Читать книгу Das Labyrinth - Stig Dalager - Страница 5
ОглавлениеAnfang Januar 1986 machte Jon Bæksgaard Ernst mit seinen Plänen, nach Mérida in Mexiko zu gehen, um sein irdisches Paradies zu finden; bei seiner Abreise aus dem klammen Zimmer an der Lower East Side in New York ließ er eine Plastiktüte mit abgetragenen Kleidungsstücken zurück, die er nicht mehr brauchte (in Wirklichkeit hatte er vergessen, sie wegzuwerfen); diese Plastiktüte wurde von einem unterbezahlten fünfundzwanzigjährigen Putzmann gefunden, der sie für sich auf die Seite schaffte; er wohnte in einem Block in einer kleinen Straße in Brooklyn und nahm am selben Tag seinen bescheidenen Fang mit über die Brücke. Zwei Tage später stand er – wie so oft zuvor – auf der Straße, wenigstens aber hatte er das Geld von dem Job und die Sachen aus der Tüte, die ihm zu seinem Glück einigermaßen passten.
Joe Fender, der aus einem kleinen Ort in Missouri stammte und in der Hoffnung nach New York gegangen war, dort ein gelbes Taxi zu fahren, war praktisch obdachlos, und da er wieder einmal weder Arbeit hatte und Geld nur noch für die nächsten drei, vier Tage, wurde er nach einer Woche aus seinem stickigen Zimmer geworfen und stand wieder auf der Straße.
Er ging zum zwölften Mal in zwei Jahren in das beeindruckende Büro der N.Y.C. Taxis, um nach Arbeit zu fragen, wurde aber wieder abgewiesen, weil er keinen City-Führerschein hatte und es sich nicht leisten konnte, einen zu machen. Am nächsten Tag war er wieder da und flehte die Gesellschaft an, ihm das Geld für einen Führerschein vorzustrecken. Weil er aber überhaupt keine Garantien bieten konnte, musste er wieder abziehen.
Die ersten beiden Nächte verbrachte er in einer der wenigen überfüllten Herbergen der Stadt, zusammen mit verdreckten und nach Schnaps stinkenden Asphaltwracks und still für sich schlafenden Einzelgängern, aber als ihm hier seine Ausweispapiere gestohlen wurden, hatte er nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ging er nach Missouri zurück zu dem, was von seiner Familie noch übrig war, oder er ging unter die Erde, zu den versprengten Obdachlosen in die frostige Finsternis der Subwaytunnel. Um zurückzufahren, brauchte er Geld, und um sich Geld zu beschaffen, brauchte er einen Job, doch für einen Job brauchte er eine Adresse und einen Schlafplatz und etwas zu essen; er stank schon und war im Laufe einer Woche so heruntergekommen und geschwächt, dass ihn keiner nehmen wollte, weder als Tellerwäscher oder Abräumer noch als Liftboy, obwohl er mit einer verzweifelten Beharrlichkeit tat, was er konnte, um auf seinem Weg durch das Wirrwarr der großen Stadt aus Seitenstraßenhotels, Coffeeshops, Pizzerias und Bars wen auch immer vom Gegenteil zu überzeugen; gerade die Verzweiflung in seinen Körperbewegungen und Augen gab den Ausschlag in einer dschungelartigen Stadt, wo man den anderen blitzschnell scharf taxierte und von ihm zumindest erwartete, dass er einem irgendetwas vormachte.
