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3.

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Tiamur, sechs Wochen zuvor

Dorain

Die Tür glitt ohne Voranmeldung zur Seite, und Anathema trat ein. Sie war die Einzige mit der Berechtigung dazu, alle anderen waren nicht befugt.

Dorain di Cardelah war ebenfalls gerade von nebenan in den Empfangsraum gekommen, um sich an der großzügig eingerichteten Hausbar mit Selbstbedienung etwas zu trinken zu holen, und hielt erstaunt inne, als er seine Tochter unerwartet vor sich stehen sah. Obwohl er es von ihr gewohnt sein sollte – und selbst schuld war, da er ihr schließlich die Berechtigung erteilt hatte –, zog er eine kritische Miene. »Ich wäre vielleicht nicht allein gewesen.«

»Aber das bist du doch immer.«

Sie hatte recht. Er gab auf. Dorain di Cardelah liebte seine Töchter, doch auf die jüngere der beiden war er besonders stolz. Sie stand ihm als Wissenschaftlerin in nichts nach, war hochintelligent und kreativ. Sie hatte ihn auf viele neue Ideen gebracht, ihn bei Erfindungen unterstützt. Ohne sie wäre er nicht auf diesem Stand. Sie redeten dieselbe Sprache.

Allerdings, das musste der Chefwissenschaftler von Tiamur einräumen, eigentlich nur auf wissenschaftlicher Ebene. Im privaten Bereich hatte Dorain einiges zu kritisieren. Vor allem in jüngster Zeit gefiel ihm die politische Richtung nicht, die Anathema einschlug. Ihr standen doch ganz andere Möglichkeiten offen – warum musste es das sein? Dorain war politisch eher neutral, ihm ging stets die Wissenschaft vor. Aber sobald Anathema sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, sei es aus impulsiver Emotionalität oder aus kühlem Kalkül, war sie nicht mehr davon abzubringen.

Wie anders war doch Avandrina. Eher klein und ätherisch, sensibel, mitfühlend, geradlinig. Es war nicht schwer, sie einzuschätzen, wobei sie hinsichtlich Stolz und Intelligenz ihrer jüngeren Schwester in nichts nachstand. Vermutlich die einzigen Gemeinsamkeiten der beiden. Es steckte viel von ihrer Mutter und ihrer Großmutter in Avandrina, deswegen war sie auch in die Politik gegangen, wohingegen Anathema mehr nach ihrem Vater geraten war.

Was er nicht immer als vorteilhaft empfand. Wissenschaftlicher Verstand, ja. Aber Anathema war leider genauso ehrgeizig wie Dorain, sturköpfig und temperamentvoll, wenn es nicht so lief, wie sie es sich vorstellte. Im Grunde war sie eine extremere Ausgabe seiner selbst, und bedeutend kämpferischer. Sie würde niemals aufgeben, wohingegen Dorain sich irgendwann in Melancholie zurückzog. Das bewunderte und fürchtete er zugleich an ihr.

»Vater, du bist ja noch nicht einmal angezogen!« Anathemas dunkle, klangvolle Stimme war streng. »Die Konferenz wird bald beginnen.«

Dorain winkte ab. »Ich brauche diesen Hofstaat nicht.«

»Doch, den brauchst du! Der Auftritt des Hutáat, selbst nur eines Teils davon, ist kein alltägliches Ereignis. Es ist sehr wichtig, die äußere Form zu wahren, damit Worte das nötige Gewicht bekommen. Niemand weiß das besser als du!«

