Читать книгу Fürstenkrone Classic 40 – Adelsroman - Susan Hastings - Страница 3
ОглавлениеManchmal, wenn ich allein bin, denke ich an jene Nacht in Ahrgau zurück. Ich sehe wieder das schwarzweiße Muster der Fliesen in der Halle, durch die ich schlich, ich höre das Knarren eines Fensterflügels, seltsam eintönig, melodisch, ähnlich dem Klang der Windharfe, und ich fühle mein Herz schlagen, dumpf und hart.
Und dann blickte ich wieder in Tatjanas Augen, die dunkel und glänzend und tief in den Höhlen liegen, die schönsten Augen, die ich jemals sah, und ich sehe die nackte Angst in ihrem Blick. Angst wovor?
Es sollte einen ganzen Sommer lang dauern, bis mir diese Frage beantwortet und dieses Rätsel gelöst wurde. Einen Sommer, der atemberaubend schön hätte sein können, ja, sein müssen, wenn nicht diese Augen gewesen wären und diese Angst und ein paar andere merkwürdige, unerklärliche Dinge, mit denen ich nicht gerechnet hatte, als ich die Einladung nach Schloß Ahrgau annahm.
»Tatjana«, flüsterte ich in jener Nacht und schob mich so nah an sie heran, daß ich den schwachen Duft ihres herben Parfüms atmen konnte, »wovor fürchten Sie sich denn? Das Schloß ist voll von Personal. Ihr eigener Mann schläft ruhig in seinem Bett, und Sie geistern durchs Treppenhaus auf der Suche… ja, auf der Suche nach was?«
Der Ausdruck ihrer schönen Augen änderte sich nicht. Sie lächelte ein vages, fernes Lächeln, und ich sah zum erstenmal einen Abglanz der Schwermut auf ihrem schmalen Gesicht, die es später zeichnen sollte wie eine fremde Maske.
»Das frage ich mich auch«, erwiderte sie leise, halb scherzhaft, halb vieldeutig. »Ich frage mich schon lange, wonach ich überhaupt im Leben je gesucht habe.«
Die Antwort befriedigte mich nicht im geringsten. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, und abgesehen von einer Schwärmerei für den Schloßherrn, dessen Gast ich in diesem Sommer war und die längst der Vergangenheit und Jugendzeit angehörte, fühlte ich mich als durchaus realistisches Mädchen. Auf eine klare Frage erwartete ich eine klare Antwort. Tatjana war mir diese Antwort schuldig geblieben, und das verübelte ich ihr ein bißchen.
Gerade wollte ich sie die breite geschwungene Treppe wieder hinaufführen, als das ferne eintönige Singen der Windharfe wieder erklang, und diesmal gefror mir das Blut in den Adern.
Ich starrte in Tatjanas weit aufgerissene Augen und konnte mich von ihrem beschwörenden Blick nicht mehr lösen.
»Was um alles in der Welt«, begann ich so leichthin wie möglich, aber die Stimme gehorchte mir nicht ganz, »jetzt hält mich nichts mehr zurück, ich gehe nachsehen. Das kann nur ein offenes Fenster sein, das im Nachtwind hin und her pendelt. Entweder Sie kommen mit oder…«
»Nein«, preßte sie wild hervor und umkrampfte meinen Ellenbogen mit einer Kraft, die man ihr nie zugetraut hätte. »Sie sehen nicht nach! Sie bleiben hier, und ich bleibe auch hier. Wir gehen jetzt beide hinauf und trinken einen Tee in meinem Salon, oder auch einen Gin oder einen Whisky, ganz wie Sie wollen.« Der Griff um meinen Ellenbogen lockerte sich zwar noch nicht, aber ihr Gesicht nahm wieder ein wenig Farbe an. »Ich für meine Person«, fügte sie hinzu und brachte ein Lächeln zustande, »nehme am liebsten einen Barac. Wie ist es, halten Sie mit?«
Es war Mitternacht vorbei. Aber ich war so hellwach, als sei es früher Vormittag, und ein Blick in die dunkle Tiefe des unbeleuchteten Treppenhauses ließ mich leicht erschauern. Nein, ich war ebensowenig ein Held wie Tatjana von Ahrgau.
Dicht nebeneinander stiegen wir die Stufen wieder hinauf, gingen auf Zehenspitzen durch den Flur im ersten Stock des Schlosses und ignorierten die düsteren Ahnenbilder, die beiderseits die Wände schmückten.
Ich zog unwillkürlich eine Grimasse, als ich die bleichen, von den Jahrhunderten ausgeblaßten Gesichter im Schein des kleinen Notlichts betrachtete, das Tatjana angeknipst hatte, bevor sie ihre Tür öffnete.
»Kommen Sie herein, Lillian, hier finden wir alles, was wir brauchen: Licht und Wärme und Ruhe und Geborgenheit und jedes Getränk, das Sie sich wünschen.«
Ich nickte ihr zu, aber bevor ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich fern, melodisch und unsagbar melancholisch, das Lied der Windharfe, die keine Windharfe war.
»Hören Sie«, sagte ich zu meiner Gastgeberin, noch bevor ich mich auf einen ihrer blaßgelben Chintzsessel setzte, »konnten Sie sich nie dazu durchringen, Constantin, Ihren Mann, hier wegzulocken? Es mag ja in den Augen Außenstehender ein wunderschöner Besitz sein, aber ich weiß, seitdem ich hier logiere – und Sie wissen es noch besser als ich –, daß es ein alter Plüschkasten mit viel zu vielen Zimmern, altmodischer Heizung, vergilbten Bildern und alles in allem viel zu vielen Erinnerungen ist. Dieses Schloß ist – entschuldigen Sie – ein Alptraum.«
Tatjana sah mich mit einem verwirrten, um nicht zu sagen fassungslosen Lächeln an.
»Wie meinen Sie das, Lillian? Ein Mann gehört dahin, wo er herkommt. Er hat immer hier gelebt, er wird immer hier leben. Ich finde das ganz normal, und nie käme ich auf die Idee, ihn aus seinem Elternhaus zu verjagen, nur weil ich meinen Launen und Stimmungen gelegentlich zu sehr nachgebe. Nein, nein, das würde ich nie von ihm verlangen.«
»Wissen Sie«, murmelte ich und trank einen Barac mit einem Zug aus, »wissen Sie, Tatjana, daß Sie viel zuwenig von ihm verlangen? Warum zum Kuckuck sind Sie immer so verflixt unterwürfig und mit allem einverstanden? Warum wehren Sie sich nicht ab und zu gegen Dinge, die Ihnen hier mißfallen? Wenn Sie ihm schon seinen Willen mit dem Schloß lassen, dann ändern Sie es doch wenigstens nach und nach in Ihrem Sinne ein bißchen um. Warum denn nicht? Es ist vorsintflutlich in mancher Beziehung, es ist viel zu weitläufig, zu unübersichtlich. Kein Mensch kennt sich genau darin aus, nicht mal Constantin selbst. Wenn sogar mich das kalte Gruseln packt – und ich bin weiß Gott kein Mensch, der leicht aus der Fassung zu bringen ist –, dann stimmt doch irgend etwas nicht. So, wie es jetzt ist, fühlt sich anscheinend keiner hier richtig wohl, nicht mal Bodo.«
»Bodo?« Sie griff den Namen ihres Schäferhundes auf.
