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KRIEG UND FRIEDEN
IN DER KLASSISCHEN
CHINESISCHEN
PHILOSOPHIE
ОглавлениеEINFÜHRUNG VON GREGOR PAUL
Relevanz des Themas und allgemeine
Charakteristika der klassischen chinesischen
Philosophie von Krieg und Frieden
Über »Krieg und Frieden« zu reflektieren, bedarf kaum einer Rechtfertigung. Auch im 21. Jahrhundert ist das Thema so aktuell wie stets zuvor in der Geschichte der Menschheit. In einer für deutschsprachige Leser bestimmten, in Beijing veröffentlichten Sammlung von Kriegsgeschichten aus dem chinesischen Altertum heißt es im Vorwort, dass »zwischen 3200 v. Chr. und dem Jahr 1800 […] weltweit 14 513 Kriege stattgefunden« hätten und dass es »lediglich 292 Jahre ohne Krieg« gegeben habe.1 Und weiter: »Kriege haben stets unsägliches Leid über die Menschen gebracht […].« Grund genug also, sich zu fragen, warum es immer wieder zu neuen Kriegen kommt. Doch warum dabei in China entwickelte Theorien von Krieg und Frieden thematisieren? Und zumal Theorien, die zwischen etwa 1000 und 221 v. u. Z. formuliert wurden? Nun, einmal wegen der überragenden Bedeutung, die diese Theorien in der Geschichte Chinas und Sino-Asiens in der Praxis der Kriegsführung besaßen und vielleicht noch besitzen. Vor allem aber wegen ihrer systematischen Relevanz. Die klassischen chinesischen Philosophien von Krieg und Frieden verdienen einfach aufgrund der in ihren formulierten Argumente und der in ihnen dargestellten Strategien und Taktiken Beachtung. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass insbesondere der berühmteste der einschlägigen Texte, das Sunzi bingfa, »Sunzis Kriegskunst«, wiederholt übersetzt wurde. Dabei ist das Interesse freilich oft unterschiedlich akzentuiert. Manchen geht es vor allem um die fundamentalen Äußerungen über Wert und Unwert, Sinn und Zweck, Notwendigkeit und Vermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen, anderen eher um die – insbesondere eben im Sunzi bingfa – vorgeschlagenen Kriegsstrategien und Kriegstaktiken. Im Folgenden liegt der Akzent auf dem ersten Aspekt. Dabei soll das Sunzi bingfa freilich nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext verwandter klassischer chinesischer Texte gesehen werden. So wird deutlich, inwieweit seine grundsätzliche Systematik für die klassische chinesische Philosophie überhaupt charakteristisch ist und wie sehr es durch zusätzliche, im Text selbst vielleicht vorausgesetzte oder doch kaum angesprochene Argumente zu ergänzen ist. Allgemein gesprochen, geht es im Folgenden damit um das in chinesischen Texten erörterte Für und Wider von Krieg und Frieden überhaupt und – vielleicht noch wichtiger – um die Frage nach der (universalen) Geltung der dabei vorgebrachten Argumente.
Die meisten Argumente und Entscheidungen, die in der Geschichte Chinas gegen den Krieg formuliert bzw. getroffen wurden, sind Ausdruck der folgenden Überzeugungen:
♦ Kriege sind durch und durch übel und sollten nur dann geführt werden, wenn sie sich wirklich nicht vermeiden lassen.
♦ Frieden – und ebenso gesellschaftliche Ordnung und menschliches Wohlergehen – sind wichtiger als Wahrheit bzw. als das Ziel, der Wahrheit Geltung zu verschaffen.
♦ Diesseitige, weltliche Regierungsmacht ist die höchste Macht, die existiert. Anders gesagt gibt es keine ihr überlegene Macht und insbesondere keine transzendente (religiöse) Macht – wie einen Gott.
Die meisten Argumente und Entscheidungen für einen Krieg sind durch die Ziele bestimmt,
♦ (politische) Macht zu gewinnen, zu stärken oder zu verteidigen,
♦ andere persönliche Interessen zu befriedigen wie z.B. den Wunsch, sich zu rächen,
♦ unmenschliche und grausame Herrschaft zu beseitigen (das Äquivalent zur »humanitären Intervention« des 21. Jahrhunderts) und/oder
♦ sich aus einer unerträglichen Lage wie einer Hungersnot zu befreien.
Argumente und Entscheidungen gegen den Krieg
Das Argument, dass Krieg durch
und durch übel und nur dann zu wählen sei,
wenn er wirklich unvermeidlich ist
Am Anfang der Geschichte der überlieferten Theorien von Krieg und Frieden stand der Versuch der Sippe der Zhou bzw. der Führer dieser Sippe, ihren Krieg gegen die Shang-Dynastie (16.–11. Jahrhundert v. u. Z.) und den mit ihm erreichten Sturz der Shang zu legitimieren. Das war im 11. Jahrhundert v. u. Z. Das Shijing, der »Klassiker der Lieder«, und das Shujing, der »Klassiker der Urkunden«,2 rechtfertigen diesen Krieg, indem sie erklären, dass er das einzige Mittel gewesen sei, die grausame Despotie der Shang zu beenden. Dabei betonen sie, dass eine derart inhumane Herrschaft auch beseitigt werden sollte. Auf allgemeiner Ebene lautet das entscheidende Argument, dass allein ein humaner Herrscher das »Mandat des Himmels«, tianming, erhalte, besitze oder beanspruchen dürfe. Anders gesagt, ist Herrschaft danach nur dann legitim, wenn sie human ist. Wer unmenschlicher Herrschaft unterworfen ist, hat das Recht, wenn nicht gar die Pflicht, sich ihr zu widersetzen. Dabei sei freilich zunächst und so lange wie irgend möglich und sinnvoll gewaltfrei vorzugehen. Insbesondere biete sich dazu in ansprechender Weise formulierte Kritik an. Erst nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft seien, sei Gewalt gestattet. Dieses Konzept gerechtfertigten Tyrannenmordes und begründeter Revolution ist im Lunyu, den »Gesprächen des Konfuzius«3, angedeutet. In den zwei anderen sogenannten konfuzianischen Klassikern, dem Menzius und dem Xunzi, deren Inhalte bis ins 4. bzw. 3. Jahrhundert v. u. Z. zurückgehen, und weiteren ›konfuzianischen‹ Texten ist es dann explizit und mitunter gar emphatisch formuliert.4
Obwohl die tianming-Theorie legitimer Herrschaft keinen Zweifel daran lässt, dass Krieg nur als ›letztes Mittel‹ infrage komme, setzt sie sich freilich weder ausführlich noch im Detail mit den Schrecken des Krieges auseinander. Sie erörtert vor allem die Frage, wann man sich gewaltsam gegen den eigenen Herrscher wenden dürfe.
