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Die Formierung eines Diaspora-Intellektuellen1
ОглавлениеInterview mit Stuart Hall. Die Fragen stellt Kuan-Hsing Chen
KHC: In deinen jüngsten Arbeiten über »Rasse« und Ethnizität ist der Begriff der Diaspora zentral – es ist einer der entscheidenden Orte, von denen aus die Frage nach der kulturellen Identität gestellt wird. Zuweilen hast du Elemente deiner eigenen Diaspora-Erfahrung sehr überzeugend eingesetzt, um bestimmte theoretische und politische Problematiken zu untersuchen.2 Was mich interessiert, ist, wie die verschiedenen historischen Entwicklungen (trajectories) deine Diaspora-Erfahrungen und deine intellektuellen und politischen Positionen geformt haben.
SH: Ich bin in Jamaika geboren und in einer Familie der Mittelklasse aufgewachsen. Mein Vater hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, in der United Fruit Company zu arbeiten. Auf jeder Stelle, die er hatte, war er der erste Jamaikaner, der je befördert wurde; vor ihm waren diese Stellen vor allem von Leuten besetzt, die von der Leitung in den USA heruntergeschickt wurden. Es ist wichtig, die »Klassenfraktionen« und die »Farbfraktionen« zu verstehen, aus denen meine Eltern kamen. Sowohl die Familie meines Vaters als auch die meiner Mutter gehörten zur Mittelklasse, aber sie kamen aus sehr verschiedenen Klassenformationen. Mein Vater gehörte zur farbigen unteren Mittelklasse. Sein Vater hatte eine Apotheke in einem armen Dorf auf dem Lande, außerhalb Kingstons. Die Familie war ethnisch sehr gemischt – afrikanisch, ostindisch, portugiesisch, jüdisch. Die Familie meiner Mutter hatte eine sehr viel hellere Hautfarbe; wenn du ihren Onkel gesehen hättest, hättest du ihn für einen englischen Auswanderer gehalten, fast weiß, oder was wir das »lokale Weiß« nannten. Sie wurde von einer Tante adoptiert, deren Söhne – einer ein Anwalt, einer ein Arzt – in England ausgebildet worden waren. Sie wuchs in einem schönen Haus auf einem Hügel auf, das über dem kleinen Besitz lag, von dem die Familie lebte. Meine Familie setzte sich also kulturell aus dieser unteren, jamaikanischen Mittelklasse zusammen, die vom Land kam und von dunkler Hautfarbe war und aus der hellhäutigen Fraktion, die sich auf England und auf die Plantage orientierte.
Was also in meiner Familie von Anfang an kulturell ausgetragen wurde, war der Konflikt zwischen dem lokalen und dem imperialen, kolonisierten Kontext. Diese beiden Klassenfraktionen standen im Gegensatz zur Mehrheitskultur der armen jamaikanischen schwarzen Menschen: sie hatten ein ausgeprägtes Klassen- und Hautfarbenbewusstsein und identifizierten sich mit den Kolonisatoren.
Ich war das schwärzeste Mitglied meiner Familie. Eine Geschichte darüber wurde immer als Witz erzählt: meine Schwester, die sehr viel heller war als ich, schaute nach meiner Geburt in die Wiege und sagte: »Wo habt ihr denn das Coolie-Baby her?« »Coolie« ist in Jamaika ein Schimpfwort für einen armen Ostinder, der als das Unterste vom Untersten galt. Mein Schwester hätte also nicht gesagt: »Wo habt ihr das schwarze Baby her?«, denn es war undenkbar, dass sie einen schwarzen Bruder haben könnte. Aber sie bemerkte doch, dass ich eine andere Farbe hatte als sie. Das ist in Mittelklasse-Familien in Jamaika sehr üblich, weil sie ein Produkt von Verbindungen zwischen afrikanischen Sklaven und europäischen Sklavenhaltern sind und sie daher Kinder verschiedenster Schattierungen hervorbringen.
In meiner Familie hatte ich also immer eine Identität als Außenseiter, derjenige, der nicht reinpasste, der schwärzer war als die anderen, »der kleine Coolie«, etc. Und diese Rolle spielte ich konsequent durch. Meine Schulfreunde, die alle von guten Mittelklasse-Familien kamen, aber schwärzer waren als ich, wurden zu Hause nicht akzeptiert. Meine Eltern meinten, ich würde mir nicht die richtigen Freunde aussuchen. Sie haben mich aufgefordert, mich mit Jugendlichen aus Familien anzufreunden, die mehr zur Mittelklasse gehörten, die eine hellere Hautfarbe hatten, aber ich tat es nicht. Stattdessen habe ich mich emotional von meiner Familie distanziert und mich mit meinen Freunden woanders getroffen. Während meiner Jugendzeit habe ich ständig diese kulturellen Räume ausgehandelt.
Mein Vater wollte, dass ich Sport treibe, dass ich in die Clubs eintrat, in denen er war. Aber ich dachte immer, dass er selbst eigentlich nicht so recht in diese Welt passte. Er erhandelte sich seinen Weg in diese Welt. Er wurde von den Engländern geduldet. Ich konnte sehen, wie sie ihn paternalistisch behandelten. Das hasste ich am meisten. Nicht nur, dass er zu einer Welt gehörte, die ich zurückwies, ich konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht sah, wie sie ihn verachteten. Ich sagte ihm in Gedanken: »Merkst du denn nicht, dass die in dem Club denken, du seiest ein Eindringling?« Willst du mich da drin haben, damit ich genauso gedemütigt werde?«
Weil meine Mutter auf einer jamaikanischen Plantage aufgewachsen war, glaubte sie, sie sei praktisch »Englisch«. Sie hielt England für das Mutterland, sie identifizierte sich mit der kolonialen Macht. Sie hatte Ziele für uns, ihre Familie, die wir materiell nicht erreichen konnten, aber sie versuchte sie kulturell zu verwirklichen.
Was ich sagen will ist, dass ich die klassischen kolonialen Spannungen als Teil meiner persönlichen Geschichte lebte. Meine eigene Formierung und Identität entstand zu einem großen Teil aus der Zurückweisung des dominanten individuellen und kulturellen Modells, das mir als Vorbild vorgehalten wurde. Ich wollte mir nicht, wie mein Vater, meinen Weg in die US-amerikanische oder englische Geschäftswelt der Auswanderer erbetteln, und ich konnte mich nicht mit dieser alten Plantagenwelt identifizieren, die ihre Wurzeln in der Sklaverei hatte, von der meine Mutter aber als dem »goldenen Zeitalter« sprach. Ich fühlte mich viel eher als unabhängiger jamaikanischer Junge. Aber wo war der Raum für diese Subjektposition in der Kultur meiner Familie?
Dies ist die Periode, in der die jamaikanischen Unabhängigkeitsbewegung sich entwickelte. Als junger Schüler war ich sehr dafür. Ich wurde ein Antiimperialist und identifizierte mich mit der jamaikanischen Unabhängigkeit. Aber meine Familie war nicht dafür. Sie identifizierten sich nicht einmal mit dem Wunsch der nationalen Bourgeoisie nach Unabhängigkeit. Sie waren in dieser Hinsicht sogar anders als ihre eigenen Freunde, die, als der Übergang zur nationalen Unabhängigkeit begann, dachten, »Mindestens werden wir an der Macht sein«. Meine Eltern, besonders meine Mutter, bedauerte das Ende dieser alten kolonialen Welt mehr als alles andere. Es gab eine riesige Kluft zwischen ihren Zielen für mich und meiner eigenen Identität.
KHC: Du meinst also, dein Impuls zur »Revolte« sei aus der jamaikanischen Situation entstanden? Kannst du das ausführen?
SH: Als ein kluger, vielversprechender Schüler wurde ich politisiert; ich war interessiert an dem, was politisch vor sich ging, insbesondere an der Formung jamaikanischer politischer Parteien, dem Entstehen der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung nach 1938, dem Beginn der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen nach Kriegsende: alle diese Entwicklungen gehörten zur postkolonialen oder dekolonisierenden Revolution. Nach Kriegsende begann Jamaika sich in Richtung Unabhängigkeit zu entwickeln. Kluge Jugendliche wie ich und meine Freunde, Jugendliche verschiedener Hautfarbe und aus verschiedenen sozialen Positionen, waren in diese Bewegung involviert, wir identifizierten uns damit. Wir freuten uns auf das Ende des Imperialismus, darauf dass Jamaika sich selbst regieren würde, auf die Autonomie für Jamaika.
KHC: Wie war deine intellektuelle Entwicklung in jener frühen Zeit?