»Ja, Bodo. Er schleicht genauso unglücklich herum wie wir beide vorhin im Treppenhaus. Ich hatte Sie übrigens nicht sofort gesehen und dann auch nicht gleich erkannt. Daher mein Erschrecken.«
»Ich auch nicht«, murmelte sie, »ich hatte dieses Gespräch gehört, Sie wissen schon.«
»Ich weiß. Und was mich eben wundert, ist die Tatsache, daß Bodo dieses Geräusch offenbar nicht gehört hat. Denn angeschlagen hat er nicht. Das finde ich komisch. Constantin hat mir erzählt, wieviel Zeit und Mühe auf seine Dressur verwendet worden ist. Er hätte doch Krach schlagen müssen nach Noten.«
Tatjana seufzte leicht. Sie zuckte die Schultern und trank dann endlich ihren Barac aus.
»Möglich«, sagte sie vage, »aber vielleicht hört man unten, wo er liegt, dieses Geräusch nicht so sehr.«
»Unmöglich!« entfuhr es mir. »Der Ton kam von unten!«
Sie sah mich lange an.
»Ja«, murmelte sie, »er kam von unten. Und Bodo hat ihn nicht gehört. Er hat überhaupt nicht darauf reagiert. Worauf läßt das schließen.«
Ich dachte kurz und angestrengt nach.
»Daß er daran gewöhnt ist«, erklärte ich schließlich.
Tatjana nickte. Dann schloß sie die Augen und lehnte ihren Kopf an die Sessellehne. Sie sah aus wie ein Mensch, der so müde ist, daß er sich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Aber ihre Müdigkeit schien nicht nur körperlicher Art. Sie schien von innen zu kommen.
»Bitte«, flüsterte ich, »sagen Sie mir, wovor Sie Angst haben. Ich werde Sie nicht verraten. Ich schwöre es Ihnen! Ich werde Ihnen helfen, wenn ich kann!«
Sie öffnete die Augen und maß mich mit einem langen Blick.
Als sie sprach, klang ihre Stimme verloren und tonlos: »Merkwürdig, Sie wären der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen würde, obwohl Sie Constantins alte Liebe sind.«
»Unsinn!« unterbrach ich sie heftig. »Ich bin nicht seine alte Liebe. Wir haben mal zusammen auf einem Studentenfest gefeiert, Sie wissen, wie so was geht. Und dann haben wir uns ein paar Wochen lang regelmäßig getroffen. Ich spielte damals auf der Studentenbühne, und er half beim Einstudieren. Dann haben wir uns wieder aus den Augen verloren, obwohl wir noch lange in derselben Stadt blieben. Wären wir echt aneinander interessiert gewesen, hätten wir uns wohl weiterhin gesehen.«
Ich verschwieg dabei, daß es Constantin gewesen war, der immer lässiger wurde im Einhalten unserer Verabredungen. Ich verschwieg, daß es mir fast das Herz gebrochen hatte, damals, vor fünf Jahren, als Constantin von Ahrgau aus meinem Gesichtskreis verschwand.
Mit achtundzwanzig Jahren machte er sein Examen als Volkswirt. Heute war er dreiunddreißig und Vater eines vierjährigen Sohnes. Uns verband nichts mehr, nicht einmal die weit zurückliegende Erinnerung an eine Liebe, die von seiner Seite aus nie bestanden hatte.
»Falls Sie etwa annehmen«, sagte ich plötzlich einer inneren Eingebung folgend, »daß ich Constantins wegen Ihre Einladung für diesen Sommer angenommen habe und daß er sie ausgesprochen hat, um mit mir zusammen zu sein, so möchte ich diesen Gedanken weit von mir weisen. Daran ist nichts, Tatjana, absolut nichts. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die in fremden Revieren wildern. Ich hatte nicht die kleinste Nebenabsicht, als ich nach Ahrgau kam. Ich wollte lediglich mein erstes Buch hier schreiben, sonst nichts. Glauben Sie mir das wenigstens?«
Ihr Blick war weich und verträumt, als sie mit ihrer leisen, akzentuierten Stimme erwiderte: »Ich glaube Ihnen aufs Wort, Lillian. Sie sind der aufrichtigste und aufrechteste Mensch, der mir in vielen Jahren begegnet ist. Niemals könnte ich Ihnen irgendeine unlautere Absicht unterschieben. Nein, nein, Sie wären die einzige, der ich sagen könnte, was ich irgendwann im Leben einmal jemandem sagen muß – aber nicht jetzt.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil ich es nicht kann«, erklärte Tatjana von Ahrgau ruhig, »weil ich es nicht darf.«
*
Das Frühstück wurde in einem kleinen Zimmer im Zwischenstock serviert. Es hatte ausgesucht schöne helle Eichenmöbel, Fenster, die bis auf den Parkettboden reichten, geblümte Samtvorhänge und einen Hauch von Intimität, der keinem anderen Raum im Schloß anhaftete, den ich je betreten hatte.
Die junge Dame Effi Körner, zu deren Obliegenheiten es unter anderem gehörte, mir das Frühstück zu bringen, hielt sich wieder einmal in gebührendem Abstand, bis ich mich nach einer Weile bemerkbar machte.
Dann schlenderte sie lässig heran, erkundigte sich zum dreiunddreißigsten Male, ob ich Tee oder Kaffee wünsche, und ich antwortete, wie bereits einen Monat lang jeden Morgen: »Kaffee, bitte.«
Ich wußte, ich war nicht in einem Restaurant, und ich pflegte mir mein Frühstück normalerweise selbst zu bereiten. Wenn ich mich an diesen hübsch gedeckten Tisch setzte und auf Effi wartete, so nicht, weil ich zu faul gewesen wäre, mir einen Kaffee zu kochen, sondern weil man mir der Zugang zur Küche verwehrte, weil ich Gast in diesem Haus war. Und weil, wie ich mir allmorgendlich zähneknirschend klarmachte, Effi Körner für diese Handreichung ein gepfeffertes Gehalt bezog.