Nachdem die Zhou die Shang gestürzt hatten, regierten sie nominell bis 221 oder (nach einer anderen Gliederung markanter historischer Abschnitte) bis 256 v.u.Z. Tatsächlich hatten sie ihre Macht bereits im 8. Jahrhundert weithin verloren. Faktisch souveräne (Teil-)Staaten waren entstanden, die um die Vorherrschaft kämpften. Krieg wurde schließlich alltäglich, allgegenwärtig und dabei so intensiv, dass die Zeit zwischen 475 (nach anderer Zählung 403) und 221 den Namen zhangguo, »[Epoche der] Streitende[n] Reiche«, erhielt. Es waren die Gelehrten und Fürsten-Ratgeber jener Zeit, die elaborierte Theorien von Krieg und Frieden entwickelten. Eine Gruppe von ihnen wurde schließlich gar bingjia, »Schule des Krieges«, getauft. Ihr berühmtester Repräsentant – irreführend mitunter auch als Gründer der »Schule«, die man nicht als Gruppe, sondern eher als in ihren Überzeugungen verwandte unabhängige Persönlichkeiten zu verstehen hat – war eben der bereits genannte Sunzi, »Meister Sun«. Sein Sunzi bingfa beeinflusste zahlreiche Philosophen, Politiker und Kriegsherren, eingeschlossen Mao Zedong.
Philosophisch gesehen, ist es freilich nicht die Kompromisslosigkeit, ja zweckrationale Ruchlosigkeit, die Sunzi empfiehlt, wenn man sich einmal für einen Krieg entschieden hat und ihn gewinnen will, sondern die sozusagen grundsätzliche Ablehnung, mit der er den Krieg betrachtet, die beeindrucken sollte. Das Sunzi bingfa lässt keinen Zweifel daran, dass Krieg ein Übel ist und möglichst vermieden werden sollte. Zwar macht es dann weiter deutlich, dass man vor nichts (mehr) zurückschrecken dürfe, wenn man einen Krieg führe und ihn auch gewinnen wolle, aber es dürfte ein Irrtum sein, dass diese konsequente instrumentelle Rationalität Bewunderung heischen soll. So heißt es u.a.:
»Wer in 100 Schlachten 100 Siege erringt, zeigt nicht die wahre Größe der Kriegskunst. Ohne jeden Kampf einen Feind zu unterwerfen, ist in der Tat wahrer Genius« (Leibnitz III.3).
»Diejenigen, die die Kunst der Kriegsführung beherrschen, bezwingen eine feindliche Armee ohne Schlachten, sie nehmen feindliche Städte ein, ohne sie angreifen zu müssen […]« (III.10).
Doch ebenso: »Die ganze Kriegskunst basiert auf List und Tücke« (I.17) – eine Sentenz, die an das, freilich kritisch gemeinte, Wort erinnert: »Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst.«
Und weiter: »Plündere ein reiches Land aus, und versorge so deine Armee mit allem Notwendigen« (XI.31).
»Hast du ein Land geplündert, verteile die Beute unter deine Soldaten« (VII.13).
»[…] ausgeprägter Sinn für Ehre [d.h. Moralität] und Mitgefühl […] sind ernstzunehmende Fehler eines Heerführers« (VIII.23).
»Falls Pläne von Geheimoperationen vorzeitig bekannt werden, sollten der Spion und alle, die er ins Vertrauen gezogen hat, hingerichtet werden« (XIII.15).
Das Sun Bin bingfa, »Sun Bins Kriegskunst«, ein anderer Text aus der Zeit der Streitenden Reiche, stellt sogar fest:
»Abscheu vor dem Krieg ist das höchste militärische Prinzip.«5
»Abscheu vor dem Krieg ist das grundlegendste Prinzip des wahren Königs.«6
»Die, die den Krieg lieben, führen ihr Land in den Untergang, und die, die nach Sieg gieren, bringen ihm Unehre.«7
»Zwischen Himmel und Erde existiert nichts Wertvolleres als der Mensch.«8
»[Da es sich so verhält, gilt:] Man sollte nur dann Krieg führen, wenn es dazu keine Alternative gibt.«9
Sunzi bingfa, Sun Bin bingfa und weitere Texte der bingjia10 formulierten damit Einstellungen zum Krieg, die in China bis hinein ins 20. Jahrhundert dominiert haben dürften. Während der Zeit der Streitenden Reiche dürfte dabei auch die Überzeugung vorgeherrscht haben, dass Krieg unentbehrlich sei, um Macht zu sichern oder zu gewinnen, ja gar, um Frieden zu erzwingen. Die Vertreter der bingjia jedenfalls waren dieser Ansicht. Im Gegensatz zu ihnen legten Mohisten und sogenannte Konfuzianer stärkeres Gewicht auf moralische Kriterien und verurteilten zumindest so gut wie jede Art von Angriffs- und Eroberungskrieg.11 Doch wurde diese Sicht wohl nie zur dominanten Position in der Geschichte Chinas. Dessen ungeachtet blieb auch sie nicht ohne Wirkung, und sie trug dazu bei, dass die traditionelle chinesische Kultur den Krieg weder feierte noch glorifizierte, und dass »militärischer Heroismus« in der Tat »eine ziemlich schwach entwickelte Idee« blieb.12
Chinesische Bogenschützen (aus dem Kiko Shinsho, 1799, Japan)
Besondere Beachtung verdient die Originalität, Rationalität und Gültigkeit der Argumente, die Mohisten und »Konfuzianer« ins Spiel brachten. Mozi (468?–376?) wird folgende berühmte Äußerung zugeschrieben:
»Wenn einer […] einen unschuldigen Menschen tötet, ihm die Kleider und den Pelz auszieht und Speer und Schwert an sich bringt, dann ist seine Verwerflichkeit noch viel größer als bei dem, der in die Stallungen eines anderen eindringt und dessen Ochsen und Pferde stiehlt. Inwiefern? Die Schädigung anderer Menschen ist dabei noch größer. Denn je höher der Grad der Schädigung, desto größer ist die Verwerflichkeit und desto schwerwiegender das Verbrechen. Die Edlen im Reiche wissen das alle und verdammen so etwas, und sie bezeichnen es als unrechtschaffen. Doch wenn nun einer in großem Maßstab solches tut und einen Staat angreift, dann wissen sie dies nicht zu verurteilen, sondern sie loben ihn noch und nennen ihn rechtschaffen. Kann man da noch sagen, dass sie den Unterschied zwischen Rechtschaffenheit und Verwerflichkeit kennen? Wenn jemand einen anderen tötet, dann nennen sie es verwerflich und setzen darauf die Todesstrafe. Führt man diese Argumentationsweise fort, so ist einer, der zehn Menschen tötet, zehn Mal verwerflicher und hat auch die zehnfache Strafe zu erwarten […]
Angenommen, ein Mensch würde heute, wenn er ein wenig Schwarz sähe, dieses schwarz nennen, wenn er aber viel Schwarz sähe, es als weiß bezeichnen. Wir müssten diesen Menschen für unfähig halten, weiß und schwarz zu unterscheiden. […] Wenn nun ein kleiner Fehler begangen wird, dann wissen sie, ihn zu verurteilen; aber wenn ein großer Fehler begangen wird, wie das Angreifen eines Staates, dann wissen sie nicht, ihn zu verurteilen, sondern loben ihn sogar noch und nennen es Rechtschaffenheit. Kann man da noch sagen, dass sie den Unterschied von Recht und Unrecht kennen?«13
In seinen Argumenten gegen den Krieg appelliert Mozi an (1) unsere Fähigkeit zu logischem Denken, (2) den kritischen gesunden Menschenverstand und allgemeinmenschliche Erfahrung, (3) die allgemeingültige ethische Norm, Menschenleben zu respektieren, und (4) verweist zudem auf die Inakzeptabilität doppelter Standards. Implizit stellt er auch die Idee vom ›Recht des Stärkeren‹ infrage. Dies alles sowie die unverkennbare Aufrichtigkeit und die Leidenschaftlichkeit seiner Äußerungen machen seine Argumente zu einem beeindruckenden Plädoyer gegen den (Angriffs-)Krieg.
