glückstreffer war und beugte sich dann ohne jegliche Anstrengung nach oben und ergriff die Stange wieder mit ihren Händen. Sie lehnte sich rückwärts und vorwärts und verwendete ihren Körper als Gegengewicht um das Trapez zum Schaukeln zu bringen. Pendelnd schwang sie rückwärts und vorwärts, höher und höher mit jeder Wiederholung. Dann, am höchsten Punkt eines Schwungs ließ sie los und flog durch die Luft. Ihr Körper rollte sich schnell ein und sie machte zwei volle Saltos bevor sie sich wieder aufrichtete, und ohne jegliches Zittern in der Mitte des gespannten Seils landete.

„Kein Applaus“, erinnerte sie, „aber ein leises, überraschtes Luftholen wäre vielleicht angebracht.“

Sie wartete aber nicht darauf, sondern begann, vorwärts und rückwärts über das Seil zu spazieren, mit einer solchen Sicherheit, als hätte sie festen Boden unter den Füßen. Sie ging zur Mitte des Seils, beugte ihre Knie und machte einen Salto rückwärts, dann noch einen, und noch einen – jedes Mal landete sie selbstsicher auf ihren Füßen.

„Jetzt kommt der Moment wo das Publikum involviert wird“, sagte sie. „Dort drüben ist ein Einrad, kannst du es holen und mir geben, bitte?“

Herodotus ging und holte das Einrad und gab es ihr hoch. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu danken, sie balancierte einfach das Rad auf dem Seil und stieg vorsichtig auf, dann fuhr sie damit zweimal über die ganze Länge des Seils hin und her. Nachdem sie wieder zur Mitte des Seils geradelt war, blieb sie dort auf dem Rad ruhig stehen und sagte: „Jetzt bring mir die Stange und den Teller dort drüben.“ Herodotus tat es.

Die Stange war etwa einen Meter lang und einen Zentimeter im Durchmesser. Sie ergriff sie ungefähr in der Mitte und setzte den Teller auf die Spitze und begann, ihn zu drehen. Sie drehte den Rand des Tellers mit ihrer Hand an, so dass er sich schneller und schneller drehte. Als sie meinte, dass er schnell genug war, ergriff sie die Stange mit beiden Händen, lehnte ihren Kopf zurück und platzierte den Stab vorsichtig auf ihrer Stirn. Sie ließ los und streckte ihre Hände zu beiden Seiten aus. Dann begann sie, hin und her über das Seil zu radeln.

„Dies ist der Moment, wo ich dich in das große Geheimnis des Universums einweihe“, sagte sie, wobei sie ihre Augen nicht von dem Teller ließ. „All die Weisheit aus dem Altertum geht letztendlich zurück auf ein Wort: Gleichgewicht. Bleibe im Gleichgewicht und die Welt ist deine Auster. Also, wenn du Austern magst, sonst ist die ganze Metapher sinnlos.“

Eine ganze Minute lang fuhr sie mit dem Stab auf ihrer Stirn weiter. Dann ergriff sie die Stange mit ihrer rechten Hand, nahm sie von ihrer Stirn und ließ sie zu Boden fallen. Den Teller fing sie mit ihrer linken, sah hinunter zu Herodotus und rief: „Hier, fang“, als sie ihn ihm zuwarf. Sie selbst blieb inzwischen auf ihrem Einrad auf dem Seil und fuhr dort ohne sichtliche Anstrengung noch eine Minute hin und her.

Schließlich stieg sie von dem Einrad, so einfach, wie sie aufgestiegen war und gab es Herodotus wieder zurück. Dann beugte sie sich hinunter und umfasste das Seil, drehte sich herum und ließ ihre Füße hinunter, bis sie an ihren ausgestreckten Armen hing, dann fiel sie leichtfüßig auf die Matte darunter, die Arme triumphierend über ihrem Kopf.

„Okay, jetzt darfst du applaudieren“, sagte sie.