Dorain betrachtete seine Tochter und erkannte, dass sie recht hatte. Sie sah atemberaubend schön aus. Das war an sich keine Neuigkeit, selbst in einem schäbigen Sack würde Anathema noch eindrucksvoll erscheinen. Doch in dieser Aufmachung könnte niemand behaupten, sie nicht bemerkt zu haben. Anathema war hochgewachsen, nicht viel kleiner als ihr Vater, athletisch und trainiert, perfekt modelliert wie eine Holoskulptur ihrer Mutter. Ihr dichtes, schwarzes Haar war geflochten und kunstvoll zusammengesteckt, sie trug ein auffälliges Augen-Make-up, wodurch das intensive Grün ihrer Iriden umso mehr zur Geltung kam. Ohren, Arme, Finger und Hals trugen den traditionellen, mit Glyphen und Edelkristallen besetzten Schmuck der Familie, der den hohen Stand, das Ansehen und die lange Geschichte symbolisierte. Nicht viele Familien konnten auf eine derartig lange Tradition zurückblicken. Entsprechend umfangreich war der Familienschmuck auch – seit der ersten Anfertigung bescheidener Ohrstecker und Fingerringe von Jahrhundert zu Jahrhundert mit wachsender Bedeutung und Aufstieg erweitert. Allein der Anblick des Schmucks ließe das gemeine Volk schon in Ehrfurcht erstarren. Seit vielen Generationen lenkte die Familie di Cardelah die Geschicke der Liduuri, in politischer ebenso wie in wissenschaftlicher Hinsicht. Ihre Angehörigen waren manchmal gefürchtet, vorwiegend aber geschätzt und geachtet. Und Anathema trug nur knapp die Hälfte der bedeutendsten Stücke – die andere Hälfte würde sicherlich Avandrina tragen. Richtig aneinandergereiht, erzählten die Glyphen, Symbole und auf ganz bestimmte Weise geschliffenen Kristallzeichen des Schmucks wie ein Buch die Geschichte der di Cardelah und wiesen ihren Status aus.

Ein solches Artefakt benötigte den entsprechenden Rahmen. Statt der gewohnten, eher schlichten weißen Kombination mit dem Symbol der Wissenschaft trug Anathema ein ärmelloses, blausilbernes, schmal plissiertes, knöchellanges Kleid mit breitem Gürtel, der ihre schlanke Taille zur Geltung brachte, dazu einen passenden Umhang mit ausladendem, hochgestelltem Kragen mit Federverzierungen am Rand. Die üblichen Multizweckstiefel, mit denen sie auch die unwirtliche Planetenoberfläche betreten konnte, hatte sie gegen dünne, silberne Riemensandalen getauscht, die langgliedrige, perfekt manikürte Füße umrahmten.

»Genügst du denn nicht?«, brummte Dorain. Er gab nicht viel auf Äußerlichkeit, wobei er sich seines markanten Aussehens durchaus bewusst war. Doch er war kein Jungspund mehr, diese Zeiten waren vorüber. Er musste nichts mehr beweisen, da er alles erreicht hatte. Nun ja, fast.

»Du bist der Herej. Niemand kann ohne deine Zustimmung auf Tiamur leben und arbeiten. Damit kannst du vor den Rat treten, auch ohne Mitglied zu sein, und deine Stimme wird gehört. Doch du musst deinen Rang deutlich machen.« Anathema verzog den Mund. »Präsentiere dich deines Status angemessen! Oder soll ich mich meines Vaters schämen müssen?«

Er gab nach. »Schon gut, du hast gewonnen – wie immer. Ich bin gleich so weit. Sind sie schon eingetroffen?«

»Sie landen bald.«

Dorain strich glättend durch den kurz geschnittenen, dunklen Bart. »Ich verstehe es nicht. Warum kommt sie hierher? Sicher nicht, um sich von uns helfen zu lassen. Der Rat hätte ebenso gut auf Liduur tagen können.«

»Das hat er ja«, versetzte Anathema. »Und sie verkündet uns den Beschluss. Die Hemneter entscheidet, wann und wo, und wir werden das nicht hinterfragen.«

»Das hat sie gesagt?«

»Zweifelst du daran?«

Er lachte kurz. »Das klingt ganz nach Avayandra.« Dorain ging nach nebenan in den Ankleideraum. Von hier aus öffnete sich gegenüber eine weitere Tür in die großzügige Zimmerflucht, ein stilvoll und zugleich gemütlich eingerichteter Wohn- und Schlafbereich mit angrenzendem Arbeitszimmer für Studien. Die Räume waren ringsum ein kleines Arboretum mit echten Pflanzen und einen Fischteich herum angelegt, mit durchgehender Fensterfront.

»Es ist meinetwegen, nicht wahr?«, rief er zu Anathema hinüber, während er die Verschlüsse seiner Kleidung öffnete. »Sie hat angenommen, dass ich nicht nach Liduur fliegen werde, weil ich keine Zeit habe und auch nicht Zeit haben will, und hat deshalb den Rat hierhergebracht.«

»Großmutter kennt dich besser als jeder andere. So ist das nun einmal. Sie durchschaut uns alle. Und sie weiß genau, wann und wo sie ein Zeichen setzen muss. Es gibt niemanden wie sie, und es wird nie wieder jemanden geben wie sie.« Anathemas Stimme hatte einen zärtlichen Klang angenommen.

