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MERLIN, Medostation

Nacht zum 1. Dezember 1290 NGZ

Darla Markus wurde durch einen gellenden Schrei hochgerissen. Was ist ...?, raste ein erster Schreckensimpuls durch ihr Bewusstsein.

Die wachhabende Medikerin war nur für einen Augenblick eingenickt. Sie ahnte, was kommen würde. Der unartikulierte Schrei wiederholte sich. Er klang gequält.

Man konnte normalerweise die Wache einem Medorobot überlassen; die Maschinenwesen waren auf solche Situationen eingestellt. Vor allem die Spezialisten, die nach dem immer noch neuartigen Modula-System ausgerichtet waren.

Zudem würden die angeschlossenen Lebenserhaltungssysteme sofort bei jeder Veränderung Alarm geben. Aber ein Krankheitsverlauf wie dieser war bisher unbekannt.

In den medizinischen Archiven der GILGAMESCH gab es keine Aufzeichnungen, die auf einen ähnlichen Fall schließen ließen. Deshalb war es unerlässlich, dass der Kranke zusätzlich ständig von einem Mediker überwacht wurde.

Das war eine zermürbende Aufgabe. Die junge Ärztin konnte sich an solche Tätigkeiten einfach nicht gewöhnen. Darla Markus besaß hervorragende fachliche Kenntnisse und galt als ausgezeichnete Chirurgin. Doch im praktischen Bereich konnte sie bisher kaum Erfahrungen sammeln.

Deshalb war ihr der unverzeihliche Fehler unterlaufen, mitten im Dienst eingeschlafen zu sein. Ihr Biorhythmus war noch nicht darauf eingestellt, nach einem anstrengenden Diensttag nachts als Beobachter eingesetzt zu werden.

»Bitte!«, schrie Vincent Garron. Sein unartikuliertes Gebrüll wechselte zu klaren Sätzen. »Es soll aufhören! Ich kann nicht mehr!«

Darla warf einen raschen Blick auf die Kontrollen. Die Systeme zeigten »grün«, wie die Mediker es nach wie vor nannten, obwohl ja die Anzeigen mehrfarbig waren und die Auswertung anschaulich an der sich ständig drehenden 3-D-Abbildung eines menschlichen Körpers gemacht wurde. Keine Lebensgefahr. Die Organe arbeiteten einwandfrei, der Blutdruck lag in der Norm. Lediglich ein leichtes Fieber war angezeigt.

Der Todesmutant war in einen Paratron- und in einen Anti-Esper-Schirm gehüllt worden, um unkontrollierte Psi-Ausbrüche zu verhindern. Und um ihn ein wenig vor der verheerenden fünfdimensionalen Strahlung des Sonnentresors zu schützen. Auf bisher ungeklärte Art und Weise schienen die Einflüsse der 61-Sonnen-Ballung sogar den Paratronschirm durchdringen zu können.

Vincent Garron befand sich in einem schrecklichen Zustand. Wenn sie ihn anschaute, fühlte Darla Ekel in sich aufsteigen.

Es war Ekel – und der schreckliche Wunsch, dieser Wahnsinnige möge endlich verrecken. Darla wusste, dass sie durch ihren Eid daran gebunden war, jedes Menschenleben zu retten. Jedes, egal was derjenige vorher getan haben mochte.

Doch die berufliche Distanz fiel ihr angesichts dieses gefährlichen Wahnsinnigen schwer. Sie hatte sich genau darüber informiert, was Vincent Garron getan hatte, und ihrer Ansicht nach gab es für so jemanden nur eine Strafe.

Aber niemand hatte sie um ihre Meinung gefragt. Sie hatte ihre Anweisungen. Julio Mangana, ihr Vorgesetzter, war ein erfahrener Mann. Der Chefarzt hatte ihrem Gesichtsausdruck sofort entnommen, was sie über ihre Einteilung in den Dienstplan dachte.

Und seine Anweisungen ein wenig schärfer wiederholt. Jetzt waren sie ein Befehl: Vincent Garron musste am Leben erhalten werden, gleich wie.

Allerdings hatte er ihr nicht befohlen, dass Darla bei jedem Winseln sofort zu springen hatte.

Darla richtete den Blick von den Kontrollen auf einen der schrecklichsten Massenmörder der jüngeren menschlichen Geschichte. Es war kein schönes Bild.

