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Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr
Оглавление1. Das Problem der Ideologie im Marxismus heute
In den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten hat die marxistische Theorie eine bemerkenswerte, aber einseitige und ungleichmäßige Wiederbelebung erfahren. Einerseits wurde sie erneut zum hauptsächlichen Gegenpol zur ›bürgerlichen‹ Gesellschaftstheorie. Andererseits sind viele junge Intellektuelle durch diese Wiederbelebung hindurch gegangen und nach einer hitzigen und raschen Lehrzeit auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Sie haben mit dem Marxismus ›ihre Rechnung beglichen‹ und sind aufgebrochen zu neuen intellektuellen Feldern – aber nicht ganz. Der Post-Marxismus bleibt eine unserer größten und blühendsten zeitgenössischen Schulen. Die Post-Marxisten verwenden marxistische Konzepte, wobei sie ständig deren Unangemessenheit demonstrieren. Tatsächlich scheinen sie noch immer auf den Schultern gerade derjenigen Theorien zu stehen, die sie soeben endgültig zerstört haben. Hätte es den Marxismus nicht gegeben, der ›Post-Marxismus‹ hätte ihn erfinden müssen, damit seine weitere ›Dekonstruktion‹ den ›Dekonstrukteuren‹ fernerhin etwas zu tun gibt. Der Marxismus erhält damit die kuriose Eigenschaft eines Lebens-nach-dem-Tode. Er wird ständig ›überwunden‹ und ›bewahrt‹. Dieser Vorgang lässt sich von nirgendwo lehrreicher beobachten als vom Standpunkt des Ideologieproblems.
Ich beabsichtige weder, den genauen Windungen und Wendungen dieser neueren Auseinandersetzungen nachzuspüren, noch versuche ich, die sie begleitenden verschlungenen Theoriebildungen zu verfolgen. Stattdessen möchte ich die Debatten über Ideologie in den weiteren Kontext der marxistischen Theorie als ganzer stellen. Ich möchte sie auch als ein allgemeines Problem darstellen, da es sowohl ein Problem der Theorie als auch ein politisches und strategisches Problem ist. Ich möchte die schlagendsten Schwächen und Grenzen in den Formulierungen des klassischen Marxismus über Ideologie ausmachen und einschätzen, was erreicht wurde, was vergessen werden kann und was im Lichte der Kritiken festgehalten – und vielleicht umgedacht – werden muss.
Zunächst aber: warum hielt das Ideologieproblem einen so hervorragenden Platz innerhalb der marxistischen Diskussion der letzten Jahre besetzt? Perry Anderson beobachtete in seiner Bestandsaufnahme der westeuropäischen marxistischen Intellektuellenszene (Anderson 1978) die intensive Beschäftigung dieser Kreise mit Problemen, die sich auf Philosophie, Epistemologie, Ideologie und auf die Überbauten beziehen. Er sah dann eindeutig eine Deformation in der Entwicklung marxistischen Denkens. Der Vorrang dieser Fragen im Marxismus reflektiere die allgemeine Isolation westeuropäischer marxistischer Intellektueller von den Erfordernissen politischer Massenkämpfe und -organisationen; die Abgetrenntheit ihrer »extrem schwierigen Sprache«, die »niemals durch eine direkte oder aktive Beziehung zu einem proletarischen Publikum kontrolliert« wurde (ebd., 83); ihre Distanz zur popularen Praxis und ihre fortdauernde Unterstellung unter die Herrschaft bürgerlichen Denkens. Dies resultierte, so Anderson, in einer allgemeinen Abwendung von den klassischen Themen und Problemen des reifen Marx und des Marxismus. Die übermäßige Beschäftigung mit dem Ideologischen könne als beredtes Zeichen dafür genommen werden.
Vieles spricht für dieses Argument – was diejenigen bezeugen werden, die die theoretizistische Flutwelle im ›westlichen Marxismus‹ der letzten Jahre überlebt haben. Die Akzentsetzungen des ›westlichen Marxismus‹ mögen wohl die Erklärung sein für die Art und Weise, in der das Ideologieproblem konstruiert, wie die Debatte geführt und bis zu welchem Grad es in die Sphären spekulativer Theorie abstrahiert wurde. Dies darf aber nicht beinhalten, dass die marxistische Theorie, trotz der vom ›westlichen Marxismus‹ produzierten Verzerrungen, getrost auf ihrem festgelegten Weg fortschreitend und der einmal aufgestellten Tagesordnung folgend, das Ideologieproblem an seinem untergeordneten, zweitrangigen Platz belässt. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems hat einen objektiveren Grund. Erstens in den realen Entwicklungen der Mittel, mit denen das Massenbewusstsein geformt und transformiert wird: im massiven Anwachsen der ›Kulturindustrien‹. Zweitens in der beunruhigenden Frage der ›Zustimmung‹ der Mehrzahl der Arbeiterklasse zum System der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften in Europa und damit – entgegen aller Erwartung – deren teilweiser Stabilisierung. Selbstverständlich wird der ›Konsensus‹ nicht durch die Mechanismen der Ideologie allein aufrechterhalten. Beides kann aber nicht getrennt werden. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems spiegelt auch wirkliche theoretische Schwächen der ursprünglichen marxistischen Formulierungen über Ideologie wider. Und es wirft Licht auf einige der entscheidendsten Fragen der politischen Strategie und der Politik der sozialistischen Bewegung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.
Beim kurzen Überblick über einige dieser Fragen möchte ich nicht so sehr die Theorie als vielmehr das Problem der Ideologie in den Vordergrund stellen. Das Problem der Ideologie ist, innerhalb einer materialistischen Theorie zu erklären, wie gesellschaftliche Ideen entstehen. Wir müssen verstehen, welche Rolle sie in einer bestimmten Gesellschaftsformation spielen, um den Kampf für die Veränderung der Gesellschaft zu orientieren und den Weg zu bahnen für eine sozialistische Transformation. Unter Ideologie verstehe ich die mentalen Rahmen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn zu geben, sie zu definieren, auszugestalten, verständlich zu machen.
Das Ideologieproblem betrifft deshalb die Art und Weise, in der verschiedenartige Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und dadurch zur ›materiellen Gewalt‹ werden. In dieser mehr politischen Perspektive hilft uns die Ideologietheorie, zu analysieren, wie ein bestimmter Set von Ideen die gesellschaftliche Denkweise eines historischen Blocks – in Gramscis Sinne – dominiert und damit dazu beiträgt, solch einen Block von innen her zu vereinheitlichen und seine Herrschaft und Führerschaft über die Gesellschaft als ganze aufrecht zu erhalten. Es hat insbesondere etwas mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpasst und sie mit ihm versöhnt. Es hat auch zu tun mit den Prozessen, durch die neue Bewusstseinsformen, neue Entwürfe der Welt entstehen, die die Volksmassen zur historischen Tat gegen das herrschende System bewegen. Bei einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Kämpfen stehen diese Fragen auf dem Spiel. Sie müssen geklärt werden, um das Terrain des ideologischen Kampfes besser zu verstehen und zu meistern. Dazu brauchen wir nicht nur eine Theorie, sondern eine Theorie, die der Komplexität dessen angemessen ist, was wir zu erklären versuchen.
In den Werken von Marx und Engels ist eine solche Theorie nicht schon fix und fertig verpackt. Marx entwickelte keine allgemeine Erklärung der Funktionsweise gesellschaftlicher Ideen, die vergleichbar wäre mit seinem historischtheoretischen Werk über die ökonomischen Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise. Seine Anmerkungen auf diesem Gebiet zielten nie auf einen ›gesetzmäßigen‹ Status. Missversteht man sie als Aussagen von jener mehr theoretisch exakten Art, landet man dort, wo das Problem der Ideologie einst für den Marxismus begann. Tatsächlich erfolgte seine Theoretisierung dieses Gegenstandes viel mehr ad hoc. Folglich unterliegt der Marxsche Gebrauch des Ausdrucks ›Ideologie‹ starken Schwankungen. Heutzutage hat er – wie man an der oben von mir vorgeschlagenen Definition sehen kann – einen viel weiteren, mehr deskriptiven und weniger systematischen Bezug als in den klassischen marxistischen Texten. Wir benutzen ihn heute, um auf alle organisierten Formen gesellschaftlichen Denkens zu verweisen. Diese Verwendungsweise lässt den Grad und die Natur der ›Verzerrungen‹ dieses Denkens offen. Mit Sicherheit verweist er mehr auf den Bereich des praktischen Denkens und Urteilens (auf die Form also, in der die meisten Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und sie zur Tat bewegen können) als einfach auf gründlich ausgearbeitete und in sich konsistente ›Denksysteme‹.
Wir meinen damit sowohl das praktische als auch theoretische Wissen, das die Leute dazu befähigt, sich die Gesellschaft ›auszugestalten‹, und in dessen Kategorien und Diskursen wir unsere objektive Positionierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ›ausleben‹ und ›erfahren‹.