Das dem ›konfuzianischen‹ Philosophen Xunzi (313?–238?) zugeschriebene Buch Xunzi schließt ein Kapitel »Militärische Gespräche«14 ein. In Übereinstimmung mit dem Mozi betont es, dass Angriffsund Eroberungskriege unzulässig seien. »Was ein idealer Herrscher ist, der unternimmt wohl Strafaktionen, führt aber keine eigentlichen Kriege; der verteidigt wohl seine Städte, macht aber keinen Angriffskrieg.« Gegen den Pragmatismus der bingjia gewandt, versucht das Xunzi zu zeigen, dass solch ein Pragmatismus nicht nur inhuman, sondem auch kurzsichtig ist. Selbst während eines Krieges oder in der Vorbereitung eines Krieges verspreche es letztendlich mehr Erfolg, Tugenden wie Menschlichkeit (ren) und Aufrichtigkeit (xin) zu huldigen, als zu versuchen, durch Lug und Trug, Einschüchterung und Terror oder die Zahlung exorbitanten Soldes zum Ziel zu kommen.
Das Argument, dass Frieden
– und ebenso gesellschaftliche Ordnung und Wohlergehen –
wichtiger seien als Wahrheit
Die Überzeugung, dass Frieden wichtiger als Wahrheit sei, stärkte die traditionelle chinesische Ablehnung kriegerischer Auseinandersetzungen. Diese Überzeugung dürfte vielen philosophischen Klassikern Chinas gemein sein: den sogenannten konfuzianischen Texten Lunyu, Menzius und Xunzi, den daoistischen Daode jing und Zhuangzi und den legalistischen Shangjun shu und Han Feizi, den Büchern des Fürsten Shang (390–338) und des Han Feizi (280–233)15. Während Papst Pius XII. die Ansicht vertrat, dass die Unwahrheit kein objektives Recht auf Existenz besitze16, dürfte es keinen chinesischen Philosophen geben, der je Ähnliches behauptet hätte. Und auch chinesische religiöse Führer haben sich wohl nie entsprechend geäußert. Das heißt nicht, dass Wahrheit nichts gegolten hätte oder nichts gelte. Gemeinhin wurden jedoch Menschlichkeit und Wohlergehen für höhere Werte gehalten, und wie jedermann weiß, sind etwa (Not-)Lügen beidem oft förderlicher als die Wahrheit oder gar der Versuch, die Wahrheit (insbesondere eine religiöse Wahrheit) ›durchzusetzen‹. Da die Erfahrungen der Streitenden Reiche dazu geführt hatten, Frieden für eine notwendige Bedingung von Menschlichkeit und Wohlergehen zu halten, galt auch Frieden im Allgemeinen mehr als Wahrheit.
Die Legalisten plädierten für absolute und totalitäre Einzelherrschaft. Aber aus eben diesem Grund hielten auch sie Frieden für unentbehrlich. Die Folgerung, die die Legalisten aus den Kriegen der Streitenden Reiche zogen, war, dass der Herrscher keinerlei ›abweichende‹ Auffassungen dulden durfte. Nach ihrer Überzeugung führten solch ›abweichende‹ Meinungen unweigerlich zu soziopolitischer Unordnung und schließlich in kriegerische Auseinandersetzungen, so dass sie von vornherein die Stellung des Herrschers gefährden würden. Dementsprechend setzten sich die Legalisten dafür ein, Frieden bzw. Ruhe und Ordnung zu erzwingen – was dann freilich auf eine Art Friedhofsruhe hinauslief.
Es braucht nicht betont zu werden, dass die skizzierte Bewertung von Frieden und Wahrheit auch die Wirkungsmächtigkeit von Ideen religiöser Wahrheit schwächen musste und damit der Führung von Religionskriegen entgegenstand.