Garron erwiderte ihren Blick. Seine Augen verzerrten sich nurmehr zu schmalen Schlitzen, so sehr war sein Gesicht inzwischen angeschwollen. Er sah widerlich aus, kaum mehr wie ein Mensch.

So verkehrt sich das Innere nach außen, dachte Darla. Jetzt kann wenigstens jeder deine hässliche Seele sehen, und niemand wird mehr Mitleid mit dir haben.

»Was ist?«, fragte sie unpersönlich.

»Bitte, tu etwas gegen die Schmerzen«, flehte Vincent Garron.

»Du bekommst bereits alles Notwendige. Mehr wäre nicht zu verantworten. Außer, du möchtest gern sterben ...«

Der Mutant krümmte sich vor Schmerzen auf der Antigravliege zusammen.

»Das wäre vielleicht das Beste«, stöhnte er laut.

Darla wandte sich den Kontrollen zu und bearbeitete die Aufzeichnungen.

»Wie recht du nur hast«, murmelte sie.

Am liebsten hätte sie in den Schutzschirm eine Schallisolierung einprogrammiert, um nicht mehr das ständige Wehklagen hören zu müssen. Sie war übermüdet, wütend auf ihren Vorgesetzten und auf sich selbst, weil sie es nicht schaffte, die nötige Distanz zu wahren.

Fast automatisch glitten ihre Finger über die Tastenfelder. Sie errichtete einen kleinen Holospiegel, um sich zu betrachten. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, ihr Teint war fahlbleich. Ihre stahlblaue Haarmähne, die sie meistens zu einer kunstvollen Frisur drapierte, hing in glanzlosen Strähnen herab.

Nicht mehr lange, und sie würde eine unter vielen sein, eine überarbeitete, angestrengte Medikerin, die keine Zeit mehr für ihr Äußeres aufwendete und nur noch an die Arbeit dachte.

Wütend löschte Darla Markus das Holo.

»Doktor, bitte!«, jammerte Vincent. »Es ist, als ob mir bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird ...«

Der jungen Medikerin riss der Geduldsfaden.

»Sag mir, Garron, wie ist das, einmal das Opfer zu sein?«, fuhr sie den Gepeinigten an. »Haben sich deine Opfer so gefühlt, bevor du sie grausam umgebracht hast? Haben dich ihre Schmerzen je interessiert?«

»Ich heiße Vincent ...«, versuchte der Mutant, sich seine Würde zu bewahren.

»Soll ich Vince zu dir sagen?«, höhnte Darla. »Den Tag, an dem ich dich beim Vornamen nenne, wirst du nie erleben. Du bist ein Monster! Und so siehst du auch aus: wie ein abstoßendes Monster. Ich hoffe, du durchleidest Höllenqualen!«

»Das reicht!«, erklang in diesem Moment eine zornige, männliche Stimme hinter ihr.

Jemand packte Darla am Arm und zog sie aus dem Beobachtungsraum ins Labor nebenan. Die automatische Tür schloss sich sofort.

*

»Wie lange geht das schon so?«, schnauzte sie Marius Karrel an.

Der Anästhesist war etwa zehn Jahre älter als Darla. Die beiden hatten sich während der gemeinsamen Arbeit ein wenig angefreundet. Gelegentlich kam Marius nach Dienstschluss vorbei, um der Kollegin ein wenig Gesellschaft zu leisten. So auch an diesem Tag ...

»Ich weiß nicht, was du meinst«, gab sich Darla Markus abweisend.

»Ich rede von deinem unprofessionellen Verhalten gegenüber unserem Patienten da drin!« Karrel deutete auf die Trennscheibe, durch die Garron zu sehen war, wie er sich weiterhin in Agonie wand.

»Ich sehe keinen Grund, mich zu entschuldigen!«, fauchte Darla. »Ich habe von Anfang an Julio gegenüber meine Bedenken deutlich gemacht! Meiner Ansicht nach hat der Mann kein Anrecht mehr auf sein Leben!«

»Du weißt genau, dass Garron unter Schizophrenie leidet«, unterband der Kollege ihren Ausbruch. »Im Prinzip hat nicht er, sondern seine negative Quotor-Persönlichkeit all diese schrecklichen Morde begangen.«

Marius Karrel ging gestikulierend auf und ab. Er schaute sie an.