Wenn sie überhaupt eine Schwäche hatte, war es Avayandra. Anathema liebte und verehrte ihre Großmutter über alles. Umso größer nagte der Kummer über deren Zustand an Anathema, den sie zumeist gut zu verbergen wusste. Dorain aber konnte sie nichts vormachen. Zum einen war sie seine Tochter, mit der er zudem schon sehr lange zusammenarbeitete, und zum anderen empfand er ebenso wie sie.

Er aktivierte das nahezu lebensgroße Holo, das ihm nacheinander die Anzüge vorführte, die das Bekleidungsprogramm als für diesen Anlass angebracht hielt. Schon nach der vierten Anzeige wurde es ihm zu viel. Mit solchen dummen Entscheidungen wollte er sich nicht herumschlagen müssen und sinnlos Zeit vergeuden. Er projizierte eine Aufnahme von Anathemas aktueller Gewandung und wies an: »Dazu passend!«

Nur wenige Augenblicke später brachte ihm ein schwebender Kleiderständer einen mattgrauen, mit silbernen Fäden verzierten Anzug, dazu ein weißes Hemd mit hohem, kurzem Kragen sowie aus den Jackenärmeln herausragenden, breiten Ärmelaufschlägen, um die auffälligen Manschetten mit dem Symbol der Familie und den ehrenvollen Stand als Herej aufzuzeigen. Ein weiterer Baustein des »Schmuckbuchs«. Damit brauchte er sich nicht mehr vorzustellen, jeder wusste sofort, wer er war. Schwarzgraue, glänzende Halbschuhe rundeten das Bild ab. Er korrigierte den Sitz der Manschetten und drehte sich langsam vor dem Holospiegel. Schlicht und doch elegant. Dorain war zufrieden. Da gab es schon ganz andere, vor allem unter den Henutu, die glaubten, sich aufputzen zu müssen, um Eindruck zu schinden.

Aber das war eben der Unterschied zwischen den Politikern und ihm. Und sofort leistete er im Stillen seiner Mutter, der Familienmatriarchin, Abbitte für diesen respektlosen Gedanken.

»Wo ist Mutter?«, erkundigte sich Anathema, während sie es sich auf der Chaiselongue gemütlich machte und sich von einem Dienstroboter kleine Genüsse reichen ließ.

»Sie musste zum Empfang ihrer neuesten Ausstellung«, antwortete Dorain. Er war sich bewusst, wie hohl das klang.

Seiner Tochter entging das nicht. »Verstehe. Sie weicht wieder einmal allem aus.«

»Schlag nicht diesen Ton an«, ermahnte er sie streng.

»Du nimmst sie immer noch in Schutz!«

»Bis zu meinem Tod, Anathema, das habe ich geschworen. Agaia hat ihre Gründe, und ich respektiere sie, und das wirst du auch tun. Du bist seit Jahrzehnten erwachsen und schon sehr lange nicht mehr auf sie angewiesen, also hör auf damit, sie zu kritisieren! Das steht dir nicht zu.«

Anathema setzte sich auf. »Entschuldige. Ich hätte sie nur gern einmal wiedergesehen.«

Auch Dorain vermisste Agaia, doch er musste akzeptieren, dass sie ihren eigenen Lebensweg eingeschlagen hatte. Seit er mit der Erschaffung der Bakmaátu begonnen hatte, hatten die Eheleute angefangen, sich voneinander zu entfernen. Agaia hatte Dorain vorgeworfen, sich mehr denn je seiner Arbeit zu widmen und diese Roboter als neue Familie zu betrachten. Da blieb keine Zeit und anscheinend auch kein Wille mehr für ein partnerschaftliches Zusammenleben. Um die Lücke zu füllen, wollte sie sich intensiver mit ihrer Kunst beschäftigen. Was bedeutete, dass Agaia sich mehr auf der Warmen Welt Liduur aufhalten würde als auf Tiamur. Dorain, der nie aufgehört hatte, seine Frau zu lieben, widersetzte sich nicht, und so sahen sie sich nicht mehr allzu häufig. Per Funk unterhielten sie sich mindestens einmal pro Woche. Manchmal wurde dadurch die Sehnsucht größer, manchmal tat es schlichtweg gut, sich ausgiebig mit dem schon so lange verbundenen Partner zu unterhalten, mit dem man alles teilen konnte. Sie redeten über Dinge, über die sie mit sonst niemandem sprachen.

