Читать книгу Der Teufel sieht rot - Susann Teoman - Страница 6

Multikulti

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Babyblues?

Davon hatte ich schon gehört. Das war, wenn die Frauen nach der Geburt heulten, oder nicht? Und die schlimmere Version davon nennt man »Wochenbett-Depression«, vermutete, dass die einfach nur länger dauerte. War ja auch gleich, mir, Lisa Teufel, ging es nach der Geburt unserer kleinen Isabelle phantastisch! Babyblues? Dass ich nicht lache! Ich hatte jedenfalls nichts damit zu tun.

Ich hatte geschlafen wie ein Murmeltier und erwachte am folgenden Morgen zwar wund, aber erholt und ungewohnt leichtfüßig. Klar, ich hatte ja auch acht Kilo weniger zu tragen als gestern! Und die hatten hauptsächlich auf meinen Magen und meine Lunge gedrückt.

Bevor ich mir meine Tochter von der Säuglingsstation holen würde, wollte ich zunächst einmal ordentlich frühstücken, da ich seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte. Ich zog mir also gemütlich meinen Morgenmantel über, schlüpfte in meine Pantoffeln und schlurfte ins Frühstückszimmer, wo sich zwei Wöchnerinnen über ihre Geburten unterhielten. Ich nahm mir reichlich Rührei, Schinken, Vollkornbrötchen, zwei Croissants, eine Portion Nutella und eine Tasse Fencheltee. Immerhin hatte ich doch vor, meine Isabelle zu stillen, nicht wahr? Und dass Fencheltee milchbildend ist, weiß doch jeder! Nutella vielleicht nicht, aber ich liebe das Zeug nun einmal, auch wenn ich genau weiß, dass nach dem Verzehr einer satten Portion Nutella ein Zwei-Euro-Stück-großer Pickel meinen derzeit hangargroßen Po zieren wird. Andererseits würden weder Tom noch ich denselbigen in nächster Zeit sehen, also her mit dem Zeugs!

Die frisch gebackenen Mütter saßen allein am großen Frühstückstisch.

»Guten Morgen«, grüßte ich höflich.

Die beiden hoben den Kopf und erwiderten meinen Gruß, fuhren in ihrer Unterhaltung aber fort.

»Ich hatte mir die Wassergeburt anders vorgestellt! Da haben die mich doch ins eiskalte Wasser gelegt, eiskalt, sage ich dir, auch wenn sie dir erzählen, dass das Wasser 27°C warm sei, die lügen! Und ich war zu schwach, um allein wieder aufzustehen. Der Rüdiger wollte ja unbedingt, dass unser Norbert im Wasser zur Welt kommt, damit er ein Schwimmer wird und uns mal olympisches Gold nach Hause bringt, haste Töne? Na, dann bin ich während der letzten Wehen fast zusammengeklappt und habe den Rüdiger mit ins Wasser gezerrt und ihn angebrüllt und gesagt: ›Dann frier du dir hier doch den Arsch ab! Ich will hier raus!‹ Aber in diesem Moment kam auch schon der Norbert, und Rüdiger hat ihn aus dem Wasser gefischt. Nee, Christinchen, ich kann dir sagen, das mache ich nicht noch mal mit!«

Huuu! Schien, als hätte ich noch mal Schwein gehabt!

»Ja, Margot, dat war escht nix! Isch woar in da Wann plötzlisch in Ohnmacht jefallen und da hammse misch usm Wassa jefischt wie ene Wal!« Christine lachte. »Du hätts ma unser Toni sehen solle! Isch hat misch nämlisch zwischen sene Bene jelegt, der war ja mit in de Wann, und als isch dann umjefalle bin, da hättisch en fast ertränkt! Ne, der will ooch kene Wasserjeburt mieh!!«

O ja, das konnte ich voll nachvollziehen, wenn ich Christinchen da so sah, die ungefähr knapp eine Tonne wog. Der arme Toni, der.

Ich schlang mein Frühstück hinunter und lief dann so schnell ich konnte zur Säuglingsstation hinüber.

Ich klingelte, und Hagrid aus »Harry Potter« öffnete mir.

»Guten Morgen!«, grüßte er sanft dröhnend.

Nur dass diese Sanftheit so gar nicht zu einem einsvierundneunzig großen, grimmig aussehenden Kleiderschrank passte. Kein Wunder, dass hier alle Babys schrien, vor dem hätte ich auch Angst gehabt, wenn ich ein Neugeborenes gewesen wäre.

»Ich bin Säuglingspfleger Martin.«

»Lisa Teufel«, murmelte ich verschüchtert.

»Ah, die Mutter von der Isabelle? Die liegt da hinten bei den anderen, ich habe sie gerade gewickelt. Sie können sie mitnehmen.«

»Äh, danke.«

Ich wandte mich den Plexiglaswägelchen zu, auf denen vorne die Karten mit Namen, Körpergröße und Geburtsgewicht der Babys klebten. Blau waren die Karten der Jungs und rosa die der Mädchen. Isabelles Wagen war leer.

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus.

O Gott, ich war erst seit ein paar Stunden Mutter und doch schon eine Rabenmutter! Man hatte mir mein Kind geraubt! Oder Martin, der Höhlenmensch, hatte mein Baby gestern nach dem Essen als Nachtisch verspeist. Meine arme, unschuldige Isa!

Ich sah mich panisch um und durchwühlte den Plexiglaswagen hektisch.

»Was tun Sie denn da?«, grölte Martins Stimme unmittelbar hinter mir.

»HHHHAARR!«, erschrocken sprang ich zurück.

Von meinem Geschrei wurde ein Brüllkonzert aus fünfzehn winzigen Mündern ausgelöst.