»Das weißt du«, sagte er. »Und Garron weiß inzwischen sehr genau, was er getan hat und wird sich dafür verantworten müssen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, über ihn zu richten! Wir haben unseren Eid zu erfüllen, und nichts sonst.«

»Ich bin keine Maschine«, verteidigte sich die Medikerin. »Ich habe ein Anrecht auf eine eigene Meinung, und dieser Kerl ist ein Ungeheuer, aber kein Mensch! Ich kann nicht verstehen, dass er auf die GILGAMESCH gebracht worden ist!«

Darla schnaubte vor Wut und verschränkte die Arme.

»Alles kümmert sich um ihn und versucht seine Beweggründe herauszufinden«, warf sie ihrem Kollegen vor. »Aber denkt einer von euch an die Hinterbliebenen der Opfer? Glaubst du, sie werden jemals vergessen, was er ihren Angehörigen angetan hat? Er gehört ins Exil, lebenslang in einen Paratronschirm gehüllt, fernab von jeder Zivilisation! Falls er das hier übersteht, was ich ihm wirklich nicht gönne!«

Marius Karrel schwieg eine Weile, blickte auf den Boden.

»Das muss ich leider Julio Mangana melden«, sagte er schließlich.

Darla Markus zuckte mit den Achseln.

»Von mir aus. Wir können gleich zu ihm gehen, wenn du willst.«

»Darla, du könntest deinen Job hier verlieren! Und deine Reputation!«

Darlas grüne Augen blitzten auf. »Was für eine Reputation habe ich wohl, wenn bekannt wird, was ich hier getan habe?«, fauchte sie. »Denkst du, die öffentliche Meinung wird mir einen Orden verleihen? Dann bekomme ich doch eher wieder einen Job, wenn ihr mich jetzt deswegen rauswerft! Nur zu!«

Marius schüttelte den Kopf. Dann weckte er Dr. Mangana über Funk und bat ihn um eine sofortige Unterredung.

Eine Viertelstunde später war der Chefmediker bei ihnen. Die drei Menschen setzten sich in einen kleinen Nebenraum an einen Tisch.

Darla saß ruhig dabei, während Marius berichtete. Der Chefmediker hörte sich alles mit sachlicher, unbewegter Miene an und äußerte sich erst am Schluss.

»Leider hat sie recht, Marius«, sagte Mangana.

Karrel blinzelte, als habe er sich verhört. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Abgesehen davon, dass wir uns etwas zu weit von der Milchstraße entfernt befinden, um sofort eine Entscheidung über Darla zu fällen, können wir sie nicht einfach entlassen«, erläuterte Julio Mangana ruhig. Er lächelte kurz. »Wie denn? Sie kann kaum aussteigen und zu Fuß nach Hause gehen.«

Übergangslos wurde er ernst und schaute die beiden an.

»Nein«, sagte er, »es gibt einen weiteren Grund. Das wäre für die öffentliche Meinung ein gefundenes Fressen und würde die Diskussion um die Unsterblichen nur erneut entfachen. Darla, ist dir an derartiger Publicity gelegen?«

»Nein, darum geht es mir überhaupt nicht!«, antwortete sie heftig. »Ich kann nur meine Gefühle nicht unter Kontrolle halten! Wenn ich den Kerl da drin sehe, würde ich ihn am liebsten eigenhändig erwürgen! Ich schaffe es nicht, die nötige Distanz zu wahren – deshalb wollte ich nicht in den Dienstplan eingeteilt werden!«

Dr. Julio Mangana legte die Fingerspitzen aneinander.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Ich verstehe deine Beweggründe, Darla. Doch das ändert meine Entscheidung keineswegs. Wenn du persönliche Probleme mit deiner Arbeit hast, beseitige sie. Du bist eine ausgezeichnete Ärztin, und ich will nicht auf deine talentierten Chirurgenhände verzichten. Die menschliche Komponente ist dabei untergeordnet. Ich gestehe dir diesen Ausrutscher zu, weil du noch nicht genug Erfahrung im Umgang mit Patienten besitzt. Deshalb belasse ich es auch einmalig bei einer Ermahnung und einem Eintrag in deine Akte. Des weiteren wirst du deinen Dienst wie vorgesehen absolvieren.«

Der Chefmediker stand langsam auf und musterte Darla.