SH: Ich ging in eine kleine Grundschule und später auf eines der großen Colleges. Jamaika hatte eine Reihe von großen Mädchen- und Jungenschulen, die weitgehend nach dem Muster der englischen Privatschulen organisiert waren. Wir machten die englischen Gymnasialprüfungen, bekamen das normale Zeugnis der Cambridge School und machten die A-level-Prüfungen. Es gab keine lokalen Universitäten, wenn man also zur Universität gehen wollte, musste man ins Ausland, nach Kanada, die Vereinigten Staaten oder England. Das Curriculum war nicht lokalisiert. Nur in meinen letzten beiden Jahren auf der Schule lernte ich etwas über die karibische Geschichte und Geographie. Es war eine sehr »klassische« Erziehung; sehr gut, aber sehr formal und akademisch. Ich lernte Latein, englische Geschichte, englische Kolonialgeschichte, Europäische Geschichte, Englische Literatur, etc. Aber wegen meines politischen Engagements interessierte ich mich auch für andere Fragen. Um ein Stipendium zu bekommen, musste man über 18 sein und ich war ziemlich jung, also machte ich die letzte A-level Prüfung zweimal. Ich verbrachte drei Jahre in der sechsten Klasse. Im letzten Jahr begann ich T.S. Eliot, James Joyce, Freud, Marx, Lenin und einiges an Literatur drum herum sowie moderne Lyrik zu lesen. Ich las mehr als in der normalen, engstirnigen, akademischen, britisch orientierten Erziehung üblich. Aber ich wurde doch sehr wie ein Mitglied der kolonialen Intelligenz geformt.
KHC: Kannst du dich an irgendeine Person erinnern, die damals dein Denken beeinflusst hat?
SH: Es gab nicht eine einzelne Person, es gab eine ganze Reihe davon und sie halfen mir in zweierlei Hinsicht. Erst einmal vermittelten sie mir ein starkes Selbstbewusstsein, dass Gefühl, dass ich akademisch leistungsfähig war. Als Lehrer identifizierten sie sich mit den entstehenden nationalistischen Tendenzen. Obwohl sie sehr akademisch waren und sehr auf England orientiert, waren sie sehr offen für die aufkommende nationalistische Karibische Bewegung. Deshalb lernte ich eine ganze Menge von ihnen. Ein Lehrer aus Barbados, der am Codrington College studierte, brachte mir Latein und alte Geschichte bei. Ein schottischer ehemaliger Fußballer aus Corinth brachte mich dazu, in meiner Abschlussprüfung in Geschichte eine Arbeit über aktuelle moderne Politik zu schreiben. Sie handelte von der Nachkriegsgeschichte, dem Krieg und der Zeit danach, was offiziell nicht unterrichtet wurde. Zum ersten Mal lernte ich etwas über den kalten Krieg, die russische Revolution, amerikanische Politik. Ich begann mich für internationale Politik und für Afrika zu interessieren. Er machte mich mit einigen politischen Texten bekannt – obgleich das hauptsächlich geschah, um mich gegen gefährliche marxistische Ideen zu »immunisieren«. Ich verschlang sie. Ich war Mitglied einer Stadtbücherei, die sich »Institute of Jamaica« nannte. Wir konnten Samstag morgens dorthin gehen und lasen Bücher über Sklaverei. Das machte mich mit der karibischen Literatur bekannt. Ich fing an, karibische Schriftsteller zu lesen. Meistens las ich sie alleine, versuchte sie zu verstehen und ich träumte davon, eines Tages Schriftsteller zu werden.
Der Krieg war für mich sehr wichtig. Während des Krieges war ich ein Kind; der Krieg war die alles beherrschende Erfahrung. Ich war mir dessen sehr bewusst. Ich spielte Kriegsspiele und lernte viel darüber, wo diese Orte sich befanden und was es für Orte waren. Ich lernte etwas über Asien, indem ich den US-amerikanischen Krieg auf den Philippinen verfolgte. Ich lernte etwas über Deutschland. Ich folgte den Berichten über die historischen und tagespolitischen Ereignissen während des Krieges. Wenn ich daran zurückdenke, so lernte ich eine Menge einfach dadurch, dass ich auf die Landkarten schaute, die es über den Krieg gab, über die Invasion im fernen Osten und bei den Kriegsspielen mit meinen Freunden. (Ich war oft ein deutscher General und trug ein Monokel!)
KHC: Wie wichtig war Marx oder die Tradition der marxistischen Literatur?
SH: Ich las Texte von Marx – das Kommunistische Manifest, Lohnarbeit und Kapital; ich las Lenin über Imperialismus. Das war für mich mehr im Kontext des Kolonialismus wichtig, als um etwas über den westlichen Kapitalismus zu erfahren. Klassenfragen waren in den politischen Diskussionen über Kolonialismus in Jamaika natürlich präsent. Die Frage der Armut, das Problem der ökonomischen Entwicklung, usw. Viele meiner jungen Freunde, die zur gleichen Zeit zur Universität gingen wie ich, studierten Ökonomie. Ökonomie wurde für die Antwort auf die Frage der Armut gehalten, die Länder wie Jamaika als Konsequenz des Imperialismus und des Kolonialismus erlebten. Ich war vom Standpunkt der Kolonie an der Frage der Ökonomie interessiert. Wenn ich zu jener Zeit ein Ziel hatte, dann nicht, Geschäftsmann zu werden wie mein Vater, sondern Anwalt: Anwalt zu werden war in Jamaika schon der üblichste Weg in die Politik. Oder ich könnte Ökonom werden. Aber ich war mehr an Literatur und Geschichte interessiert als an Ökonomie.
Als ich siebzehn war, bekam meine Schwester einen schweren Nervenzusammenbruch. Sie hatte ein Verhältnis mit einem jungen Studenten, der aus Barbados nach Jamaika gekommen war. Er kam aus der Mittelklasse, war aber schwarz, und meine Eltern erlaubten die Beziehung nicht. Es gab einen riesigen Familienkrach und sie flüchtete daraus in einen Zusammenbruch. Plötzlich wurden mir die Widersprüche der kolonialen Kultur klar, wie man als Individuum die koloniale Abhängigkeit von Farbe und Klasse durchlebt und erlebt und wie einen dies als Subjekt zerstören kann.
Ich erzähle diese Geschichte, weil sie sehr wichtig ist für meine persönliche Entwicklung. Sie hat für mich die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten für immer aufgehoben. Ich habe etwas über Kultur gelernt: dass sie einerseits zutiefst subjektiv und persönlich ist und zugleich eine Struktur, die man lebt. Ich sah wie alle diese abwegigen Erwartungen und Identifikationen, die meine Eltern auf uns, auf ihre Kinder, projizierten, meine Schwester zerstörten. Sie war das Opfer, auf ihr lasteten die widersprüchlichen Ambitionen meiner Eltern in dieser kolonialen Situation. Seitdem kann ich nicht mehr verstehen, warum Leute denken, diese strukturellen Fragen seien nicht mit der Psyche verknüpft, mit Emotionen und Identifikationen. Denn für mich sind diese Strukturen Dinge, die man lebt. Ich meine nicht nur, dass sie persönlich sind, das auch, aber sie sind auch institutionalisiert, sie haben wirkliche strukturelle Eigenschaften, die dich zerbrechen, die dich zerstören.
Das war eine sehr traumatische Erfahrung, weil es damals kaum psychiatrische Hilfe in Jamaika gab. Meine Schwester bekam von einem Arzt eine Reihe von Elektroschock-Therapien, von denen sie sich nie vollständig erholt hat. Sie ist danach nie von zu Hause weggegangen. Sie hat meinen Vater gepflegt bis er starb, sie hat meine Mutter gepflegt bis sie starb. Sie hat meinen Bruder, der blind wurde, gepflegt, bis er gestorben ist. Das war eine furchtbare Tragödie, die ich mit ihr durchlebte, und ich entschied, dass ich das nicht ertragen wollte. Ich konnte ihr nicht helfen, ich konnte sie nicht erreichen, obwohl ich verstand, was das Problem war. Ich war siebzehn, achtzehn.
Aber diese Erfahrung verdichtete meine Gefühle über den Raum, in den meine Familie mich stellen wollte. Ich würde dort nicht bleiben, Ich würde mich davon nicht zerstören lassen. Ich musste raus. Ich hatte das Gefühl, dass ich dorthin nie mehr zurückkehren konnte, weil mich das vernichten würde. Wenn ich Schnappschüsse von mir als Kind und als Jugendlicher anschaue, dann sehe ich das Bild einer depressiven Person. Ich will nicht sein, was sie sind, aber ich weiß nicht, wie ich jemand anders sein kann. Und das alles deprimiert mich. Das ist der Hintergrund, der erklärt, warum ich schließlich auswanderte.
KHC: Hast du seitdem eine sehr enge Beziehung zu deiner Schwester aufrecherhalten, hast du dich, psychoanalytisch gesprochen, mit ihr identifiziert?
SH: Nein, das habe ich nicht. Obwohl dieses ganze System ihr Leben zerstört hat, hat sie nie rebelliert. Also habe ich sozusagen an ihrer Stelle rebelliert. Ich bin aber auch schuldig, weil ich sie zurückgelassen habe, sie musste damit fertig werden. Ich beschloss auszuwandern, um mich selbst zu retten. Sie blieb.