»Isabelle ist nicht da«, wisperte ich, um die anderen Kinder nicht zu wecken. Und du hast sie auf dem Gewissen, du verschlagener Neandertaler!

»Natürlich nicht, sie liegt ja auch da drüben.« Verärgert bemühte sich Rübezahl, die Kleinen wieder zu beruhigen. Ich stellte erstaunt fest, dass er ausgesprochen begabt war. Während er sanfte Worte gurrte, tätschelte er einem Kind den Po, gab einem anderen einen Schnuller und stopfte in den Mund eines anderen Babys sachte ein Fläschchen Tee.

Ich sah mich um. Fragend zuckte ich die Schultern.

»Unter der Höhensonne«, half Martin mir geduldig weiter.

»Ach so!« Erleichtert trat ich auf das lila Licht zu, das über einem gut gepolsterten Wickeltisch platziert war.

Tatsächlich, da lagen zwei Babys. Süß waren die. Und welches war nun meins?

Keins davon sah aus wie das, das ich gestern bekommen hatte. Meine Isabelle hatte einen länglichen Kopf, der ein wenig wie eine Mischung aus Banane und Aubergine ausgesehen hatte, gelbviolett mit einer platten Boxernase. Sie hatte außerdem eine dunkle Hautfarbe gehabt und war überall mit diesem ekligen Zeug bedeckt gewesen, der Käseschmiere.

Aber die beiden da hatten runde Köpfchen und hübsche, kleine Stupsnasen.

»Frau Teufel!« Martin, der Babyschreck, stand wieder neben mir.

»Nun sagen Sie mir nicht, dass Sie Ihr eigen Fleisch und Blut nicht wiedererkennen.«

Stimmt. Hatte keinen Schimmer. Ruhig, Lisa Teufel. Ich schwitze. Welches war es denn nun? O Gott, arme Isabelle, was hast du für eine miese, unfähige Mutter.

»Natürlich erkenne ich mein Baby!«, antwortete ich spitz und deutete mit dem Zeigefinger auf das linke.

»Das ist meins!« Hatte in letzter Sekunde die Namensbändchen gesehen.

Martin nickte erleichtert.

»Ja, stimmt. Wissen Sie, Babys verändern sich vor allem in den ersten Tagen unheimlich rasant, aber bisher ist mir noch keine Mutter untergekommen, die ihr Kind trotzdem nicht auf Anhieb erkannt hätte.«

»Klar, habe meins auch sofort erkannt!« Ich griff nach Isabelle, legte sie behutsam in ihr Bettchen und schob es hastig in mein Zimmer.

Kaum zu fassen! Ich war jetzt selbst eine Mutter. Nur dass mir das noch immer nicht wirklich real vorkam. Ich hielt die kleine Isabelle stundenlang in den Armen und betrachtete jedes kleinste Detail an ihr, ihre rosigen, winzigen Fingernägel, den noch weichen Kopf, der gerade einmal meine Handinnenfläche ausfüllte, und die noch leicht geschwollenen Augen.

Was für ein Prachtkind! Und sie hatte kaum noch etwas von einer Aubergine an sich!

Schwester Martin kam herein.

»Alles in Ordnung mit Ihnen beiden?«, erkundigt er sich freundlich.

»Danke, alles bestens.« Ich betrachtete entzückt meine Tochter. Isabelles Haut war rosig, wenn auch noch ein wenig verschrumpelt.

Martin, der meinen skeptischen Blick auf die runzeligen Finger bemerkte, meinte: »Dass die Haut noch nicht so prall ist, liegt an dem geringen Geburtsgewicht. Aber das wird sich schnell ändern, keine Sorge.«

Ich fand meine Isabelle vom ersten Atemzug an phänomenal und vollkommen. Es würde nie mehr einen Menschen geben, der mir näher stand als meine Tochter, das wurde mir mit einem Schlag klar.

»Würden Sie sich auch von mir beim Stillen helfen lassen, oder soll das eine der anderen Schwestern übernehmen?«

O Gott, an diese Möglichkeit hatte ich überhaupt nicht gedacht. Der würde meine Brüste anfassen und sie so positionieren, dass Isabelle daran nuckeln konnte. Der würde sie doch vollkommen zerquetschen!

Neee, oder?

»Äh ... also, Schw ... ich meine, Martin, ja, Sie können mir gerne helfen, kein Problem«, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sagen.

Er erklärte mir, worauf ich achten müsse.

Als er die Tür öffnete, um zu gehen, prallte er gegen Mia.

»Wo ist mein süßes Patenkind?«, strahlte sie.

»Mia!«

»Und, geht es dir gut?«

»Ausgezeichnet!«

Sie betrachtete mich zweifelnd.

»Keine nächtlichen Heulattacken?«

»Quatsch!«

»Hier, ich habe euch etwas mitgebracht.« Sie überreichte mir ein riesiges Paket.

»Was ist da bloß drin? Ein kleiner aufblasbarer Spielgefährte für die Mami?«, neckte ich sie.

»Öffne es einfach.«

Ich zog an der zartrosafarbenen Schleife und öffnete den Deckel.

»Aber das ist ja ...« Atemlos zog ich das Kleid heraus.

»Das ist ja ein Brautkleid!«

»Na ja, zur Geburt vielleicht nicht ganz das Richtige, aber ich dachte, es würde dir womöglich gefallen.«

»Das Kleid ist ... es ist einfach atemberaubend! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen, Ehrenwort!«

Mia strahlte.