Das Argument, dass (weltliche) Regierungsmacht
die höchste Macht sei
Das Argument, dass die (weltliche) Regierungsmacht die höchste Macht sei, ist eng mit dem traditionellen chinesischen Interesse an einer Sicherung des Friedens verbunden. Einmal glaubten chinesische Eliten nur selten an die Existenz transzendenter Entitäten. Insbesondere glaubten sie kaum an einen allmächtigen Gott oder an ein Leben nach dem Tod. Natürlich gab es Ausnahmen. Das gilt vor allem für die Anhänger volkstümlicher daoistischer Religionen oder für Anhänger der Huang-Lao17-Religionen, d.h. für Menschen, die an eine Art göttlichen Gelben Kaiser (Huang Di) und einen göttlichen Laozi glaubten. Außerdem wären buddhistische Volksreligionen zu nennen. Das Lunyu vertritt einen Agnostizismus. Es trägt zur Entmythologisierung des Konzepts vom Himmel (tian) bei, das sich an einigen Stellen von Shijing und Shujing noch auf eine Art Gott bezieht. Im Menzius besitzt tian noch numinose Konnotationen, doch verweist es auf keine transzendente Entität und ist insofern irrelevant. Das Xunzi ist explizit atheistisch,18 und dasselbe gilt für die legalistischen Texte Shangjun shu und Han Feizi. Die Mohisten behaupteten zwar, dass es Götter und Geister gebe, doch taten sie dies vielleicht aus pragmatischen Erwägungen heraus: Sie waren überzeugt, dass die Moral religiöser Stütze bedürfe. Es waren jedoch Agnostizismus und Atheismus, die seit der Qin-Zeit (221–207) die Überzeugungen der Eliten dominierten, und sie tun es noch im 21. Jahrhundert. Weder der exemplarische gelehrte ›Beamte‹ noch der exemplarische kommunistische Kader glaubten oder glauben an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod. Das erklärt, warum regelrechte Herrschaft und regelrechte Lebensführung sich nicht auf transzendente, jenseitige Institutionen berufen sollten. Im besten Fall erschien dies seltsam, im schlimmsten Fall äußerst gefährlich. Denn wie, so wohl die dabei leitende Überzeugung, könne man sich auf etwas berufen, dessen Existenz fraglich oder doch nicht auszumachen, geschweige denn zu charakterisieren sei, um das Leben hier und jetzt zu gestalten? Wie sich auf so etwas berufen, um gegen die eigene Regierung Front zu machen oder gar Aufruhr auszulösen und zu rechtfertigen? Öffnete die Berufung auf transzendente Enti täten der Willkür – und zwar auch der moralischen und politischen Willkür – nicht geradezu Tür und Tor? Dementsprechend hatte Herrschaft in China seit der Qin-Zeit fast durchweg säkularen Charakter, und wann immer diese Säkularität durch religiöse Bewegungen gefährdet schien, reagierte der Staat notfalls auch durch gewaltsame Unterdrückung.
So war es beispielsweise die Sorge, dass der Buddhismus zum Staat im Staate werden könne, die zur Verfolgung der Buddhisten in den Jahren 446, 557 und 845 führte, wiewohl diese Sorge natürlich nicht den einzigen Grund abgab. Die Verfolgung im Jahr 446, die unter den Nördlichen Wei (386–534) stattfand, war auch durch die Ambitionen eines daoistischen ›Beamten‹ motiviert, »den Daoismus zum dominanten Glauben des Landes« zu machen, d.h. durch eine Art religiöses Interesse, sowie durch die Abneigung, die der ›konfuzianische‹ Kanzler gegenüber dem ›fremden‹ ›indischen‹ Glauben empfand.19 Um ihre Ziele zu erreichen, mussten die beiden den Kaiser davon überzeugen, dass der Buddhismus eine Gefahr für (die kaiserliche) Staatsmacht darstelle. Die Verfolgung im Jahr 574 ereignete sich unter der Herrschaft der Nördlichen Zhou (557–581). Neben der Frage nach der politischen Macht waren dabei erneut Auseinandersetzungen zwischen Buddhisten und Daoisten und eine gewisse Xenophobie im Spiel. Der entsprechende kaiserliche Erlass verbot freilich nicht nur den Buddhismus, sondern auch den Daoismus.20 Während die Verfolgungen von 446 und 557 auf den Norden der chinesischen Welt beschränkt blieben, zog die dritte Verfolgung den gesamten chinesischen Raum in Mitleidenschaft. Sie war ausschlaggebend dafür, dass der Einfluss, den der Buddhismus auf die Staatsmacht ausübte, endgültig zurückging. Für die Tang-Dynastie (618–907) war die Verfolgung auch ein Mittel, ihre verzweifelte ökonomische Lage zu verbessern.21
Argumente und Entscheidungen für einen Krieg
Kriege als Mittel, (politische) Macht zu gewinnen,
zu stärken oder zu verteidigen
Wie wohl stets und überall waren Kriege auch in China Kämpfe um Macht, mag es auch fast immer weitere Gründe und Ziele für sie gegeben haben. Kriege, in denen (persönliche) ›Machtgier‹ unverkennbar das dominante Motiv bildete, fanden etwa zur Zeit der Streitenden Reiche statt. Das gilt vor allem für die Kriege des Staates Qin und des Reichseinigers Qin Shihuangdi (?–210 v. u. Z.). Aber auch die aggressiven Eroberungskriege Han Wudis (157–87), des »Kriegerischen Kaisers der Han«, die Kriege gegen Ende der Han-Zeit (206 v. u. Z. – 220 u. Z.) und schließlich die Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts sind augenfällige Beispiele. Wie angesprochen, zielte so mancher Krieg auch darauf, die jeweilige Regierungs- oder Staatsmacht zu festigen oder zu verteidigen.
Die Buddhisten-Verfolgungen sind bereits genannt. In der Tat hatte die Staatsmacht Grund, die buddhistischen Orden zu fürchten. Sie besaßen riesige Ländereien, hatten Reichtümer angehäuft, zahlten keine Steuern und stellten keine Fronarbeiter. So zogen sie denn auch immer mehr Menschen an. Anders als die ›konfuzianischen‹ Gelehrten und Offiziellen hingen viele Buddhisten zudem eher religiösen als kritisch-philosophischen Überzeugungen an. Sie glaubten an Götter oder doch gottähnliche Wesen, an schlichte Karma-Begriffe, Wiedergeburten oder etwa an ein Nachleben in einem buddhistischen Paradies. Dementsprechend neigten sie oft dazu, buddhistischen Normen den Vorzug vor weltlichen Prinzipien zu geben, ja, sich eher buddhistischen übernatürlichen Wesen als (diesseitigen) Herrschern und Mächtigen verpflichtet zu fühlen. Zu den illustrativsten Beispielen gewaltsamen staatlichen Vorgehens gegen religiöse Strömungen, die die Säkularität der Herrschaftsordnung bedrohten oder zu bedrohen schienen, gehörten neben den Verfolgungen der Buddhisten die Kampagnen gegen daoistische Bewegungen und dabei insbesondere gegen Huang-Lao-Sekten wie die Gelben Turbane, die Fünf-Scheffel-Reis-Bewegung und die Taiping-Aufstände. Bei den zwei ersten Strömungen handelte es sich um – auch durch soziopolitische Probleme genährte – gewalttätige Protestbewegungen gegen Ende der Han-Zeit. Wie gesagt, sahen sie in Laozi eine Art Gott.22 Die Taiping-Bewegung des 19. Jahrhunderts – die zeitweise einen Staat im Staate errichtete – nahm mit dem Schlagwort taiping, »Großer Frieden«, eine Losung der Gelben Turbane auf. Ihr Führer gab sich als ein Bruder Jesu aus.23