Sie hatte die längsten Beine, die ich je gesehen hatte, und trug den kürzesten Rock. Sie kleidete sich seit einiger Zeit mit den teuersten Boutiquenmodellen, die in der nahen Kleinstadt zu haben waren, und sie trug den Kopf entschieden sehr viel höher als vor anderthalb Monaten, als ich angekommen war.
Na schön, dachte ich und machte mich endlich über meinen Kaffee und die Brötchen her, wer auch immer dein Gehalt aufbessert, Mädchen, er tut es bestimmt nicht für nichts. Ich möchte wirklich wissen, was es mit dieser auffallenden Wandlung deines Äußeren auf sich hat, sowie mit der Wandlung deines Charakters, falls du früher einen solchen besessen hast.
Sie schien meine Gedanken zu lesen, sah mich schnippisch an, lächelte verwegen und schwebte auf ihren langen Beinen davon.
Hatte ich mich wirklich getäuscht, als ich vorige Nacht einen Schatten unten in der Eingangshalle gewahrt zu haben glaubte? Kurz bevor die Windharfe das erste Mal erklang? Oder hatte ich trotz Nacht und Dunkel und schwerer Träume richtig gesehen und Effis schöne lange Beine unter einem Cape erkannt?
Ich wußte es nicht. Ich wußte es wirklich nicht. Aber die spürbare Zurückhaltung, die Tatjana jedesmal an den Tag legte, wenn sie Effis auch nur von ferne ansichtig wurde, war nicht zu übersehen. Und es war auch nicht zu übersehen, daß sie das Mädchen, das kaum zwanzig Jahre alt sein konnte, niemals auf einen Fehler hinwies. Tatjana sah ihr Mädchen scheu von der Seite an, wurde einen matten Schein blasser und schwieg. Meist schwieg sie sowieso, da fiel es nicht weiter auf. Aber mir, mir fiel so manches auf…
»Bodo!« rief ich, nachdem ich die Serviette beiseite gelegt und meiner schlechten Gewohnheit einer Nachtischzigarette gefrönt hatte. »Komm mal her, Bodo!«
Er tappte heran, ein riesiges Tier mit dem Einschlag eines Polarhundes. Seine Pfoten wären groß genug gewesen, jeden starken Mann zu Boden zu schlagen. Und wenn er die Zähne fletschte, konnte einem unheimlich werden.
Aber Bodo fletschte die Zähne nicht mehr. Brav trottete er herbei, streifte mich mit einem freundlichen Blick aus seinen bernsteingelben Augen und ließ sich auf dem Auboussonteppich nieder.
Die Sonne schien warm und hell ins Zimmer, Bodos Schnauze lag auf dem Muster des kostbaren Teppichs, und die Lider senkten sich über seine Augen. Keine zwei Minuten, und Bobo war eingeschlafen. Ich starrte ihn sekundenlang an. Dann zündete ich mir, ohne es zu merken, eine weitere Zigarette an und dachte intensiv nach.
Das Tier hatte heute nacht geschlafen wie ein Stein. Nichts hatte vermocht, es aufzuwecken, nicht einmal das seltsame Geräusch einer in den Angeln pendelnden offenen Tür.
Bodo war knapp zwei Jahre alt, ein Knabe also in den besten Flegeljahren, dazu gesund, gepflegt, bestens ernährt. Warum um alles in der Welt schlief er jetzt schon wieder? Was war mit ihm los?
*
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich den Entschluß faßte, der mich ein großes Stück weiter auf dem dunklen Weg in die nahe Zukunft brachte. Aber ich glaube, ich faßte ihn nach diesem Frühstück am Morgen des dritten Juli.
Es war ein unwahrscheinlicher Sommer, allzu prächtig fast, allzu sonnenüberglänzt, allzu grüngolden, allzu schön.
Schloß Ahrgau lag nicht abseits wie andere berühmte alte Schlösser, es lag mitten in einem kleinen Weinort, umgeben von einem riesigen alten Park, der es abschirmte vom Lärm der in der Ferne verlaufenden Autobahn, den lebhaften Weinbauern und allen Touristen, die es sich einfallen lassen
wollten, das Schloß zu besichtigen. Es war nicht zu besichtigen. Es war bewohnt.
Der Park war das einzige, was ich persönlich an Ahrgau schätzte. Und der Gärtner war der einzige, den ich für integer, ordentlich, aufrichtig, arbeitsam und zuverlässig hielt. Er kümmerte sich um diesen Park, Quadratmeter um Quadratmeter, mit der Liebe dessen, der die Erde und ihr Wachstum liebt.
Er war immer und zu allen Jahreszeiten da. Er drückte sich nicht, er versuchte keine Tricks, um seiner Pflicht zu entkommen wie so viele auf Ahrgau. Er arbeitete stetig und langsam und mit Genuß, mit dem Erfolg, daß der Park von Schloß Ahrgau immer wie eine gute Stube aussah: gepflegt, sauber und unendlich prächtig in seiner Blumenfülle und seinen Baumkronenschatten.
»Guten Morgen, Herr Matthes«, sagte ich, als ich an diesem Tag seiner ansichtig wurde, und er hörte auf, den Kies mit seiner breiten Harke zu bearbeiten.
»Oh, guten Morgen, Frau Wenck«, gab er freundlich zurück, und in seinen alten blauen Augen schien mir wie immer die Weisheit des Lebens zu liegen. »Was macht das Buch? Irgendwelche Fortschritte seit Freitag?«
Es war Montag, und wir hatten uns das Wochenende über nicht gesehen.
»Keine Fortschritte«, entgegnete ich lakonisch, und das war leider die volle Wahrheit. Ich konnte mich seit einiger Zeit nicht mehr so konzentrieren, wie es nötig gewesen wäre, und ich begann mich zu fragen, ob die Idee, mein erstes Werk hier in der sogenannten Abgeschiedenheit des Landes zu schreiben, so gut gewesen war.
In der lärmenden Atmosphäre der Großstadt, aus der ich kam, gab es zweifellos auch hinderliche Momente, aber sie schienen mir, gemessen an den Schwierigkeiten, die ich hier fand, minimal.
»Vielleicht«, meinte der Gärtner Matthes milde, »ist das nicht die richtige Umgebung für einen Autor, zu wenig Leben, zu wenig Gewohntes für Sie?«
»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte ich kopfschüttelnd und zog Bodo am Halsband hinter mir her, »keine Ahnung. Am Anfang ging’s ganz gut. Aber neuerdings läuft alles nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ein Buch ist eben doch etwas anderes als ein Zeitungsartikel, nicht wahr?«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Matthes und ließ die Harke durch den Kies knirschen. »Waren Sie gestern alle zu Hause, Frau Wenck?«
»Gestern? Sonntag?« Ich tat so, als dachte ich nach. In Wahrheit aber interessierte mich nur das Gesicht des alten Mannes. Er hielt es gesenkt, und ich konnte seine hellen blauen Augen nicht sehen.