Joe Fender konnte sich weder besonders gut verstellen noch sich smart geben, er hatte nur seine countryartige Energie, und als die fast aufgebraucht war auf seinen mehrwöchigen Betteltouren in der eisigen Winterluft der Fifth Avenue und durch das Viertel in Brooklyn, das er am besten kannte, da beschloss er, dem Ganzen ein Ende zu machen. Das heißt, beschließen ist zu viel gesagt, er hatte das Gefühl, er habe keine Wahl, er fror ganz höllisch, und wenn man friert, kann man nicht klar denken. Das Einzige, woran eine verfrorene Seele in einem unterkühlten Körper denken kann, ist ein Dach über dem Kopf, und kommt sie weit genug von der Bahn ab, die gewisse starke Träume ihr in ihrem eher kindlichen Zustand vorgeschrieben haben, erreicht sie den Punkt, wo selbst der Tod Erlösung bedeutet. Die meisten stellen sich die Hölle warm vor, doch Joe Fender wusste instinktiv, dass die Hölle kalt ist, von brennender Kälte, so instinktiv suchte er die Wärme auf der anderen Seite.
Er kannte den Weg. Eine seiner wenigen Bekannten, ein Mädchen namens Lucy Farry, das er in Brooklyn genau an dem Januartag auf der Straße traf, als er sich ein Zimmer mietete, hatte er schon am nächsten Abend auf sein Zimmer mitgenommen, hier übernachtete sie auf seiner einfachen Matratze, während er sie in den Armen hielt; sie schwitzte den größten Teil der Nacht und zitterte am ganzen mageren, weißen Körper, manchmal rief sie nach Wasser oder ihrer Mutter oder nach Stoff, erst gegen Morgen, als das bleiche Winterlicht in das Zimmer drang, sah er die vielen blauen Male an ihren Armen und Beinen und wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte; an diesem Tag hatte er einen Putzjob in Alphabet City und musste sie allein lassen. Sie schlief, er stellte ihr eine Tasse Wasser hin, deckte sie mit der rauen Bettdecke zu und ging zur Arbeit, aber als er am Nachmittag desselben Tages zurückkam, war sie verschwunden.
Einige Tage später tauchte sie plötzlich auf und war auf Speed und faselte was von einer Aussicht, die sie ihm unbedingt zeigen wolle, ohne zu fragen, nahm sie seine Hand und führte ihn durch die Straßen in ein verfallenes Hochhaus in der Coney Island Avenue, wo ein zeitungslesender Wachmann von ihnen kaum Notiz nahm. Sie fuhren mit dem knackenden Fahrstuhl bis zur obersten Etage, und sie führte ihn über eine kleine Treppe auf das Dach. Vom Sternenhimmel ebenso wie von den pulsierenden Lichtern Manhattans überwältigt, hielten sie einander einen Augenblick an der Hand, dann ließ sie seine Hand los und ging durch ein kaputtes Gitter ganz nach vorn zur Dachkante und begann, darauf zu balancieren.
– Heute Abend tanze ich wie ein Engel, rief sie hysterisch dem geschockten Joe Fender zu, der sie sofort von der Kante wegriss und weiter aufs Dach führte. Doch sie sträubte sich und befreite sich aus seinem Griff und lief zur Kante, er ihr hinterher, bekam sie wieder zu fassen, sie stolperten über ihre eigenen Beine und rollten in enger Umarmung herum; sie landete auf dem Rücken, den Kopf über der Kante, und er über ihr, einige Sekunden lang starrte er an ihrem Gesicht vorbei in den Schacht unter ihnen, dann konnte er sie wieder aufs Dach zurückziehen, er hielt sie jetzt ganz fest und begleitete sie zurück zum Aufgang und dem Fahrstuhl.
Draußen vor dem Gebäude trennten sie sich, weil sie wütend auf ihn war, und weil er, wie sie sagte, kein Engel war, so wie sie, und er sah sie nicht wieder.