»Selbstverständlich bist du frei zu denken, was du willst«, fügte er hinzu. »Aber du wirst diese Gedanken für dich behalten. Du wirst dich ab sofort wie eine professionelle Ärztin verhalten, sachlich, neutral und objektiv. Diese Rolle wirst du jedem gegenüber einnehmen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, außer einem dir Nahestehenden, der ebenso wie du zum Schweigen verpflichtet ist. Solltest du dein Problem nicht in den Griff bekommen, wirst du zum Leiter der psychiatrischen Abteilung gehen und mit ihm sprechen. Doch ich denke, dass das nicht notwendig sein wird. Diese Anfänger-Krise macht so ziemlich jeder Arzt durch, der plötzlich mit der Wirklichkeit konfrontiert wird.«

Manganas Augen blickten Darla durchbohrend an.

»Besinne dich also auf deine Aufgabe und triff die Entscheidung, ob du künftig feige vor jeder unbedeutenden Konfrontation davonlaufen oder deiner Berufung folgen willst!«, mahnte er.

Der Chefmediker nickte den beiden Mitgliedern seines Teams zu und ging zurück in sein Bett.

Darla saß wie ein begossener Wüstenspringer da. Marius spielte verlegen mit dem Ring an seinem linken Mittelfinger.

»Wir haben beide ein wenig überreagiert, glaube ich«, begann er vorsichtig.

»Julio wird dich in den nächsten Tagen bitter dafür büßen lassen, dass du ihn deswegen aus dem Bett geholt hast«, meinte Darla mit einem schwachen Lächeln.

Dann richtete sie ihre Augen ernst auf den Kollegen.

»Hast du wirklich befürchtet, ich würde Garron umbringen, und deswegen den Aufstand veranstaltet?«, fragte sie leise. »Vertraust du mir so wenig?«

Obwohl dieser Vorwurf nicht offen ausgesprochen worden war, hatte Darla sehr wohl erkannt, dass es dem Anästhesisten vor allem um eines gegangen war: Sie vor der Ausführung eines Mordes zu bewahren – aus welchen Gründen auch immer.

»Ich ... ich weiß nicht«, murmelte er. »Ich war nicht sicher, ob du Garron ernsthaft gefährden würdest. Aber vielleicht ... ein wenig unterlassene Hilfeleistung?«

Darla Markus schlug die Augen nieder.

»Daran habe ich ernsthaft gedacht«, flüsterte sie. »Und ich schäme mich dafür. Vor allem, weil Julio es wohl die ganze Zeit gewusst und mich auf die Probe gestellt hat.«

»Wenn er kein Vertrauen zu dir hätte, würde er dich nicht allein einteilen, Darla. Und irgendwie muss er wohl jeden von uns mindestens einmal auf die Probe stellen, um zu wissen, ob wir ein Team sind und am selben Strang ziehen. In gewissem Sinne habe ich also seine Kompetenz in Frage gestellt, und das wird mich noch einiges kosten. Deshalb werde ich jetzt lieber wieder schlafen gehen, um Kräfte zu sammeln.« Marius stand auf und berührte kurz ihre Schulter. »Und du hast den Rest der Nacht Zeit, darüber nachzudenken.«

Darla kehrte nach nebenan zu ihren Kontrollen zurück.

Vincent Garron war in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf gefallen, Unverständliches vor sich hinmurmelnd.

Die Temperatur war seit der letzten Kontrolle gestiegen, lag aber noch unter 40 Grad. Die übrigen Werte lagen im grünen Bereich. Darla betrachtete den verunstalteten Körper und stellte sich vor, der Todesmutant wäre ein armes, unschuldiges Wesen.

Trotzdem empfand sie kein Mitleid. Aber immerhin hatte der Rüffler sie auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht, sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu besinnen und nicht den Richter zu spielen.

Eine Stunde später kam bereits der nächste Schub.

*

Nachdem die Chirurgin völlig hektisch den Alarm ausgelöst hatte, stolperte das halbe Ärzteteam verstört und noch verschlafen herein.

»Ich habe ihn nicht mehr unter Kontrolle!«, schrie Darla Markus.