Krieg als Akt (persönlicher) Rache
Manche Kriege in der Geschichte Chinas waren vor allem Racheakte. Dementsprechend setzen sich chinesische Theorien des Krieges auch mit solchen Fällen auseinander. Selbst Schriften der bingjia (unter ihnen auch das Sunzi bingfa II. 19) raten dazu, unterlegene Feinde so human wie möglich zu behandeln und so für sich zu gewinnen. Rache zu üben oder ein Bedürfnis nach Rache zu wecken, wird durchaus kritisch betrachtet. Das ›konfuzianische‹ Xunzi betont gar solch einen Ansatz. Andererseits wird freilich auch vor sozusagen zu viel Menschlichkeit gewarnt. Mitbestimmend für diese Sicht dürfte das Schicksal Wu Zixus (?–485 v. u. Z.) gewesen sein, eines Beraters von Fu Chai, des Königs von Wu (einem Staat der Streitenden Reiche). Nachdem Fu Chai den König des Nachbarstaates Yue besiegt und gefangen genommen hatte, riet Wu Zixu, den Gefangenen nicht allzu human zu behandeln. Sein Rat stieß jedoch auf taube Ohren, und am Ende wurde Wu Zixu gar zum Selbstmord gezwungen. Der besiegte König täuschte Dankbarkeit und sogar Ergebenheit vor, während er dabei auf Rache sann. Schließlich in Freiheit entlassen, kehrte er nach Yue zurück. Er nutzte dann die erste Gelegenheit, tatsächlich Rache zu nehmen, zerstörte den Staat Wu und trieb Fu Chai in den Selbstmord.24
Krieg als legitimes Mittel, inhumane,
grausame Herrschaft zu beenden
Wie angedeutet, ist nur eine der in China entwickelten Theorien von Krieg und Frieden kaum je infrage gestellt worden: die als tianming-Theorie entstandene Lehre, der zufolge Tyrannenmord, Aufstand und Bürgerkrieg gerechtfertigt, ja Pflicht sein können25. Dies sollte nicht zu Missverständnissen führen. Einige Kaiser, Offizielle und Gelehrte plädierten für absolute, totalitäre Macht und blinden Gehorsam. Ihrer Auffassung nach hatten die Beherrschten ein Verhalten zu zeigen, das angemessen als ›Kadavergehorsam‹ bezeichnet werden kann. Aber selbst der eine oder andere legalistische Philosoph wandte sich gegen solch ein Extrem und forderte, dass zumindest eine bestimmte Form aufrichtiger Kritik zugelassen werden sollte. Im frühesten Stadium der tianming-Theorie bezeichnete das Wort tian, »Himmel«, im Kompositum tianming eine personale Gottheit, aber bereits um etwa 500 v. u. Z. war tianming zu einer Bezeichnung einer Art allgemeingültiger moralischer Norm geworden.26 Das »Mandat des Himmels« (tianming) zu erhalten oder zu besitzen, besagte, human und gerecht und deshalb und insofern legitimerweise zu herrschen. Dies galt unabhängig davon, ob tian als Name einer Gottheit verstanden wurde oder nicht. Im ersten Fall bedeutete tianming eben, einen göttlichen Auftrag erhalten zu haben und zu erfüllen. Im zweiten Fall bedeutete es vor allem, dass der Herrscher über die erforderlichen charakterlichen und intellektuellen Fähigkeiten verfügte und deshalb (sozusagen aus eigener Kraft bzw. aufgrund eben seiner herausragenden Qualitäten) an die Macht gelangt sei und sie ausübte. Das Xunzi fasst dies in der Sentenz zusammen: »Ob einer ein Himmelssohn [tianzi, d.h. eben Herrscher] ist, hängt allein davon ab, was für ein Mensch er ist.«27
Wie es in Lunyu, Menzius und Xunzi entwickelt ist, bedeutet das Konzepteiner humanen und gerechten Herrschaft, dass die Regierung im Interesse der Bevölkerung herrscht, deren Leben schützt, hinreichende Nahrung etc. garantiert und sie vor Erniedrigung, Grausamkeit und anderem Leid bewahrt. Um dies zu erreichen, hielt man Frieden für unentbehrlich. Als notwendige Voraussetzung jeder Friedenssicherung wiederum betrachtete man eine stabile hierarchische gesellschaftliche Ordnung. Das Xunzi formuliert eine elaborierte Theorie einer solchen Ordnung. Es argumentiert, dass der Platz eines Menschen in einer Gesellschaft durch dessen Charakter und Fähigkeiten bestimmt sein sollte. Um Unzufriedenheit und womöglich daraus resultierende Unruhen auszuschließen oder doch abzumildern, fordert das Xunzi, dass die Mächtigen ein vorbildliches Leben führen. Außerdem plädiert es für Erziehung, Selbstkultivierung und – vielleicht der wichtigste Aspekt – für eine Art Ästhetisierung der Moral, d.h. eine Überführung moralischer Normen in (auch persönliche) Neigungen.
Zusammenfassend gesagt, setzt humane und gerechte Herrschaft dem Lunyu, Menzius und Xunzi zufolge einen Frieden voraus, der seinerseits wiederum nur in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft möglich sein soll. So schließen die Texte eine Theorie des Friedens ein, die in gewisser Hinsicht auf eine Theorie gesellschaftlicher Hierarchie hinausläuft. Bis auf den Daoismus gingen alle klassischen chinesischen Philosophien davon aus, dass Frieden stabile hierarchische Ordnung verlange. Man sollte sich dies bewusst machen, wenn man das Entsetzen verstehen will, das chinesische Regierungen seit alters bei politischen Unruhen empfanden und empfinden. Wie angesprochen, gingen die Legalisten in ihrer Betonung gesellschaftlicher Unterschiede noch sehr viel weiter als die ›Konfuzianer‹. Auch neuere Ereignisse wie die Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung im Jahr 1989 und das Verbot der Falungong-Sekte sollten im Kontext traditioneller chinesischer Theorien von Frieden und Ordnung gesehen werden.
Wie ausgeführt, rechtfertigte die tianming-Theorie nicht nur den Tyrannenmord, sie forderte ihn unter bestimmten Umständen sogar. Umgekehrt besagte sie freilich auch, dass Widerstand gegen einen Herrscher, der eine hierarchische Gesellschaftsordnung verteidigte, um so Frieden und schließlich Humanität und Gerechtigkeit zu sichern, illegitim sei. In der Geschichte Chinas galt eine egalitäre Gesellschaft so gut wie nie als akzeptables politisches Ziel. Solch eine Idee wurde eher als potentielle Quelle sozialer Instabilität und schließlicher Bürgerkriege gesehen.