»Wissen Sie«, fuhr er fort, ohne mit der Arbeit innezuhalten, »ich dachte schon, es sei vielleicht Besuch da gewesen.«
»Kein Besuch, Herr Matthes. Wie kommen Sie darauf?«
Er hob den Kopf, sah mich an und führte mich wortlos ums Schloß herum. Auf dem Kiesweg, der die Rückseite säumte, sah ich die Scherben, noch bevor wir hinzutraten.
»Wer schmeißt denn hier mit Flaschen?« fragte der Gärtner, leicht entrüstet, aber noch mehr verwundert.
»Wenn ich das wüßte«, murmelte ich und bückte mich nach den Scherben. Der matte Geruch, der davon aufstieg, kam mir bekannt vor, und auch das zerfledderte Etikett.
Barac. Ungarischer Pflaumenschnaps. Derselbe, den ich in der vergangenen Nacht im Salon der Schloßherrin getrunken hatte.
Aber wie diese zertrümmerte Flasche hierher kam, in des alten Matthes’ gute Stube, die so reinlich und sauber gehalten wurde wie kein Park, den ich kannte, das konnte ich mir ebensowenig erklären wie er selbst.
»Gefährlich«, murmelte er und harkte die Scherben zusammen, »für den Kleinen und die anderen Kinder, die hier spielen. Ich kann keine Scherben leiden, wissen Sie.«
»Ich auch nicht«, sagte ich und meinte sowohl das zerbrochene Glas als auch die Scherben eines Lebens, die es bedeuten konnte.
Noch einmal umschritt ich das Schloß, dessen Gast ich war. Aber keine einzige der beiden Türen, die es gab, stand offen, und kein Fensterflügel bewegte sich im Luftzug des frühen Montagmorgens.
»Aber aus dieser Richtung«, bemerkte ich halblaut zu mir selbst, »muß das Geräusch gekommen sein.«
Ich blickte mich um, sah nur den alten Mann mit seiner Harke, dachte an die Nacht und fröstelte im warmen Hochsommersonnenschein.
»Vorsichtshalber«, sagte ich zu Matthes, bevor ich Bodo zum Park hinaus dirigierte, »werde ich Frau von Ahrgau wegen der Scherben Bescheid sagen. Sie wird es sicherlich nicht schätzen, wenn ihre Gäste, wer immer es gewesen sein mag, ihre leeren Schnapsflaschen auf den Weg werfen. Wiedersehen, Herr Matthes, bis heute mittag.«
Und dann verschwanden wir beide, Bodo und ich, in der schmalen Straße, die zum Dorfplatz führte. An den Rebenhängen in naher Ferne leuchtete das Grün der Weinstöcke. Blau und klar wölbte sich der Himmel über Dorf und Landschaft.
Bodo am Halsband, stieg ich in den Bus, der auf dem Dorfplatz hielt, und niemand wußte, wo wir beide in dieser wunderbar frischen, frühen Morgenstunde hinfuhren.
Als ich mittags wieder zurückkam, überlegte ich mir langte, ob ich überhaupt jemandem erzählen sollte, wo wir gewesen waren und warum.
In der Tasche meiner Hemdbluse, sorgfältig zugeknöpft, steckte ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Es bestätigte in dürren Worten, daß die Tierklinik in Willmshofen – eine private Tierklinik übrigens, deren Chef ich aufgesucht hatte, weil ich ihn von meiner Pressearbeit her kannte – aufgrund zweier verschiedener Tests festgestellt hatte, daß Bodo, der zweijährige Schäferhund, unter dem Einfluß von einschläfernden Mitteln stünde und, wie eine Blutuntersuchung ergebe, seit geraumer Zeit bereits gestanden habe. Das Tier würde regelmäßig und systematisch gedopt, was sowohl seine Wachsamkeit als auch seine anderen spezifischen Eigenheiten beträchtlich vermindere und im Laufe der Zeit völlig auslösche.
Ich beschloß, den Mund zu halten und die Augen offen. Der Schock, den mir mein alter Freund aus der Tierklinik versetzt hatte, war mir zwar in die Glieder gefahren, aber nicht in den Kopf. Ich durfte keinesfalls leichtsinnig sein mit meiner Entdeckung, die ich seit Wochen geargwöhnt hatte.
Bodo hatte in der Klinik eine Spritze bekommen, die ein Gegengift enthielt. Er war eine halbe Stunde liegengeblieben und hatte mich vorwurfsvoll angeschaut. Dann war er aufgestanden und mit zurückgekommen, als sei nichts geschehen, aber sein Blick wurde, wie mir der Arzt bereits versichert hatte, deutlich klarer und schärfer, seine Bewegungen lebhafter und gezielter, sein Bellen wieder fröhlich und laut.
»Und jetzt, mein Junge«, sagte ich mit einer Stimme, die zwar noch ein bißchen nachzitterte, aber grimmiger klang als je zuvor, »jetzt werden wir höllisch aufpassen, wer dich füttert und wer dir Wasser gibt. Und wir werden dafür sorgen, daß du nicht wieder betäubt wirst. Das wollen wir doch mal sehen!«
Der erste, der uns begegnete, als wir das Schloß betraten und uns der dämmerigen Kühle der großen gefliesten Halle erfreuten, war Effi Körner.
Sie tänzelte gerade vorbei und rief im Vorübergehen: »Komm, Bodo, es gibt Futter!«
Na wunderbar, dachte ich, zu allem entschlossen, und folgte ihr auf dem Fuße in den Vorraum zur großen Küche, die ebenerdig lag wie alle Wirtschaftsräume, von denen nicht ein Bruchteil heute mehr benutzt wurde, das werden wir gleich haben!
Ich lehnte mich gegen eine ausgediente Anrichte, während ich zusah, wie Effi Körner mit schlanken Fingern eine Packung Hundekuchen anbrach – eine neue Packung wohlgemerkt – und einen Napf damit füllte.
»Füttern Sie ihn immer?« erkundigte ich mich beiläufig.
Sie nickte mit ihrer schnippischen Kopfbewegung, die sie für mich reserviert zu haben schien.
»Ihn sowohl wie Axel«, sagte sie und hob den leeren Wassernapf vom Boden auf, hielt ihn unter die Wasserleitung und stellte ihn gefüllt vor den Hund.
Ich nahm wie versehentlich die Packung in die Hand, studierte eingehend den aufgedruckten Text und stellte fest, daß sie tatsächlich bis vor einer Minute verschlossen gewesen war. Eine ganz simple Pappackung mit gängigem Hundefutter.
Ohne zu zögern entnahm ich ihr zwei Stück des braunen Gebäcks, steckte es in die Tasche meiner Hemdbluse und ignorierte den faszinierten Blick Effi Körners.