Die angeschlossenen Lebenserhaltungssysteme überschlugen sich fast, spuckten endlose Auswertungen aus und wiesen auf notwendige Operationen hin, bevor die Organe endgültig versagten. Dies wurde durch Grafiken deutlich gemacht.

»Wie ist das geschehen?«, fragte Julio Mangana, während er hastig die Auswertungen überflog.

»Ganz plötzlich, ohne erkennbaren Grund«, erläuterte die junge Medikerin. »Garron hatte geschlafen, als vor knapp zwanzig Minuten auf einmal die Temperaturkurve weiter anstieg. Ich gab ihm sofort eine fiebersenkende Infusion, doch es half nichts. Damit er sich nicht verletzen konnte, aktivierte ich die Fesselfelder.«

Vincent Garron kämpfte wie rasend gegen die energetischen Fesseln an und schrie wie am Spieß. Die Schmerzen mussten ihn wahnsinnig machen; der Mutant war überhaupt nicht ansprechbar. Hin und wieder stieß er verständliche Worte hervor, die jedoch keinen zusammenhängenden Sinn ergaben.

Eine der Assistenzärztinnen, die soeben eingetroffen war, hielt sich die Hand an den Mund, als sie den Mutanten sah.

»O mein Gott«, flüsterte die junge Frau. Sie wurde grün im Gesicht und stürzte wieder aus dem Raum.

Darla konnte ihre Reaktion verstehen. Sie hatte sich ebenfalls übergeben müssen, kurz bevor ihre Kollegen eingetroffen waren. Das war nicht sehr professionell, aber so abgebrüht stufte sie sich eben selbst noch nicht ein.

Der Todesmutant bot einen grausigen Anblick. Die Metamorphose war seit zwanzig Minuten in einem rasenden Tempo fortgeschritten.

Sein Kopf war weiter angeschwollen, sein Körper wie zu einem Luftballon aufgeblasen. Überall hatten sich Beulen gebildet, die pumpten und sich bewegten, als versuchten irgendwelche Tiere darunter, sich ihren Weg freizukämpfen.

»Sofort in den OP der Intensivstation mit ihm, aber ohne den Schirm zu öffnen!«, ordnete Mangana an. »Und holt Tuyula Azyk und diesen Gharrer dazu!«

Das Feld des Paratronschirms wurde so verkleinert, dass Garron gerade noch umhüllt wurde. Die meisten Lebenserhaltungssysteme wurden kurzzeitig für den Transport desaktiviert.

Der Mutant tobte und brüllte verzweifelt, während die Mediker ratlos herumstanden und diskutierten.

Die Beulen schwollen weiter an, bis die Haut dem Druck nicht mehr standhalten konnte. An mehreren Stellen platzte sie gleichzeitig auf. Vincent Garrons Schmerzensschreie steigerten sich zu einem markerschütternden Höhepunkt.

»Bei Waryn, er explodiert!«, schrie jemand in Panik.

Ein weiterer Arzt musste wegen seines rebellierenden Magens fluchtartig den Raum verlassen.

Die Gravojets der Liege wurden aktiviert. Dann schwebte sie, von Medorobots flankiert, aus dem Raum Richtung Intensivstation.

»Niemand hat das verdient«, flüsterte Marius Karrel neben Darla Markus. »Nicht einmal ein Massenmörder.«

Sie nickte stumm. Rückwirkend kam ihr die Diskussion vor etwas mehr als einer Stunde nur noch dumm und belanglos vor. Mitanzusehen, was da mit Vincent Garron geschah, brachte die Fassade des Hasses gegen ihn schnell zum Einsturz.

Jetzt wünschte sie ihm einen schnellen Tod – zur Erlösung.

Der OP war in fieberhafter Eile hergerichtet und sterilisiert. Julio Mangana erwog inzwischen die Vorgehensweise: den Herzrhythmus durch gepulste elektrische Felder zu normalisieren, die inneren Blutungen zu stillen, Lunge und Nieren direkt mit stabilisierenden Mitteln zu versorgen. Doch all das würde vermutlich nicht viel nützen, solange sie nicht wussten, was sie eigentlich bekämpfen sollten.

Symptome zu lindern, war eine Sache – doch ohne die Ursache zu kennen, nicht von Dauer.