Trotzdem, Dorain konnte Anathemas Haltung verstehen. An diesem Tag hätte Agaia dabei sein sollen, zusammen mit Tochter und Schwiegermutter herfliegen, damit der Kern des Klans einmal wieder komplett war. Wahrscheinlich war es ohnehin das letzte Mal, dass sie alle beisammen sein konnten.

Und vor allem wäre es zu diesem so deklarierten hochoffiziellen Anlass angebracht gewesen.

Avandrina

Die Luxusjacht des Hutáat, des liduurischen Regierungsrats, bot für den kurzen Flug von Liduur nach Tiamur alle erdenklichen Annehmlichkeiten. Die Hälfte der Henutu, wie die Ratsmitglieder bezeichnet wurden, hatte sich mit auf den Weg gemacht, um der Hemneter, der »größten Dienerin«, das angemessene Geleit für diesen offiziellen Besuch zu geben. Aber nicht, weil etwa angenommen worden wäre, der zu verkündende Beschluss würde auf so starken Widerstand stoßen, dass die Hemneter Unterstützung benötigte. Bewahre! Selbst in diesen Tagen waren die Autorität und das Durchsetzungsvermögen der Ratspräsidentin ungebrochen. Es brauchte schon einiges, um ihr gegenüber Widerspruch zu wagen.

Doch es würde eine Aufzeichnung der Konferenz geben, die auf allen Welten ausgestrahlt werden sollte. Das musste in passendem Rahmen geschehen.

Die Henutu hatten es sich in der großzügigen Aussichtskanzel bei erlesenen Genüssen und Getränken bequem gemacht und unterhielten sich angeregt.

Die Hemneter hatte sich zur Vorbereitung und Meditation ein Deck höher in ihre private Lounge zurückgezogen und würde diese erst nach der Landung wieder verlassen.

Ihre Enkeltochter, die Henut Avandrina di Cardelah, hatte sich ebenfalls in ihre persönliche Unterkunft begeben, um einen halb privaten Hyperkomruf zu tätigen.

Schon nach kurzer Zeit erschien in dem Holo das Symbol der Liduurischen Flotte, die symmetrisch ausgebreiteten Falkenflügel mit dem Kreis der Wahren Welt in der Mitte. Ein leicht modifiziertes Symbol wurde vom Hutáat verwendet.

Als der Ruf angenommen wurde, erschien das Bild eines großen, markant aussehenden Manns, dessen sonst strenge, eher kühle, graue Augen freudig aufzuleuchten schienen, als er Avandrina erkannte. »Sonne meines Lebens!«, rief er. »Ich hätte nicht gedacht, dass du die Zeit findest, mit mir zu sprechen, bevor die Konferenz stattfindet.«

»Ich hingegen bin froh, dich zu erreichen, Wepesch«, erwiderte Avandrina. Ihre braunen Augen blickten traurig. »Noch mehr hätte ich mich gefreut, wenn du wenigstens einmal an meiner Seite gewesen wärst. Gerade jetzt, gerade bei diesem Besuch.«

Der Hor, höchster militärischer Kommandant des Soltsystems, schwieg kurz. Er wollte wohl den richtigen Ton und vor allem die richtigen Worte finden. »Ich wäre sehr gern bei dir«, sagte er dann. »Lieber als alles andere. Aber wie soll ich die Zeit finden? Du selbst hast als Henut dazu beigetragen, dass ich noch mehr Aufgaben zu koordinieren habe.«

»Ich weiß«, sagte sie leise. Die Sehnsucht schnürte ihr die Kehle zu.

Hor Wepesch Taui war mit der Verantwortung der Ruyia betraut, dem Exodus nach Achantur. Und das war nichts, das man nebenbei erledigen konnte. Avandrina wusste selbst, dass ihr Geliebter sich im Grunde genommen vervielfachen müsste, um alles fristgerecht zu schaffen. Insofern schämte sie sich, dass sie ihn zusätzlich mit ihren privaten Forderungen belastete. Doch sie wusste nicht, ob ihre Träume über Ehe und Familie und daraus resultierend der Rückzug aus allen Ämtern überhaupt noch erfüllbar waren. Sie hatten zwar eine neue Welt gefunden – doch würden sie dort einen wirklichen Neuanfang wagen können? Oder würden sie beide für zu lange Zeit weiterhin vollauf in Anspruch genommen werden, sodass sie nie eine Partnerschaft eingehen konnten?