Wahrscheinlich hielt sie mich für irre. Vielleicht hielt sie mich auch für besonders clever. Ich wußte es nicht, und ich sollte es an diesem Tag auch nicht erfahren, denn sie drehte sich einfach um und tänzelte summend davon, ihren andern Schützling mit Mittagessen zu versorgen, was zweifellos nicht so glatt vonstatten gehen würde, denn Axel von Ahrgau war eine ausgeprägte Persönlichkeit.
*
Ich hatte nicht gewußt, daß wir zu Tisch Besuch bekommen würden. Ich hatte auch Ignatz Mays kleinen Sportwagen nicht auf dem Parkplatz gesehen. Aber ich stand ihm plötzlich gegenüber, als ich im Frühstückszimmer nachsah, ob es schon Zeit fürs Mittagessen sei.
Normalerweise wurde um halb eins gedeckt, aber Effi hatte ja anscheinend noch mit Axel zu tun. Ich rechnete also nicht ernsthaft damit, bereits jemanden anzutreffen, und war ehrlich verblüfft, Ignatz vor mir zu sehen.
»Hallo!« sagte er und legte seine feingliedrige feste Hand in meine. »Wie geht’s, wie steht’s? Was macht das Epos? Und was treibt Sie schon in aller Herrgottsfrühe nach Willmshofen?«
Dieser Mensch hatte mich gesehen. Na, so ein Pech. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte nicht daran gedacht, daß jemand mich sehen könnte, wie ich mit Bodo die Klinik aufsuchte, denn außer den Ahrgaus, ihrem Personal und ihrem Hausfreund Ignatz May kannte ich niemanden in der näheren Umgebung.
»Und Sie?« konterte ich vorsichtshalber. »Was suchten Sie dort? Ein passendes Motiv für die Herbstausstellung?«
Er lachte sein sparsames, verhaltenes Lachen.
»Wenn ich damit erst jetzt anfinge, könnte ich mich begraben lassen, Lillian. Ich mußte mit dem Wagen in die Werkstatt, und während ich wartete, sah ich Sie mit Bodo dort vorbeiziehen.«
»Mir war auf einmal so langweilig«, seufzte ich und strich mir mein helles glattes Haar aus der Stirn, ohne ihn anzusehen, »mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich mußte die nächste Stadt anpeilen, und wenn es auch nur eine Kleinstadt ist.«
»Ach so, ach so! Was Ähnliches hatte ich mir gedacht. Aber diese Meinung änderte ich, als ich Sie vorhin aus der Tierklinik kommen sah. Mit Bodo.«
Sein Blick, ehern und sehr klar, fesselte mich. Er hatte ein asketisches Gesicht, sandfarbenes Haar und eine Nase eines Habichts. Er sah nicht wie ein Künstler aus, wie ein Maler, er sah aus wie ein Kriminalbeamter in Zivil.
Aber ich wußte mit Sicherheit, daß er Maler war, ein bekannter, um nicht zu sagen berühmter Maler. Mir war etwas mulmig zumute, und ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte.
»Ich…«, begann ich sehr zögernd, als die Tür aufging und Constantin, im blauen Blazer mit Goldknöpfen, hereinkam. Er wünschte uns einen guten Appetit und fing sofort mit den Neuigkeiten an, die in der Zeitung standen: eine Mischung aus Politik, Wirtschaft und dem Börsenteil.
»Na, Bodo«, unterbrach er sich und streichelte seinem Hund den Kopf, »was machst du denn hier, während wir essen? Warum bist du denn nicht draußen, alter Schlawiner? Hat dir dein Hundekuchen wieder nicht geschmeckt?«
»Wir beide«, sagte ich unbefangen und tätschelte ebenfalls Bodos Kopf, »wir haben beschlossen, uns vorläufig nicht mehr zu trennen. Deshalb.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Du hattest schon vor fünf Jahren eine Schwäche für Vierbeiner. Damals war es ein alter Dackel. Wie hieß er noch?«
»Silva«, erwiderte ich und dachte an diese längst verblichene, einzige echte Freundin aus jenen bewegten Jugendtagen. »Sie starb an einer Scheinschwangerschaft. Ziemlich scheußlich. Ich hatte seitdem keinen Hund mehr.«
»Na, du darfst dir unsern ausleihen, solange du hier bist«, versetzte Constantin in der strahlenden Großzügigkeit, die er zuweilen an sich hatte und tauchte den Löffel in die Suppe. »Wo bleibt denn eigentlich meine bessere Hälfte? Es ist gleich eins. Um zwei muß ich in einer Besprechung sein.«
Tatjana erschien an diesem Mittag nicht zu Tisch. Ich sah sie erst am späten Nachmittag, als ich an die Tür ihres Salons klopfte, weil mir die Sache unheimlich wurde.
Sie rief ›Herein!‹, und ich trat ein. Sie saß auf ihrem kleinen gelben Chintzsofa vor den rostfarbenen Portieren, blickte nachdenklich von der kleinen Jadefigur in ihrer Hand auf mich, die ich vor ihr stand, und rührte sich nicht.
»Ich wollte bloß sehen, ob Sie in Ordnung sind. Sie waren nicht zum Essen unten und auch nicht zum Tee.«
»Ich hatte keinen Hunger. Ich hatte leichte Kopfschmerzen. Außerdem hatte ich keine Lust, irgend jemanden zu sehen. Ich war, wie man das heute nennt, frustriert.«
Dann lachte sie, schüttelte sich die immer noch nicht aufgesteckten Haare aus der Stirn und stand auf.
»Kennen Sie das?« fragte sie und legte mir die mattgrüne, kühle kleine Gestalt in die Hand.
»Keine Ahnung.«
»Eine Glücksgöttin. Mexikanische Herkunft. Jedenfalls habe ich sie in Mexiko erstanden. Ist schon lange her.«
»Eine Art Talisman?«
»Genau das. Ein Talisman. Der einzige, den ich habe.«
Sie trat an ein kleines Schränkchen, das aussah wie der Tabernakel in der Kapelle, stellte die Glücksgöttin aus Jade wieder an ihren alten Platz und setzte sich mir gegenüber.
»Nächsten Winter«, sagte sie mit ihrem angestrengten Gastgeberinnenlächeln, »fahre ich mal weg. Irgendwohin in Skiurlaub. Ich hoffe, Constantin hat bis dahin seine Versammlungen alle hinter sich und sein Geschäftsjahr abgeschlossen. Ich hoffe es wirklich.«
Ich lächelte ebenso höflich und angestrengt zurück. Wir machten Konversation bis sechs Uhr. Kein einziges offenes, aufrichtiges, von Herzen kommendes Wort fiel während der fünfzig Minuten, die wir auf den gelben Chintzmöbeln saßen und uns abwechselnd mit Bodo beschäftigten; denn Bodo war bei mir. Er blieb bei mir bis zum Ende.