2. Marx’ Ideologiemodell und seine Kritiker: Dekonstruktion‹ oder Rekonstruktion
Marx hat den Ausdruck ›Ideologie‹ praktisch bei vielen Gelegenheiten so verwendet. Seine Verwendung in dieser Bedeutung ist also tatsächlich durch sein Werk sanktioniert. So sprach er in einer berühmten Passage zum Beispiel von den »ideologischen Formen, worin sich die Menschen … [eines] Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten« (MEW 13, 9). Im Kapital spricht er häufig in Nebenbemerkungen das »gewöhnliche Bewusstsein« des kapitalistischen Unternehmers oder die Denkformen des kapitalistischen »Alltagslebens« an. Er meint damit die Formen spontanen Denkens, in denen der Kapitalist sich die Funktionen des kapitalistischen Systems vorstellt und seine praktischen Verhältnisse dazu ›lebt‹ (d.h. wirklich erlebt). In der Tat gibt es schon hier Anhaltspunkte für die späteren Verwendungsweisen des Ausdrucks, von denen viele wohl nicht glauben würden, dass sie durch Marx’ eigenes Werk gerechtfertigt sind. Die spontanen Formen des praktischen bürgerlichen Bewusstseins zum Beispiel sind real, aber sie können keine adäquaten Gedankenformen sein, da es Aspekte des kapitalistischen Systems gibt – zum Beispiel die Produktion des Mehrwerts –, die mit den herkömmlichen Kategorien einfach nicht gedacht oder erklärt werden können. Andererseits können sie auch nicht einfach falsch sein, da diese praktischen Bürger anscheinend durchaus in der Lage sind, ohne die Hilfe eines anspruchsvolleren oder ›richtigeren‹ Verständnisses dessen, worin sie sich bewegen, Profite zu machen, das System zu bedienen, seine Verhältnisse aufrechtzuerhalten, die Arbeit auszubeuten.
Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Man kann aus Marx’ Worten durchaus ableiten, dass derselbe Set von Verhältnissen – der kapitalistische Kreislauf – auf mehrere, verschiedene Arten dargestellt oder (wie die moderne Schule sagen würde) innerhalb verschiedener Diskurssysteme repräsentiert werden kann. Da gibt es – um nur drei zu nennen – den Diskurs des ›bürgerlichen common sense‹, die anspruchsvollen Theorien der klassischen politischen Ökonomen wie Ricardo, von dem Marx so viel gelernt hat, und natürlich Marx’ eigenen theoretischen Diskurs, den Diskurs des Kapital selbst.
Sobald wir uns von einer religiösen und doktrinären Marx-Lektüre lösen, sind die Verbindungswege zwischen vielen der klassischen Verwendungsweisen des Ideologiebegriffs und seinen neueren Ausarbeitungen nicht mehr so geschlossen, wie es uns gegenwärtige theoretizistische Polemiken glauben machen wollen. Tatsache ist jedoch, dass Marx den Ausdruck ›Ideologie‹ meistens verwendete, um speziell auf die Äußerungsformen bürgerlichen Denkens zu referieren, vor allem auf dessen negative und verzerrte Merkmale. Er neigte auch dazu – zum Beispiel in der Deutschen Ideologie, dem gemeinsamen Werk von Marx und Engels –, diesen Ausdruck im Kampf gegen seiner Auffassung nach unrichtige Ideen zu verwenden – oft gegen gut unterrichtete und systematische Ideen (die wir heute ›theoretische Ideologien‹ oder, Gramsci folgend, ›Philosophien‹ nennen, im Gegensatz zu den Kategorien des praktischen Bewusstseins oder zu dem, was Gramsci den ›Alltagsverstand‹ nannte). Marx gebrauchte den Ausdruck als eine kritische Waffe gegen die spekulativen Mysterien des Hegelianismus, gegen die Religion und die Religionskritik, gegen die idealistische Philosophie und die vulgären und degenerierten Varianten der politischen Ökonomie. In Die Deutsche Ideologie und Das Elend der Philosophie bekämpften Marx und Engels bürgerliche Ideen. Sie fechten die antimaterialistische Philosophie an, die die Herrschaft solcher Ideen untermauerte. Um ihre Polemik zuzuspitzen, vereinfachten sie viele ihrer Formulierungen. Unsere nachfolgenden Probleme entstanden teilweise dadurch, dass diese polemischen Umkehrungen als Grundlage für die Arbeit einer allgemeinen positiven Theoriebildung betrachtet wurden.
Innerhalb dieses breiten Rahmens der Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Ideologie‹ gelangte Marx zu bestimmten vollständiger ausgearbeiteten Thesen, die dann die theoretische Basis der Theorie in ihrer so genannten klassischen Form bildeten. An erster Stelle die materialistische Prämisse: Ideen entstehen aus den materiellen Bedingungen und Umständen, in denen sie hervorgebracht werden, und sie spiegeln diese wider. Sie drücken gesellschaftliche Verhältnisse und deren Widersprüche im Denken aus. Besonders die Vorstellung, dass die Ideen den Motor der Geschichte liefern und unabhängig von den materiellen Verhältnissen sich weiterentwickeln und ihre eigenen autonomen Effekte erzeugen, wird als das Spekulative und Illusorische in der bürgerlichen Ideologie dargestellt. Zweitens die These von der Determiniertheit: Ideen sind lediglich die abhängigen Effekte der letztlich determinierenden Ebene der Gesellschaftsformation – des Ökonomischen in letzter Instanz –, so dass Veränderungen des Letzteren sich früher oder später als entsprechende Modifikationen der Ersteren bemerkbar machen. Drittens die festen Entsprechungen zwischen der Herrschaft in der sozioökonomischen Sphäre und im Ideologischen: die ›herrschenden Ideen‹ sind die Ideen der ›herrschenden Klasse‹ – die Klassenlage der Letzteren liefert dabei die Kopplung und Garantie der Korrespondenz mit den Ersteren.
Die Kritik an der klassischen Theorie zielte auf genau diese Aussagen. Zu sagen, Ideen sind ›bloße Reflexe‹, begründet zwar ihren Materialismus, belässt sie aber ohne spezifische Wirksamkeit in einem Bereich reiner Abhängigkeit. Sagt man, dass Ideen ›in letzter Instanz‹ durch das Ökonomische determiniert sind, begibt man sich auf den Weg des ökonomischen Reduktionismus. Ideen können letztlich auf das Wesen ihrer Wahrheit reduziert werden – ihren ökonomischen Gehalt. Der einzige Halt vor diesem letztendlichen Reduktionismus ergibt sich durch den Versuch, ihn etwas zu verzögern und sich durch eine wachsende Zahl von ›Vermittlungen‹ einen Manövrierraum zu erhalten. Zu sagen, dass die Herrschaft einer Klasse die Garantie der Vorherrschaft bestimmter Ideen ist, heißt, sie dieser Klasse als ausschließliches Eigentum zuzuschreiben und einzelne Bewusstseinsformen als klassenspezifisch zu definieren.
Es sollte festgehalten werden, dass diese Kritiken, obgleich sie sich direkt auf Formulierungen beziehen, die das Ideologieproblem betreffen, in der Tat den Gehalt der allgemeineren, umfassenderen Kritiken rekapitulieren, die gegen den klassischen Marxismus selbst vorgebracht werden seinen rigiden strukturellen Determinismus, seine zwei Varianten des Reduktionismus – den Ökonomismus und Klassenreduktionismus –, seine Art, die Gesellschaftsformation selbst zu begreifen. Marx’ Ideologie-Modell wurde kritisiert, weil es die Gesellschaftsformation nicht als eine bestimmte komplexe Formation begreife, die zusammengesetzt ist aus verschiedenen Praxen, sondern als eine einfache (oder, wie es Althusser in Für Marx und Das Kapital lesen nannte, als eine ›expressive‹) Struktur. Althusser meinte damit, dass eine Praxis – ›das Ökonomische‹ – unmittelbar alle anderen Praxen determiniert und jede Wirkung einfach und gleichzeitig auf allen anderen Ebenen entsprechend reproduziert (d.h. ›ausgedrückt‹) wird.
Wer die Literatur und die Debatten kennt, wird leicht die Hauptlinien der von verschiedenen Seiten im einzelnen vorgebrachten Revisionen dieser Positionen ausmachen. Sie setzen ein mit Engels’ Kommentaren über das, »was Marx gemeint hat« (besonders in den Altersbriefen), mit der Verneinung, dass es solch einfache Entsprechungen gibt oder dass die ›Überbauten‹ gänzlich ohne eigene spezifische Wirkungen sind. Die Bemerkungen von Engels sind ungeheuer fruchtbar, anregend und produktiv. Sie liefern zwar nicht die Lösung, aber den Ausgangspunkt für jede ernsthafte Reflexion des Ideologieproblems. Die Vereinfachungen entstanden seiner Auffassung nach dadurch, dass Marx sich im Kampf gegen den spekulativen Idealismus seiner Zeit befand. Es waren einseitige Verzerrungen, die notwendigen Übertreibungen der Polemik. Die Kritiken werden weitergeführt durch die groß aufgemachten Bemühungen von marxistischen Theoretikern wie Lukács, die – polemisch – an der strengen Orthodoxie einer bestimmten ›hegelianischen‹ Marx-Lektüre festhielten, während sie praktisch eine ganze Reihe von ›vermittelten und vermittelnden Faktoren‹ einführen, die den Hang zum Ökonomismus und Reduktionismus, wie ihn einige originale Formulierungen von Marx beinhalten, abschwächen und verschieben. Dazu gehört – aber aus einer anderen Richtung kommend – Gramsci, dessen Beitrag weiter unten diskutiert wird. Sie gipfeln in den raffinierten theoretischen Eingriffen Althussers und der Althusserianer, die gegen den Ökonomismus und Klassenreduktionismus und den Ansatz der ›expressiven Totalität‹ kämpfen.
Althussers Revisionen (in Für Marx und insbesondere in dem Aufsatz Ideologie und Ideologische Staatsapparate) haben eine entschiedene Abwendung von dem Ansatz, Ideologie als ›verzerrte Ideen‹ und ›falsches Bewusstsein‹ zu denken, gefördert. Sie haben den Weg zu einer stärker linguistischen oder ›diskursiven‹ Ideologiekonzeption geöffnet. Sie haben die gesamte vernachlässigte Fragestellung auf die Tagesordnung gesetzt, wie Ideologie verinnerlicht wird: Wie kommen wir dazu, ›spontan‹ innerhalb der Grenzen der Denkkategorien zu sprechen, die außerhalb von uns existieren und die, genauer gesagt, uns denken? (Das ist das Problem der so genannten Anrufung der Subjekte im Zentrum des ideologischen Diskurses. In der Folge hat dies dazu geführt, in den Marxismus psychoanalytische Interpretationen der Frage einzubringen, wie Individuen in die ideologischen Kategorien der Sprache überhaupt eintreten.) Indem er (z.B. in Ideologie und Ideologische Staatsapparate) an der Funktion der Ideologie für die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und (in Elemente der Selbstkritik) an dem metaphorischen Nutzen der Basis-Überbau-Metapher festhielt, versuchte Althusser noch einmal so etwas wie eine letzte Umgruppierung auf dem klassischen marxistischen Terrain.