Es war champagnerfarben und vorne raffiniert ausgeschnitten. Der Ausschnitt war mit winzigen Kristallen bestickt, die oben dicht aneinander genäht waren und zum Rock hin immer spärlicher wurden, bis am unteren Drittel des Kleides keine Kristalle mehr sichtbar waren, sodass das Kleid aussah, als wäre es kopfüber in Eis getaucht worden.

»Das sind Swarovski-Kristalle. Ich habe das Kleid selbst genäht. Ach ja, hier sind die passenden Schuhe.«

Ich umarmte Mia erneut.

»Es ist wunderschön, danke!« Gerührt küsste ich sie auf die Wange.

»Was ist denn hier los?« Benny und Karl traten ein.

Benny hielt ein Dutzend rosa und weiße Ballons in der Hand und Karl ein überdimensionales Plüschtier.

»Ist alles okay mit dir, mein Schatz?« Mama setzte sich zu mir ans Bett und streichelte meinen Lockenkopf, der ihrem so sehr ähnelte.

»Darf ich?« Behutsam nahm sie mir Isabelle ab und wiegte sie in den Armen.

Den ganzen Tag über kamen Besucher und brachten Geschenke über Geschenke. Mama hatte für Isa einen Kinderwagen gekauft, den sie aber nicht mit ins Krankenhaus gebracht hatte.

Abdul und Angela hatten ihr einen winzigen Burberry-Pullover geschenkt, Tatjana Tastenko, die zu meinem Erstaunen auch auftauchte, hatte mir eine mächtige Portion Lindt-Schokolade überreicht, und fast jeder hatte Blumen mitgebracht.

Nur Tom fehlte noch, aber ich war so glücklich, dass es mich kaum störte.

Als es dämmerte und alle fort waren, tauchte Tom dann endlich auf. Er trug einen Arm voll Freesien, meine Lieblingsblumen, die den Raum sogleich mit einem herrlichen Sommerduft erfüllten.

»Hallo, Schatz!« Er küsste mich auf die Nasenspitze.

»Hallo! Du hast sie alle verpasst, Tom, alle. Wo hast du nur gesteckt?«, begrüßte ich ihn ein wenig enttäuscht.

»Ich hatte noch einiges in der Firma zu erledigen, weißt du, damit ich nach eurer Entlassung nicht arbeiten muss, ackere ich jetzt umso härter.«

»Verstehe. Na gut, wenn du dafür zu Hause für uns da bist ...«

»Klar doch!« Er verpasste mir einen sanften Nasenstüber, zog seine Schuhe aus und legte sich zu mir aufs Bett.

Ich kuschelte mich in seine Arme, er küsste mein Haar.

Der Tag war schön, aber anstrengend gewesen. Ich war müde und döste ein.

»Lisa?«

»Hm?« Er hatte mich jäh aus dem Schlaf gerissen.

»Du hast noch nicht ›ja‹ gesagt.«

»Was meinst du?«, fragte ich verständnislos.

»Ich habe dich gebeten, meine Frau zu werden, aber du hast nicht geantwortet.«

»Ach so.« Ich kuschelte mich zurück in seine Arme.

»Wie, ach so? Und sonst sagst du gar nichts?« Empört setzte er sich auf.

Ich lachte. »Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet, dass ich ihn gerne auskosten möchte, wenn du erlaubst.«

Ich schwieg behaglich und machte es mir wieder in seinen Armen gemütlich.

»So! Du darfst mich jetzt noch einmal fragen«, gewährte ich gnädig.

»Was?« Empört richtete er sich auf.

»Also, du kannst in Anbetracht der Umstände ja wohl nicht verlangen, dass ich mich an jedes deiner Worte erinnere, nicht wahr? Immerhin hatte ich Wehen!«

Tom knirschte mit den Zähnen.

»Lisa, ich liebe dich. Bitte heirate mich.«

Ich schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich erinnere mich zwar nicht an alles, aber auf der Hochzeit hat das besser geklungen.«

Tom räusperte sich, um Geduld bemüht.

»Lisa, ich liebe dich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Ich kann ohne dich nicht leben. Willst du mir die große Ehre erweisen und meine Frau werden?«

Ich legte den Kopf schief. »Schon seeeeehr gut! Aber ein Kniefall fehlt da leider noch.«

Tom knirschte mit den Zähnen, aber seine Augen funkelten vor Vergnügen, und er fiel übertrieben theatralisch auf die Knie.

»Also willst du mich nun heiraten, LIEBSTE Lisa?«

Ich stellte mich vor ihn, beugte mich hinab, küsste ihn verführerisch, sah ihm in seine glänzenden Augen und flüsterte ihm ins Ohr: »Was dachtest du denn? Natürlich möchte ich dich heiraten.«

Tom stand auf und küsste mich so heftig, dass ich gegen das Bett taumelte.

»Autsch!«, jaulte ich. »Nicht so stürmisch, ich habe erst gestern ein Kind bekommen und muss noch ein Weilchen mit Glacéhandschuhen angefasst werden.«

»Tut mir leid.«

Er half mir wieder ins Bett und griff in seine Hemdtasche.

»Möge unsere Ehe so lange halten wie dieser Stein.« Feierlich nahm er meine Hand und zog mir einen Diamantring über den Finger.

»Amen«, murmelte ich beeindruckt. Was für ein Prachtstück!

Nicht Tom, der natürlich auch, ich meinte den Diamanten.

Oval geschliffen, ein Hauch von Rosa, aber in mattiertes Weißgold gefasst. Sehr hübsch! Und von Cartier! Den Ring hatte ich mein halbes Leben läng im Schaufenster angehimmelt. Womit hatte ich nur so viel Glück verdient? Selig schlief ich in Toms Armen ein.