*
Ich kann nicht behaupten, daß ich besonders kinderliebend gewesen wäre, als ich nach Schloß Ahrgau kam. Was der Sohn des Hauses mit seinen knappen vier Jahren mich als erstes lehrte, war absoluter Respekt vor Kindern, womit ich sagen will, daß ich mich etwas umstellen mußte.
Axel war eine fertige Persönlichkeit, als ich ihn an jenem Frühsommertag kennenlernte.
Er war mit seinen Eltern zum Bahnhof gekommen, um mich abzuholen, musterte mich stumm von oben bis unten, unterließ es höflich, einen Kommentar abzugeben, und weigerte sich standhaft, mir die Hand zu reichen.
Da keiner von uns darauf bestand, trollte er sich erleichtert, und wenn es Constantin nicht im letzten Moment aufgefallen wäre, daß sein Sohn fehlte, hätte Axel eine interessante Reise mit einer Lokomotive gemacht, die gerade zum Rangieren ansetzte und auf deren Trittbrett er sich versteckt hatte.
Es gab nichts, wofür sich dieses Kind nicht interessierte, besser gesagt, nichts Fahrbares, was ihn nicht in Verzückung versetzt hätte.
Zwei Monate lang beobachtete ich Axel, teils aus eigenem Antrieb, teils, weil er meist vor meinem Fenster spielte, und zwei Monate lang hatte ich den Eindruck, daß er sich morgens auf sein Go-Gart setzte, um erst abends wieder abzusteigen.
Sein Wortschatz in bezug auf Autos und alles, was damit zusammenhing, war größer als meiner, und er belehrte mich später in jeder möglichen Fahrtechnik.
Ich sah ihn in die Kurve gehen wie einen alten Rennfahrer, und genauso lässig lehnte er sich dabei auch zurück. Diese Haltung schien ihm angeboren, und es wunderte mich überhaupt nicht, daß er auch bei Tisch auf seinem Stuhl hintenüber hing wie in seinem Go-Cart.
Dazu kam, daß alle ausgedehnten Kieswege im Ahrgauer Park natürlich großartige Rennstrecken abgaben und ein Kind nicht übermäßig viel Phantasie zu entwickeln brauchte, um sie zu nützen Gelegentlich waren die Wege so bevölkert von Fahrzeugen der Spielzeugindustrie, daß man ins Gedränge kam, was Axel ungemein viel Spaß machte.
Er war ein typisches Einzelkind, bewandert in der Sprache seiner Eltern wie ein Schulkind, geistig beweglich und überaus clever, was die Behandlung der einzelnen Erwachsenen betraf, auf die es in seinem Leben ankam.
Er kannte uns alle viel besser, als wir uns selbst kannten, er wußte um unsere Stärken und Schwächen, und tatsächlich war er ein so maßgeblicher Faktor im Schloß, daß man mit ihm rechnen mußte wie mit einem Großen.
Aber das machte sich damals niemand klar außer mir, und auch ich brauchte Zeit, um dahinterzukommen, weil, wie gesagt, mein Umgang mit Kindern bis dahin beschränkt gewesen war und ich nicht viel von der kindlichen Psyche verstand.
Axel lehrte mich vieles, um nicht zu sagen, alles.
»Tante Lillian«, sagte er am Tisch nach meinem heimlichen Besuch beim Tierarzt und schraubte seinen Sitz auf dem Go-Cart fester, »warum hast du Bodo immer bei dir?«
Ich beschloß, ihn nicht zu belügen.
»Weil ich ihn beschützen muß«, antwortete ich also wahrheitsgemäß.
Er schien sich nicht zu wundern.
»So«, bemerkte er, und er ließ sich wie Ferrari persönlich in seinen Renner fallen. »Wovor denn?«
»Das weiß ich nicht genau«, gab ich vorsichtig zurück, »aber ich werde es schon herausfinden.«
»Wenn du gut aufpaßt«, murmelte Ferrari junior und trat in die Pedale. »Hast du eine Pistole?«
»Nein«, entgegnete ich verblüfft. »Du vielleicht?«
»Ich ja. Aber ich kann sie dir nicht leihen. Ich brauch’ sie selbst.«
Damit griff er an den Ledergürtel um seine dünne Taille unterm T-Shirt, zeigte mir ernsthaft den Griff einer Spielzeugpistole und schob sie wieder zurück.
»Und wozu brauchst du sie denn?« erkundigte ich mich ebenso ernst.
»Da steht manchmal ein komischer Mann«, sagte Axel von Ahrgau sinnend und fuhr sich mit der schmutzigen kleinen Hand über das braune Gesicht. »Drüben an der Parkmauer. Den muß ich vielleicht mal umlegen.«
Allmächtiger Gott und Vater, dachte ich, was für eine Sprache! Den muß ich vielleicht mal umlegen! Waren es die Auswirkungen des Fernsehens, war es der Jargon seiner großen Freunde?
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß Constantin und Tatjana ihm solche reizenden Sentenzen beigebracht hatten, eher schon Effi und die Küchenleute.
»Meinst du?« fragte ich zurück und suchte mir einen Liegestuhl aus, den er in der nächsten halben Stunde brummend umkreisen würde, wie ich wußte.
»Ja, das meine ich.«
Jede weitere Unterhaltung wurde im Keim erstickt, da seine Mutter die flachen Steinstufen von der neuangelegten Terrasse herunterkam, um mir ein bißchen Gesellschaft zu leisten.
Axel hielt nicht viel von der Gesellschaft seiner Mutter in Gegenwart anderer, da sie sich bei diesen Gelegenheiten gezwungen fühlte, so etwas wie Erziehung anzuwenden, wenn es ihr ein bißchen zuviel wurde. Dagegen war er leidenschaftlich gern mit ihr allein, ging gern mit ihr spazieren, riß sich förmlich darum, mit ihr Auto zu fahren, und wenn es auch nur zum nächsten Dorfmetzger war.
»Wenn er Sie stört«, begann Tatjana ihre Standard-Unterhaltung, »schicken Sie ihn bitte weg. Ich kann ihn nicht einsperren, Sie kennen ihn ja, aber ich möchte wirklich nicht, daß er Ihnen die Zeit stiehlt. Apropos Zeit – was macht die Schreiberei?«
Sie war sehr aufgeschlossen heute, viel munterer als in den letzten Wochen und sah bedeutend besser aus. Aber selbst in ihren schlimmsten Stunden war sie noch eine betörend schöne Frau. Man konnte sie nur schwer einordnen. Ihr Haar leuchtete wie reifes Korn. Ihre Wimpern, ihre Brauen waren sehr fein und klar gezeichnet, wie mit dunkler Tusche gemalt.