Seine erste Revision aber war zu ›funktionalistisch‹. Wenn es die Funktion der Ideologie ist, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse gemäß den ›Anforderungen‹ des Systems zu ›reproduzieren‹, wie erklärt man dann subversive Ideen oder ideologischen Kampf? Und die zweite war zu ›orthodox‹. Althusser selbst war es, der die ›Basis/Überbau‹-Metapher so gründlich verschoben hatte. Tatsächlich waren die Türen, die er öffnete, genau die Ausgänge, durch die viele die Problematik der klassischen marxistischen Ideologietheorie insgesamt verließen. Sie gaben nicht nur den spezifischen Ansatz von Marx in der Deutschen Ideologie auf, »herrschende Klasse« und »herrschende Ideen« zu koppeln, sondern auch die Beschäftigung mit der Klassenstrukturierung der Ideologie und deren Rolle für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Hegemonie.
Diskurstheorien und psychoanalytische Theorien, die ursprünglich als theoretische Stützen der kritischen Arbeit der Erneuerung und Weiterentwicklung der Theorie gedacht waren, lieferten stattdessen Kategorien, die solche des früheren Paradigmas ersetzten. Auf diese Weise wurden die wirklichen Schwächen und Lücken in der ›objektiven‹ Intention der marxistischen Theorie bei der Frage der Bewusstseinsmodalitäten und der ›Subjektion‹ der Ideologien, auf die Althussers Verwendung der Ausdrücke »Anrufung« (von Freud entlehnt) und »Positionierung« (von Lacan entlehnt) zielen, selbst zum ausschließlichen Gegenstand der Untersuchung. Das einzige Problem der Ideologie war jetzt, wie ideologische Subjekte durch die psychoanalytischen Prozesse geformt werden. Die theoretischen Verbindungsstränge waren damit gelöst. Dies ist der langsame Niedergang der ›revisionistischen‹ Bearbeitung der Ideologie, der schließlich (bei Foucault) mit der Abschaffung der Kategorie ›Ideologie‹ überhaupt endet. Dennoch bestehen diese hochgeistigen Theoretiker – als wären sie von Marx’ Geist verfolgt, der immer noch in der theoretischen Maschinerie herumspukt – aus ziemlich obskuren Gründen weiterhin darauf, dass ihre Theorien ›wirklich‹ materialistisch, politisch, historisch usw. sind.
Ich habe diese Geschichte in stark verkürzter Form rekapituliert, da ich nicht beabsichtige, mich im Detail mit ihren Argumenten und Gegenargumenten zu beschäftigen. Stattdessen möchte ich ihren Faden aufgreifen und ihre Stärke und Überzeugungskraft insofern anerkennen, als sie zumindest die klassischen Aussagen über Ideologie substanziell verändert haben. Angesichts dessen möchte ich einige der früheren Marxschen Formulierungen erneut untersuchen und überlegen, ob sie im Lichte der vorgebrachten Kritiken um- und ausgebaut werden können – wozu die meisten guten Theorien imstande sein sollten – ohne dabei einige ihrer wesentlichen Eigenschaften und Einsichten (die man gewöhnlich den ›rationalen Kern‹ nennt) zu verlieren. Grob gesagt: ich mache das, weil ich – wie ich zu zeigen hoffe – in vielem die Stärke der vorgebrachten Kritiken anerkenne. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass sie jede nützliche Einsicht, jeden wesentlichen Ansatzpunkt in einer materialistischen Ideologietheorie aufheben. Wenn, dem modischen Kanon folgend, im Lichte der vernichtend vorgebrachten, klugen und überzeugenden Kritiken, nichts weiter übrigbleibt, als die Arbeit einer fortwährenden ›Dekonstruktion‹, dann ist dieser Essay einer kleinen, bescheidenen ›Rekonstruktion‹ gewidmet – ohne, wie ich hoffe, durch die rituelle Orthodoxie allzu sehr entstellt zu sein.
3. ›Falsches Bewusstsein‹ oder Pluralität der ökonomischen Diskurse?
Nehmen wir zum Beispiel das äußerst heikle Gebiet der ›Verzerrungen‹ der Ideologie und die Frage des ›falschen Bewusstseins‹. Nun ist unschwer zu sehen, warum solche Formulierungen Marx’ Kritiker dazu brachte, über ihn herzufallen. Der Ausdruck ›Verzerrungen‹ wirft unmittelbar die Frage auf, weshalb Leute, die ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen in den Kategorien einer verzerrten Ideologie leben, nicht erkennen können, dass sie verzerrt ist, während wir es mit unserer überlegenen Weisheit, bewaffnet mit richtig gebildeten Begriffen, können. Sind die ›Verzerrungen‹ einfach Unwahrheiten? Sind es absichtlich geförderte Fälschungen? Wenn ja, durch wen? Funktioniert Ideologie wirklich wie bewusste Klassenpropaganda? Und wenn Ideologie vielmehr Produkt oder Funktion ›der Struktur‹ als einer Gruppe von Verschwörern ist, wie erzeugt dann eine ökonomische Struktur einen im voraus garantierten Set ideologischer Effekte? Offensichtlich sind die Ausdrücke, so wie sie sind, hilflos. Sie lassen sowohl die Massen als auch die Kapitalisten wie erklärte Deppen aussehen. Sie ziehen zudem eine merkwürdige Sichtweise der Bildung alternativer Bewusstseinsformen nach sich. Man muss annehmen, dass diese dann entstehen, wenn den Leuten die Schuppen von den Augen fallen, oder wenn sie, wie aus einem Traum erwacht, das Licht erblicken, das durch die Transparenz der Dinge ummittelbar auf ihre essentielle Wahrheit, deren verborgene strukturelle Prozesse strahlt. Dies ist eine Darstellung der Entwicklung des Arbeiterklassenbewusstseins, die auf dem recht wunderlichen Modell des Heiligen Paulus und der Straße von Damaskus beruht.
Machen wir selbst eine kleine Ausgrabung. Marx nahm nicht an, dass Hegel deshalb, weil er den Höhepunkt spekulativen bürgerlichen Denkens darstellte und die ›Hegelianer‹ sein Denken vulgarisierten und verhimmelten, kein Denker ist, mit dem man rechnen musste, von dem zu lernen sich lohnte. Noch mehr gilt dies für die klassische Politische Ökonomie, von Smith bis hin zu Ricardo, wobei wiederum die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Ebenen einer ideologischen Formation wichtig sind: der klassischen Politischen Ökonomie, die Marx ›wissenschaftlich‹ nannte; der Vulgärökonomie, die mit ›bloßer Apologetik‹ beschäftigt ist; und dem ›Alltagsbewusstsein‹, mit dem die praktischen bürgerlichen Unternehmer ihre Gewinnchancen kalkulieren – orientiert, aber (bis der Thatcherismus aufkam) völlig unbewusst, am Denken von Ricardo oder Adam Smith. Noch aufschlussreicher ist es, wenn Marx betont, dass (a) die klassische Politische Ökonomie tatsächlich ein mächtiges und gehaltvolles wissenschaftliches Werk war, welches (b) nichtsdestoweniger eine wesentliche ideologische Grenze, eine Verzerrung enthielt. Diese Verzerrung hat Marx zufolge nicht unmittelbar etwas zu tun mit Fehlern oder Lücken in der Argumentation, sondern mit einem weitergehenden Verbot. Die verzerrten oder ideologischen Merkmale entsprangen der Tatsache, dass sie die Kategorien der bürgerlichen Politischen Ökonomie, als Grundlage jeder ökonomischen Kalkulation, voraussetzten, da sie es ablehnten, die historische Bedingtheit ihrer Ausgangspunkte und Prämissen zu sehen. Andererseits entsprangen sie der Unterstellung, dass die ökonomische Entwicklung mit der kapitalistischen Produktion nicht bloß ihren bis dahin höchsten Punkt erreicht habe (damit stimmte Marx überein), sondern ihren endgültigen Abschluss und Höhepunkt. Danach konnte es keine neuen Formen ökonomischer Verhältnisse mehr geben. Die Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktion würden ewig fortbestehen. Genaugenommen waren die Verzerrungen in der bürgerlichen theoretischen Ideologie, in ihrer ›wissenschaftlichen‹ Form, nichtsdestoweniger real und substantiell. Zahlreiche Aspekte ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit wurden aber dadurch nicht beseitigt, und sie war daher nicht einfach deshalb falsch, weil sie innerhalb der Grenzen und des Horizonts bürgerlichen Denkens befangen war. Andererseits beschränkten die Verzerrungen ihre wissenschaftliche Gültigkeit, ihre Fähigkeit, über gewisse Punkte hinauszugelangen, ihre eigenen inneren Widersprüche zu lösen, ihre Kraft, außerhalb der Hülle der in ihr widergespiegelten gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken.