Ich ging 1951, und bis 1957 wusste ich nicht, dass ich nicht zurückkehren würde; ich hatte nie wirklich die Absicht, zurückzugehen, aber das wusste ich nicht. In gewisser Weise kann ich jetzt darüber schreiben, weil ich am Ende eines langen Weges stehe. Nach und nach fing ich an zu begreifen, dass ich ein schwarzer Westinder war, wie jeder andere auch, ich konnte mich dazu verhalten, ich konnte von dieser Position aus, aus ihr heraus schreiben. Es hat eine sehr lange Zeit gedauert, bis ich so schreiben konnte, persönlich. Zunächst konnte ich darüber nur analytisch schreiben. Wenn man so will, habe ich fünfzig Jahre gebraucht, um zu Hause anzukommen. Das Problem war nicht so sehr, dass ich irgendetwas zu verheimlichen hatte. Es war der Raum, den ich nicht besetzen konnte. Ich musste lernen, diesen Raum einzunehmen.
Es wird vielleicht deutlich wie diese Formierung – diese ganze destruktive Kolonialerfahrung gemacht zu haben – mich auf England vorbereitete. Ich werde nie vergessen, wie ich hier landete. Meine Mutter brachte mich her – mit meinem Fellhut, meinem Mantel und meinem Seemannskoffer. Sie brachte mich, wie sie dachte, auf dem Bananenschiff »nach Hause« und lieferte mich in Oxford ab. Sie übergab mich dem erstaunten Collegediener und sagte: »Dies ist mein Sohn, sein Koffer, seine Sachen. Pass auf ihn auf.« Sie lieferte mich mit Unterschrift und Siegel ab, brachte mich dorthin, wohin ihr Sohn ihrer Meinung nach schon immer hingehört hatte – nach Oxford.
Meine Mutter war eine unglaublich dominante Person. Meine Beziehung zu ihr war eng und antagonistisch. Ich hasste das, wofür sie stand, was sie für mich zu repräsentieren versuchte. Aber wir hatten alle eine enge Bindung zu ihr, weil sie unser Leben dominierte. Sie dominierte das Leben meiner Schwester. Hinzu kam, dass mein Bruder, der älteste, der sehr schlecht sehen konnte, schließlich blind wurde. Von frühester Kindheit war er sehr von meinen Eltern abhängig. Als ich geboren wurde, war dieses Muster der Mutter-Sohn-Abhängigkeit fest etabliert. Sie versuchte es mit mir zu wiederholen, Als ich begann, meine eigenen Interessen und meine eigenen Auffassungen zu haben, entstand der Antagonismus. Gleichzeitig war die Beziehung intensiv, weil meine Mutter immer sagte, ich sei die einzige Person, die mit ihr kämpft. Sie wollte mich beherrschen, aber sie hasste auch diejenigen, die sich von ihr beherrschen ließen. Sie verachtete meinen Vater, weil er ihr nachgab. Sie verachtete meine Schwester, weil sie ein Mädchen war und meine Mutter meinte, Frauen seien nicht interessant. Während der Pubertät bekämpfte meine Schwester sie die ganze Zeit, aber sobald meine Mutter sie gebrochen hatte, verachtete sie sie. Also hatten wir diese antagonistische Beziehung. Ich war der Jüngste. Meine Mutter meinte, ich sei dazu bestimmt, ihr Widerstand zu leisten, aber sie respektierte mich deshalb. Als sie schließlich wusste, was ich in England geworden war – dass ich alle ihre paranoiden Phantasien über den rebellischen Sohn verwirklicht hatte – wollte sie nicht, dass ich nach Jamaika zurückkomme, weil ich mittlerweile meine eigene Sache repräsentierte und nicht mehr ihr Bild von mir. Sie erfuhr von meiner politischen Haltung und sagte: »Bleib drüben, komm nicht zurück und mach uns mit deinen komischen Ideen keinen Ärger hier.«
Meine Beziehung zu Jamaika wurde einfacher, nachdem meine Eltern tot waren. Wenn ich vorher zurückkam, musste ich Jamaika immer durch sie hindurch wahrnehmen. Nachdem sie tot waren, war es möglich, eine neue Beziehung zu dem neuen Jamaika aufzubauen, das sich in den siebziger Jahren entwickelte. Es war nicht das Jamaika, in dem ich aufgewachsen war. Es war kulturell eine schwarze Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft jenseits der Sklaverei, jenseits der Kolonialzeit. Ich dagegen hatte dort am Ende der kolonialen Ära gelebt, ich konnte also meine Beziehung als die eines »bekannten Fremden« bestimmen.
Paradoxerweise hatte ich genau die gleiche Beziehung zu England. Vorbereitet durch meine koloniale Erziehung kannte ich England von innen. Aber ich bin nicht und werde nie »englisch« sein. Ich kenne beide Orte genau, aber ich gehöre zu keinem Ort völlig. Und das ist genau die Diaspora-Erfahrung: genügend Entfernung, um das Gefühl des Verlustes und des Exils zu erleben und genügend Nähe, um das Rätsel einer auf ewig aufgeschobenen »Ankunft« zu verstehen.
Das ist das Interessante in meiner Beziehung zu Jamaika. Die Freunde, die ich zurückließ, machten Erfahrungen, die ich nicht machte. Sie erlebten 1968 dort, die Geburt des schwarzen Bewusstseins und das Aufkommen des Rastafarianismus, mit seinen Erinnerungen an Afrika. Sie erlebten diese Jahre dort anders als ich in Britannien, also gehöre ich auch nicht ihrer Generation an. Ich ging mit ihnen zur Schule und bin mit ihnen in Kontakt geblieben, aber sie haben eine völlig andere Erfahrung als ich. Diese Kluft lässt sich nicht füllen. Man kann nicht wieder »nach Hause« gehen.
Du bist also in der Situation, von der Simmel sprach: die Erfahrung drinnen und draußen zu sein, du bist der »bekannte Fremde«. Wir nannten das früher »Entfremdung« oder Entwurzelung. Aber heutzutage ist das zum archetypischen spätmodernen Zustand geworden. Es beschreibt zunehmend die Art und Weise, in der alle leben. So denke ich die Artikulation des Postmodernen und des Postkolonialen. Auf merkwürdige Weise bereitet einen die Postkolonialität darauf vor, in einer »postmodernen« Gesellschaft zu leben, bzw. auf eine Diaspora-Beziehung zu Identität. Paradigmatisch ist das eine Diaspora-Erfahrung. Da die Migration weltweit das historische Geschehen der Spätmoderne geworden ist, ist die Diaspora-Erfahrung zur klassischen postmodernen Erfahrung geworden.
KHC: Aber wann wurde die Diaspora-Erfahrung bewusst?
SH: In der Moderne, seit 1492, mit dem Beginn des euro-imperialen Abenteuers, und in der Karibik seit der europäischen Kolonialisierung und dem Sklavenhandel. Seitdem hat sich die Kultur in den »Kontaktzonen« der Welt in Form einer Diaspora entwickelt. Als ich in den sechziger Jahren über Rastafarianismus und Reggae schrieb, als ich über die Rolle der Religion im Leben der Karibik nachdachte, hat mich die »Übersetzung« zwischen Christentum und afrikanischer Religion interessiert oder die Mischungen in der karibischen Musik. Ich war sehr lange schon an dem interessiert, was jetzt zum Thema der Diaspora geworden ist, ohne dass ich es so genannt habe. Lange Zeit habe ich den Begriff nicht benutzt, weil er im Wesentlichen in Bezug auf Israel gebraucht wurde. Das war der dominante politische Gebrauch und damit habe ich Probleme wegen des palästinensischen Volkes. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs »Diaspora« ist eingebettet in einen heiligen Text, fixiert in einer ursprünglichen Landschaft, und sie verlangt, dass man alle anderen vertreibt, ein Land beansprucht, das schon von mehreren Völkern besiedelt ist. Dieses Diaspora-Projekt der »ethnischen Säuberung« war für mich nicht haltbar. Aber ich muss auch sagen, dass es sehr enge Beziehungen gibt zwischen der schwarzen Diaspora und der jüdischen Diaspora – zum Beispiel die Erfahrung des Leidens und des Exils und die Kultur der Erlösung und Befreiung, die daraus erwachsen. Deshalb benutzt der Rastafarianismus die Bibel, deshalb benutzt Reggae die Bibel, weil sie die Geschichte eines Volkes im Exil ist, das von einer fremden Macht beherrscht wird, eines Volkes, das weit weg von »zu Hause« und der symbolischen Macht des Erlösungsmythos ist. Die ganze Geschichte des Kolonialismus, der Sklaverei und der Kolonisierung wird neu in die jüdische eingeschrieben. Und in der postemanzipatorischen Periode gab es viele afrikanisch-amerikanische SchriftstellerInnen, die die jüdische Erfahrung sehr wirkungsvoll als Metapher benutzten. Für die schwarzen Kirchen in den USA waren die Flucht aus der Sklaverei und die Erlösung von »Ägypten« parallele Metaphern.