Ihr Teint war cremefarben, und wäre sie öfter in der Sonne gewesen, wäre sie sicherlich dunkelbraun gebrannt. Aber Tatjana vertrug Sonne nicht gut, sie bekam Kopfschmerzen davon.
»Na«, murmelte ich, ohne sie anzusehen, »es geht so lala. Sie wissen schon. Meine schöpferische Pause dehnte sich ja bereits über zwei Wochen aus. Weiß der Kuckuck, ich müßte doch irgendwann mal wieder eine Inspiration haben. Aber nichts dergleichen. Langsam setzt mir das wirklich zu. Ich bin schließlich hier, um zu arbeiten, und nicht um den schönen Park von Ahrgau zu genießen.«
»Doch, dazu sind Sie außerdem auch hier«, meinte Tatjana lachend und betrachtete die Papierberge neben meinem Liegestuhl. »Ich bewundere Sie sowieso, ob Sie gerade eine schöpferische Pause oder ein schöpferisches Hoch haben. Ich bewundere jede Art schöpferischer Tätigkeit.«
Ich winkte ab, obwohl es mir guttat, etwas Positives zu hören. Meine Arbeitsunlust deprimierte mich langsam nachhaltig.
»Wollen Sie, daß wir ein bißchen mehr Leben ins Haus bringen?« fragte sie plötzlich. »Vielleicht täte Ihnen eine große Gesellschaft gut, eine Anregung in Form von Menschen und Musik und allem, was große Festlichkeiten so mit sich bringen. Es macht mir nichts aus, etwas zu arrangieren. Na, wie wäre das? Würde das Sie wieder aufmöbeln? Sie waren so beneidenswert munter und elastisch als Sie hierher kamen, und jetzt sehe ich zu meinem Bedauern, daß Sie deprimiert sind. Lillian, mir gefällt das nicht. Ich bin diesen Sommer als Gastgeberin für Sie verantwortlich, und ich tue es tatsächlich gern, wie Sie wissen. Ich habe das Gefühl, wir bieten Ihnen nicht so ganz den richtigen Rahmen, den Sie brauchen.
Damals, auf der Kaminparty im Winter in der Stadt, als wir uns zufällig kennenlernten, sah alles ganz anders aus, nicht wahr? Da haben wir uns überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, wie dieser Sommer verlaufen würde. Wir waren davon überzeugt, daß er einfach von selbst laufen würde – und das tut er nun nicht. Sie sind so jung und so tüchtig, Lillian. Sie müssen einfach über Ihre Klippen hinwegkommen. Machen Sie sich nicht so viele überflüssige Gedanken, konzentrieren Sie sich außerdem auf ein bißchen Vergnügen. Sie leben hier wie eine Einsiedlerin. Gerade gestern sprach ich mit Constantin und Ignatz May darüber.«
»So«, sagte ich, als sie offenbar geendet hatte und setzte mich in meinem Liegestuhl auf. »Sie glauben also im Ernst, mir fehlten ein Haufen Leute zur Unterhaltung, eine Band mit den neuesten Schlagern zum Tanzen und was man sonst noch so unter Vergnügen versteht? Wissen Sie, Tatjana, aus alldem komme ich ja. Damit werde ich in der Großstadt, in Kollegenkreisen förmlich gefüttert. Sie könnten sich nicht vorstellen, wie viele Partys ich besuchen muß, ob ich will oder nicht, wie viele ich trotzdem absage, weil ich absolut nicht will. Sie können sich nicht vorstellen, wie turbulent das Leben verläuft, wenn man sechsundzwanzig, ehrgeizig, bei der Presse und frei und ledig ist.«
»Und hübsch«, setzte Tatjana lächelnd hinzu.
Ich schüttelte abweisend den Kopf.
»Damit hat es nichts zu tun. In diesem Punkt sind Sie mir erstens weit voraus, und das dürfte selbst Ihnen längst klar sein. Zweitens ist es nicht so wichtig, wie Sie vielleicht denken. Viel wichtiger ist, daß man kontaktfreudig ist, sich liebend gern mit Menschen umgibt, schier nicht genug davon bekommen kann und immer wieder ins Vergnügen springen will, was so viel heißt, daß man eine Menge Kraftreserven haben muß. Die ich nicht habe. Ich sehe nur so aus.«
Sie lächelte immer noch und sah mich von der Seite an.
»Sie wirken an sich ziemlich kräftig«, stellte sie scherzhaft fest. »Sie haben etwas Sportliches in Ihrem Äußeren und Ihrer Figur.«
»Das täuscht«, seufzte ich und strich mein Haar gewohnheitsmäßig aus der Stirn, »das hat schon viele irritiert. Constantin hat früher immer gemeint, ich sähe aus wie ein Nivea-Mädchen, Sie wissen schon, Wind, Wasser, Wellen, Sonne, Frische. Ich habe aber nur diese Ausstrahlung, möglicherweise auch diese Farben, blond und braunhäutig und blauäugig. Im Grunde meiner Seele bin ich ganz, ganz anders.«
»Wir sind alle ganz, ganz anders im Grunde unserer Seele«, seufzte Tatjana, halb belustigt, halb ernsthaft, »wenn Sie wüßten, was für eine
Mördergrube in meinem Herzen herrscht.«
»Da stehen Sie nicht allein, wenn Sie das trösten sollte«, gab ich ebenso leichthin zurück, »jeder Mensch, sofern er nicht ganz oberflächlich ist, hat Tiefen, die man nicht unbedingt ausloten sollte. Aber kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Meinetwegen brauchen Sie keine Riesenparty zu veranstalten. Sommerfeste können sehr schön sein, aber mir persönlich reicht durchaus ein gutes Gespräch mit Ihnen oder eine freundschaftliche Diskussion mit Ignatz May über Kunst und Kitsch.«
»Sie sind ein bescheidenes Mädchen, und für Ihr Alter sind Sie überaus einsichtig.«
»Das gehört zu meinem Beruf, gewissermaßen.«
»Ach, ich weiß nicht. Ich kenne ein paar Leutchen aus Ihrer Branche, die ziemlich unausgegoren sind. Nein, nein, Sie sind ein durchaus ernsthafter Mensch, ein bißchen zu ernsthaft vielleicht.«
Ich wischte diese letzte Bemerkung mit einer Handbewegung weg. Dann beugte ich mich im Liegestuhl vor, schob meine Sonnenbrille hoch auf die Stirn und sah Tatjana mit meinen gelegentlich wirklich überraschend blauen Augen fest ins Gesicht.