Sie straffte ihre Haltung. »Womit bist du denn gerade beschäftigt?«

»Oje!« Er lächelte kurz. »Wo soll ich anfangen? Aktuell bin ich auf Velcitna.« Das war der sonnennahe Kleinstplanet. Wepesch hatte die Idee gehabt, für eine ferne Zukunft vorzusorgen und auf Velcitna eine Art Zeitkapsel einzurichten. Hierzu war der Planet komplett ausgehöhlt worden, und der Hor hatte eine Raumschiffswerft darin eingerichtet. »Die Schiffe kommen gerade an und werden in die Werft gebracht.«

Eine kleine liduurische Flotte sollte dort sozusagen für die Ewigkeit geparkt werden. Niemand wusste, ob die Liduuri die Allianz jemals würden besiegen können, um anschließend ins Soltsystem zur Neubesiedlung zurückzukehren. Aber falls es gelang, wollte der Hor den neuen Siedlern eine gewisse Erleichterung, eine technologische Basis für den Anfang verschafft haben.

Der Rat hatte sich zunächst gegen Wepesch Tauis Vorschlag ausgesprochen, konnte dann aber dank Avandrinas Fürsprache und Argumentation überzeugt werden. Die Henut bot den Kompromiss an, dass zwar funktionsfähige, aber wegen ihrer veralteten Technik nicht mehr für den Einsatz gedachte Schiffe abgezogen werden sollten, auf die deshalb leicht verzichtet werden konnte.

Diese Arbeit schien also demnächst abgeschlossen. »Das ist gut«, sagte sie. »Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Wir sind ein langlebiges Volk. Und ich hoffe sehr darauf, dass wir eines Tages heimkehren können. Dann können wir diese Schiffe für den Neuanfang und vor allem die erste Verteidigung des Systems nutzen.«

»Vielleicht sogar wir beide?«, scherzte der Hor, doch sein Blick blieb ernst.

»Und was bereitet dir Sorge?«, fuhr die Rätin fort, die ihn zu gut kannte, als dass ihr das entginge.

»Vielleicht habe ich den Verursacher für die Verbreitung des Taalvirus gefunden«, antwortete Wepesch. »Die Bestien. Sie sind hier ... in der Galaxis. Sollten sie angreifen ... ausgerechnet jetzt ... ich weiß nicht, was ich dann tun soll. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein.«

»Wir werden fort sein, bevor sie uns entdecken.« Avandrina sprach im Brustton der Überzeugung, um sie beide zu beruhigen. Das war ein Problem, mit dem sie sich nicht auch noch befassen konnte.

»Die Flotte ist in ständiger Alarmbereitschaft, und ich muss mich auf die Wachsamkeit und schnelle Reaktion meiner Kommandeure verlassen, ich habe keine Wahl. Es darf jetzt nichts mehr geschehen, was die Ruyia stört.«

Avandrina presste die Lippen zusammen. Was war denn noch übrig von dem mächtigen Reich der Liduuri? Die Allianz war unaufhaltsam auf dem Vormarsch und vernichtete eine Kolonialwelt nach der anderen. Die Ruyia war ein purer Akt der Verzweiflung. Die Liduuri hatten alles verloren, nun ging es nur noch ums nackte Überleben. Der Hutáat nannte es »Exodus«, doch es war in Wirklichkeit eine völlige Aufgabe des gesamten Reichs, eine panische Flucht, bei der sie nahezu alles zurücklassen mussten. Achantur war das neue verheißene Land, wohin sie nun zogen. Wo es kein Taal gab, sofern sie es nicht mit sich brachten ...

Das Volk zu diesem Exodus zu bewegen, war eine sehr große Herausforderung, der sich der Hutáat seit Jahren intensiv widmete. In behutsamer Aufklärungsarbeit, in vielen Veröffentlichungen, Sendungen und persönlichen Ansprachen.