Am nächsten Morgen war mein Verlobter verschwunden. Geblieben waren lediglich mein etwas dümmliches Grinsen und das Gefühl, vor lauter Glück überzuschnappen. Isabelle hatte diese Nacht bei uns verbracht, sie hatte friedlich in ihrem Plexiglasbettchen unter der dicken Daunendecke geschlummert und wimmerte erst jetzt leise vor sich hin.

»Guten Morgen!«, begrüßte mich eine resolute Schwester.

»Morgen!«, gähnte ich herzhaft und räkelte mich genüsslich.

»So, dann mal hopp hopp aus dem Bett, junge Frau, wir wollen das gute Stück denn ma frisch beziehen! Oh, was ist denn das? Hat die Kleine denn schon gefrühstückt?« Schwester Hanna sah sich nach der greinenden Isabelle um.

»Gefrühstückt?« Ich sah sie verständnislos an.

»Na, haben Sie sie schon gestillt?«

» Gestillt ?«, erkundigte ich mich erneut.

»Na kommse ma her! Und du auch, kleine Maus!« Schwester Hanna, ganz eine kölsche Frohnatur, hob Isa mit geübtem Griff aus dem Wägelchen und legte sie in mein Bett.

»Machense ma Ihre Brust frei, dann legen Sie sich so hin, dass die Kleine dran trinken kann, alles verstanden?«

Ich nickte ein wenig beklommen. Eine Bekannte hatte mir erzählt, dass sie beim Stillen enorme Schmerzen gehabt hatte und daher auf die Flasche umgestiegen sei. Sie sagte, das wäre ein Gefühl, »als wenn jemand dir Wäscheklammern an die Nippel hängt«. O Gott! Und die Frau in der Lenorwerbung sah dabei immer so glücklich aus!

Noch bevor ich meine Brust richtig platziert hatte, klebte Isa auch schon an ihr und nuckelte hingebungsvoll.

Huch! Hm. Nö. Da tat nix weh. Im Gegenteil. Das war sogar irgendwie ein schönes Gefühl. Warm. Und man fühlte dabei eine unheimliche Zärtlichkeit in sich aufsteigen.

»Kommt denn da schon was raus?«, fragte ich besorgt. Ich hatte mal gelesen, dass die Milch erst drei Tage nach der Geburt einschießt.

»Lassense mich ma gucken.« Schwester Hanna drückte gekonnt auf meine Brust.

»Wird nicht mehr lange dauern. Trinken Sie viel Fencheltee, Milch und Malzbier. Dann wird’s schon werden.«

Nach dem Frühstück, als Isa wieder auf der Säuglingsstation war, hoffte ich auf weiteren Besuch, aber niemand kam. Gelangweilt blätterte ich eine Zeitschrift durch, ging ans Fenster und schnüffelte an den Blumen, die die breite Fensterbank zierten.

Schließlich hob ich meine Hand und beobachtete, wie sich das Licht der Sonne in meinem wunderschönen Verlobungsring brach.

Auch das wurde mir schnell wieder langweilig.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Schwester Martin erschien mit einer Frau in einem Rollstuhl, die ganz offensichtlich in den Wehen lag.

»Frau Teufel, ich habe Ihnen eine Zimmergenossin mitgebracht«, erklärte er, als ob die Ärmste auf eine, Stippvisite vorbeigekommen wäre.

Die Frau stöhnte und biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszuschreien. Mensch, die Arme! War ich vielleicht froh, das alles hinter mir zu haben!

Schwester Martin machte einer älteren, schwarz gekleideten Dame Platz, die der Schwangeren strenge Worte zuflüsterte und drohend mit dem Zeigefinger hin- und herwackelte.

Wüsste zu gern, was die Alte da eben gesagt hatte.

Sie räumte das Köfferchen aus, das Martin mit hineingestellt hatte.

Niemand beachtete mich, und ich fand das Timing auch nicht gerade passend, um mich vorzustellen.

Wenigstens kam etwas Leben ins Zimmer. Ich setzte mich auf die Bettkante und beobachtete, wie die Alte der Frau, die anscheinend ihre Tochter war, über den Kopf strich und sie streng ermahnte, wenn sie sich anschickte, zu schreien.

Sah aus, als würde sie ihrer Tochter verbieten, einen Ton von sich zu geben. Na, so ein Unsinn! Wo doch jeder weiß, dass lautes Schreien den Muttermund und den Gebärmutterhals öffnet. So würde sie es während der Geburt doch nur schwerer haben. Jemand musste das der Frau doch sagen!

Verzweifelt versuchte ich, Martins Blick aufzufangen, der ruhig das Geschehen beobachtete. Warum sagte dieser Einfaltspinsel denn nichts?

Martin sah mich endlich an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Warum? Er legte warnend den Zeigefinger an die Lippen.

So’n Quatsch! Verbieten lassen würde ich mir gar nichts.

»Lassen Sie Ihre Tochter doch schreien, das wird ihr bei der Geburt helfen«, rief ich schließlich verzweifelt.

Die schwarzen Augen der alten Frau blickten mich drohend an, dann kam sie wild gestikulierend und böse schimpfend auf mich zu.

Martin zuckte gleichmütig die Schultern.

»Mama, ist ja gut, sie hat es nur nett gemeint.« In einer Wehenpause versuchte die Frau, ihre Mutter zu beruhigen.

»Nicht wahr? Sie hatten es doch nur gut gemeint?«

Ich nickte beklommen.

»Warum versuchen Sie denn, Ihre Schmerzen zu unterdrücken?«

»Es gilt bei uns als unschicklich, bei der Geburt zu schreien. Eine Frau, die ihren Schmerz zeigt, hat keine Selbstbeherrschung«, erklärte sie und atmete heftig, als eine neue Wehe sie überkam.