Moses ist für die schwarze Sklavenreligion wichtiger als Jesus, weil er sein Volk aus Babylon herausgeführt hat, aus der Gefangenschaft. Deshalb hat mich dieser doppelte Text, diese doppelte Textualität immer interessiert. Paul Gilroys Buch The Black Atlantic3 ist eine wundervolle Studie der »schwarzen Diaspora« und der Rolle dieses Konzepts im afrikanisch-amerikanischen Denken. Ein anderer Meilenstein auf diesem Weg ist für mich Bachtins The Dialogic Imagination4, das eine Reihe verwandter Konzepte über Sprache und Bedeutung entwickelt: Heteroglossia, Karneval oder der Begriff Multiakzentualität, von Bachtin-Vološinov. Diese Begriffe haben wir in Cultural Studies theoretisch im Kontext von Sprache und Ideologie entwickelt. Sie sind inzwischen zu den für die klassische Diaspora typischen diskursiven Tropen geworden.
Momente der Neuen Linken
KHC: Was geschah als du 1951 nach England gingst?
SH: Mit meiner Mutter auf einem Schiff in Bristol angekommen, fuhr ich in einem Zug Richtung Paddington durch diese westliche Country-Landschaft. Ich hatte sie nie gesehen, aber ich kannte sie. Ich hatte Shakespeare, Hardy, die romantischen Dichter gelesen. Obgleich ich diesen Raum nie bewohnt hatte, war es als würde ich, wie in einem Traum, eine schon bekannte, idealisierte Landschaft wiederfinden. Trotz meiner antikolonialen politischen Haltung hatte ich immer den Wunsch gehabt, in England zu studieren. Ich wollte immer hier studieren. Es hat eine ganze Weile gedauert, mit Britannien zurechtzukommen, insbesondere mit Oxford, denn Oxford ist der Gipfel des Englischen, es ist das Zentrum, der Motor, der das Englische produziert.
Es gab zwei Phasen. Bis 1954 war ich von der westindischen Exil-Politik absorbiert. Fast alle meine Freunde waren Exilanten und gingen später zurück, um eine politische Rolle in Jamaika, Trinidad, Barbados oder Guayana zu spielen. Unsere Leidenschaft galt der kolonialen Frage. Wir feierten den Hinauswurf der Franzosen aus Indochina mit einem riesigen Festessen. Wir entdecken zum ersten Mal, dass wir »Westinder« waren, wir lernten zum ersten Mal afrikanische Studenten kennen. Im Zuge der entstehenden postkolonialen Unabhängigkeit träumten wir von einer karibischen Föderation, die alle diese Länder zu einer größeren Einheit zusammenfasste. Wäre das geschehen, wäre ich in die Karibik zurückgekehrt.
Einige westindische Studenten lebten eine Zeit lang in dem Haus zusammen, das auch die Neue Linke hervorbrachte. Sie waren die erste Generation der schwarzen, antikolonialen oder postkolonialen Intelligenz, die in England studierten, promovierten und Ökonomen wurden. Viele wurden von ihren Regierungen geschickt und gingen zurück, um die leitenden Kader der Post-Unabhängigkeitsperiode zu werden. Politisch und persönlich wurde ich von diesen Debatten in den frühen Jahren in Oxford stark geprägt.
Damals dachte ich noch daran, nach Jamaika zurückzugehen, eine politische Karriere zu verfolgen, mich in die westindische Föderationspolitik einzumischen oder an der Universität Westindiens zu unterrichten. Dann bekam ich ein zweites Stipendium und beschloss, in Oxford zu bleiben und zu promovieren. Zu diesem Zeitpunkt gingen die meisten aus dem unmittelbaren karibischen Zirkel zurück. Damals lernte ich auch Leute von der Linken kennen, meist aus der Kommunistischen Partei und dem Labour Club. Ich hatte sehr enge Freunde, z.B. Alan Hall, dem ich ein Essay über die Neue Linke widmete: Out of Apathy.5 Er war Schotte, ein klassischer Archäologe, der an kulturellen und politischen Fragen interessiert war. Gemeinsam lernten wir Raymond Williams kennen. Wir standen damals einigen Leuten in der Kommunistischen Partei sehr nahe – Leuten wie Raphael Samuel oder Peter Sedgwick –, waren aber nie Mitglieder. Ein anderer enger Freund war der Philosoph Charles Taylor. Wie Alan Hall und ich war auch er jemand von der »unabhängigen Linken«. Wir waren am Marxismus interessiert, aber wir waren keine dogmatischen Marxisten, keine Verteidiger der Sowjetunion, sondern Antistalinisten. Deshalb wurden wir nie Mitglieder der Kommunistischen Partei, obwohl wir im Dialog mit ihr standen. Wir weigerten uns, uns in Kalter-Kriegs-Manier zu distanzieren, wie es die Regeln des Labour Clubs jener Zeit vorschrieben. Wir gründeten diesen Verein, die »Sozialistische Gesellschaft«, ein Ort, an dem sich unabhängige Geister der Linken treffen konnten. Sie versammelte postkoloniale Intellektuelle und britische Marxisten, Leute von der Labour Party und andere linke Intellektuelle. Perry Anderson war zum Beispiel Mitglied dieser Gruppe. Das war vor 1956. Viele von uns waren Ausländer oder interne Migranten: Viele der Briten waren aus der Provinz, aus der Arbeiterklasse, Schotten, Iren oder Juden.
Nachdem ich mich entschieden hatte, zu bleiben und zu promovieren, engagierte ich mich in Diskussionen mit einigen Leuten aus dieser breiten linken Formation. Ich erinnere mich, dass ich einmal auf einer Versammlung eine Diskussion mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei über ihre reduktionistische Version der Klassentheorie vom Zaun brach. Das muss so 1954 gewesen sein und anscheinend sage ich bis auf den heutigen Tag das gleiche. 1956 fuhren Allan Hall, zwei weitere Freunde, die Maler waren, und ich in einen langen Sommerurlaub. Wir wollten dieses Buch über die britische Kultur schreiben. Wir nahmen drei Kapitel von Culture und Society6 mit, The Uses of Literacy7, Crosslands Buch über The Future of Socials, Stracheys Buch After Imperialism, wir nahmen Leavis8 mit, mit dessen Arbeit wir uns schon lange auseinander gesetzt hatten. Die gleichen Fragen wie in diesen Theorien, kamen auch in der Kultur zum Durchbruch. Wir nahmen den Roman von Kingsley Ami, Lucky Jim, mit. Auch in der Bewegung des britischen Dokumentarfilms geschahen viele neue Dinge, wie zum Beispiel aus Lindsay Andersons Essay in Sight and Sound ersichtlich. Im August, während wir in Cornwall waren, marschierte die Sowjetunion in Ungarn ein und Ende August marschierte Britannien in Suez ein. Das war das Ende von alldem. Die Welt stand Kopf. Dies war die Entstehung, der Beginn der Neuen Linken. Wir waren an einem anderen Ort.
Die meisten Leute aus unseren Kreisen, die in der Kommunistischen Partei waren, traten aus und die Oxford-Sektion der Partei zerbrach. Einen Augenblick lang wurde diese merkwürdige Gruppe um die »Sozialistische Gesellschaft« das Gewissen der Linken, weil wir immer gegen den Stalinismus und gegen den Imperialismus gewesen waren. Wir besaßen das moralische Kapital, um sowohl die sowjetische als auch die britische Invasion zu kritisieren. Das war der Moment, der politische Raum, die Geburt der ersten britischen Neuen Linken. Raphael Samuel überredete uns, eine Zeitschrift zu gründen, Universities and Left Review und ich war daran beteiligt. Mit der Zeit geriet ich immer mehr hinein. Es gab vier Redakteure: Charles Taylor, Raphael Samuel, Gabriel Pearson und ich. Nachdem ich 1957 beschlossen hatte, Oxford zu verlassen, ging ich nach London und lehrte an Hauptschulen als Ersatzlehrer, vor allem in Brixton und im Oval, im Süden Londons. Gegen 16 Uhr verließ ich die Schule, fuhr ins Zentrum Londons, nach Soho, und redigierte die Zeitschrift. Zunächst verließ ich also England nicht, weil ich begonnen hatte, mich auf neue Weise in die britische Politik einzumischen.