Krieg als legitimes Mittel, sich aus einer unerträglichen
Situation – wie einer Hungersnot – zu befreien
Die klassischen chinesischen Theorien, nach denen jeder innerstaatliche Frieden eine hierarchische gesellschaftliche Ordnung voraussetzt, dürften zu den längeren Phasen inneren Friedens beigetragen haben, die die Chinesen in den ersten Hälften der Han-, Tang-, Song-(960–1279) und Qing- (1644–1911) Dynastien genossen. Zweifellos jedoch waren dies auch Zeitspannen strikterer sozialer Ordnung. Wie andere Epochen waren auch sie zudem nicht frei von sozialen Unruhen und insbesondere von Bauernaufständen. Auch die Bewegungen der Gelben Turbane und des Fünf-Scheffel-Reis-Daoismus nährten sich u.a. aus Bauernaufständen. Bauern waren die größten Leidtragenden der chinesischen Herrschaftsgeschichte. Oft hatten sie astronomisch hohe Steuern zu zahlen. Wiederholt wurden sie zur Fronarbeit herangezogen oder ins Militär gezwungen. Vom Hungertod bedroht, mussten sie ihrer Kinder oder sich selbst an Reichere verkaufen. So fanden intelligente Aufrührer in den Bauern häufig willige Unterstützer. Um ihr (angebliches) Ziel, grausame Herrschaft auszumerzen, in die Tat umzusetzen, beriefen sie sich ebenfalls auf die tianming-Theorie – wenn wohl auch oft sachlich unbegründet.28
Frühe chinesische ›Zusammenfassungen‹
der klassischen chinesischen
Theorien von Krieg und Frieden
Chinesische Theoretiker waren sich darüber im Klaren, dass zwischen verschiedenen Arten von Krieg und Frieden zu unterscheiden ist. Wie angesprochen, sahen sie die grundlegende Differenz im Unterschied zwischen gerechtem (yi) und ungerechtem Krieg (bing). Dabei war man sich freilich nicht immer einig, was etwa als gerecht gelten sollte. Die Daoisten ausgenommen, ging man des Weiteren davon aus, dass (Bürger-)Krieg nur dann vermieden werden könne, wenn eine stabile hierarchische gesellschaftliche Ordnung bestehe bzw. aufrechterhalten werde. Erneut freilich gingen die Meinungen in den Details auseinander. Die größten Differenzen gab es in der Frage nach der Berechtigung aggressiver (Angriffs-)Kriege und totalitärer Ordnung. Während die sogenannten Konfuzianer und die Mohisten Angriffskriege ablehnten, hielten bingjia und Legalisten (fajia) bestimmte Formen von Angriffskriegen für durchaus legitim. Während die ›Konfuzianer‹ für eine durch ästhetische Züge geprägte harmonische Gesellschaft eintraten, favorisierten die Legalisten eine strenge, wenn nicht gar totalitäre Gesellschaftsordnung. Zwei systematische Zusammenfassungen aus dem Wuzi bingfa, »Wuzis [430?–381] Kriegskunst«, einem weiteren herausragenden Text der binjia, und aus einem Huang-Lao-Text (aus dem 3. oder 4. Jahrhundert v. u. Z.) mögen das Gesagte noch einmal übersichtlich illustrieren:
»Fünf Dinge veranlassen zu militärischen Unternehmungen. Erstens, das Streben nach Ruhm; zweitens, das Streben nach Vorteil; drittens, das Anwachsen von Feindseligkeit(en); viertens, innere Unordnung; und fünftens, Hungersnot.
Ebenso gibt es fünf Arten von Krieg. Erstens, gerechten Krieg (yibing); zweitens, aggressiven Krieg; drittens, wütenden Krieg; viertens, willkürlichen Krieg; und fünftens, Aufstand oder Rebellion. Kriege, um Gewalt zu unterdrücken und Unordnung zu beseitigen, sind gerecht. Solche, die auf Gewalt gründen, sind aggressiv. Wenn Truppen ausgehoben werden, weil Herrscher von Ärger getrieben werden, so handelt es sich um wütende Kriege. Solche, in denen vor lauter Gier jeder Anstand fehlt, sind willkürliche Kriege. Menschen, die die Massen aufrühren und in Bewegung setzen, wenn der Staat in Unordnung und die Bevölkerung erschöpft ist, verursachen Aufruhr und Rebellion.
Für jede Art gibt es geeignete Vorkehrungen: Einem gerechten Krieg ist durch angemessene [humane] Herrschaft vorzubeugen; einem Aggressionskrieg durch eigene Demut; einem wütenden Krieg durch Vernunft; einem willkürlichen Krieg durch Betrug und Verrat; und Aufruhr und Rebellion durch Autorität.«29
»Das dao der Kriegsführung (bingdao) der gegenwärtigen Generation ist von dreierlei Art: Es gibt solche, die um des Vorteils willen handeln; solche, die um der Gerechtigkeit (yi) willen agieren; und solche, die aus Wut heraus handeln.«30
Einige Vertreter der bingjia gaben auch eine anthropologische Erklärung für die Existenz von Kriegen. Ihrer Auffassung nach ist Krieg nur eine Form natürlicher menschlicher Aggressivität, natürlichen Wettstreits und Ringens und deshalb unvermeidlich. Anders gesagt, sahen sie im Krieg eine Funktion menschlicher Natur und betrachteten ihn als gerechtfertigt oder gar als gerecht (yi), wenn er, allgemein ausgedrückt, Menschlichkeit förderte, soziopolitische Unordnung beseitigte oder Übeltäter strafte. Zumindest implizit legitimierten sie damit auch Aggressionskriege. Das Sun Bin bingfa z.B. vertritt diese Auffassung.31 Andere Klassiker wie insbesondere das Lüshi chunqiu, die »Frühlings-und-Herbst-Annalen des Lü Buwei« (deren Inhalt bis auf das 3. Jahrhundert v. u. Z. zurückgeht), und das Huainan zi, das »[Buch] des Fürsten von Huainan« (dessen Inhalt bis ins 2. Jahrhundert v. u. Z. zurückreicht), wiederholten und unterstrichen solche Positionen.32 Ihre Stellungnahmen, die weithin aus den Perspektiven von bingjia, Legalismus und vielleicht Huang-Lao-Dao-ismus formuliert sind, die aber auch die Einschätzungen von Monismus und ›Konfuzianismus‹ nicht ganz unberücksichtigt lassen, lassen sich als eine Art abschließender Zusammenfassung der klassischen Diskussionen verstehen und verdienen deshalb eine ausführliche Wiedergabe:
»Die Weisen Könige des Altertums benützten ihre Krieger zu gerechten Zwecken, nicht aber schafften sie den Kriegerstand ab. Die Ursprünge des Kriegerstandes sind tief im Wesen des Menschen begründet. Es gibt Krieger, solange es Menschen gibt […] Das Kriegshandwerk lässt sich nicht abschaffen und die Rüstungen lassen sich nicht einstellen […]