»Bei uns?«

»In der Türkei.«

»Ah.«

So war das also. Ich kannte ja bisher nicht allzu viele Türken, aber die, die ich kannte, hätten auf alle Fälle auch geschrien. Ich warf einen ängstlichen Blick auf die Mutter, die mich noch immer böse anguckte. Martin, der abwartend hinter dem Rollstuhl gestanden hatte, fragte: »Können wir ins Wehenzimmer gehen?« Die Mutter ging vor, und Martin rollte auch die Frau hinaus, dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ich habe versucht, Sie zu warnen, Frau Teufel. Frau Akbal hat hier schon zwei Kinder zur Welt gebracht, und wir haben alle gelernt, sie und ihre Sitten zu respektieren. Sie sehen ja, wie es endet, wenn man sich einmischt.« Er winkte mir zum Abschied und schloss dann leise die Tür.

Ja, das hatte ich genau zu spüren bekommen. Mist, verdammter. Da will man nett sein, und was passiert? Man bekommt voll eins auf die Nuss.

Sollte die Ärmste eben ihre Schmerzen unterdrücken. Mir doch egal.

Ich holte mir Isabelle und schmuste mit ihr, bevor wir zwei ein Schläfchen hielten. Ein markerschütternder Schrei weckte mich. Waswarnlos?

Ich setzte mich vorsichtig auf. Da! Noch einmal! Langgezogen und durchdringend. Ich klingelte nach einer Schwester. Martin erschien.

»Da schreit einer!«, erklärte ich.

»Sie liegen ja auch direkt neben dem Kreißsaal, und der ist momentan voll«, erklärte er seinerseits.

»Aber so können wir nicht schlafen.« Und ich war doch so müde.

»Alle anderen Zimmer sind leider belegt, tut mir leid.«

Martin entschwand wieder.

Ich gab Isa die Brust, um das Weinen abzustellen, und versuchte, wieder zu dösen.

»Aaaaaaaaaaaaaa AAAAAAAAAAAAAAAAAAARRR RRRRR!«

Meine Güte, hatte ich auch so gebrüllt? Die armen Frauen!

Na ja, immerhin waren es Leidensgenossinnen, ich beschloss also, tolerant zu sein.

Isa gab ein zufriedenes Bäuerchen von sich und schlief ein, sobald ich sie wieder in ihr Bett gelegt hatte. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, und glitt für eine Weile in eine Art Halbschlaf, in dem ich davon träumte, Fünflinge zu bekommen. Ich schrie und merkte, dass der Schrei gar nicht von mir kam. Schweißgebadet setzte ich mich auf. Der Schrei war aus dem Kreißsaal gekommen und hatte Isabelle erneut geweckt. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr: Halb zwölf. Beinahe Mitternacht.

Ich legte Isa wieder an und fuhr sie dann zurück ins Babyzimmer. Ich war todmüde. Musste unbedingt schlafen. Ich hatte meine Ohren gerade notdürftig mit Klopapier zugestopft und es mir in meinem Bett gemütlich gemacht, als das Licht plötzlich anging. Stimmen erfüllten den Raum. Erschöpft drehte ich mich um. Da war sie wieder, die junge Türkin. Eine der jüngeren Hebammen half ihr ins Bett, und ihre Mutter, die mich keines Blickes würdigte, setzte sich zu ihr auf die Bettkante und bürstete ihr Haar zurück. Dann küsste sie sie auf die Stirn und ging leise.

Die Hebamme kam herein, sie hatte ihr etwas zu essen und die obligatorische Kanne Fencheltee auf das Nachttischchen gestellt.

»Hier sind die Tabletten für Ihre Nachwehen, Frau Akbal. Wenn sie nicht ausreichen, dann klingeln Sie doch bitte, wir geben Ihnen dann etwas Stärkeres. Gute Nacht«, verabschiedete sie sich.

Frau Akbal lehnte sich müde zurück. Ich bemerkte erstaunt, dass sie ohne den riesigen Bauch eine eher kleine, zierliche Person war mit hellgrünen Augen und kastanienbraunen Löckchen.

»Ich heiße Lisa«, durchbrach ich die Stille.

»Ich bin Leyla.« Sie lächelte erschöpft.

»Und, wie war es?«, versuehte ich einen Smalltalk.

»Zuletzt dachte ich, ich muss sterben. Aber dann war der Kleine auch schon da.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.«

Ich sank in meine Kissen zurück. Die Müdigkeit übermannte mich, und ich döste ein.

»Lisa?«

Ich schreckte auf. »Hm?«

»Du schnarchst doch nicht?«

»Was?«

»Ich werde aggressiv, wenn jemand schnarcht, während ich versuche, zu schlafen, deshalb. Also, schnarchst du?«

Ich wurde rot. Okay, weil ich in meiner Schwangerschaft so viel zugenommen hatte, war ich des Öfteren von meinem eigenen Schnarchen geweckt worden. Na und? Jetzt war ich ja nicht mehr schwanger. Aber ich hatte bestimmt noch so an die zwanzig Kilo mehr drauf. Ob mich das wohl auch zum Schnarchen brachte?

»Nein, ich schnarche nicht«, log ich.

»Dann ist es ja gut.« Leyla löschte das Licht.

Ich drehte mich auf die Seite. Ich würde einfach versuchen, mir selbst zuzuhören und nicht zu schnarchen. So schwer konnte das ja wohl nicht sein, nicht wahr?

Ich atmete tief ein und aus und merkte, wie mich der Schlaf überfiel.

»Ohhhhhhh.«

Ein Stöhnen weckte mich, kaum, dass ich eingeschlafen war.

»OOOOOOOOOOHHHHHHH!«

Bekam Leyla etwa noch ein Kind?