»Als erstes«, ordnete er an, »werden wir jetzt die beiden Schirme desaktivieren.«

Einige Teamärzte zogen überraschte und ablehnende Gesichter. Auch Darla fühlte ein Kribbeln im Nacken. Sie hatte sich trotz der Sicherheit des Paratron- und des Anti-Esper-Schirms in Vincent Garrons Nähe immer unwohl gefühlt.

»Ich weiß nicht, welchen Einfluss die Schirme zusätzlich in diesem Stadium auf seinen Metabolismus ausüben«, erläuterte Mangana. »Ich will endlich herausfinden, was vorgeht. Und die Schirme haben die Fünf-D-Strahlung des Sonnentresors bisher offensichtlich nicht abgehalten, zu Garron durchzudringen und die Metamorphose weiter voranzutreiben.«

»Das ist ein großes Risiko«, wandte ein anderer ein. »Dazu müssen wir uns sicher zuerst Atlans Erlaubnis einholen.«

»So viel Zeit haben wir nicht«, lehnte Julio Mangana ab.

Er wandte sich an den Patienten und fuhr laut fort: »Vincent Garron, kannst du mich hören?«

Keine Antwort. Der Kranke schrie und wand sich in seinen Fesseln.

»Wir dürfen das Risiko nicht eingehen!«, warnte ein Assistent.

»Wir werden es für ein paar Sekunden riskieren, dafür übernehme ich die Verantwortung«, entschied der Chefmediker.

»Dann bitte ich im Protokoll zu verzeichnen, dass dies ohne unsere Einwilligung geschieht!«, bemerkte Darla Markus. »Ich sehe keinen Sinn darin!«

Aber Julio Mangana hörte weder auf sie, noch sah er sich veranlasst zu erklären, was ihn zu dieser gefährlichen Entscheidung gebracht hatte.

»Sonja, du wirst beide Schirme kurzzeitig abschalten«, ordnete er an, »sagen wir für zehn Sekunden, und dann sofort wieder errichten – und den Paratronschirm auf den OP, den Beobachtungsraum und die Aufwachstation erweitern. Wir müssen arbeiten können.«

Den Gesichtern einiger Mediker war deutliche Besorgnis anzusehen. Selbstverständlich hatte Mangana recht: Wenn sie Garron operierten, mussten sie das Schutzfeld ausdehnen, um ungehindert arbeiten zu können.

Das bedeutete aber gleichzeitig auch, dass nur noch der Anti-Esper-Schirm einen Schutz vor den entsetzlichen Kräften bot. Und angesichts der fortschreitenden Metamorphose hatte keiner von ihnen mehr ein hundertprozentiges Vertrauen darin.

Die medizinisch ausgebildete Technikerin Sonja Bargs gab die Daten ein und wartete dann an den Kontrollen auf Manganas Zeichen.

Dann wurden die Schirme abgeschaltet. Jeder Anwesende zählte in Gedanken die Sekunden.

Nach acht Sekunden war Vincent Garrons Körper plötzlich vom OP-Tisch verschwunden.

Sonja Bargs reagierte in unheimlicher Geschwindigkeit, ohne die berüchtigte »Schrecksekunde« zu verlieren. Beide Schirme waren sofort wieder aktiviert.

Nur eine Sekunde später war auch Vincent Garron da – auf dem Boden des OPs, wo er sich schluchzend in Krämpfen wand. Der Todesmutant wurde sofort von einem Medoroboter zurück auf den Tisch gebracht und festgeschnallt.

Darla Markus spürte, wie ihr der kalte Schweiß den Nacken hinabrann. Es war alles so schnell gegangen, dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich zu rühren.

Einige der bleichen Gesichter ihrer Kollegen zeigten offene Wut. Aber niemand sprach Vorwürfe aus; auch im 13. Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung war es nicht üblich, den Chefmediker öffentlich anzugreifen.

Julio Mangana hingegen schien zufrieden zu sein, er hatte nicht einmal seine gesunde Gesichtsfarbe verloren.