Es ist wichtig zu sagen, was ich heute in Bezug auf diese zweite Phase denke. Ich habe mich, was die Neue Linke angeht, nie in der Defensive gefühlt, aber in einem umfassenderen politischen Sinn identifiziere ich mich immer noch mehr mit dem Projekt der ersten Neuen Linken. Ich hatte in jener zweiten Periode immer Probleme mit dem Pronomen »wir«. Ich wusste nicht, wen ich genau meinte, wenn ich sagte, »Wir sollten X tun.« Ich hatte ein merkwürdiges Verhältnis zur britischen Arbeiterbewegung und zu den britischen Institutionen der Arbeiterbewegung: der Labour Party, den Gewerkschaften. Ich war drin, aber kulturell gehörte ich nicht dazu. Als Redakteur von Universities and Left Review war ich eine der Personen, die diesen Raum aushandelten, aber ich empfand nicht die Kontinuität, die Leute, die darin geboren waren, oder für die dies ein wesentlicher Teil ihres »Englisch-Seins« bedeutete, empfanden – wie Edward Thompson zum Beispiel. Ich lernte die Institutionen kennen und handelte gleichzeitig meine Position dazu aus. Meine Herangehensweise an die Position der Neuen Linken war durch die Diaspora geformt. Obwohl ich damals nicht über die Diaspora schrieb oder über schwarze Politik (es gab noch nicht so viele schwarze Einwanderer in Britannien), betrachtete ich die britische politische Szene doch sehr als jemand, der einen anderen Werdegang hatte. Diese Differenz war mir immer bewusst. Mir war bewusst, dass ich von der Peripherie dieses Prozesses kam, dass ich von einem anderen Standpunkt aus darauf schaute. Ich war dabei, mir die Kultur anzueignen, statt zu denken, sie gehöre mir schon. Ich zögerte auch, für die Labour Party zu werben. Ich finde es nicht einfach, einer englischen Arbeiterfamilie von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und zu fragen: »Werden Sie uns wählen?«. Ich weiß einfach nicht, wie ich diesen Satz aussprechen soll.
KHC: War die Neue Linke im Wesentlichen eine intellektuelle Formation oder hatte sie auch eine organisierte Massenbasis?
SH: Sie hatte keine organisierte Massenbasis. In den Hochzeiten der Neuen Linken, der Periode zwischen 1956 und 1962, hatte sie sehr viel engere Beziehungen zu den politischen Kräften und sozialen Bewegungen an der Basis. Der New Left Club in London bestand nicht nur aus Intellektuellen. Die Arbeit der Neuen Linken über »Rasse« während der »Rassenaufstände« in Notting Hill 1958 bestand darin, die Basis zu organisieren, die Mietervereinigungen und die Gruppen zur Verteidigung der Schwarzen Bevölkerung. Wir gründeten Clubs, die Universities and Left Review und New Left Review Clubs, und in einer bestimmten Phase gab es 26 Clubs. Da gab es Leute von der Labour Party, den Gewerkschaften, StudentInnen, usw. Es waren also nicht nur Intellektuelle. Aber da die Zeitschrift die führende Rolle spielte, waren es Intellektuelle, die die Führung übernahmen. Dann bauten wir sehr enge Beziehungen zum CND auf, der Antiatomkraft-Bewegung, die gleichzeitig Friedensbewegung war. Der CND war nicht nur eine Klassenbewegung, aber unsere Verbindungen zu ihm zeugten von einem starken Engagement für eine der frühesten »Neuen Sozialen Bewegungen«; wir waren also an vordersten Front dessen, was nach 1968 die »Neue Politik« werden sollte.
Ich versuche die soziale Zusammensetzung der Neuen Linken nicht als breiter darzustellen als sie wirklich war. Aber es stimmt nicht, dass sie auf ihrem Höhepunkt nur aus StudentInnen und Intellektuellen bestand wie in den USA. Man muss bedenken, dass die britischen Universitäten nie groß genug waren, um einen autonomen politischen Raum zu bilden. Lange Zeit umfasste die Neue Linke also verschiedene soziale Gruppen. Sie tauchte in den Sechzigern auf, als es eine größere Verschiebung in der Klassenformation gab. Es gab viele Leute, die sich im Übergang zwischen traditionellen Klassen befanden. Es gab zum ersten Mal Leute aus der Arbeiterklasse, die jetzt ein Stipendium hatten und ins College oder in Kunstschulen gingen. Sie kamen gerade in den Beruf, wurden LehrerInnen oder Ähnliches. Die Neue Linke war mit Leuten verbunden, die sich selbst ebenfalls zwischen den Klassen bewegten. Viele unserer Clubs existierten in den so genannten »neuen Städten«. Dort lebten Leute, deren Eltern vielleicht Arbeiter gewesen waren, die aber selbst eine bessere Ausbildung bekommen hatten, zur Universität gegangen waren und jetzt als LehrerInnen zurückkamen. Hoggart und Williams kamen beide aus der Arbeiterklasse und wurden durch die Erwachsenenbildungsbewegung Intellektuelle. Sie waren die klassischen Mitglieder der Neuen Linken und repräsentierten die ZuhörerInnen in den Clubs oder die LeserInnen der Zeitschrift der Neuen Linken. Wir waren mehr so etwas wie eine »Neue Soziale Bewegung« als eine proto-politische Partei.
KHC: Warum versuchte man nicht, diese »Zuhörerschaft« zu irgendetwas zu organisieren?
SH: Das ist eine Frage, die eigentlich in die Zeit gehört, in der es noch keine »Neuen sozialen Bewegungen« gab. Wir haben sie uns auch ständig gestellt – ohne zu wissen, dass die »Tyrannei der Strukturlosigkeit« ein Problem für alle »Neuen Sozialen Bewegungen« war. Aber es gab zwei Gründe. Der eine war die Existenz der Labour Party. Die allumfassende Präsenz der Labour Party, einer riesigen sozialdemokratischen Partei, ließ uns auf den Gedanken kommen, dass es schon eine Massenbewegung der Linken gab, die wir mit den Ideen der Neuen Linken infiltrieren konnten, wenn es uns nur gelang, eine neue Allianz mit der Labour Party zu bilden. Die Labour Party war wie ein Preis, der darauf wartete, gewonnen zu werden. Wir mussten dazu nur die Transformation von einer altlinken zu einer Partei der Neuen Linken zuwege bringen. Klingt das langsam bekannt? Das ist das Dilemma der britischen Linken im Großformat.
Zweitens, die Neue Linke war von Anbeginn an antistalinistisch und gegen die Bürokratie des Kalten Krieges, gegen die bürokratischen Apparate der Partei in den frühen Fünfzigern usw. Wir nahmen die neuen sozialen Bewegungen vorweg, insofern als wir sehr anti-organisatorisch waren. Wir wollten keine Struktur, wir wollten keine Führenden, wir wollten keinen permanenten Parteiapparat. Man gehörte zur Neuen Linken, indem man mitmachte. Wir wollten nicht, dass irgendjemand Beiträge zahlte. Vielleicht hatten wir da Unrecht. Aber wir waren in vielerlei Hinsicht sehr anti-organisatorisch. Ähnlich wie der frühe Feminismus anti-strukturell war. Das war der Geist von 1968 – vor seinem Auftreten.
KHC: Es gab also die Möglichkeit, ein Bündnis ohne eine organisatorische Hierarchie zu formen?
SH: Ja, das war das Ziel, aber ich glaube nicht, dass wir wussten wie das zu tun war. Man konnte die Neue Linke nicht einfach aufbauen, denn schließlich hatte die Arbeiterklasse bereits ihre Institutionen, die Labour Party, die Gewerkschaften. Und es gab Leute in der Labour Party und in der Gewerkschaftsbewegung, die eine Sympathie für die Ideen der Neuen Linken hatten. Wir standen unter dem Einfluss der stalinistischen Erfahrung und wir waren zutiefst misstrauisch gegenüber bürokratischen Apparaten der politischen Partei. Also entschieden wir uns, die Frage zu umgehen. Wichtig war, so argumentierten wir, welche neuen Ideen die Linke aufgriff, und nicht, welches Parteizeichen man annahm. Es war ein Kampf um die Erneuerung sozialistischer Ideen, nicht um die Renovierung einer Partei. »Ein Fuß drin, einer draußen«, sagten wir. Worauf es ankommt ist, »Was machst Du an der Basis? Hast Du eine lokale CND-Gruppe, gehst du in den lokalen Markt?« Es war so etwas wie die Besetzung eines Raumes ohne ihn zu organisieren, ohne Leute zu zwingen, sich für eine institutionelle Loyalität zu entscheiden.
Man muss sich vergegenwärtigen, so etwas wie eine »Neue Soziale Bewegung« gab es damals nicht. Wir erkannten dies nicht als eine neue Phase (oder Form) von Politik. Wir dachten, wir befänden uns immer noch innerhalb des alten politischen Spiels, spielten es aber auf neue Weise. Erst im Nachhinein begannen wir die Neue Linke als eine frühe Vorwegnahme der Ära der »Neuen Sozialen Bewegungen« zu verstehen. Was ich hier beschreibe geschah später in der CND: die Antiatombewegung wurde zu einer autonomen, unabhängigen Bewegung.