Ich knipste das Nachtlicht an.

»Alles okay?«, fragte ich verschlafen.

»Das sind nur die Nachwehen«, klärte sie mich mit schweißglänzender Stirn auf.

Ich hatte auch welche gehabt, natürlich. Aber nicht so starke, dass sie mich vom Schlafen abgehalten hätten.

»Je mehr Kinder man bekommt, desto stärker werden auch die Nachwehen«, klärte sie mich auf.

»Nimm doch einfach eine Tablette«, schlug ich vor.

Das tat sie auch und löschte dann wieder das Licht.

»OOOOOOOOOH!«

Darauf folgte wieder Stille, in der ich eindöste.

»OOOOOHH!«

Ich schreckte jäh aus dem Schlaf auf. »OOOOOOOHH!«

Ich drückte mir ein Kissen auf den Kopf. Doch ich hörte sie noch immer stöhnen.

Nach einer Stunde setzte ich mich wütend auf und drückte den Rufknopf. Die Nachtschwester erschien. »Wer von Ihnen hat mich gerufen?«

»Ich«, gab ich zur Antwort, »aber Frau Akbal hier ist die mit den starken Schmerzen. Bitte geben Sie ihr doch etwas gegen die Nachwehen.« Damit sie endlich ruhig ist und mich schlafen lässt, schob ich in Gedanken hinterher.

Die Schwester betrachtete Leylas schmerzverzerrtes Gesicht und kam dann mit einer Injektion zurück.

»Es wird gleich besser, keine Sorge«, versprach sie und verließ das Zimmer. Ich löschte erleichtert das Licht.

»Lisa?«

Entnervt warf ich die Augen gen Himmel.

»Was?«, murmelte ich unfreundlich.

»Ich kann jetzt noch nicht schlafen. Kannst du bitte mit mir reden?«

Ich drehte mich zu ihr um.

»Worüber denn?«

»Egal, Hauptsache, wir unterhalten uns. Hast du einen Sohn oder eine Tochter bekommen?«

»Eine Tochter. Sie heißt Isabelle.«

»Mein Sohn heißt Adem, wie der erste Mann. Ich habe noch einen Sohn, der ist dreizehn, und eine sechzehnjährige Tochter«, erzählte sie stolz.

»Wie schön. Dein Mann ist sicher sehr stolz auf dich. War er bei der Geburt dabei?«, erkundigte ich mich höflich.

»Nein, das schickt sich doch nicht. Das ist Frauensache. War dein Mann denn dabei?«

»Natürlich.« Ich verschwieg, dass Tom in Ohnmacht gefallen war. Das ging sie ja nun wirklich nichts an.

»War es eine schwere Geburt?«, bohrte sie weiter.

»Keine Ahnung, die Hebammen sagten, es sei eine leichte Geburt gewesen.«

»Du Glückliche! Adem war meine schwerste Geburt. Er wog vier Kilo und dreihundert Gramm.«

Ein Elefantenbaby!

»Ich hatte Schwangerschaftsdiabetes«, erläuterte sie. »Da sind die Babys immer so dick. Ich selbst habe nur acht Kilo zugenommen.«

Ich spürte selbst im Dunkeln, wie mein Hintern beinahe das gesamte Bett ausfüllte und meine Oberschenkel schwabbelten. Wie viel ich wohl noch zu viel draufhatte?

Während ich meinen eigenen Gedanken nachhing, ertönte aus dem Nebenbett plötzlich ein lautes Schnarchen.

Gott sei Dank! Ich schloss die Augen, um endlich in meine wohlverdiente Nachtruhe zurückzufinden.

Ein Greinen weckte mich.

Ich öffnete die Augen.

Da stand Schwester Martin mit Isas Wagen vor mir.

Draußen dämmerte es.

»Frau Teufel, es tut mir ja wirklich leid, aber ich musste die Kleine zu Ihnen bringen. Sie hat alle Babys auf der Säuglingsstation geweckt. Wir konnten sie einfach nicht beruhigen. Ich denke, sie hat Hunger. Würden Sie sie bitte stillen?«

Zu meiner Überraschung hatten meine Brüste sich scheinbar über Nacht verdoppelt. Sie fühlten sich hart an, wie Ballons, die man mit zu viel Wasser gefüllt hatte.

Als ich Isa diesmal anlegte, konnte ich hören, wie sie laut schluckte.

Eine Sekunde lang löste sie sich überrascht von meiner Brust, und ich stellte erstaunt fest, dass die Milch einfach so herausschoss, und zwar mitten in ihr Gesichtchen.

Sie schrie wütend, und ich beeilte mich, sie wieder anzudocken.

»Geht das nicht auch leiser?«, ertönte es übelgelaunt aus dem Nachbarbett.

Ha! Die hatte vielleicht Nerven! Nachdem ich ihretwegen so müde war!

Ich kuschelte mich wieder in meine Kissen. Isabelle nuckelte friedlich weiter, dann ließ sie mit einem plötzlichen Schmatzer los und war sofort eingeschlafen. Ein Milchtropfen rollte aus ihrem Mündchen auf das weiße Laken.

Ich schlief glücklich ein.

»Guten Morgen! Zeit zum Frühstücken, die Betten zu machen und das Gesicht zu waschen!«, begrüßte uns die Morgenschwester nach zwanzig Minuten gut gelaunt.

Leyla brummte unfreundlich, und auch mir war danach zumute, der Schwester einfach eine runterzuhauen.

So aber erwiderte ich den Gruß verhalten, hievte mich aus dem Bett und schob Isa gähnend ins Babyzimmer, wo man sie mir gütigerweise abnahm.