Herodotus war viel weiter als Applaus. Trotz seiner persönlichen Depression sagte er enthusiastisch: „Das war fantastisch! Bist du ein Profi?“

Polly ließ ihre Hände wieder sinken und verbeugte sich. „Ich wurde nie dafür bezahlt, also ich schätze, das bedeutet, ich bin nur eine talentierte Amateurin. Aber es macht mir Spaß. Hast du Hunger? Ich verhungere jedes Mal nach einem spaßistischen Training.“

Das Frühstück war schon lange her und das eine Häppchen hatte seinen Magen nicht wirklich befriedigt, aber Herodotus wollte ihre Gastfreundschaft nicht noch weiter ausnutzen. „Ich will dir wirklich keine Umstände machen. Du hast schon so viel getan – “

„Ach Quatsch. Ich werde Mario sagen, er soll uns einen Snack rauf bringen.“

„Äh, würde es dich stören, wenn ich erst noch deine Toilette benutze und mich frisch mache?“

„Natürlich nicht. Das ist besser als auf den Boden zu pinkeln. Komm.“ Sie führte ihn wieder hinaus aus dem Turnsaal und auf den Gang. „Es ist die zweite Tür links, da drüben. Geh nur nicht durch die grüne Tür. Wenn du fertig bist, nimm den Lift zurück in den ersten Stock. Ich warte dort auf dich.“

Er ging in das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich, lehnte sich an sie und schloss seine Augen. Es war angenehm, zumindest ein paar Minuten Ruhe zu haben. Polly war sehr hübsch und sehr freundlich, aber sie war auch sehr... intensiv. Ja, das war das richtige Wort für sie. Intensiv.

Er seufzte tief und öffnete seine Augen. Dann schloss er sie wieder. Er hätte sich denken können, dass Polly nicht einfach ein normales Badezimmer haben würde, aber dies ging weit über seine wildesten Vorstellungen hinaus.

Er öffnete die Augen wieder, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. Die Tapeten an den Wänden und der Decke waren eine Illusionsmalerei, sodass es wie eine große Kathedrale aussah, vielleicht Westminster Abbey, oder was wusste er. Der Raum war ohnehin schon sehr groß für ein Badezimmer, was den Effekt noch verstärkte.

Die Toilette war buchstäblich ein Thron – eine aufwändig geschnitzte Konstruktion aus dunkler Eiche mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Juwelen. Die massiven Armlehnen hatten Löwenköpfe an den Enden und die vier Füße waren Tatzen mit Klauen. Die Rückenlehne des Throns war aus weinrotem Samt und ein gleichmäßiges Licht schien auf den Sitz als käme es durch ein farbiges Glasfenster von oben. Eine Rolle Klopapier hing diskret an einer Seite.

Er ging zu dem Thron und hob den Sitz vorsichtig auf. Zu seiner großen Erleichterung sah es innen wie eine normale Toilette aus. Er erleichterte sich, dann, wie seine Frau – bald Ex-Frau, erinnerte er sich – ihn erzogen hatte, klappte er den Sitz wieder nach unten. Als er nach unten gebeugt war, bemerkte er, dass das Toilettenpapier merkwürdig aussah. Er streckte die Hand aus, um es anzufassen.

Es war kein Papier. Es war Seide.

Er ging zum Waschbecken, das ihn an ein achteckiges Taufbecken, das er in einer Tour alter Kirchen gesehen hatte, erinnerte. Der Wasserhahn war aus massivem Gold und als er ihn aufdrehte, hatte das Wasser, das herausfloss einen leichten Rosenduft. Die Seifen waren wie kleine Schwäne geformt und die Handtücher waren in Origami-Schwanfiguren gefaltet.

Er starrte auf sein Spiegelbild als er seine Hände wusch. „Wo bin ich da nur hineingeraten?“ fragte er sich leise. „Ist dies eine noch surrealere Version von Hotel California? Wer ist diese Frau und was ist das für ein Ort?“

Sein Spiegelbild konnte ihm keine Antwort geben, also trocknete er sich die Hände und verließ das Zimmer.

Der Lift wartete offen auf ihn, als er den Korridor hinunter ging. Er drückte mit einiger Unbehaglichkeit „1“ und der Lift schoss so schnell durch den Schacht hinunter, als wäre das Kabel gerissen, nur um dann plötzlich aber sanft stehen zu bleiben. „Dieser Lift könnte eine Fahrt in jedem Vergnügungspark sein“, murmelte er.

Er trat auf das Parterre hinaus. Keine Spur von Polly, also wartete er einfach.

Ein großer, männlicher Löwe mit einer imposanten Mähne kam gemütlich aus einer Tür spaziert. Herodotus erstarrte instinktiv und bewegte sich langsam rückwärts von ihm weg. Die Lifttüren hatten sich hinter ihm geschlossen, aber er drückte sich so fest an sie, wie er konnte.

Der Löwe sah ihn kurz an und Herodotus bemerkte, dass er etwas schielte. Das Tier sah wieder weg und ignorierte ihn, als er einfach den Gang entlang ging und in einem anderen Zimmer verschwand.