»Nun wissen wir also, dass Garron nach wie vor absolut unberechenbar und sehr gefährlich ist«, sagte er. »Die Metamorphose beeinträchtigt seine Psi-Fähigkeiten nur insofern, dass er sehr geschwächt ist und daher nicht weit kommen konnte. Vielleicht verhinderte auch die Nachwirkung des Anti-Esper-Schirms das Errichten einer Hypersenke.«

Und was sollte das alles dann?, dachte Darla voller Zorn. Aber sie wagte keine laute Frage, nachdem die dienstälteren Mediker ebenfalls schwiegen.

Der Mutant war inzwischen wieder an die Überlebenssysteme angeschlossen; die Mediker bemühten sich mit robotischer Unterstützung, die Hautblutungen zu stillen und die sich weiter bildenden Beulen unter Kontrolle zu bekommen.

Garron war energetisch so festgeschnallt, dass er sich kaum mehr rühren konnte, und er war wegen der künstlichen Beatmung nicht mehr in der Lage zu schreien. Aber er war nach wie vor bei vollem Bewusstsein. Was von seinen zugeschwollenen Augen noch zu erkennen war, waren riesengroße Pupillen, in denen unendliches Leid lag.

»Er muss ruhiggestellt werden«, meinte Marius Karrel. »Solange er in diesem Zustand ist, können wir nichts unternehmen. Vor allem kann er das nicht mehr lange durchhalten.«

»Ich schlage vor, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen«, meldete sich ein weiterer Mediker zu Wort. »Damit ersparen wir ihm zudem eine Menge Leid.«

»Nein, das dürft ihr auf keinen Fall tun!«, erklang in diesem Moment eine hohe, zirpende Stimme.

Tuyula Azyk war eingetroffen, zusammen mit Mhogena. Sonja Bargs hatte die beiden Fremdwesen durch eine kurzzeitige Strukturlücke hereingelassen.

»Wenn ihm das helfen würde, hätte Vincent sich längst von selbst in ein Koma geflüchtet!«, fuhr die junge Blue erläuternd fort. »Es muss einen bestimmten Grund haben, dass er bei Bewusstsein bleiben will. Ihr dürft ihn auf keinen Fall narkotisieren, damit könntet ihr ihn umbringen!«

»Dann können wir nichts mehr für ihn tun«, kündigte Julio Mangana ernst an. »Überleg es dir gut. Es ist eine große Verantwortung, die du da übernehmen willst.«

»Ich stimme Tuyula zu«, ergriff Mhogena für Vincents einzige Freundin Partei. »Die Metamorphose kann so oder so nicht aufgehalten werden. Es ist auch nicht daran zu denken, sie mit unseren Mitteln rückgängig zu machen. Momentan können wir ihm nur helfen, indem wir ihn mit starken Schmerzmitteln vollpumpen, um ihm das Leid ein wenig zu lindern, ihn an die Lebenserhaltungssysteme anzuschließen und die Wunden zu versorgen.«

»Ich stehe aber nicht gern resignierend daneben«, meinte Mangana zögernd.

»Wir können im Moment nichts anderes tun, bis die Entscheidung gefallen ist, wie wir Vincent Garron aus dem Bereich des Sonnentresors bringen und ihn damit nicht mehr den Hyperschauern aussetzen.« Mhogena verschränkte die sechsfingrigen Hände. »Das ist wirklich alles.«

»Darüber wollte ich ohnehin gerade mit Atlan diskutieren«, beharrte Mangana.

»Selbstverständlich, ich bin derselben Ansicht«, lenkte Mhogena ein.

»Bitte hört auf mich!«, bat Tuyula und wiederholte eindringlich: »Ihr bringt ihn sonst um.«

Wobei sich die Frage stellt, ob er nicht sowieso in den nächsten Stunden stirbt, dachte Darla. Aber sie spürte keine Genugtuung mehr bei diesem Gedanken. Nur ein wenig Verwunderung über das Bluesmädchen: Nach allem, was sie erlebt hat – weshalb hängt sie so sehr an ihm?

Dr. Julio Mangana nickte nach reiflicher Überlegung seinem Team zu. »Seht zu, dass ihr ihn weiter am Leben erhaltet, bis die Entscheidung gefallen ist.« Dann eilte er aus dem Raum.

*

»Warum können wir nichts tun?«, fragte Tuyula Azyk und blickte dabei zu Mhogena auf.

Das Bluesmädchen und der Gharrer hatten sich in den Beobachtungsraum nebenan zurückgezogen, während das Medikerteam um Vincent Garron bemüht war.