»Oh, Ihre Tochter hat Aa gemacht. Sie sollten sie lieber erst wickeln«, empfahl mir die Säuglingsschwester.

»Wickeln?« Das kannte ich. Hatte ich schon mal gehört. Nur noch nie gemacht. Aber so schwer konnte das ja nicht sein.

»Hat das nicht Zeit, bis ich einen Kaffee getrunken habe?«

»Bis dahin hat die Kleine sicher schon einen wunden Po.«

Ich seufzte.

»Sie finden alles Nötige dort drüben neben den Wickeltischen.«

Die Schwester deutete mit dem Finger nach rechts.

Ich nickte ergeben. Also erst wickeln, dann Kaffee.

Ich legte Isa sachte auf den Wickeltisch. Dann sah ich mich verstohlen um. Die Mama am Wickeltisch neben mir war schon weitaus geübter. Gekonnt schaltete sie das Heizlämpchen über dem Wickeltisch an, öffnete die Druckknöpfe des Strampelanzuges und entfernte die Windel. Dann feuchtete sie einen Wegwerflappen an, wischte ihrem Sprössling den Po, tupfte ihn ab, ölte ihn ein und verschloss die Windel. Danach zog sie ihm den Strampler wieder an und legte das Baby zurück in sein Wägelchen.

»Das können wir auch«, flüsterte ich Isa entschlossen zu.

Strampelhöschen ausziehen, so, hier auf, da auch, das war kein Problem. Die Windel öffnete ich auch, ein Kinderspiel!

Ich nahm mir einen Papierlappen, feuchtete ihn an und wischte Isabelle damit ab.

Sie brüllte wie am Spieß. Erschrocken sprang ich zurück. Was war los?

Die junge Säuglingsschwester war an mich herangetreten.

»Haben Sie den Lappen mit kaltem Wasser angefeuchtet?«

Huch. Könnte hinkommen.

»Nehmen Sie das nächste Mal besser warmes Wasser«, empfahl sie mir.

Ich trocknete Isas winzige Pobacken ab und ölte sie ein. Dann legte ich ihr eine Windel unter, klebte sie mithilfe der Klebestreifen fest und hob sie stolz in die Höhe.

Isa. Mit nacktem Po. Ohne Windel.

Denn die war ihr an den mageren Beinchen hinabgerutscht und wieder auf den Wickeltisch gefallen.

Ein riesiger Schatten fiel auf Isa und mich.

»Hat Ihnen keiner gezeigt, wie das geht?«, fragte Martin mitleidig.

Kleinlaut schüttelte ich den Kopf.

»Ich zeige es Ihnen jetzt, und dann wissen Sie für die Zukunft Bescheid, ja?«

»Okay.« Dankbar machte ich für Pfleger Martin Platz.

Er legte Isabelle erneut hin und erklärte: »Sehen Sie die Comicfigur in der Mitte der Windel? Sie versuchen, das Klebeband so festzumachen, dass das Motiv etwa in der Mitte ist. Damit es dem Baby nicht zu eng wird, stecken Sie währenddessen einen Finger unter den Klebestreifen. So bleibt die Windel dran, aber das Baby kann sich noch genug bewegen. Alles verstanden?«

Er zog Isa gekonnt an und legte sie in ihr Bettchen, wo sie sogleich einschlief.

»Gehen Sie jetzt ruhig etwas essen.« Martin klopfte mir freundlich auf die Schulter.

Leyla war nicht im Frühstückszimmer, wie ich erleichtert feststellte. Ich trank genüsslich Kaffee, aß meine Nutellastullen und trottete dann mit einer frischen Kanne Fencheltee ausgerüstet zurück zu meinem Bett. Ich stutzte, als ich vor der Tür stand. Laute Stimmen drangen aus dem Zimmer, in dem ich so gerne ein Nickerchen gemacht hätte. Ich öffnete die Tür, und verbrauchte Luft stürzte auf mich ein. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, weil mir plötzlich schwindelig wurde. Ich zählte elf Personen, sieben Erwachsene, der Rest Kinder in verschiedenen Altersstufen, mit Dreirädern, in Kinderwagen oder auf Rollerblades, alle herumwuselnd und schreiend. Neben Leyla in einem der typischen Plexiglasbettchen lag ihr Sohn: ein fetter Junge mit dichten schwarzen Haaren und kristallblauen Augen. Süß war der! Aber echt riesig. Ich schauderte bei dem Gedanken, ein solches Mammut gebären zu müssen.

Vier der sieben Erwachsenen waren Frauen, sie saßen alle laut schnatternd um Leylas Bett herum, während die Männer sich in den hintersten Winkel des Raumes zurückgezogen hatten und dort aussahen, als könnten sie nichts miteinander anfangen.

Ich grüßte höflich in die Runde und wollte das Fenster öffnen.

Entsetztes Rufen aus fünf Mündern hielt mich davon ab.

»Was machst du da?«, fragte mich Leyla scharf.

»Ich will das Fenster öffnen.«

»Aber siehst du denn nicht, dass hier Babys im Zimmer sind?«

Doch, klar sah ich die. Aber waren das nicht auch menschliche Wesen? Brauchten die nicht auch Sauerstoff?

»Draußen scheint die Sonne, und hier sind zu viele Menschen und zu wenig Sauerstoff. Es stinkt hier!«

Leyla schnappte nach Luft und sagte wütend etwas auf Türkisch zu ihren Freundinnen.

Eine sah mich kalt an und spie: »Du sein eine NAZI.«

Was, weil ich ein Fenster aufmachen wollte?

Ich tat es trotzdem.

Sie beobachteten mich böse.