Die Ursprünge des Krieges liegen weit zurück. Er lässt sich nicht verbieten, noch verhindern. Darum benutzten die Weisen Könige des Altertums ihre Krieger zu gerechten Zwecken, nicht aber schafften sie den Kriegerstand ab […]
Wenn es in einem Staat nicht Strafe noch Buße gibt, so zeigt sich sofort, dass die Bürger einander bedrücken und übervorteilen. Wenn es im Weltreich [dem ›gesamtchinesischen‹ Raum] nicht Kriege noch Strafzüge gibt, so zeigt sich sofort, dass die Lehensfürsten [die Herrscher der Einzel- oder Teilstaaten] einander bedrängen […]
Es kommt vor, dass Leute am Essen ersticken. Wollte man deswegen das Essen auf Erden verbieten, so wäre das töricht […] So kommt es auch vor, dass Fürsten durch den Gebrauch von Soldaten ihr Reich verlieren. Wollte man aber deswegen den Kriegerstand auf Erden abschaffen, so wäre das töricht […] Es verhält sich wie mit dem Gebrauch von Arznei. Eine gute Arznei rettet dem Menschen das Leben; eine schlechte Arznei tötet den Menschen. So ist das Militär, wenn es zu gerechten Zwecken verwendet wird, ebenfalls eine Arznei für die Welt […]
Keinen Augenblick ist der Mensch von kriegerischen Gedanken frei […] Die Leute, die heutzutage so laut von der Abschaffung des Militärs reden, benützen ihr ganzes Leben, das Militär zu bekriegen, ohne sich des Widerspruchs bewusst zu werden […] Darum, über einen wirklich gerechten Krieg, der die Bedrücker vernichtet und die unterdrückten Völker befreit, freuen sich die Menschen […].«33
»Für jeden, der auf Erden Führer der Menschen werden will, ist es die wichtigste Frage, die Menschen der Ordnung auszuzeichnen und die unordentlichen Elemente auszuschalten, die Pflichttreuen zu belohnen und die Pflichtvergessenen zu bestrafen.
Unter den Gelehrten ist heutzutage eine weitverbreitete Richtung, die den Angriffskrieg verurteilt. Während sie den Angriffskrieg verurteilen, billigen sie den Verteidigungskrieg. Wollte man sie aber auf Verteidigungskriege beschränken, so würde sich die eben erwähnte Methode, die Menschen der Ordnung auszuzeichnen, die unordentlichen Elemente auszuschalten, die Pflichttreuen zu belohnen und die Pflichtvergessenen zu bestrafen, nicht durchführen lassen. Das Wohl und Wehe der Fürsten und Völker auf Erden hängt davon ab, dass man diese Ausführungen versteht. Angriffskriege und Verteidigungskriege sind im Prinzip dasselbe.«34
Chinesische Standarte (aus dem Kiko Shinsho, 1799, Japan)
»Die Waffen sind Unglücksgeräte auf Erden, die Tapferkeit ist die unheilvolle Tugend auf Erden. Die Unglücksgeräte zu erheben und die unheilvolle Tugend auszuüben, dazu braucht es eines Anlasses, der so beschaffen ist, dass man nicht anders kann. Wenn man diese Unglücksgeräte erhebt, so muss man töten. Aber man soll [nur] töten, um vieler Menschen Leben zu retten.«35
Spekulationen über die Gültigkeit
der klassischen chinesischen Philosophie
von Krieg und Frieden
Die referierten Überzeugungen und Argumente gleichen verblüffend so manchen Überlegungen, die wir aus der Geschichte des »Westens« kennen und die erneut Aktualität erlangt haben. Stichwörter wie »Präventivschlag« – sprich »Angriffskrieg« –, »Krieg als letztes Mittel«, »gerechter Krieg«, »humanitäre Intervention« oder einfach nur »Realpolitik« belegen dies. Es mag kein Zufall sein, dass gerade derartige Ideen die Ideologien der Streitenden Reiche dominierten. Balkankriege, Afghanistan-Krieg und vor allem der zweite Irak-Krieg sind auch Zeichen einer gewissen Wertschätzung militärischer Mittel als quasi politischer Instrumente. Sachlich treffender dürften freilich Theorien sein, wie sie das Xunzi entwickelt: Kriege sind letztlich kaum geeignet, dauerhaft Frieden und Menschlichkeit zu etablieren. Die Grausamkeit, die auch den sogenannten »Krieg gegen den Terrorismus« kennzeichnet, mag sich vielleicht aus der Sicht von Militärtheoretikern des Pentagon begründen lassen. Sie bleibt nichtsdestoweniger so problematisch wie all die Bewunderung für den ›Realismus‹ und die ›Konsequenz‹, ja für das ›militärische Genie‹ selbst des Sunzi bingfa. Denn vielleicht ist nichts so bezeichnend für die illusionslose Nüchternheit, die das Sunzi bingfa charakterisiert, wie der Sachverhalt, dass es den Begriff bzw. die Zeichenfolge yibing [inline imgsrc="28-1.jpg"/][INLINE], »gerechter Krieg«, gar nicht erst verwendet. Das aber sollte, recht verstanden, eben keine Bewunderung – etwa – für die Vorschläge, wie man einen Krieg gewinnen könne, oder für Ideen militärischer Virtuosität hervorrufen, sondern, falls überhaupt, dafür, dass der Text, summa summarum und paradox ausgedrückt, am Krieg nichts Bewundernswertes lässt. Und vor allem deshalb verdient er nach wie vor Beachtung.
Unabhängig von jeder Kriegsphilosophie dürfte nämlich gelten: Gerechte Kriege gab es wohl noch nie. Mag auch mancher Krieg erzwungen gewesen sein – auch er dürfte den Tod Unschuldiger, Folter und Vergewaltigung und damit üble Ungerechtigkeit eingeschlossen haben.
1 Yuan Yang und Ming Ping, Kriegsgeschichten aus dem chinesischen Altertum, Beijing 2003, S. 3.
2 Übersetzungen etwa von Victor von Strauss, Schih-King: Das kanonische Liederbuch der Chinesen, Darmstadt 1969, und James Legge, The Shoo King [chinesisch und englisch], The Chinese Classics III, Taipei: SMC Reprint 1983.
3 So der von Richard Wilhelm für seine Übersetzung gewählte deutsche Titel.
4 Vgl. Paul, Gregor, Konfuzius, Freiburg 2001. Die Bezeichnung ›Konfuzianismus‹ ist extrem irreführend. Der mit ihr ›übersetzte‹ chinesische Ausdruck ist rujia, der u.a. mit »Schule der Gelehrten« übertragen werden kann, ursprünglich aber so etwas wie »Gruppe der Weichlinge [d.h. der Gegner der Anwendung von Gewalt]« bedeutet haben mag.