Diese Beziehung zwischen Marx und den klassischen Politischen Ökonomen repräsentiert auf weitaus komplexere Weise das Verhältnis von ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ innerhalb einer so genannten wissenschaftlichen Denkweise, als viele von Marx’ Kritikern angenommen haben. Tatsächlich trugen kritische Theoretiker bei ihrer Suche nach größerer theoretischer Strenge, nach einer absoluten Trennung zwischen ›Wissenschaft‹ und ›Ideologie‹ und einem sauberen epistemologischen Bruch zwischen ›bürgerlichen‹ und ›nichtbürgerlichen‹ Ideen selbst erheblich dazu bei, die Beziehungen zu vereinfachen, die Marx weniger theoretisch ausführte als praktisch herstellte (d.h. in der Form, in der er tatsächlich die klassische Politische Ökonomie sowohl als Stütze wie als Gegner benutzte). Wir können die spezifischen ›Verzerrungen‹, die Marx der Politischen Ökonomie vorwarf, umbenennen, um später auf ihre allgemeine Anwendbarkeit zurückzukommen: Marx nannte sie die Verewigung von Verhältnissen, die tatsächlich historisch spezifisch sind, und den Effekt der Naturalisierung, der die Produkte einer spezifisch historischen Entwicklung als universell gültig behandelt, als seien sie nicht durch historische Prozesse entstanden, sondern gewissermaßen von Natur aus.
Wir können einen der umstrittensten Punkte – die ›Falschheit‹ oder die Verzerrungen der Ideologie – von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Es ist bekannt, dass für Marx die spontanen Kategorien des gewöhnlichen bürgerlichen Denkens ihre Grundlage in den Formen auf der ›Oberfläche‹ des kapitalistischen Kreislaufes haben. Marx stellte insbesondere die Bedeutung des Marktes und des Austausches fest, wo Verkäufe und Profite gemacht werden. Dieser Zugang lässt, so Marx, den kritischen Bereich – die ›verborgne Stätte‹ – der kapitalistischen Produktion selbst außer Acht. Einige seiner wichtigsten Formulierungen entspringen diesem Argument.
Zusammengefasst lautet es wie folgt: Der Austausch auf dem Markt erscheint als das, was im Kapitalismus die ökonomischen Prozesse regiert und reguliert. Die Marktverhältnisse stützen sich auf eine Reihe von Elementen, und diese erscheinen (sind repräsentiert) in jedem Diskurs, der von diesem Standpunkt aus versucht, den kapitalistischen Kreislauf zu erklären. Der Markt führt, unter den Bedingungen des gleichen Tauschs, Konsumenten und Produzenten zusammen, die nichts voneinander wissen – und wissen müssen, sofern die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes da ist. Ebenso bringt der Arbeits-Markt jene zusammen, die etwas zu verkaufen (Arbeitskraft) und solche, die etwas dafür zu bezahlen haben (Löhne): ein ›gerechter‹ Preis wird ausgehandelt. Da der Markt wie durch Zauberei funktioniert, indem er ›blindlings‹ die Bedürfnisse und ihre Befriedigung aufeinander abstimmt, gibt es darin keine Zwänge. Wir können ›wählen‹, ob wir kaufen und verkaufen wollen oder nicht (und wohl auch die Konsequenzen tragen: diese Seite ist jedoch nicht so gut repräsentiert in den Marktdiskursen, die auf der positiven Seite der Wahlmöglichkeiten mehr ausgearbeitet sind als bezüglich der negativen Konsequenzen). Käufer und Verkäufer brauchen weder den Antrieb durch guten Willen noch Nächstenliebe oder Kameradschaft, um im Markt-Spiel erfolgreich zu sein. In der Tat funktioniert der Markt am besten, wenn jede Partei sich nur durch ihr Eigeninteresse beraten lässt. Er ist ein System, das durch die realen und praktischen Imperative des Eigeninteresses angetrieben wird. Dennoch verschafft er ringsum eine bestimmte Art von Befriedigung. Der Kapitalist stellt Arbeitskraft ein und macht seinen Profit; der Grundbesitzer vermietet sein Eigentum und erhält eine Rente; die Arbeiterin erhält ihren Lohn und kann so die Lebensmittel kaufen, die sie braucht.
Nun ›erscheint‹ aber der Austausch auf dem Markt auch in einem ganz anderen Sinn. Er ist der Teil des kapitalistischen Kreislaufes, den jeder klar sehen kann, das Stückchen, das wir alle täglich erfahren. Ohne zu kaufen und zu verkaufen, würden wir in einer Geldwirtschaft alle sehr schnell physisch und gesellschaftlich zu einem Stillstand kommen. Sofern wir nicht gründlich in andere Aspekte des kapitalistischen Prozesses verwickelt sind, wissen wir nicht unbedingt viel über die anderen Teile des Kreislaufes, die notwendig sind, wenn Kapital verwertet und der ganze Prozess reproduziert und erweitert werden soll. Und doch gibt es nichts zu verkaufen, wenn keine Waren produziert werden, und es ist zuallererst die Produktion – das jedenfalls hat Marx nachgewiesen –, in der die Arbeit ausgebeutet wird. Währenddessen ist die Art der ›Ausbeutung‹, die eine Marktideologie allenfalls sehen und begreifen kann, das ›Profitieren‹ – einen zu großen Anteil am Marktpreis zu erzielen. Der Markt ist damit der Teil des Systems, dem universell begegnet und der universell erfahren wird. Er ist der augenfällige, sichtbare Teil: der Teil, der beständig erscheint.
Wenn man nun diese generative Kategorienreihe, die auf dem Markttausch basiert, extrapoliert, dann ist es möglich, sie auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen und auch diese als nach einem ähnlichen Modell konstitutiert zu betrachten. Und dass genau dies der Fall ist, deutet Marx in einer mit Recht berühmten Passage an:
»Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« (MEW 23, 189 f)
Kurz, unsere Ideen von ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹, ›Eigentum‹ und ›Bentham‹ (d.h. Individualismus) – die herrschenden ideologischen Prinzipien des bürgerlichen Lexikons und die Schlüsselthemen der Politik, die in unseren Tagen unter den Auspizien von Mrs. Thatcher und dem Neoliberalismus ein machtvolles und unwiderstehliches Comeback auf der ideologischen Bühne erlebt haben – können von den Kategorien abgeleitet werden, die wir in unserem praktischen Alltags-Denken über die Marktwirtschaft verwenden. So entstehen aus der täglichen Welterfahrung die mächtigen Kategorien des bürgerlichen, rechtlichen, politischen, sozialen und philosophischen Denkens.
Dies ist ein kritischer locus classicus der Debatte; Marx extrapolierte daraus einige der Thesen, die dann das umkämpfte Gebiet der Ideologietheorie darstellen sollten. Erstens fixierte er als eine Quelle von ›Ideen‹ einen bestimmten Punkt oder ein bestimmtes Moment des ökonomischen Kreislaufs des Kapitals. Zweitens zeigte er, wie die Übersetzung der ökonomischen in ideologische Kategorien bewirkt werden kann: vom Äquivalententausch auf dem Markt zu den bürgerlichen Begriffen von ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹; von der Tatsache, dass jeder die Tauschmittel besitzen muss, zu den juristischen Kategorien der Eigentumsrechte. Drittens definiert er genauer, was er mit ›Verzerrung‹ meint. Denn dieses ›Abheben‹ von der Stelle des Austauschs im Kapital-Kreislauf ist ein ideologischer Vorgang. Er ›verschleiert, verbirgt, versteckt‹ – die Ausdrücke kommen alle im Text vor – ein anderes Set von Verhältnissen: die Verhältnisse, die nicht an der Oberfläche erscheinen, sondern die »in der verborgnen Stätte der Produktion« (MEW 23, 189) versteckt sind (dort, wo Besitz und Eigentum hausen, wo die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Enteignung von Mehrwert vor sich gehen). Die ideologischen Kategorien ›verbergen‹ diese darrunterliegende Realität und substituieren all diese Verhältnisse durch die ›Wahrheit‹ der Marktverhältnisse.
In vielfacher Hinsicht enthält nun diese Passage all die so genannten Hauptsünden der klassischen marxistischen Ideologietheorie auf einmal: einen ökonomischen Reduktionismus, eine zu einfache Entsprechung zwischen dem Ökonomischen und dem Politisch-Ideologischen; die Unterscheidungen wahr/falsch, Reales/Verzerrung, ›richtiges‹ Bewusstsein/falsches Bewusstsein. Möglich scheint mir jedoch auch eine ›Re-Lektüre‹ der Passage vom Standpunkt vieler zeitgenössischer Kritiken, und zwar in der Weise, dass (a) viele der grundlegenden Einsichten des Originals erhalten bleiben, während sie (b) erweitert werden durch einige der in letzter Zeit entwickelten Ideologietheorien.
Die kapitalistische Produktion wird im Sinne von Marx als Kreislauf definiert. Dieser Kreislauf erklärt nicht nur Produktion und Konsumtion, sondern auch die Reproduktion – die Art und Weise, wie die Bedingungen aufrechterhalten werden, um den Kreislauf in Gang zu halten. Jedes Moment ist lebenswichtig für die Erzeugung und Realisierung des Werts. Jedes legt gewisse determinierende Bedingungen für das andere fest – d.h., jedes ist abhängig vom anderen oder bestimmend für das andere. Wenn also ein Teil des durch Verkauf Realisierten nicht als Lohn an die Arbeit gezahlt wird, kann die Arbeit sich weder physisch noch gesellschaftlich reproduzieren, um am nächsten Tag wieder zu arbeiten und zu kaufen. Damit hängt auch die Produktion von der Konsumtion ab, auch wenn Marx in der Analyse dazu tendiert, den analytisch vorrangigen Wert der Produktionsverhältnisse zu betonen. (Dies hatte selbst wiederum ernsthafte Konsequenzen, weil es bestimmte Marxisten veranlasste, nicht nur der Produktion Priorität einzuräumen, sondern so zu tun, als hätten die Momente der Konsumtion und des Austauschs weder Wert noch Bedeutung für die Theorie – eine fatale, einseitig produktivistische Lesart.)