KHC: Noch mal zur New Left Review. Was waren die Bedingungen, die dich in diese Position gebracht haben, obwohl es alle diese etablierteren Leute wie Thompson und Williams aus der früheren Generation gab?
SH: Die Bedingungen waren folgende: Ursprünglich gab es zwei Gruppen – New Reasoner und Universities and Left Review. Die Leute in der Redaktion des New Reasoner – Edward und Dorothy Thompson, John Saville, Alasdair McIntyre – gehörten einer etwas älteren Generation an. Einer Generation, die im Wesentlichen durch die alte kommunistische Tradition geformt worden war, durch die dissidente Tradition, die vor allem unter marxistischen HistorikerInnen der dreißiger und vierziger Jahre entstanden war, die aus der gleichen Generation kamen wie Raymond Williams, obgleich Raymond nur kurz, als Student in Cambridge, Mitglied der Partei war. Raymond trat dann aus und entwickelte sich unabhängig und wurde dadurch zum Vermittler: dem Alter nach gehörte er zur Generation des Reasoner, aber seinen Interessen nach, stand er uns näher. Wir, die nächste Generation, gründeten die Universities and Left Review. Wir bezogen uns auf den Marxismus, aber sehr viel kritischer, wir waren sehr viel eher bereit, neue Dinge zu denken, insbesondere einen Raum zu öffnen für Fragen der popularen Kultur, des Fernsehens, etc. – welche die ältere Generation nicht für politisch relevant hielt. Dennoch hatten die beiden Gruppen so viel gemeinsam und fanden es finanziell so schwierig, zwei verschiedene Zeitschriften zu unterhalten, dass die beiden Redaktionen nach und nach begannen, sich gemeinsam zu treffen. Dann entstand die Idee, eine gemeinsame Zeitschrift zu machen. Der naheliegendste Redakteur war Edward Thompson, die führende Figur des New Reasoner. Aber Edward war damals schon seit 1956 in die Kämpfe involviert; zunächst, nachdem die Schrecken des Stalinismus in Chruschtschows Rede auf dem 20. Kongress ausgegraben worden waren, stritt er innerhalb der Kommunistischen Partei, dann wurde er ausgeschlossen, dann versuchte er den New Reasoner mit sehr geringen Mitteln aufrecht zu erhalten, etc. Er hatte zwei Kinder und ich glaube er und Dorothy konnten einfach nicht mehr so weiterleben. Also wanderte die Redaktion in meine Hände, obgleich die Ambiguität von Edwards Verhältnis zu mir eine Quelle von Spannungen in der Redaktion blieb.
KHC: Welche Rolle spielte Raymond Williams? War er der Vermittler?
SH: Ja, Raymond spielte eine andere Rolle. Raymond hat nie eine spezifische Redaktionsaufgabe übernommen. Er war eine wichtige Figur, seine Schriften haben uns alle beeinflusst. Er schrieb für beide Zeitschriften, insbesondere für Universities and Left Review, und seine Arbeiten gaben dem Projekt der Neuen Linken eine spezifische und originelle Identität. Ich war sehr beeinflusst von seiner Arbeit. Es gab die jüngere Generation, Charles Taylor, mich selbst, Raphael Samuel. Raphael war der Dynamo und der Inspirator, absolut unentbehrlich, voller Energie und Ideen, aber er war nicht die Person, der man die Verantwortung für das regelmäßige Erscheinen einer Zeitschrift übergeben würde. 1958 wurde ich praktisch der Vollzeit-Redakteur von Universities and Left Review. Charles Taylor war schon nach Paris gegangen, um bei Merleau-Ponty zu studieren. Charles war für mich persönlich sehr wichtig. Ich erinnere mich an erste Diskussionen über Marx‘ Ökonomische und Philosophische Manuskripte von 1844, die er aus Paris mitbrachte, und an die Diskussionen über Entfremdung, Humanismus und Klasse.
KHC: In Out of Apathy hast du Doris Lessing erwähnt. Was für eine Rolle hat sie gespielt?
SH: An der Redakteursarbeit hatte sie keinen Anteil. Sie schrieb für die Zeitschrift. Sie stand Edward Thompson und seiner Generation sehr nahe und war in den vierziger Jahren eine jener unabhängigen Intellektuellen in der Kommunistischen Partei. Sie wurde Mitglied in der Redaktion der New Left Review, aber sie hatte schon begonnen, sich von der aktiven Politik zurückzuziehen.
KHC: Nach zwei Jahren Redaktionsarbeit, 1961 warst du völlig ausgebrannt. Was hast du danach gemacht?
SH: Ich verließ die Review, um Medien, Film und populare Kultur am Chelsea College, an der University of London zu lehren. Ich unterrichtete, was man damals »complementary studies« nannte und was wir heute Cultural Studies nennen würden. Ich wurde herangeholt von einer Gruppe von Leuten, die dort unterrichtete, der Neuen Linken sehr nahe stand und an der Arbeit von Hoggart und Williams interessiert war, aber auch an den Filmstudien, die Paddy Whannel und ich am BFI (British Film Institute) durchführten. Man stellte mich ein, um Film und Massenmedien zu unterrichten. Ich glaube nicht, dass es irgendwo sonst damals eine Stelle für Film und Massenmedien gab. Ich hatte mit Paddy Whannel am Education Department des BFI über Film und Fernsehen gearbeitet. Es gab auch Verbindungen zum »Free Cinema«, der britischen Dokumentarfilmbewegung, die mit Lindsay Anderson und anderen assoziiert war, dann Screen, die Gesellschaft für Erziehung in Film und Fernsehen. Zwischen 1962 und 1964, machten Paddy und ich die Arbeit, die schließlich zu dem Buch The popular Art9 führte.
KHC: Vorher wolltest du deine Dissertation über Henry James schreiben. Hast du das wegen New Left Review aufgegeben?
SH: Ich gab es buchstäblich wegen 1956 auf. Ich gab es auf, weil ich meine Forschungszeit zunehmend dazu benutzte, über Kultur zu lesen und diesem Interesse zu folgen. Ich verbrachte ziemlich viel Zeit in der Rhodes House Bücherei beim Lesen anthropologischer Literatur, ich saugte die Debatte über afrikanische »Überlebende« in der Karibik und in der Kultur der Neuen Welt auf. Meine Dissertation über Henry James war eigentlich von diesen Interessen nicht so weit entfernt. Sie hatte das Thema »Amerika« vs. »Europa« in den Romanen von James. Es ging um den moralisch-kulturellem Gegensatz zwischen Amerika und Europa, eines der großen kulturübergreifenden Themen von James. An James interessierte mich auch die Destabilisierung des Ich-Erzählers. Es war der letzte Augenblick im modernistischen westlichen Roman vor Joyce. Joyce repräsentierte die Auflösung des Ich-Erzählers, James stand dicht am Rand dieser Auflösung. Seine Sprache überrennt fast die Fähigkeit des Ich-Erzählers. Ich war also an zwei Fragen interessiert, die wichtige Implikationen für Cultural Studies haben. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass es für mich nicht richtig war, kulturelle Fragen weiterhin »rein« literarisch zu denken.
Während ich in Chelsea unterrichtete, hielt ich die Verbindung mit Williams und Hoggart aufrecht. Ich organisierte die erste Gelegenheit, bei der die beiden sich trafen. Das war ein Gespräch, das in Universities and Left Review nachgedruckt wurde. Sie diskutierten Culture and Society und The Uses of Literacy. Hoggart entschied sich damals, Leicester zu verlassen und als Professor für Anglistik nach Birmingham zu gehen. Er wollte weiter in dem Bereich forschen, der in Uses of Literacy behandelt wurde, statt die üblichen Literaturstudien zu machen. Und die Universität von Birmingham sagte, »Das können Sie tun, aber wir haben kein Geld, um sie zu unterstützen.« Aber Hoggart hatte in dem Prozess um Lady Chatterley’s Lover für Penguin Books ausgesagt und so ging er zum Leiter des Verlages, Sir Allen Lane, und überredete ihn, uns etwas Geld zu geben, um ein Forschungsinstitut zu gründen. Allen Lane gab Hoggart ein paar tausend Pfund jährlich, die Penguin von der Steuer absetzen konnte, weil es eine Erziehungsaufgabe war. Hoggart beschloss, mit diesem Geld jemanden einzustellen, der diese Seite der Arbeit betreuen würde. Er blieb Anglistikprofessor und lud mich nach Birmingham ein, um diese Stelle zu übernehmen. Hoggart hatte Universities and Left Review und New Left Review und The Popular Arts gelesen und er dachte, ich wäre mit meiner Kombination von Interessen an Fernsehen, Film und popularer Literatur, meiner Kenntnis der Leavis-Debatte und meinem Interesse an Kulturpolitik eine gute Person für diese Arbeit. So ging ich 1964 nach Birmingham und heiratete Catherine, die im gleichen Jahr von Sussex nach Birmingham zog.