»Es tut mir leid, aber meine Fähigkeiten als Psi-Reflektor versagen hier«, antwortete der Fünfte Bote freundlich.

Mhogena bemühte sich, seinen 2,32 Meter großen, in einem voluminösen Schutzanzug steckenden Körper gegenüber der kleinwüchsigen Blue nicht zu bedrohlich wirken zu lassen.

Er spürte, dass das Mädchen sich in einem labilen Zustand befand. Deshalb wollte er es nicht zusätzlich in eine instinktive Abwehrhaltung bringen, die den Stressfaktor nur erhöhte.

»Du bist sehr tapfer, Tuyula«, fuhr der Gharrer fort.

Das Bluesmädchen machte eine schnelle Abwehrgeste mit den drei Daumen der rechten Hand.

»Ich bin kein Kind mehr, Mhogena«, zirpte sie. »Du brauchst nicht so mit mir zu sprechen.«

Beide unterhielten sich in Interkosmo; Tuyula mit hoher, fast singender Stimme, Mhogena hingegen mit tieferem Tonfall, einem harten Akzent und sehr starker Betonung der Ch-Laute.

»Ich wollte dich nicht beleidigen«, entschuldigte sich Mhogena sanft.

Drei seiner vier Augen, mit denen er sie ansah, waren melancholisch-dunkel, das links außen sitzende, vierte Auge jedoch befremdend gelbgrün – und starr. Es konnte Tuyula nicht folgen, als sie aufstand und in dem Raum umherging.

»Schon gut, ich habe es nicht so gemeint«, sagte sie.

Die Blue wandte dem Gharrer den Rücken zu, während sie sprach, was jedoch für den Augenkontakt kein Problem darstellte. Das rückwärtige, ellipsoide Augenpaar war jetzt auf ihren Gesprächspartner gerichtet.

»Es war alles zu viel«, zirpte sie. »Ich muss erst lernen, mich mit der neuen Realität zurechtzufinden.«

Das war kein Wunder. Seit ihrem ersten Kontakt zu dem Todesmutanten Vincent Garron hatte das zwölfjährige Mädchen, damals noch ein Kind, eine Menge durchgemacht. Eine lange Flucht, den Anblick ermordeter Menschen, die schauerlichen Hypersenken.

Nirgends hatte es Sicherheit und Geborgenheit gegeben. Tuyula konnte sich noch lebhaft an ihre ständige Angst und Unruhe erinnern und träumte oft davon.

Mitten in dieser schrecklichen Zeit war auch noch ihre Geschlechtsreife eingetreten, die sie zusätzlich und fast bis an die Grenze belastete. Tuyula merkte, dass sie durch die gewaltigen Hormonschübe nicht nur körperlich, sondern auch mental ohne Übergang eine Schwelle überschritten hatte, die sie viele Dinge auf einmal aus einer anderen Sicht sehen ließ. Sie war zudem sehr schnell und schmerzhaft um einige Zentimeter gewachsen; ihr zierlicher, von einem weichen blauen Flaum bedeckter Körper hatte sich aus der kindlichen Form gestreckt und war kräftiger geworden.

Während der Zeit ihrer Umwandlung hatte sie zeitweise ihre Fähigkeit als Psi-Konverterin verloren.

Es war ein weiterer Schock gewesen, auch noch diese besondere Gabe verloren zu haben, die schon längst zu einem Teil ihres Lebens geworden war.

Doch dieser Zustand war nur kurzzeitig gewesen. Nachdem ihre Hormone nicht mehr verrückt spielten und sie den Großteil der Reife überstanden hatte, kehrten auch die paramentalen Fähigkeiten allmählich wieder zurück. Doch sie reichten noch nicht aus, um ergründen zu können, weshalb Vincent diese Metamorphose durchmachen musste.

»Es ist so schrecklich, Vincent leiden zu sehen«, fügte die Blue hinzu. »Und seinen Anblick ertragen zu müssen ...«

Ihr diskusförmiger, haarloser Kopf mit den individuellen, hübschen roten Maserungen auf der Oberseite neigte sich leicht.

»Wir werden einen Weg finden«, versuchte der Gharrer sie zu trösten. »Heute noch.«

Perry Rhodan 1956: Das Haus der Nisaaru

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