Ideologisch kann nun dieser Kreislauf auf verschiedene Weise konstruiert werden. Das ist etwas, worauf moderne Ideologietheoretiker insistieren, gegen die vulgäre Ideologie-Konzeption, nach der Ideologie einer festen und unveränderlichen Beziehung entspringt zwischen dem ökonomischen Verhältnis und der Art und Weise, wie dieses sich in Ideen ›ausdrückt‹ oder repräsentiert. Diesen Bruch mit einer einfachen Vorstellung von ökonomischer Determination der Ideologie strebten moderne Theoretiker an durch ihre Anleihen bei neueren Arbeiten über die Natur der Sprache und des Diskurses. Die Sprache ist das Medium par excellence, durch das Dinge im Denken ›repräsentiert‹ werden, und deshalb das Medium, in dem Ideologie erzeugt und transformiert wird. In der Sprache aber kann dasselbe gesellschaftliche Verhältnis unterschiedlich repräsentiert und konstruiert werden, und zwar deshalb, weil die Sprache ihrer Natur nach zu ihrem Referenten nicht in einer eindeutigen Relation fixiert, sondern ›multireferentiell‹ ist: sie kann unterschiedliche Bedeutungen dessen konstruieren, was offenbar dasselbe gesellschaftliche Verhältnis oder Phänomen ist.
Es mag der Fall sein oder auch nicht, dass Marx in der zur Diskussion stehenden Passage eine feste, determinierte und unveränderbare Beziehung zwischen dem Austausch auf dem Markt und seiner Aneignungsweise im Denken unterstellt. Ich denke jedoch nicht, wie man aus dem bisher Gesagten entnehmen kann, dass dem so ist. Nach meiner Auffassung hat ›der Markt‹ in der bürgerlichen politischen Ökonomie und im spontanen Bewusstsein der praktischen Bürger eine, in der marxistischen ökonomischen Analyse aber eine ganz andere Bedeutung. Mein Argument wäre deshalb, dass Marx implizit sagt, es sei ausgesprochen merkwürdig, wenn in einer Welt, in der es Märkte gibt und der Austausch das ökonomische Leben beherrscht, keine Kategorie existieren würde, die uns erlaubt, in Bezug darauf zu denken, zu sprechen und zu handeln. In diesem Sinne drücken alle ökonomischen Kategorien – bürgerliche oder marxistische – bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aus. Ich denke aber, aus dem Argument folgt auch, dass die Marktverhältnisse nicht immer durch dieselben Denkkategorien repräsentiert sind.
Es gibt keine feste und unveränderbare Beziehung zwischen dem, was der Markt ist, und der Art und Weise, wie er in einem ideologischen oder erklärenden Rahmen konstruiert wird. Wir könnten sogar sagen, dass eine der Absichten des Kapital gerade die ist, den Diskurs der bürgerlichen Politischen Ökonomie – den Diskurs, in dem der Markt am geläufigsten und im selbstverständlichsten Sinne verstanden wird – zu verschieben und durch einen anderen zu ersetzen: einen Marktdiskurs, der sich in das marxistische Schema einfügt. Deshalb sind die beiden Zugangsweisen zum Verständnis der Ideologie nicht völlig widersprüchlich, sofern die Stelle nicht allzu buchstäblich genommen wird.
Wie steht es nun mit den ›Verzerrungen‹ der bürgerlichen Politischen Ökonomie als einer Ideologie? Eine Lesart ist, dass sie, da Marx die bürgerliche Politische Ökonomie ›verzerrt‹ nennt, ›falsch‹ sein muss. Diejenigen, die ihr Verhältnis zum ökonomischen Leben ausschließlich in deren Denk- und Erfahrungskategorien leben, haben somit per definitionem ein ›falsches Bewusstsein‹. Hier müssen wir wiederum auf der Hut sein vor zu schnellen Schlussfolgerungen. Zum einen macht Marx einen wichtigen Unterschied zwischen ›vulgären‹ Versionen der Politischen Ökonomie und fortgeschrittenen Versionen wie derjenigen von Ricardo, von der er deutlich sagte, dass sie »wissenschaftlichen Wert« habe. Was kann er aber nun in diesem Kontext mit ›falsch‹ und ›verzerrt‹ meinen?
Er kann nicht meinen, dass der Markt nicht existiere. Der ist in der Tat allzu wirklich. In bestimmter Hinsicht ist er gerade das Lebenselixier des Kapitalismus. Ohne ihn hätte der Kapitalismus niemals den Rahmen des Feudalismus gesprengt; und ohne seine unablässige Kontinuität würde die Zirkulation des Kapitals zu einem plötzlichen und katastrophalen Stillstand kommen. Ich denke, diese Worte machen nur Sinn, wenn wir an eine Darstellung des aus einer Wechselbeziehung zahlreicher Momente bestehenden ökonomischen Kreislaufes denken, die vom Standpunkt eines einzigen dieser Momente erfolgt.
Wenn wir in unserer Erklärung nur ein Moment hervorheben und nicht das differenzierte Ganze oder »Ensemble« berücksichtigen, dessen Teil es ist, oder wenn wir, um den ganzen Prozess zu erklären, Denkkategorien verwenden, die nur einem dieser Momente zugehören – dann riskieren wir eine »einseitige« Darstellung, wie es Marx (im Anschluss an Hegel) nennen würde.
Einseitige Erklärungen sind immer eine Verzerrung. Nicht im Sinne einer Lüge über das System, aber in dem Sinne, dass eine ›Halb-Wahrheit‹ nicht die ganze Wahrheit von irgendetwas sein kann. Mit solchen Vorstellungen wird man immer nur einen Teil des Ganzen repräsentieren. Man wird damit eine Erklärung produzieren, die nur teilweise adäquat – und in diesem Sinne ›falsch‹ – ist. Wenn man ferner nur Marktkategorien und -konzepte verwendet, um den kapitalistischen Kreislauf als ganzen zu verstehen, dann kann man viele seiner Aspekte buchstäblich nicht sehen. In diesem Sinne verdunkeln und mystifizieren die Kategorien des Markts unser Verständnis des kapitalistischen Prozesses: das heißt, sie befähigen uns nicht dazu, Fragen über sie zu sehen und zu formulieren, denn sie machen andere Aspekte unsichtbar.
Hat die Arbeiterin, die ihr Verhältnis zum Kreislauf der kapitalistischen Produktion ausschließlich in den Kategorien eines ›gerechten Preises‹ oder eines ›gerechten Lohns‹ lebt, ein ›falsches Bewusstsein‹? Ja, wenn wir damit meinen, dass es in ihrer Lage etwas gibt, das sie mit den von ihr verwendeten Kategorien nicht begreifen kann; etwas von dem Prozess als ganzem, das systematisch verborgen bleibt, weil die verfügbaren Begriffe ihr nur den Zugriff zu einem seiner vielen Momente erlauben. Nein, wenn wir damit meinen, dass sie sich vollkommen darüber täuscht, was im Kapitalismus vor sich geht.
Die Falschheit entsteht daher nicht aus der Tatsache, dass der Markt eine Illusion, ein Trick, eine Taschenspielerei wäre, sondern sie besteht nur im Sinne einer inadäquaten Erklärung eines Prozesses. Dabei wird ferne an die Stelle des ganzen ein Teil des Prozesses gesetzt – ein Verfahren, das in der Linguistik als »Metonymie‹ und in der Anthropologie, Psychoanalyse und (in einer speziellen Bedeutung) in Marx’ Werk als Fetischismus bekannt ist. Die anderen dabei ›verlorengegangenen‹ Momente des Kreislaufs jedoch sind unbewusst, nicht im Freudschen Sinne als vom Bewusstsein verdrängte, sondern in dem Sinne, dass sie unsichtbar sind bei den gegebenen Begriffen und Kategorien, die wir verwenden.
Dies ist auch hilfreich, um die sonst extrem verwirrende Terminologie im Kapital zu erklären, soweit sie das betrifft, was ›an der Oberfläche erscheint‹ (von dem manchmal gesagt wird, es sei ›bloße Erscheinung‹, das heißt nicht wichtig, nicht die wirkliche Sache), und was ›darunter verborgen‹ und in die Struktur eingebettet ist, weil es nicht auf der Oberfläche liegt. Entscheidend ist jedoch, dass – wie das Beispiel Tausch/Produktion deutlich macht – ›Oberfläche‹ und ›Erscheinung‹ nicht falsch oder illusorisch im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet. Der Markt ist nicht mehr oder weniger ›wirklich‹ als andere Aspekte, zum Beispiel die Produktion. Die Produktion ist in Marx’ Terminologie nur das, womit wir die Kreislaufanalyse beginnen sollten: »… der Akt, worin der ganze Prozess sich wieder verläuft.« (Grundrisse, 15) Aber die Produktion ist vom Kreislauf nicht unabhängig, denn die gemachten Profite und die auf dem Markt gekaufte Arbeitskraft müssen in die Produktion zurückfließen. ›Wirklich‹ drückt deshalb nur einen gewissen theoretischen Primat aus, den die marxistische Analyse der Produktion einräumt. In jedem anderen Sinn ist der Austausch auf dem Markt ein genauso realer, materieller Vorgang und ein absolut ›wirkliches‹ Erfordernis für das System – wie die anderen Teile auch: alle sind »Momente eines Akts« (Grundrisse, 15).