Die Zeit in Birmingham
KHC: Einerseits gibt es den verbreiteten Eindruck, das Centre for Contemporary Culture Studies (CCCS) sei zu Beginn nur an der Klassenfrage interessiert gewesen. Andererseits gibt es diese Geschichte, das erste kollektive Projekt des Zentrums sei eine Analyse von Frauenzeitschriften gewesen. Dieses Manuskript sei aber im Produktionsprozess verloren gegangen und deshalb nie veröffentlicht worden. Stimmt das?10
SH: Oh ja, das stimmt absolut. Beide Geschichten sind wahr. Zunächst waren wir in den Cultural Studies an Klassenfragen interessiert. Am Anfang im Sinne von Hoggart und Williams, nicht im Sinne des klassischen Marxismus. Einige von uns waren in einem kritischen Verhältnis zu marxistischen Traditionen geformt worden. Wir waren an der Klassenfrage interessiert, aber es war nie die einzige Frage, die uns interessierte: zum Beispiel gab es wichtige Arbeiten über Subkulturen in den frühen Phasen des Zentrums. Wenn du den theoretischen Ansatz von Cultural Studies meinst, so sahen wir uns praktisch überall um, um einen reduktionistischen Marxismus zu vermeiden. Wir lasen Weber, wir lasen deutschen Idealismus, wir lasen Benjamin, Lukács, um den unserer Meinung nach unbrauchbaren Klassenreduktionismus zu korrigieren, der den klassischen Marxismus deformiert und ihn gehindert hatte, sich ernsthaft mit kulturellen Fragen auseinander zu setzen. Wir lasen ethnomethodologische und Konversationsanalyse, hegelschen Idealismus, ikonographische Studien und Kunstgeschichte, Mannheim; wir lasen sie alle, um zu versuchen, einige alternative soziologische Paradigmen zu finden (Alternativen zu Funktionalismus und Positivismus), die nicht reduktionistisch waren. Aber sowohl was die Empirie als auch was die Theorie angeht ist die Vorstellung, dass das CCCS ursprünglich nur an Klassen interessiert war, falsch. Wir wandten uns der Frage des Feminismus (des Prä-Feminismus eigentlich) und der Geschlechterfrage zu. Wir untersuchten Romane in Frauenzeitschriften. Wir verbrachten Ewigkeiten mit einer Geschichte, »Cure for Marriage« und ja, alle diese Texte, die für ein Buch überarbeitet werden sollten, verschwanden, so dass es über diese Phase der Geschichte der Cultural Studies keine Dokumente gibt. Das war die »prä-feministische« Phase des Zentrums.
Eines Tages beschlossen Michael Green und ich einige Feministinnen, die außerhalb des Zentrums arbeiteten, einzuladen ins Zentrum zu kommen, um diese Frage dort einzubringen. Die »traditionelle« Geschichte, dass der Feminismus ursprünglich im inneren des Zentrums ausbrach, stimmt also nicht ganz. Wir waren bemüht, diese Verbindung herzustellen, teilweise weil wir beide damals mit Feministinnen lebten. Wir arbeiteten innerhalb der Cultural Studies, aber wir waren mit dem Feminismus im Gespräch. Die Leute innerhalb der Cultural Studies waren damals aufgeschlossen für Geschlechterfragen, aber nicht so sehr für feministische Politik. Was natürlich stimmt, ist, dass wir als klassische »neue Männer« überrascht wurden durch das, was wir – patriarchalisch – zu initiieren versucht hatten, als der Feminismus sich dann tatsächlich autonom zu Wort meldete. Solche Dinge sind einfach unvorhersehbar. Der Feminismus brach schließlich auf seine, explosive Weise, ins Zentrum ein. Aber es war nicht das erste Mal, das Cultural Studies über feministische Politik nachgedacht hatte oder sich dessen bewusst geworden war.
KHC: In den späten Siebzigern hast du das CCCS verlassen. Warum?
SH: Ich war seit 1964 am Zentrum gewesen und ich verließ es 1979. Das war eine lange Zeit. Ich machte mir Gedanken über die »Nachfolge«. Jemand aus der nächsten Generation musste nachfolgen. Der Mantel muss weitergegeben werden oder das ganze Unternehmen stirbt mit einem. Ich wusste das, denn als Hoggart schließlich beschloss zu gehen, wurde ich vertretender Direktor. Er ging 1968 zur UNESCO, ich vertrat ihn vier Jahre lang. Als er 1972 beschloss, nicht zurückzukommen, gab es einen massiven Versuch seitens der Universität das Zentrum zu schließen, und wir mussten kämpfen, um es zu halten. Es war mir klar, dass sie es nicht schließen würden, solange ich dort war. Die Universität hatte sich damals bei einer ganzen Reihe von Akademikern Rat geholt und alle sagten: »Stuart Hall wird die Tradition von Hoggart weiterführen, schließt das Zentrum nicht.« Aber ich wusste, sobald ich ginge, würden sie wieder versuchen es zu schließen. Ich musste also den Übergang absichern. Bis Ende der Siebziger glaubte ich nicht, dass die Position abgesichert war. Als ich jedoch davon überzeugt war, fühlte ich mich berechtigt zu gehen.
Zudem war ich auch der Meinung, dass ich oft genug die jährliche interne Krise durchlebt hatte. Die neuen StudentInnen für das Aufbaustudium kamen immer im Oktober und November und dann gab es auch immer die erste Krise, das Diplomprogramm funktionierte nicht gut, alles ging drunter und drüber. Ich hatte das wieder und wieder und wieder erlebt und ich dachte: »Du wirst einer dieser typischen desillusionierten Akademiker, du musst hier raus, solange die Erfahrungen gut sind, bevor du in diese altertümlichen Gewohnheiten verfallen musst.«
Die Frage des Feminismus war auch schwierig und zwar aus zwei Gründen: Der erste war, dass ich kein Gegner des Feminismus war, das wäre etwas anderes gewesen, aber ich war dafür. Zum »Feind« gemacht zu werden als die leitende patriarchale Figur, brachte mich in eine unmögliche, widersprüchliche Position. Natürlich mussten sie es tun. Es war absolut richtig, dass sie es taten. Sie mussten mich zum Schweigen bringen; das war das feministische politische Programm. Wenn die Rechte mich zum Schweigen gebracht hätte, wäre das in Ordnung gewesen. Wir hätten alle bis zum Letzten dagegen gekämpft. Aber ich konnte meine feministischen Studentinnen nicht bekämpfen. Man kann das auch als einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis begreifen. Man kann für eine Praxis sein, aber das ist etwas ganz anderes, als wenn plötzlich eine echte Feministin vor einem steht und sagt: »Lass uns Raymond Williams aus dem Programm nehmen und stattdessen Julia Kristeva einsetzen«. Die Politik zu leben ist etwas anderes als abstrakt dafür zu sein. Ich wurde von den Feministinnen Schachmatt gesetzt. Im Arbeitsprozess des Zentrums konnte ich damit nicht fertig werden. Das war nichts persönliches. Ich stehe vielen Feministinnen aus der Periode immer noch sehr nahe. Es war eine strukturelle Angelegenheit. Von meiner Position aus konnte ich keine sinnvolle Arbeit mehr leisten. Es war Zeit zu gehen.
Zu Beginn waren wir am Zentrum eine Art »alternative Universität«. Es gab keine Trennung zwischen StudentInnen und MitarbeiterInnen. Was ich dann entstehen sah, war eine Trennung zwischen den Generationen, zwischen den Positionen – StudentInnen und LehrerInnen – und das wollte ich nicht. Wenn ich schon die Verantwortung als Lehrer zu übernehmen hatte, wollte ich das in einem mehr traditionellen Rahmen tun. Ich konnte nicht damit leben, die Hälfte der Zeit der Lehrer zu sein und die andere Hälfte der Vater, gehasst zu werden als Vater und aufgebaut zu werden als antifeministischer Mann. Es war unmöglich, diese Politik zu leben.
Aus all diesen Gründen wollte ich weg. Die Frage war nur – wohin? Es gab kein anderes Institut für Cultural Studies. Ich wollte nicht irgendwohin gehen, um Direktor eines Instituts für Soziologie zu werden. Da ergab sich die Sache an der Open University. Ich hatte dort ohnehin schon gearbeitet. Catherine war dort von Anfang an Tutorin. Ich dachte, die Open University sei eine bessere Option. In dieser offeneren, interdisziplinären, unkonventionellen Anordnung würden vielleicht einige der Ziele meiner Generation verwirklicht werden können – zu alltäglichen Menschen sprechen, zu Frauen und schwarzen StudentInnen außerhalb des universitären Rahmens. Es diente einigen politischen Zielen. Darüber hinaus dachte ich, das sei auch eine Gelegenheit, das hochkomplexe Paradigma der Cultural Studies, das in dieser Treibhausatmosphäre des Zentrums entwickelt worden war, auf eine mehr alltägliche Ebene zu bringen, denn die Kurse der Open University sind offen für Leute ohne akademische Ausbildung. Wenn man die Ideen der Cultural Studies dort zum Leben bringen will, dann muss man sie übersetzten, dann muss man bereit sein, auf dieser mehr popularen, zugänglicheren Ebene zu schreiben. Ich wollte, dass sich die Cultural Studies dieser Herausforderung stellten. Ich sah nicht, warum sie nicht als eine mehr populare Pädagogik leben könnten.