Eine der Frauen war anscheinend um einen Themenwechsel bemüht und packte etwas aus einer Tüte. »Hier, für deine Milch ist das sicher gut. Döner mit Cacik.«

Ja, und Zwiebeln waren auch dabei, das konnte ich genau riechen. Leyla würde davon so todsicher Blähungen bekommen, wie ich eine Teufelin war.

Die Sonne schien auf mein Bett, und ich versuchte zu schlafen.

»Frau Teufel?«

»Hm?« Schlaftrunken richtete ich mich auf.

»Ihre Tochter hat wieder Hunger.« Pfleger Martin stand mit Isa neben meinem Bett.

Ich wollte sie gerade stillen, als ich bemerkte, wie still es wieder geworden war. Alle elf Besucher waren noch da. Sie starrten mich an, die Frauen böse und drohend, die Männer neugierig.

Ich wurde rot. »Ich gehe ins Stillzimmer.«

»Ja, tu das.« Leylas Stimme klang erleichtert.

Im Stillzimmer war die Luft frisch und duftete angenehm süßlich nach Milch. Ich entschied mich für einen Schaukelstuhl, auf den die Sonne schien, nahm Isa in den Arm und gab ihr die Brust. Dann legte ich sie zurück in ihr Wägelchen und schlief, tief in die weichen Polster des Schaukelstuhls gekuschelt, ein.

Als ich die Augen aufschlug, merkte ich, dass es dunkel geworden war.

Gähnend schob ich Isa ins Babyzimmer und taumelte müde in mein Krankenzimmer zurück.

Es war kaum zu fassen, aber Leyla hatte tatsächlich noch immer Besuch. Ja wollten die denn hier übernachten? Gegen elf Uhr waren wir endlich wieder allein. Endlich!

Endlich Ruhe! Endlich ungestört schlafen!

Obwohl ich im Tagesverlauf ein paarmal eingenickt war, konnte man das kaum Schlaf nennen. Hier ein paar Minuten, da eine halbe Stunde. Ich freute mich daher umso mehr auf eine ungestörte Nachtruhe.

In einigermaßen entspannter Atmosphäre aßen Leyla und ich zu Abend, und ich las noch ein paar Zeilen, bevor ich mein Licht löschte und »Gute Nacht!« wünschte.

Gerade hatte ich es mir in meinem Bett gemütlich gemacht, da ertönte Leylas Stimme: »Also, mein Adem hier war wirklich die schwerste Geburt, die ich hatte. Ich dachte, er reißt meine Scheide gleich mit heraus.«

Leylas Vaginalareal interessierte mich nicht im Geringsten. Ich stellte mich schlafend und atmete ruhig ein und aus, was sie aber nicht im Mindesten daran hinderte, ungehemmt über ihr Sexualleben und die Geburten ihrer drei Kinder zu berichten.

Es wurde zwölf, eins, zwei, drei.

Als ich im Begriff war, aus dem Bett geradewegs auf Leylas Brust zu springen, um sie mit meinen Kissen zu ersticken, hielt sie den Mund. Endlich konnte ich schlafen! Und ich war sooooo müde!

Ich brauchte eine weitere Stunde, bis ich meine gestressten und vor Aggression zitternden Nerven so weit unter Kontrolle hatte, dass ich endlich schlafen konnte.

Ein schmaler Lichtstrahl fiel ins Zimmer, als Martin flüsterte: »Frau Teufel, Isabelle hat wieder Hunger.«

Meine Tochter trank bis fünf Uhr, und dann nickten wir beide zu Tode erschöpft ein.

Um sechs Uhr weckte uns die Morgenschwester, die fröhlich verkündete: »Frau Teufel, Ihr Kind hat heute die U2, und Sie haben einen Termin bei der Gynäkologin. Also schnell, schnell aufgestanden!«

Ich hätte ihr am liebsten ein nasses Handtuch gegen die Wange geklatscht.

Aber das wäre zu anstrengend gewesen. Also mühte ich mich aus dem Bett, fuhr Isa ins Babyzimmer und torkelte zum Frühstück, um ohne nennenswerten Appetit ein halbes Brötchen mit irgendetwas drauf, an das ich mich nicht einmal mehr erinnere, das aber sehr wahrscheinlich Nutella war, hinunterzuwürgen.

»Sieht alles wunderbar aus!«, lobte die Gynäkologin mich nach meiner Untersuchung.

Auch der Kinderarzt war mit Isabelle zufrieden.

»Sie hat zwar wenig Gewicht, aber gerade diese Babys holen schnell auf«, beruhigte er mich.

»Haben Sie eine Nachsorgehebamme?«

»Ja, glücklicherweise habe ich mich in letzter Minute noch um eine gekümmert.«

»Sehr gut! Wenn alles gut geht, können wir Sie dann in ein bis zwei Tagen entlassen.«

Ich war zu ausgelaugt, um mich wirklich zu freuen. Ich wollte nur noch ins Bett. Als ich mich jedoch meinem Zimmer näherte, hörte ich fremdländisches Stimmengewirr.

»O nein!« Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Bitte bitte nicht schon wieder eine Invasion! Ich hatte wirklich viele sehr nette Freunde, aber keiner von denen nahm eine Hausbesetzung in der gynäkologischen Abteilung eines Krankenhauses vor, wie Leylas Bekannte. Die hätten sich hier glatt einquartiert, wenn das ginge.

Ich öffnete die Tür, und ein atemberaubender Geruch nach abgestandener Luft schlug mir entgegen. Mir wurde schlecht.

Ich fühlte mich beschissen.

Ich kramte mein Handy aus der Tasche meines Bademantels, wählte Toms Nummer und heulte: »Hol mich sofort hier raus!«

Der Teufel sieht rot

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