Auch die Ausdrücke ›Erscheinung‹ und ›Oberfläche‹ selbst stellen ein Problem dar. Erscheinungen können etwas konnotieren, das ›falsch‹ ist, Oberflächenformen scheinen nicht so tief zu gehen wie ›Tiefenstrukturen‹. Diese sprachlichen Konnotationen haben den unglücklichen Effekt, dass sie uns die verschiedenen Momente in der Form mehr/weniger real, mehr/weniger wichtig anordnen lassen. Aber von einem anderen Standpunkt aus ist das, was an der Oberfläche ist, was fortwährend erscheint, gerade dasjenige, was wir immer sehen, dem wir täglich begegnen, was wir ganz selbstverständlich als die offensichtliche und manifeste Form des Prozesses annehmen. Es ist dann nicht überraschend, dass wir spontan das kapitalistische System denken im Sinne der Teilstücke, die uns ständig beschäftigen und die so manifest ihre Präsenz bekunden. Was kann die Abpressung von »Mehrarbeit« als ein Begriff ausrichten gegen so handfeste Tatsachen wie die Lohntüte, die Ersparnisse auf der Bank, die Groschen im Automaten, das Geld in der Ladenkasse? Selbst Nassau Senior, der Ökonom aus dem neunzehnten Jahrhundert, konnte die eine Arbeitsstunde, in der die Arbeiter den Mehrwert produzieren statt ihre eigene Subsistenz zu reproduzieren, nicht wirklich als eine solche Tatsache in den Griff bekommen (vgl. MEW 23, 237ff.).
In einer Welt, die vom Geldverkehr durchtränkt und allerorts durch Geld vermittelt ist, ist die Erfahrung des ›Marktes‹ für jeden die unmittelbarste, alltägliche und universelle Erfahrung des ökonomischen Systems. Es ist deshalb nicht überraschend, dass wir den Markt für ganz selbstverständlich nehmen, nicht fragen, was ihn ermöglicht, worauf er gründet oder was er voraussetzt. Es sollte uns nicht verwundern, wenn die Massen der arbeitenden Menschen nicht über die Begriffe verfügen, um an einer anderen Stelle des Prozesses einen Einschnitt zu machen, eine andere Anordnung von Fragen zu entwerfen, und an die Oberfläche zu bringen oder zu enthüllen, was die überwältigende Faktizität des Marktes fortwährend unsichtbar macht. Es ist klar, weshalb wir aus diesen fundamentalen Kategorien, für die wir alltägliche Wörter, Redewendungen und Idiomatische Ausdrücke im praktischen Bewusstsein gefunden haben, das Modell anderer sozialer und politischer Verhältnisse generieren. Schließlich gehören auch sie zum selben System und scheinen ganz nach dessen Muster zu funktionieren. Auf diese Weise sehen wir in der ›Wahlfreiheit‹ auf dem Markt das materielle Symbol der abstrakteren Freiheiten, oder im Eigeninteresse und im Konkurrieren um Marktvorteile die ›Repräsentation‹ von etwas Natürlichem, Normalem und Universalem in der menschlichen Natur selbst.
Ich möchte nun versuchen, einige Schlüsse aus der ›Re-Lektüre‹ der Passage von Marx zu ziehen, die ich vor dem Hintergrund der neueren Kritiken und der vorgebrachten neuen Theorien angeboten habe.
Die Analyse wird nicht mehr durch die Unterscheidung zwischen dem ›Wirklichen‹ und dem ›Falschen‹ organisiert. Die verdunkelnden und mystifizierenden Effekte einer Ideologie werden nicht länger als Produkt einer Täuschung oder einer magischen Illusion betrachtet, noch werden sie einfach einem falschen Bewusstsein zugeschrieben, in das unsere armen, umnachteten, theorielosen Proletarier auf ewig eingekerkert wären. Die Verhältnisse, in denen die Leute leben, sind immer die ›wirklichen Verhältnisse‹, und die Kategorien und Begriffe, die sie verwenden, helfen ihnen, diese gedanklich zu erfassen und zu artikulieren. Aber – und damit bewegen wir uns möglicherweise im Gegensatz zu der Emphase dessen, womit ›Materialismus‹ gewöhnlich assoziiert wird – die ökonomischen Verhältnisse können nicht von sich aus eine bestimmte, festgelegte und unveränderliche Art und Weise vorschreiben, um sie begrifflich zu erfassen. Es kann in unterschiedlichen ideologischen Diskursen ausgedrückt werden. Mehr noch, diese Diskurse können das Denkmodell anwenden und auf andere, im strengen Sinn ideologische Bereiche übertragen. Es kann sich ein Diskurs entwickeln – zum Beispiel der neueste Monetarismus –, der den großen Wert der ›Freiheit‹ ableitet aus der Freiheit vom Zwang, die Frauen und Männer an jedem Werktag wieder auf den Arbeitsmarkt wirft. Auch haben wir die Unterscheidung ›wahr‹ und ›falsch‹ verworfen und durch andere, genauere Ausdrücke wie ›partiell‹, ›adäquat‹ oder ›einseitig‹ und ›in seiner differenzierten Totalität‹ ersetzt. Zu sagen, dass ein theoretischer Diskurs uns ein konkretes Verhältnis adäquat im Denken erfassen lässt, bedeutet, dass der Diskurs uns einen vollständigeren Begriff liefert von den verschiedenen Beziehungen, aus denen dieses Verhältnis sich zusammensetzt, und von den vielfältigen Bestimmungen, die dessen Existenzbedingungen bilden. Das bedeutet, dass unser Zugriff konkret und vollständig ist, statt eine dünne, einseitige Abstraktion zu sein. Einseitige Erklärungen, die partielle, den Teil-fürs-Ganze nehmende Erklärungstypen sind, die uns lediglich erlauben, ein Element (den Markt, z.B.) zu abstrahieren und zu erklären, sind genau auf dieser Grundlage inadäquat; und nur insofern können sie als ›falsch‹ betrachtet werden. Obgleich der Ausdruck streng genommen irreführend ist, wenn wir dabei etwas wie eine einfache Alles-oder-Nichts-Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen oder zwischen Wissenschaft und Ideologie im Kopf haben. Glücklicher- oder unglücklicherweise passen gesellschaftliche Erklärungen selten exakt in solche Schubfächer.
Wir haben bei unserer ›Re-Lektüre‹ auch versucht, einige sekundäre Aussagen aufzunehmen, die aus neueren Theorien über ›Ideologie‹ stammen, im Bemühen zu sehen, ob und inwiefern sie mit den Marxschen Formulierungen inkompatibel sind. Wie wir gesehen haben, bezieht sich die Erklärung auf Begriffe, Ideen, Terminologien, Kategorien, vielleicht auch auf Bilder und Symbole (Geld; Lohntüte; Freiheit), die uns erlauben, einen bestimmten Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses im Denken zu erfassen. Sie versetzen uns in die Lage, uns und anderen vorzustellen, wie das System arbeitet, warum es so funktioniert, wie es funktioniert.
Derselbe Prozess – Produktion und Austausch im Kapitalismus – kann innerhalb unterschiedlicher ideologischer Rahmen mit Hilfe verschiedener ›Repräsentationssysteme‹ ausgedrückt werden. Es gibt den Diskurs über ›den Markt‹, den Diskurs der ›Produktion‹, den Diskurs der ›Kreisläufe‹: jeder produziert eine unterschiedliche Definition des Systems. Jeder verortet uns auch unterschiedlich – als Arbeiter, Kapitalist, Lohnarbeiter, Lohnsklave, Produzent, Konsument usw. Jeder platziert uns als gesellschaftliche Akteure oder als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe in einem besonderen Verhältnis zu dem Prozess und schreibt uns bestimmte gesellschaftliche Identitäten vor. Mit anderen Worten: die verwendeten ideologischen Kategorien positionieren uns in Bezug auf die Darstellung des Prozesses, wie sie im Diskurs geschildert wird. Der Arbeiter/die Arbeiterin, der/die sich als ›Konsument‹ auf seine/ihre Existenzbedingungen im kapitalistischen Prozess bezieht – sozusagen durch dieses Tor in das System eintritt –, hat am Prozess durch eine Praxis teil, die sich von der Praxis derer unterscheidet, die als ›Facharbeiter‹ ins System eingeschrieben sind – oder als ›Hausfrau‹ überhaupt nicht darin eingeschrieben sind. Alle diese Einschreibungen haben Effekte, die real sind. Sie produzieren eine materielle Differenz, da unsere Handlungsweise in bestimmten Situationen davon abhängt, wie wir die Situation definieren.
4. ›Stellungskriege‹: Klassen, Sprache und hegemonialer Kampf
Ich glaube, dass eine ähnliche Art der ›Re-Lektüre‹ vorgenommen werden kann bei einem anderen Set von Aussagen über Ideologie, die in den letzten Jahren heftig umstritten waren: nämlich die Klassendeterminiertheit von Ideen und die direkten Entsprechungen zwischen ›herrschenden Ideen‹ und ›herrschenden Klassen‹. Laclau hat definitiv die Unhaltbarkeit der Aussage gezeigt, dass Klassen als solche die Subjekte fest zugeschriebener Klassenideologien sind (Laclau 1981). Er hat auch die Aussage demontiert, dass bestimmte Ideen und Begriffe ausschließlich zu einer bestimmten Klasse ›gehören‹. Er demonstriert sehr eindrucksvoll, dass keine Gesellschaftsformation diesem Bild der zugeschriebenen Klassenideologien entspricht. Er weist überzeugend nach, warum die Vorstellung, dass besondere Ideen dauerhaft an eine besondere Klasse gebunden sind, dem widerspricht, was wir heute über die tatsächliche Natur der Sprache und des Diskurses wissen. Ideen und Begriffe treten weder in der Sprache noch im Denken in einer solchen vereinzelten, isolierten Weise auf, die Inhalt und Referenz unveränderlich fixiert. Sprache ist im weitesten Sinne der Träger des praktischen, kalkulierenden Denkens und des Bewusstseins, aufgrund der Art und Weise, wie bestimmte Bedeutungen und Gegenstandsbezüge historisch verfestigt wurden. Ihre zwingende Kraft aber beruht auf den ›Logiken‹, die eine Aussage mit einer anderen in einer Kette zusammenhängender Bedeutungen verbinden, dort, wo die sozialen Konnotationen und die historische Bedeutung sich verdichten und zueinander in Resonanz treten. Zudem sind diese Ketten niemals dauerhaft verfestigt, weder in ihren internen Bedeutungssystemen noch in ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Klassen und Gruppen, zu denen sie ›gehören‹. Andernfalls wäre der Begriff des ideologischen Kampfes und die Bewusstseinsveränderung – zentrale Fragen für die Politik jedes marxistischen Projekts – leerer Schein, der Tanz toter rhetorischer Figuren.