Leider gab es einen Gegenspieler, der immer wieder Rückschläge verschuldete. Ein charismatischer Mann namens Ges di Verren war der Anführer einer »Gruppe des Widerstands«, wie sie sich bezeichneten, sie nannten sich auch »Kinder der Sterne«. Er trat in vielen Sendungen und an wichtigen Orten auf, um seine Reden zu schwingen – mit wachsendem Erfolg. Weil er gegen keine Gesetze verstieß, konnte man ihm seine Auftritte nicht verbieten und ihm nur verbal entgegentreten, doch Ges war ein hochbegabter Redner und hatte auf alles ein Gegenargument.

Darum immerhin musste sich Wepesch nicht kümmern, stattdessen hielt Avandrina den Sektenführer, und als nichts anderes bezeichnete sie die Gruppierung, unter Beobachtung. Sie hatte mehrfach versucht, mit Ges zu reden, aber er war aalglatt und trat leider viel zu sympathisch auf, als dass sie einen Angriffspunkt gefunden hätte, und vor allem nahm er ihr selbst jegliche Angriffslust. Konnte sie sogar auf gewisse Weise einlullen.

Von da an mied sie jede Begegnung mit ihm und beauftragte den Horissta Cenul di Tiarah, Leiter des Geheimdienstes, mit der »Akte Kinder der Sterne«.

»Wir werden es schaffen, Wepesch«, sagte sie fest. »Bald geht es los.«

»Ja. Mein Organisationsteam ist vollauf damit beschäftigt, die ganzen Schiffskontingente zusammenzustellen und Zeitpläne zu entwerfen, um den geordneten Abflug zu koordinieren. Umso schneller sind wir weg.«

»Wie viele Leute sind damit befasst?«

»Zwölf Hundertschaften, und sie arbeiten in überlappenden Schichten rund um die Uhr. Es geht ja nicht nur darum, dass jeder in Ruhe an Bord gehen und seinen Platz finden kann. Alle müssen zuvor aufwendige Prozeduren über sich ergehen lassen, damit wir das Virus nicht mit uns schleppen. Wenn alles gelingt, wie ich es mir vorstelle, ist das unser Meisterstück – großartiger als der gesamte Technikkram.« Seine Stimme klang stolz. »Meine Leute verstehen ihr Handwerk und setzen sich voll ein. Wir werden trotz der Vorkehrungen innerhalb weniger Wochen vollständig abziehen können.«

Das Taalvirus war die verheerendste Waffe der Allianz und zerstörte nicht nur durch Halatium modifizierte Materialien und technische Konstruktionen, sondern befiel auch organische Wesen. Die Übertragung geschah durch Kontakt, über die Luft, einfach über jedes Medium, sehr schnell, sehr leicht. Die Sterberate infizierter Liduuri betrug einhundert Prozent. Es gab kein Serum.

Am meisten betroffen von der Seuche war Liduur. Dort lebte der Großteil des liduurischen Volks, es war eine blühende, lebenswerte Welt. Zwangsläufig gab es dort die meisten Infektionen. Auf abgeschotteten Planeten wie Tiamur war es nicht schwierig, Schleusen und Scanner aufzustellen sowie höchste Hygienestandards einzuhalten. Aber wie sollte das auf einer frei begehbaren Welt möglich sein? Es bestand selbstverständlich eine Meldepflicht für die Erkrankung, schon bei den kleinsten Anzeichen oder Verdachtsmomenten. Seit der Exodus beschlossene Sache war, wurden Taal-Infizierte in abgeschottete Areale gebracht und behandelt. Sie ließen es fast ausnahmslos widerstandslos geschehen, weil die Infektion ohnehin das Todesurteil bedeutete und mit fortschreitender Erkrankung eine intensive Betreuung erforderlich wurde. Bei den meisten war es schon nach wenigen Wochen vorbei, andere quälten sich jahrelang, bis nacheinander die Organe und schließlich das Zentralnervensystem versagten. Es endete immer mit diesem grausamen Tod, egal wie lange der Krankheitsverlauf dauerte.

Ständig waren spezielle Spürsonden unterwegs, die Wasser- und Luftzusammensetzung wurde permanent getestet, ebenso alle auf Halatium basierenden Maschinen. Das Risiko, dass auch nur ein einziges Virus in die neue Welt mitgeschleppt wurde, musste zu hundert Prozent ausgeschlossen werden.