5 Zit. nach: Sun Zi über die Kriegskunst, Sun Bin über die Kriegskunst, übers. von Zhong Yingjie, Beijing 1994, S. 94. Vgl. auch die Übersetzung von Lin Wusun, Sunzi: The Art of War, Sun Bin: The Art of War, Beijing 2007, S. 125ff.
6 Übers. nach der Übertragung von Roger Ames, Sun-Tzu: The Art of Warfare, New York 1993, S. 85.
7 Übers. nach der Übertragung von Lin Wusun, Sunzi: The Art of War, Sun Bin: The Art of War, Beijing 2007, S. 107.
8 Nach der Übers. von Zhong Yingjie 1994, S. 95.
9 Nach der Übers. von Roger Ames 1993, S. 85. Vgl. auch die Übers. von Lin Wusun, Sunzi: The Art of War, Sun Bin: The Art of War, Beijing 2007, S. 129.
10 Einschlägige Verzeichnisse, eingeschlossen Listen von Übersetzungen, finden sich bei Cleary, Thomas, Mastering the Art of War: Zhuge Liang’s and Liu Ji’s commentaries on the classic by Sun Tzu, Boston & London 1989; Griffith, Samuel B., Sun Tzu: The Art of War, Oxford 1963, S. 150–168, 184–186; Strätz, Volker: Luh-T’ao: Ein spätantiker Text zur Kriegskunst, Bad Honnef 1979; und Leibnitz (in diesem Band, S. 155). Weitere Übertragungen bieten die in den Fußnoten bereits angeführten Titel von Roger Ames und Zhong Yingjie. Vgl. außerdem Sun Pin: The Art of Warfare: A Recently Discovered Classic, translated, with an Introduction and Commentary by D. C. Lau and Roger T.Ames, New York 1996.
11 In der Zeit der Streitenden Reiche konkurrierten verschiedene philosophische Schulen miteinander. Ihre Vertreter versuchten, als Ratgeber der Mächtigen Einfluss auf die Politik zu gewinnen, indem sie Vorschläge machten, wie Frieden und/oder die Einheit des Reiches wiederherzustellen bzw. die Oberherrschaft im Reich zu gewinnen sei. Die wichtigsten Schulen bildeten dabei ›Konfuzianer‹ (rujia), Mohisten (mojia), bingjia, Daoisten (daojia) und Legalisten (fajia).
12 Ames 1993, S. 40.
13 Zit. nach Mo Ti: Von der Liebe des Himmels zu den Menschen, übers. von Helwig Schmidt-Glintzer, München 1992, S. 123ff.
14 In der Übersetzung von Hermann Köster in dessen: Hsün-tzu [Xunzi], Kaldenkirchen 1967, S. 183–201.
15 Vgl. die Übersetzungen: Debon, Günther, Lao-tse: Tao-Tê-King, Stuttgart 1961; Wilhelm, Richard: Dschuang Dsi: Südliches Blütenland,Düsseldorf,Köln 1969; Wilhelm,Richard, Mong Dsi [Menzius]: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K’o, Neuausgabe Köln 1982; Duyvendak, J. J. L.: The Book of Lord Shang, San Francisco, Nachdruck 1974; Liao, K.: Han Fei-tzu. 2 Bde., London 1959.
16 Zit. nach Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln 1986, S. 90.
17 Vgl. Five Lost Classics: Tao, Huang-Lao, and Yin-Yang in Han-China [chinesisch und englisch]. Translated, with an Introduction and Commentary by Robin D. S. Yates, New York 1997.
18 Vgl. Paul 2001.
19 Vgl. Ch’en, Kenneth: Buddhism in China: A Historical Survey, Princeton 1972, S. 147–151.
20 Vgl. op. cit., S. 184–194.
21 Vgl. op. cit., S. 226–233, sowie The Cambridge History of China, Bd. 3, Cambridge 1989, S. 666–669.
22 Zur Vergöttlichung Laozis siehe: Seidel, Anna K.: La Divinisation de Lao Tseu dans le Taoisme de Han. Publications de l’ École Française d’Extrême-Orient vol. 71, Paris 1969. Siehe auch: Yates 1997, S. 11. Informationen über die Gelben Turbane bietet The Cambridge History of China, Bd. 1, Cambridge 1987, S. 338f., 366ff., 801f., 814–820 und 874–876. Über den Fünf-Scheffel-Reis-Daoismus informiert: Bokenkamp, Stephen R.: Early Daoist Scriptures, Berkeley: University of California Press, 1997.
23 Vgl. Kaltenmark, Max, »The Ideology of the T’ai-p’ing ching«. In: Holmes Welch and Anna Seidel (Hg.), Facets of Taoism: Essays in Chinese Religion, New Haven 1979, S. 19–52.
24 Vgl. Paul, Gregor, Aspects of Confucianism, Frankfurt a. M., New York 1990, S. 67f.
25 Vgl. Paul 2001.
26 Vgl. Paul 1990, 2001, und Pines, Yuri: Foundations of Confucian Thought: Intellectual Life in the Chunqiu Period, 722–453 B. C. E., Honolulu 2002.
27 Nach der Übersetzung von Köster 1967, S. 227.
28 Zur Geschichte der Bauernaufstände in China siehe: Franke, Otto: Geschichte des chinesischen Reiches, 5 Bde., 2. Aufl. Berlin, New York 2001.
29 Zit. in Orientierung an der Übertragung von Griffith in: Griffith, Samuel B.: Sun Tzu: The Art of War, Oxford 1963, S. 153.
30 Zit. nach Yates 1997, S. 141.
31 Vgl. dazu: Gawlikowski, Krzysztof, »Drei Ansätze des klassischen chinesischen Denkens zu den Themen Krieg und Kampf«. In: Silke Krieger und Rolf Trauzettel (Hg.): Konfuzianismus und die Modernisierung Chinas, Mainz 1990, S. 451–458.
32 Siehe: Frühling und Herbst des Lü Bu Wei. Aus dem Chinesischen übertragen und herausgegeben von Richard Wilhelm, Düsseldorf, Köln 1979, S. 89–100, sowie: Morgan, Evan: Tao, the Great Luminant: Essays from the Huai-nan-tzu, Shanghai 1933, Taipei reprint 1966, mit Übersetzungen von Huainan zi 1, 2, 7, 8, 12, 13, 15 und 19.
33 Zit. nach der Übers. von Wilhelm 1979, S. 82ff.
34 Zit. nach der Übers. von Wilhelm 1979, S. 85.
35 Zit. nach der Übers. von Wilhelm 1979, S. 95.