Gerade weil die Sprache, das Medium des Denkens und der ideologischen Berechnung, »mehrfach akzentuiert« ist, wie Volosinov sagt, ist das ideologische Feld immer ein Feld von sich überschneidenden Akzenten und der Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen:
»Denn auch die verschiedenen Klassen benutzen ein und dieselbe Sprache. Infolgedessen überschneiden sich in jedem ideologischen Zeichen unterschiedlich orientierte Akzente. Das Zeichen wird zur Arena des Klassenkampfes.(…) Ein Zeichen, das aus der Spannung des sozialen Kampfes ausgesondert wird und sich sozusagen außerhalb des Klassenkampfes befindet, muss notwendigerweise verkümmern, zur Allegorie degenerieren und zum Objekt nicht eines lebendigen Verständnisses, sondern zur Philologie werden.« (Volosinov 1975, 71f.)
Dieser Ansatz ersetzt die Vorstellung fester ideologischer Bedeutungen und den Klassen zugeschriebener Ideologien durch die Begriffe der ideologischen Kampffelder und die Aufgabe der ideologischen Transformation. Die allgemeine Bewegung in diese Richtung, weg von einer abstrakten, allgemeinen Ideologietheorie, hin zur konkreten Analyse, wie Ideen in bestimmten historischen Situationen »die Menschenmassen [›organisieren‹, und das Terrain] bilden …, auf dem die Menschen sich bewegen, Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben, kämpfen usw.«, gibt dem Werk Gramscis – von dem dieses Zitat stammt (Gramsci, 1991ff, Bd. 4, Heft 7, 876) – seine zukunftsträchtige Bedeutung in der Entwicklung marxistischen Denkens des Ideologischen.
Eine der Konsequenzen dieser Art von theoretischer Revisionsarbeit lag häufig darin, das Problem der Klassenstrukturierung der Ideologie und der Art und Weise, in der Ideologie in die gesellschaftlichen Kämpfe eingreift, insgesamt zu beseitigen. Diese Herangehensweise ersetzt häufig die inadäquaten Vorstellungen von den Klassen en bloc zugeschriebenen Ideologien durch eine ebenso unbefriedigende ›diskursive‹ Vorstellung, die das völlig freie Fließen aller ideologischen Elemente und Diskurse beinhaltet. Das Bild von großen, unbeweglichen Klassenbatallionen auf dem Kampffeld, mit dem ihnen zugeschriebenen ideologischen Gepäck und ihren ideologischen Nummernschildern auf dem Rücken, wie es Poulantzas einmal gezeichnet hat (Poulantzas 1974, 204), wird hier ersetzt durch die Unendlichkeit subtiler Variationen, durch welche die Elemente eines Diskurses scheinbar spontan untereinander kombiniert und rekombiniert werden, ohne irgendwelche anderen materiellen Zwänge als die, die durch die diskursiven Operationen selbst geliefert werden.
Nun ist es völlig richtig, dass der Begriff ›Demokratie‹ keine vollständig fixierte Bedeutung hat, die ausschließlich dem Diskurs der bürgerlichen Formen politischer Repräsentation zugeschrieben werden kann. ›Demokratie‹ im Diskurs des ›Freien Westens‹ trägt nicht dieselbe Bedeutung, als wenn wir von ›popular-demokratischem‹ Kampf oder von der Vertiefung des demokratischen Gehalts im politischen Leben sprechen. Wir können nicht zulassen, dass der Ausdruck vollständig vom Diskurs der Rechten entwendet wird. Wir müssen stattdessen ein strategisches Ringen um den Begriff selbst entwickeln. Selbstverständlich ist dies keine rein ›diskursive‹ Operation. Machtvolle Symbole und Slogans dieser Art, die politisch stark aufgeladen sind, pendeln nicht bloß in der Sprache oder in der ideologischen Repräsentation von einer Seite zur anderen. Die Enteignung des Begriffs muss bekämpft werden durch die Entwicklung einer Reihe von Polemiken in der Durchführung besonderer Formen des ideologischen Kampfes: Es geht darum, eine Bedeutung des Begriffs aus dem Bereich des öffentlichen Bewusstseins herauszulösen und sie in die Logik eines anderen politischen Diskurses zu verpflanzen. Gramsci hat gerade gezeigt, dass der ideologische Kampf nicht so vor sich geht, dass die ganze, integrale Denkweise einer Klasse durch ein anderes voll ausgebildetes Ideensystem verdrängt wird:
»Worauf es ankommt, ist die Kritik, der ein solcher ideologischer Komplex von den ersten Vertretern der neuen Geschichtsepoche unterzogen wird: durch diese Kritik ergibt sich ein Prozess der Unterscheidung und der Veränderung im relativen Gewicht, das die Elemente der alten Ideologien besaßen: was zweitrangig und untergeordnet oder auch beiläufig war, wird als hauptsächlich aufgenommen, wird zum Kern eines neuen ideologischen und doktrinalen Komplexes. Der alte Kollektivwille zerfällt in seine widersprüchlichen Elemente, weil die untergeordneten dieser Elemente sich gesellschaftlich entwickeln usw.« (Gramsci, 1991ff, Bd. 5, Heft 8, 1051)
Kurz: Diese Konzeption des ideologischen Kampfes ist die eines ›Stellungskrieges‹. Sie bedeutet auch, die verschiedenen ›Demokratie‹-Konzepte innerhalb einer ganzen Kette assoziierter Ideen zu artikulieren. Und das heißt, diesen Prozess der ideologischen De-Konstruktion und Re-Konstruktion mit einer Reihe organisierter politischer Positionen und mit einer bestimmten Anordnung sozialer Kräfte zu artikulieren. Ideologien werden nicht deshalb als eine materielle Kraft wirksam, weil sie den Bedürfnissen voll ausgebildeter gesellschaftlicher Klassen entspringen. Aber auch das Gegenteil ist wahr – obgleich es das Verhältnis zwischen Ideen und gesellschaftlichen Kräften umgekehrt anordnet: Keine ideologische Konzeption kann jemals materiell wirksam werden, sofern und solange sie nicht artikuliert werden kann mit dem Feld der politischen und gesellschaftlichen Kräfte und den Kämpfen zwischen den verschiedenen Kräften.
Es ist sicherlich nicht notwendigerweise eine Form des Vulgärmaterialismus, wenn wir sagen, dass Ideen – auch wenn wir sie nicht in bestimmten festen Kombinationen der Klassenlage zuschreiben können – tatsächlich aus den materiellen Bedingungen entstehen, in denen die gesellschaftlichen Gruppen und Klassen existieren, und diese widerspiegeln können. In diesem Sinne – das heißt historisch – kann es wohl bestimmte tendenzielle Ausrichtungen geben, zum Beispiel zwischen denen, die zu den Prozessen der modernen kapitalistischen Entwicklung in einem ›Krämerladen‹-Verhältnis stehen, und ihrer Neigung, sich vorzustellen, dass die ganze fortgeschrittene kapitalistische Ökonomie nach Art eines ›Krämerladens‹ begriffen werden kann (vgl. Hall 1982, 118). Ich glaube, dies meinte Marx im Achtzehnten Brumaire, als er sagte, es sei nicht unbedingt notwendig, dass die Leute ihr Geld tatsächlich als Mitglieder des Kleinbürgertums verdienen, damit sie kleinbürgerliche Ideen anziehend finden. Nichtsdestoweniger legte er nahe, dass es eine Verwandtschaft oder gleiche Tendenz gibt zwischen der objektiven gesellschaftlichen Lage dieser Klassenfraktionen und den Schranken und Horizonten des Denkens, zu dem sie spontan hingezogen werden (vgl. MEW 8, 142). Das war ein Urteil über die charakteristischen Denkformen, die idealtypisch bestimmten Positionen in der Gesellschaftsstruktur entsprechen, aber bestimmt keine einfache Gleichsetzung zwischen Klassenpositionen und Ideen in der tatsächlichen historischen Realität. Das Entscheidende bei den historischen Tendenzbeziehungen ist, dass nichts unvermeidlich, notwendig oder für immer festgelegt ist. Die tendenziellen Linien der Kräfte definieren lediglich die Gegebenheit des historischen Terrains.