Nach ein paar Sekunden fiel Herodotus auf, dass er nicht atmete. Er begann, tief einzuatmen, um seine Nerven zu beruhigen.

Polly kam aus einer anderen Tür. Sie hatte sich wieder umgezogen, diesmal erschien sie in engen Jeans, Turnschuhen und einem weißen T-Shirt, auf dem in blauen Buchstaben auf der Brust stand: „Ich glaube an mich!“. Selbst so ein einfaches Outfit sah an ihr unsagbar sexy aus.

„Äh“, sagte er zögernd, „da spaziert ein Löwe durch dein Haus.“

„Oh, das ist nur Bert. Ignoriere ihn einfach. Er hat wahrscheinlich mehr Angst vor dir, als du vor ihm.“

Herodotus entschied, dass er genug hatte von subtilen Bemerkungen. Er sah ihr geradewegs in die Augen und sagte: „Wer bist du jetzt eigentlich?“

Sie schenkte ihm einen fragenden Blick. „Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich bin Polly.“

„Polly Wie?“

„Polly Wie Wie?“

„Wie heißt du mit Nachnamen?“

„Nein, wie heißt der Typ der als zweites kommt.“

„Ich kenne den Witz schon“, sagte er genervt. „Sag mit deinen Nachnamen.“

„Brauche ich einen?“

„Jeder hat einen Nachnamen.“

“Cher. Madonna. Prince.”

„Das sind Künstlernamen. Sie wurden mit Nachnamen geboren.“

„Vielleicht ist Polly mein Künstlername.“

„Spielst du denn gerade ein Theater?“

„Immer“, sagte sie, wobei ihre Stimme einen leicht verärgerten Ton annahm.

„Alles was ich meinte war –“

„Kann sein, Junge.“ Ihre Augen glühten mit plötzlicher Wut. „Wie kannst du es wagen, hier herein zu spazieren, als würde dir die Welt gehören und mich ins Kreuzverhör nehmen? Ist das ein Gummischlauch in deiner Hosentasche, oder freust du dich nur, mich zu sehen? Was macht es schon aus, wie mein Nachname ist, oder ob ich einen habe? Du bist hier nicht mehr erwünscht. Bitte verlass sofort mein Haus.“

Herodotus war verblüfft von dieser plötzlichen Sinneswandlung. „Aber – “

„Kein 'aber'. Raus. Jetzt!“ Sie deutete wütend auf die Tür an der Vorderseite des Hauses.

Sie stampfte mit ihrem Fuß auf.

Der Boden zitterte.

Es gibt ein Spiel, das alle Kalifornier spielen: die Stärke des Erdbebens raten, das man gerade gefühlt hat. Ohne bewusst darüber nachzudenken, schätzte er dieses auf ein schwaches Erdbeben, wohl irgendwo zwischen 3 und 4 auf der Richter-Skala.

Herodotus hatte aber keine Zeit um genauer nachzudenken, denn Polly kam auf ihn zu, Mordlust in ihren Augen. Er drehte sich um und floh den Gang entlang hinunter, öffnete die Tür und ging hinaus. Polly folgte ihm bis zur Tür und warf diese hinter ihm krachend ins Schloss.

„Nun, das hätte besser gehen können“, murmelte er.

Er stand in der gleißenden Hitze und sah hinunter auf die Einfahrt, wo sein Auto auf der Autobahn stehen geblieben war. Er hatte halb erwartet, Pollys Chauffeur daran arbeiten zu sehen, den Motor in Stücken am Boden um ihn herum verteilt. Aber da war nichts. Das Auto war weg.

Herodotus starrte ungläubig auf die Straße. Dann schaute er über seine Schulter zurück auf die plötzlich Unheil verkündende Tür. Kopfschüttelnd ging er langsam die Treppen hinunter und ging zu dem Schneemann hinüber. Er zeigte immer noch keinerlei Absichten zu schmelzen.

„Hallo McCool“, sagte er. „Mein Name ist Rod, kurz für Herodotus. Was ist eigentlich los mit Polly? Sie erschien so freundlich, und dann wendet sie sich gegen mich und wirft mich aus dem Haus. Und sie ist so schön, dass ich kaum meinen Blick von ihr nehmen kann. Aber sie benimmt sich richtig komisch. Sie ist offensichtlich reich und talentiert, aber sie erscheint überhaupt nicht überheblich. Also, abgesehen von ihrem Namen, nehme ich an. Was ist damit, frage ich mich?

Polly!

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