Die Planungen und Vorbereitungen für den Exodus liefen bereits seit dem ersten Beschluss vor neunzig Jahren. Daraufhin hatte die Suche nach einem geeigneten Planeten begonnen, bis Achantur gefunden worden war. Vor vier Monaten waren die ersten Schiffe dorthin aufgebrochen, um alles für die Ankunft der gesamten Flotte vorzubereiten.

»Ich zweifle keinen Moment, dass dir der Zeitplan gelingt.« Sie lächelte ihn an, plötzlich getröstet. Wepesch stand nicht umsonst als Hor an der Spitze des Militärs. Er war unerschütterlich und schien immer zu wissen, was zu tun war. Hochbegabt in der Strategie, überdurchschnittlich intelligent und absolut loyal.

»In meine Position kommt man«, hatte er einmal zu ihr gesagt, »wenn man in der Lage ist, blitzschnell Entscheidungen zu fällen. Und wenn diese auch noch richtig sind – umso besser.«

Sein Blick wurde wärmer. »Ohne dich wäre all das nicht möglich gewesen. Ich allein hätte es nicht erreichen können.«

»Rede keinen Unsinn.«

»Du weißt, dass es stimmt, Avandrina. Es gibt keinen Grund zur Bescheidenheit. Und du musst mir glauben, ich wäre gerade jetzt nirgendwo lieber als bei dir.«

Sie nickte. »Vielleicht findet sich ja demnächst eine Möglichkeit, uns wenigstens für ... ein paar Stunden zu treffen.«

»Das werden wir schaffen. Ich verspreche es. Und derweil ...«, er wirkte plötzlich vergnügt, »kannst du mich immer sehen, wann du es willst.« Er öffnete einen zweiten Holoausschnitt.

Avandrina erkannte in dem gezeigten Planeten den roten Adur. »Oh, die Pyramidenanlage ist fertig!«

»Ja, sie kann bald in Betrieb gehen. Aber das ist noch nicht alles. Schau mal dort.«

Die Holodarstellung schwenkte auf eine andere Stelle, und die Henut lachte auf. »Du hast es also tatsächlich getan!«

»Nur für dich, ganz dein Hor.« Das war doppeldeutig gemeint, denn der Titel bedeutete nicht nur »ungezähmter Falke«, sondern auch »Gesicht«. Und ein Gesicht prangte dort unten riesengroß auf der staubigen Oberfläche. Wepeschs Gesicht.

Avandrina freute sich über das Kompliment, das wie eine Liebeserklärung klang. Denn das künstliche Gebilde selbst hatte eine völlig andere Bedeutung und nichts mit ihr zu tun. Das »Gesicht« sollte eine Mahnung oder ein Willkommen sein, je nachdem, welcher Besucher sich dem Soltsystem zuwandte. Aber die romantische Illusion, dass es etwas Bleibendes für sie war, gefiel ihr trotzdem. Es gab nicht viel zu träumen in diesen Tagen, und gerade im Augenblick konnte sie jede emotionale Unterstützung brauchen.

»Ich muss weitermachen«, sagte Wepesch in ihre Gedanken.

»Ja, wir sind auch schon fast angekommen.« Avandrina seufzte. »Das wird mein schwerster Gang.«

»Freust du dich nicht, deine Familie wiederzusehen?«

»Mutter ist nicht da. Und Dorain und Anathema werden mich hassen für das, was Großmutter ihnen mitteilen wird.«

»Es war doch nicht deine alleinige Entscheidung. Und sie werden die Notwendigkeit einsehen.«

»Genau deswegen hätte ich dich lieber an meiner Seite gehabt, als Hor des Militärs und als Organisator der Ruyia. Und in deiner Eigenschaft als Tamsin, als Siegelträger und Bevollmächtigter des Rats.« Im Grunde genommen war Wepesch Taui damit der mächtigste Mann des Staats und der Hemneter fast ebenbürtig. Zweifelsohne war er derzeit der wichtigste Befehlsträger des Imperiums.

»Du meinst, das würde den Konflikt verhindern?«

Avandrina lächelte traurig. »Nein. Nein, natürlich nicht. Aber ich hätte mich vielleicht nicht so allein gefühlt.«

»Ich bin immer bei dir.« Der Hor hob die Hand, und sie hielt ihre dagegen, so als würden ihre Handflächen sich berühren.

Perry Rhodan Neo 117: Exodus der Liduuri

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