Sie zeigen an, wie das Terrain historisch strukturiert worden ist. Es ist also durchaus möglich, dem Begriff der ›Nation‹ eine fortschrittliche Bedeutung und Konnotation zu geben, die »Schaffung einen popularnationalen Kollektivwillens« [anzustreben], wie Gramsci ausführte (Gramsci, 1991ff, Bd.7, 1539). In einer Gesellschaft wie Großbritannien aber ist der Begriff der Nation bis heute konsistent artikuliert mit der Rechten. Vorstellungen von ›nationaler Identität‹ und ›nationaler Größe‹ sind eng verbunden mit imperialer Vorherrschaft, gefärbt mit rassistischen Konnotationen und untermauert durch eine vierhundertjährige Kolonisationsgeschichte, Weltmarktbeherrschung und weltweite Schicksalsmacht über eingeborene Völker. Es ist deshalb äußerst schwierig, der Vorstellung von ›Britannien‹ eine gesellschaftlich radikale oder demokratische Referenz zu geben. Diese Assoziationen sind nicht für alle Zeit gegeben. Aber sie sind schwer aufzubrechen, da das ideologische Terrain dieser besonderen Gesellschaftsformation so machtvoll durch ihre Vorgeschichte in dieser Weise strukturiert wurde. Diese historischen Zusammenhänge definieren die Art und Weise, wie das ideologische Terrain einer einzelnen Gesellschaft eingeteilt wurde. Das sind die von Gramsci erwähnten ›Spuren‹: die »verfestigte[n] Schichtungen in der Popularphilosophie« (Gramsci, 1991 ff, Bd. 6, Heft 11, 1376)), die keinen Bestand mehr haben, aber die Felder abstecken und definieren, auf denen der ideologische Kampf sich tendenziell abspielt.
Für Gramsci war das vor allem das Terrain dessen, was er den »Alltagsverstand« nannte: eine historische, keine natürliche oder universelle oder spontane Form popularen Denkens, notwendigerweise fragmentarisch, zerstückelt und episodisch. Der Alltagsverstand ist aus sehr widersprüchlichen ideologischen Formen zusammengesetzt: man findet in ihm »Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird« (ebenda). Und Gramsci betonte nun, dass genau auf diesem Terrain der ideologische Kampf am häufigsten stattfindet, weil dieses Netzwerk von präexistierenden Spuren und Elementen des gesunden Menschenverstandes für die Masse des Volkes den Bereich des praktischen Denkens konstituiert. Der »Alltagsverstand« wurde zu einem der Einsätze, um die der ideologische Kampf geführt wird. Und letztlich wird »die Beziehung zwischen ›höherer‹ Philosophie und Alltagsverstand wird von der ›Politik‹ gewährleistet« (Gramsci 1991, Bd. 6, Heft 11, 1382).
Ideen werden letzten Endes nur dann wirksam, wenn sie sich mit einer bestimmten Konstellation gesellschaftlicher Kräfte verbinden. In diesem Sinne ist der ideologische Kampf ein Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Kampfes um Herrschaft und Führung – kurz, um Hegemonie. Für die »Hegemonie« in Gramscis Sinne aber ist wesentlich nicht das bloße Hinaufarbeiten einer ganzen Klasse zur Macht, mit ihrer voll ausgebildeten ›Philosophie‹, sondern der Prozess, durch den ein historischer Block gesellschaftlicher Kräfte konstruiert und die Überlegenheit dieses Blocks gesichert wird. Wir begreifen also das Verhältnis zwischen ›herrschenden Ideen‹ und ›herrschenden Klassen‹ am besten, wenn wir es im Sinne von Prozessen ›hegemonialer Herrschaft‹ denken.
Gibt man andererseits die Frage oder das Problem der ›Herrschaft‹ – der Hegemonie, Beherrschung und Autorität – auf, weil die Art, in der es ursprünglich gestellt wurde, unbefriedigend ist, würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Herrschaft der herrschenden Ideen wird nicht dadurch garantiert, dass sie immer schon mit den herrschenden Klassen gekoppelt sind. Vielmehr ist die wirksame Kopplung herrschender Ideen an den historischen Block, der in einer bestimmten Periode hegemoniale Macht erlangt hat, genau das, was der Prozess des ideologischen Kampfes sicherstellen will. Sie ist das Ziel der Übung – nicht die Aufführung eines schon geschriebenen und abgeschlossenen Drehbuchs.
5. Für eine nicht-ökonomistische Theorie der ökonomischen ›Determination‹
Es dürfte klar sein, dass dieses Argument sehr weitgehende Konsequenzen hat für die Entwicklung der marxistischen Theorie insgesamt, obgleich es hier nur in Verbindung mit dem Ideologieproblem dargelegt wurde. In Frage steht eine bestimmte Konzeption von ›Theorie‹: Theorie als Ausarbeitung einer Reihe von Garantien. Umstritten ist auch eine bestimmte Definition von ›Determination‹. Ausgehend von der Lektüre, die ich oben vorgeschlagen habe, ist klar, dass der ökonomische Aspekt des kapitalistischen Produktionsprozesses wirkliche begrenzende und einschränkende (d.h. determinierende) Wirkungen auf die Kategorien hat, in denen die Produktionskreisläufe ideologisch gedacht werden und umgekehrt. Das Ökonomische liefert das Repertoire an Kategorien, die im Denken verwendet werden. was das ökonomische nicht kann, ist (a) die Inhalte bestimmter Gedanken bestimmter gesellschaftlicher Klassen oder Gruppen zu einer bestimmten Zeit zu liefern, (b) ein für allemal festzulegen oder zu garantieren, von welchen Ideen welche Klasse Gebrauch machen wird. Das Determinierende des ökonomischen für das Ideologische kann deshalb nur darin liegen, dass es die Grenzen setzt für die Definition des Operationsfeldes, indem es das ›Rohmaterial‹ des Denkens festlegt. Die materiellen Umstände sind ein Netz von Zwängen, die ›Existenzbedingungen‹ für praktisches und vorausschauendes Denken über die Gesellschaft.
Diese Konzeption der ›Determination‹ unterscheidet sich von der des ›ökonomischen Determinismus‹ im gewöhnlichen Sinn, oder derjenigen, die aus dem Denken der Beziehungen der verschiedenen Praxen in einer Gesellschaftsformation nach dem Muster der expressiven Totalität folgt. Die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Ebenen sind in der Tat determiniert, das heißt: sie sind wechselseitig determinierend. Die Struktur der gesellschaftlichen Praxen – das Ensemble – ist jedoch deshalb weder frei fließend noch immateriell. Es ist aber auch keine transitive Struktur, die ausschließlich als Übertragung der Effekte in einer Richtung, von der Basis nach oben, zu verstehen ist. Das ökonomische kann nicht eine endgültige Geschlossenheit im Bereich des Ideologischen bewirken, in dem präzisen Sinne, dass ständig ein bestimmtes Resultat garantiert wird. Es kann nicht immer ein bestimmtes Set von Entsprechungen gewährleisten oder bestimmten Klassen bestimmte Denkweisen liefern, die ihrer Stellung innerhalb seines Systems entsprechen. Dies genau deshalb, weil (a) ideologische Kategorien nach ihren eigenen Entwicklungs- und Evolutionsgesetzen entfaltet, generiert und transformiert werden, obwohl sie selbstverständlich aus dem gegebenen Material heraus erzeugt werden; und (b) aufgrund der notwendigen ›Offenheit‹ der historischen Entwicklung für die Praxis und den Kampf. wir müssen die reale Unbestimmtheit des Politischen anerkennen – der Ebene, die alle anderen Praxisebenen verdichtet und deren Funktionieren in einem bestimmten Machtsystem gewährleistet.
Diese relative Offenheit oder relative Unbestimmtheit ist auch notwendig für den Marxismus selbst als eine Theorie. Das ›Wissenschaftliche‹ der marxistischen Politiktheorie liegt darin, dass sie die Grenzen politischer Handlungen zu verstehen sucht, die gegeben sind durch das Terrain, auf dem sie operieren. Dieses Terrain wird nicht durch Kräfte definiert, die wir mit naturwissenschaftlicher Exaktheit vorhersagen können, sondern durch die bestehende Balance der gesellschaftlichen Kräfte, durch die spezifische Art der konkreten Konjunktur. Der Marxismus ist ›wissenschaftlich‹, weil er sich selbst als determiniert versteht und weil er eine Praxis zu entwickeln sucht, die theoretisch orientiert ist. Aber er ist nicht ›wissenschaftlich‹ in dem Sinne, dass die politischen Resultate und die Konsequenzen der Führung politischer Kämpfe in den ökonomischen Sternen vorherbestimmt sind.
Ein Verständnis von ›Determination‹ eher im Sinne von Grenzziehungen, der Festlegung von Parametern, der Definierung von Handlungsräumen, der konkreten Existenzbedingungen, der ›Gegebenheit‹ gesellschaftlicher Praxen, als im Sinne der absoluten Vorhersagbarkeit bestimmter Resultate, ist die einzige Grundlage eines ›Marxismus ohne Gewähr‹. Es bildet den offenen Horizont marxistischer Theoriebildung – eine Determiniertheit ohne eine von vornherein garantierte Geschlossenheit. Das Paradigma gänzlich abgeschlossener, vollkommen vorhersagbarer Denksysteme ist Religion oder Astrologie, nicht Wissenschaft. Aus dieser Perspektive wäre es vorzuziehen, den ›Materialismus‹ der marxistischen Theorie als ›Determination durch das Ökonomische in erster Instanz‹ zu denken, weil der Marxismus sicher zu Recht gegen jeden Idealismus daran festhält, dass keine gesellschaftliche Praxis oder keine Anordnung von Verhältnissen frei von den determinierenden Effekten der konkreten Verhältnisse dahinschwebt, in denen sie angesiedelt ist. Die ›Determination in letzter Instanz‹ war dagegen lange Zeit der Zufluchtsort für den verlorenen Traum oder die Illusion der theoretischen Gewissheit Und das wurde zu einem hohen Preis erkauft, weil Gewissheit Orthodoxie stimuliert, die eingefrorenen Rituale und die Intonation der bereits bezeugten Wahrheit und all die anderen Attribute einer Theorie, die unfähig ist zu frischen Einsichten. Sie repräsentiert das Ende des Prozesses der Theorie, der Entwicklung und Verfeinerung neuer Begriffe und Erklärungen, die allein das Zeichen eines lebendigen Denkens ist, das noch etwas von der Wahrheit über neue historische Realitäten aufnehmen und begreifen kann.
Aus dem Englischen von Thomas Weber