»Axel erwähnte vorhin, drüben an der Parkmauer stehe zuweilen ein komischer Mann. Im Zusammenhang mit den Flaschenscherben, von denen ich Ihnen gestern flüchtig erzählte, könnte Ihr Sohn recht haben, finden Sie nicht?«
Tatjanas Gesicht blieb liebenswürdig und belustigt. Sie seufzte einmal tief, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte schließlich: »Werden Sie sich jetzt auch eine Waffe zulegen, so wie Axel? Werden Sie jetzt auch Detektiv spielen wie er, der hinter jedem Baum einen Indianer und hinter jeder Stalltür einen Löwen sieht? Lillian, wir sind hier nicht im Wilden Westen, auch wenn mein Sohn Sie liebend gern davon überzeugen würde. Dies ist ein ruhiger, uninteressanter und, wie Sie sehr richtig behaupten, schlecht organisierter alter Herrensitz. Wir haben keine Geister um Mitternacht, auch wenn es mir selbst manchmal ein bißchen unheimlich ist wie neulich nachts – es liegt an meinen Nerven, das dürfen Sie mir glauben, die waren nie die besten. Wissen Sie eigentlich, daß ich Ihnen um fast zehn Jahre voraus bin?«
Ich starrte sie an, das klare, faltenlose Profil, das glänzende Haar, die zierliche Tänzerinnenfigur.
»Kann ich kaum glauben«, brachte ich kopfschüttelnd hervor.
»Müssen Sie aber. Ich bin ein gutes Jahr älter als Constantin, was an sich nicht weiter stört. Bloß an meiner
nervlichen Konstitution merke ich manchmal, daß ich nicht mehr die Allerjüngste bin, nicht mehr ganz taufrisch, nicht mehr ganz so leistungsfähig, wie man es mit Mitte zwanzig ist – in Ihrem Alter also –, und mit Axel hat es die gleiche Bewandtnis. Ich hätte ihn ein bißchen früher kriegen sollen. Das wäre für uns beide besser gewesen. Aber viel früher habe ich Constantin ja nicht gekannt, also konnte es gar nicht zu Axel kommen. So, nun lasse ich Sie mit Ihren Betrachtungen wieder allein. Effi, es hilft alles nichts, muß man zuweilen ein bißchen auf die Finger sehen. Und was die Flaschenscherben betrifft, machen Sie sich keine Gedanken mehr darüber. Schließlich hat unser Personal auch mal Besuch, nicht wahr?«
Ich ließ sie gehen, ohne ihr die Frage gestellt zu haben, die mir auf den Lippen brannte, seitdem ich sie näher kannte. Anfangs hatte es diese Frage nicht gegeben.
Wir haben uns zufällig im Haus eines Verlegers anläßlich eines Abends am Kamin getroffen. Es waren nur wenige, illustre Gäste anwesend, und ich fungierte im Schlepptau eines brillanten Kollegen sozusagen am Rande. Aber ich wollte unbedingt zu dieser Party, weil ich wußte, Constantin würde dort sein. Und ich wollte seine Frau kennenlernen, koste es, was es wolle.
Im Endeffekt kostete es mich gar nichts, denn mein Kollege war ein Menschenfreund. Ich brauchte ihm nichts zu erklären. »Komm mit, wenn es dir Spaß macht«, sagte er lässig. Und so kam es, daß am schmiedeeisernen Gitter vor einem fremden Kamin mein Blick auf Tatjana von Ahrgau fiel – mein allererster Blick.
Mein zweiter Blick fiel erst auf Constantin, der sich meiner Ansicht nach sehr veränderte hatte. Er wirkte bedeutend gesetzter und bürgerlicher als früher, wo er halb den Bohemien, halb den alten Adel zuweilen herausgestrichen hatte.
Heute, und ich wußte nicht, ob mir das nun imponierte oder nicht, war er ein ausgewachsener Mann mit Berufspflichten, Geschäftsinteressen, Heim und Herd und Familie.
Man konnte fast vergessen, daß er einmal der bekannte und berühmte Sproß eines alten Hauses gewesen war, den wir in unseren Universitätsjahren alle in ihm sahen. Damals war er bedeutend interessanter gewesen, oder wenigstens war er mir so vorgekommen, während er heute bedeutend menschlicher war und einem näher schien.
Im übrigen verbrachte er einen großen Teil seines Lebens in den Wirtschaftskreisen, denen er vorstand, und in Ahrgau hielt er sich, bei Licht betrachtet, nur zum Essen und zum Ausruhen auf.
Eigentlich, dachte ich und rekelte mich in meinem Liegestuhl, hat Tatjana wenig von ihm und wenig an ihm, und für Axel mochte im Grunde dasselbe gelten. Constantin war, gleich vielen anderen Karrieremännern, ein gehetztes Wild zwischen Schreibtisch, Sitzung, offiziellen Anlässen und Familie.
Aber er war und blieb das vorletzte Glied in einer Kette aus Tradition, ruhmreicher Vergangenheit und entsprechender Verpflichtung. Niemals würde er aus diesem Bannkreis ausbrechen können, niemals würde er dieses Schloß verlassen und leichter, unbelasteter, bequemer und selbständiger leben.
»Hallo!« hörte ich in diesem Moment seine freundliche, heitere aufmunternde Stimme neben mir. »Du schläfst doch nicht etwa am hellen Mittag? Gleich gibt’s Kaltschale. Ich rieche es bis hier heraus.«
Ich sah an ihm empor, blinzelnd wegen der grellen Mittagssonne, an seinen knappen zwei Metern, die zwar nicht mehr ganz so mager und drahtig waren wie vor fünf Jahren, aber immer noch genauso beweglich.
Er hatte braunes Haar, offene braune Augen und immer, aber auch immer ein liebenswürdiges Wort auf den Lippen. Manchmal wünschte ich mir, er würde sich gegen seine Gewohnheit zu einer ruppigen Bemerkung hinreißen lassen, einmal nur, aber diesen Gefallen tat er mir nie.
Er war der besterzogenste Mann, der mir je begegnet war, der einzige Gentleman, den ich je kennengelernt hatte. Und darin lag vermutlich seine besondere Anziehungskraft auf mich, die ich mit vielen Männern arbeiten mußte, mit Männern, die kein Blatt vor den Mund nahmen, wahrhaftig, kein einziges Blatt…
»Ich komme schon«, hörte ich mich sagen, und ich wußte, daß meine Stimme gehemmt klang und betont distanziert, damit er nur ja nicht denken könnte, mir läge heute noch etwas an ihm.
Zuweilen ertappte ich mich bei dem Gedanken, daß er mir einmal sehr viel bedeutet hatte, aber diesen Gedanken schob ich von mir wie ein lästiges Insekt. Ich war nicht hier, um mir Gedanken dieser Art zu erlauben, und er selbst, Gott sei Dank, ebenfalls nicht.