Aber dieser schwindelnde Anblick des dunklen Schachts ließ ihn nicht los. Er stieß ihn genauso ab, wie er ihn anzog, und als er eines Nachts, nachdem er eine halbe Stunde unruhig geschlafen hatte, auf dem Steinboden neben einem Subwaypfeiler in der Nähe der Bowery Station aufwachte, erhob er sich wie ein Schlafwandler und tappte durch den dunklen Tunnel zur Straße hoch, um den ganzen Weg über die Brooklyn Bridge zum Hochhaus in Brooklyn zu laufen. Hätte ihn ein Streifenwagen oder irgendein Fußgänger angehalten, hätte er sein Vorhaben wahrscheinlich aufgegeben, aber es hielt ihn keiner auf, auch nicht der Wachmann im Hochhaus, der im Foyer vor dem Siebzehn-Zoll-Fernseher eingeschlafen war, den er selbst mitgebracht hatte und aus dem Stimmen und Klatschsalven einer Nightshow dröhnten. Als Joe Fender oben auf dem Dach im Wind stand, ging er gleich nach vorn zur Kante und ließ sich fallen, wie er sich einmal auf einem Feld in Missouri hatte vom Mähdrescher fallen lassen.
Erst einige Tage später entdeckten ein paar Jungen seinen kaputten Körper neben einem Abfallcontainer. Zwei Polizisten von einer nahen Wache wurden gerufen, sie kamen in schlechter Laune an, weil sie deshalb ihre Mittagspause verschieben mussten; an Ort und Stelle untersuchten sie schnell die Kleidung des Toten und fanden in der Innentasche der Jacke das Foto einer blonden Frau; auf der Rückseite stand ein Name (Sine) mit einer dänischen Adresse, die sich mit Ausnahme einer wichtigen Kleinigkeit, die bei der ersten Untersuchung übersehen wurde, bald als das Einzige herausstellen sollte, was den kalten Körper mit der bekannten Welt verband. Als später einer der Polizisten einige Tage nach Auffinden der anonymen Leiche routinemäßig die Kleidungsstücke nummerieren wollte, die ein Jahr aufbewahrt wurden, und noch einmal die Taschen durchsuchte, stießen seine Fingerspitzen auf einen kleinen weißen Zettel, der sich bei näherer Untersuchung als Quittung für ein PanAm-Flugticket auf den fremd klingenden Namen Jon Bæksgaard erwies. Der Polizist erkundigte sich telefonisch bei der PanAm, die ihm mitteilte, jemand dieses Namens hätte das Ticket gekauft und bezahlt, ohne jedoch eine New Yorker Adresse zu hinterlassen. Da der Polizist jetzt das Foto einer Frau mit einer dänischen Adresse und den mutmaßlichen Namen der Leiche hatte, und da er mit Aufgaben überlastet war und sich im Übrigen nicht sonderlich für den Fall eines toten Mannes interessierte (in seinen Augen sprach hier nichts gegen einen Selbstmord), meldete er den Vorfall der zuständigen Behörde, die routinemäßig eine Kopie des Fotos mit den Erklärungen über Todesursache, Fundort und dem vermutlichen Namen in einem abgestempelten und eingeschriebenen Brief an die Frau und ihre (vermutlich) dänische Adresse schickte.
So kam es, dass Jon Bæksgaard offiziell für tot gehalten wurde, dabei aber quicklebendig in der Sonne durch die engen, lauten Straßen von Mérida lief.
Aber gerade weil die Information über seinen sinnlosen Tod für Sine, die den Brief aus New York endlich Ende Februar in Paris (umadressiert in Århus) erhielt, den Anschein einer großen lähmenden Wahrscheinlichkeit hatte, kam Jon in gewisser Weise dazu, schon zu Lebzeiten zwei Tode zu sterben, ehe er einige Jahre danach wiederauferstehen sollte. Erst starb er in den Augen der Behörden, und zwar ganz offiziell, danach starb er als Möglichkeit in Sines Leben. Denn trotz ihres Abschieds von ihm Ende Dezember 1985 in New York hatte sie ihn damals gegen alle Vernunft nicht aufgegeben und damit gerechnet, ihn früher oder später wiederzusehen.
Aber starb er auch als eine Lebensmöglichkeit, lebte er doch umso stärker als Erinnerung in ihr weiter.
Und als sich der Schock über seinen Tod gelegt hatte und auch die Erinnerung an ihn langsam verblasste, brachte sie ihr Kind zur Welt, das auch seines war.