Das Zentrum war ein Treibhaus: die klügsten StudentInnen schrieben dort ihre Dissertationen. Sie wollten sich als organische Intellektuelle mit einer breiteren Bewegung verbinden, aber sie selbst waren die höchste Stufe eines sehr selektiven Erziehungssystems. Das war die Open University nicht. Sie stellte eine Herausforderung für das selektive System der Hochschulausbildung dar. Die Frage war also: Können Cultural Studies dort gelehrt werden?
KHC: Kommen wir zurück zur Frage der Diaspora. Einige der Diaspora-Intellektuellen haben, wie ich weiß, ihre Macht zu Hause genutzt, du jedoch nicht. Und einige von ihnen versuchen jetzt auf unterschiedliche Weise zurückzukehren. Was das angeht, fällst du also aus der Rolle.
SH: Ja, aber du musst bedenken, die Diaspora kam zu mir: Ich gehörte zur ersten Welle der Diaspora. Als ich nach Britannien kam, waren die einzigen Schwarzen, die es hier gab, StudentInnen, und alle schwarzen Studierenden wollten nach ihrem Studium zurückkehren. Während meines Promotionsstudiums und in den frühen Tagen der Neuen Linken ließ sich langsam eine schwarze Arbeiterbevölkerung hier nieder und sie wurde zur Diaspora einer Diaspora. Die Karibik ist schon eine Diaspora Afrikas, Europas, Chinas, Asiens, Indiens und diese Diaspora hat sich hier neu zur Diaspora geformt. Deshalb handeln meine jüngsten Arbeiten nicht bloß vom Postkolonialen, sondern von schwarzen FotografInnen, FilmemacherInnen, von Schwarzen am Theater, sie handeln von der dritten Generation der Schwarzen Britanniens.
KHC: Aber du hast niemals versucht, deinen intellektuellen Einfluss zu Hause geltend zu machen?
SH: Es gab Momente, in denen ich zu Hause interveniert habe. Vor 1968 stand ich im Gespräch mit Leuten, die ich aus meiner Generation kannte. Es ging im Wesentlichen darum, die Differenzen zwischen einer schwarzen marxistischen Gruppierung und einer schwarzen nationalistischen Gruppe zu lösen. Ich sagte, »ihr solltet miteinander sprechen«. Die schwarzen Marxisten suchten nach einem jamaikanischen Proletariat, aber es gab keine Schwerindustrie in Jamaika; und sie hatten kein Ohr für den kulturrevolutionären Schub der schwarzen Nationalisten und der Rastafarians, die eine überzeugendere kulturelle, oder subjektive Sprache entwickelten. Aber insgesamt habe ich nie versucht, dort eine größere politische Rolle zu spielen. Teilweise, weil der Bruch in der Politik dort – die Kulturrevolution, die aus Jamaika in den Siebzigern zum ersten Mal eine schwarze Gesellschaft machte – zusammenfiel mit einem Bruch in meinem eigenen Leben. Ich wäre zurückgegangen und hätte versucht, dort politisch zu wirken, wenn die Karibische Föderation Bestand gehabt hätte. Dieser Traum war 1950 vorbei, als ich beschloss zu bleiben und ein »Gespräch« mit denen zu beginnen, die dann die Neue Linke bildeten. Die Möglichkeit eines Szenarios, in dem ich in der Karibik politisch aktiv gewesen wäre, war in dem Moment vorbei, als ich hier persönlich eine neue politische Wirkungssphäre gefunden hatte. Nachdem ich einmal beschlossen hatte, hier und nicht dort zu leben, und nachdem Catherine und ich geheiratet hatten, wurde die Möglichkeit zur Rückkehr schwierig. Catherine war eine englische Sozialhistorikerin, eine Feministin; ihre politische Praxis fand hier statt. Allerdings, paradoxerweise arbeitet sie jetzt über Jamaika und die imperiale Beziehung, weiß mehr über die Geschichte Jamaikas als ich und ist sehr gerne dort. Aber in den sechziger Jahren war es für eine weiße britische Feministin schwierig, sich in der Politik Jamaikas nicht als Außenseiterin zu fühlen. Ich knüpfte wieder Kontakte mit der Karibik wegen der Formierung einer schwarzen Diaspora-Bevölkerung hier. Im Zusammenhang mit den Studien über Ethnizität und Rassismus für die UNESCO und mit Policing the Crisis11, wo »Rasse« und Rassismus und ihre inneren Beziehung zur Krise der britischen Gesellschaft im Zentrum standen, begann ich darüber wieder zu schreiben. Und jetzt schreibe ich sehr viel im Kontext von kulturellen Identitäten.
KHC: Die Diaspora ist also definiert durch die persönlichen und strukturellen Konjunkturen und die Kreativität und die Kraft der Diaspora entstehen zum Teil aus dieser unlösbaren Spannung?
SH: Ja, aber sie ist immer sehr spezifisch und diese Spezifik verliert sie nie. Das ist der Grund, warum die Art und Weise, in der ich die Frage der Identität denke, sich von dem postmodernen Begriff des »Nomadischen« unterscheidet. Ich glaube, die kulturelle Identität ist nicht fixiert, sie ist immer hybrid. Aber gerade weil sie aus sehr spezifischen historischen Formationen entsteht, aus sehr spezifischen historischen Geschichten und kulturellen Repertoires der Enunziation, kann sie eine »Positionalität« konstituieren, die wir vorläufig Identität nennen. Sie ist nicht einfach irgendetwas. Jede dieser Identitätsgeschichten ist eingeschrieben in die Position, die wir aufgreifen und mit der wir uns identifizieren und wir müssen dieses Ensemble von Identitätspositionen in all seinen Besonderheiten leben.
8. August 1992
Anmerkungen
1 Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Kuan-Hsing Chen.
2 Stuart Halls Arbeiten über »Rasse« und Ethnizität beinhalten: ›Gramsci’s Relevance for the Study of Race and Ethnicity‹, Journal of Communication Inquiry 10 (2), 1986; Minimal selves, ICA Document 6, 1987; New Ethnicities, ICA Document 7, 1988; Ethnicity, Identity and Difference, Radical America 23 (4), 1989; Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference. London 1990; The Local and Global: Globalization and Ethnicity; Old and New Identities; Old and New Ethnicities, in: Anthony D. King (Hg.): Culture, Globalization and the World System. London 1991; David A. Barley, Stuart Hall (Hg.): Critical Decade: Black British Photography in the 80s, Ten 8, 2 (3) 1992; What is this ›Black‹ in Black Popular Culture? In: Gina Dent (Hg.): Black Popular Culture. Seattle 1992; ›The Question of Cultural Identities‹, in: Stuart Hall, David Held, Tony McGrew (Hg.): Modernity and Its Futures, Cambridge 1992, deutsch: Die Frage der kulturellen Identität, in: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994
3 Paul Gilroy: The Black Atlantic. Chicago 1993.
4 Mikhail Bakhtin: The Dialogic Imagination. Austin 1981.
5 Stuart Hall: The first New Left: Life and Times. In: Oxford University Socialist Discussions Group: Out of Apathy. Voices of the New Left 30 Years On. London 1989.
6 Raymond Williams: Culture and Society, 1780-1950. London 1958.
7 Richard Hoggart: The Uses of Literary. London, 1958
8 F.R. Leavis (1895-1978), Literaturwissenschaftler und Erneuerer der englischen Literaturkritik. Zusammmen mit seiner Frau Q.D. Leavis und anderen Mitstreitern gründete er die Zeitschrift Skrutiny. Ihr Ziel war es, gesellschaftliche Normen und Werte, wie sie die große Literatur behandelte, zum Vorbild für die krisenhafte britische Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg zu erheben. Sie formulierten die Kriterien, nach denen Literatur zu beurteilen war, und erweiterten auch das Feld der Literaturkritik durch die Untersuchung und meist negative Bewertung von Presse und Werbung. Nach Eagleton füllte die Zeitschrift und somit die Literaturtheorie das ideologische Vakuum, das in England durch den Niedergang der Religion und z.B. die Abwesenheit einer entwickelten Soziologie existierte.
9 Paddy Whannel, Stuart Hall: The Popular Arts. London 1964.
10 Diese Information verdanke ich Larry Großberg (KHC).
11 Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke, Brian Robert: Policing the Crisis: Mugging, the State and Law and Order. London 1978.