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ОглавлениеInspirationen, Ressourcen und Potenziale
Ideen und Visionen entstehen nicht aus dem Nichts: persönliche Erfahrungen, lange reifende Erkenntnisse und – nicht zu unterschätzen – Zeiten der Muße sind Geburtshelferinnen. So erging es auch uns Gründerfrauen von KISS.
Nicht erst mit den neueren, erhellenden Erkenntnissen der Hirnforschung hinterfrage ich, wo meine Inspirationen für die verschiedensten beruflichen und persönlichen Neuausrichtungen ihren Anfang nahmen. Wie ist es möglich, dass unglaublich viele Ideen zu einem Projekt verschmelzen, mit einiger Überlegung gebündelt zur Tat motivieren und dann die Kraft zum Durchhalten geben? Was mir stets hilft, meine Ideen und Gedanken zu klären, ist ein Blick in die Geschichte (als ehemalige Geschichtsstudentin!) und in meine Herkunft – in meine eigene und die von historischen Persönlichkeiten, in mich faszinierende Mythen des Altertums wie in den Zeitgeist6 einer Epoche. Für mich steckt eine tiefe Wahrheit im Ausspruch: »Zukunft braucht Herkunft.«7
Allgemeine Überlegungen zu Visionen und Pionierleistungen sind sicher hilfreich. Letztlich entstehen neue Modelle durch ein lebenslanges in sich Hineinhören. Immer tauchen scheinbar kleine Ereignisse auf, die den nötigen Kick und Mut geben und das bisherige Erfahrungswissen stärken. Meine kleinen Kicks finde ich in ein paar wenigen, sehr prägenden Erlebnissen, die mich mein langes und gesundes Leben begleiten und stützen. Meine Quellen lagen in der Jugend in Elternhaus und Schule und sind nun, im reifen Alter, eher bei empirisch-wissenschaftlichen Ansätzen von Soziologen angesiedelt.
Prägend waren Philosophien aus Altertum und Mittelalter. Auch wenn Berichte erst viel später auf- oder nachgezeichnet wurden, es vielleicht Legenden sind, ist es für mein Empfinden in gewisser Weise eine andere Form von Realität und eine große Inspirationsquelle.
Wertewandel8 | Gerade für die Umsetzung eines zivilgesellschaftlichen Projekts haben die tiefen Beweggründe der Initianten meiner Meinung nach einen entscheidenden Einfluss: Die Mitwelt spürt bewusst oder unbewusst, ob der betreffende Mensch aus tiefer innerer Überzeugung handelt oder ob das Streben nach Macht und Prestige die Triebfedern sind. Darum ist es mir wichtig, meine Inspirationsquellen und Beweggründe für das Modell KISS zu erforschen und zu teilen.
Wir leben in einer revolutionären Zeit, in der die großen Veränderungen weniger von den Eliten universitärer Wissenschaft, von globalen Wirtschaftsführern oder von einer vom Wahlzyklus abhängigen Politik kommen, sondern aus der Bevölkerung, aus der »Garage der Eltern«, wo viele die Gesellschaft umwälzende Entdeckungen und Modelle ihren Anfang nahmen und nehmen.
Ideengeschichte hat mich stets fasziniert: Wie, wann und wo entstehen neue Erkenntnisse? Wann finden Quantensprünge in der Menschheitsgeschichte statt? Was sind die Auslöser? Welche Ideen, Persönlichkeiten und Ereignisse bewegten die Menschheit? Das Geschichtsstudium hat mir in dieser Hinsicht wenig gebracht; es war eher das Verständnis, dass Geschichte für unsere Gegenwart und Zukunft prägend sein kann. Und die Erkenntnis, dass nie etwas aus dem Nichts entsteht, dass auch einzelne Menschen einen geradezu unglaublichen Wandel in Gang setzen können. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass einzig aus kleinen, engagierten Zellen der Gesellschaft größere Wandel initiiert werden und sich dann auf immer mehr solche Zellen ausweiten, die häufig im Verbund die Bewusstseinsänderungen ermöglichen und in Taten umsetzen. Ohne Wertung ein paar Beispiele: Urban Gardening, Transition Towns,9 Social Media, Commons (Wiedergeburt des Allmend-Gedankens) und nicht zuletzt Nachbarschaftshilfe.
Alltagstauglichkeit | Praxisferne, nicht der Mitwelt dienende Projekte haben mich nie interessiert. Deshalb fasziniert mich auch die Erkenntnis, dass »Citizen Science«10 eine große Bedeutung hat, nicht nur die Wissenschaftlichkeit. Ganz »normale« Bürger haben enormes praktisches Wissen, für den Alltag sehr wertvolles Wissen.
Praxisnähe und einfache Umsetzungsstrategien wollte und will ich stets in scheinbar kleine Teilbereiche des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens einfließen lassen. Dies aus der Gewissheit heraus, dass »Kleines« große Effekte auf ganz anderen Ebenen haben kann. So löste
z.B. mein Engagement für verursachergerechte Abfallentsorgung bei vielen Firmen wegen des geänderten Kaufverhaltens der Kunden enorme Anstrengungen bezüglich Verpackungsreduktionen aus.
Aus der neueren Hirnforschung11 wissen wir, dass Bewusstseinsänderungen und entsprechende Taten nicht einfach aus »neutralen« Forschungsergebnissen gespiesen werden, sondern im Wesentlichen aus persönlichen, tief greifenden Erfahrungen. Das hat mich dazu bewogen, selbst und mit anderen Menschen zusammen Erfahrungen zu einem Thema zu sammeln. Das Feedback von Menschen und Gruppen erachte ich als höchste Hürde und als höchste Auszeichnung. Und dennoch: Entscheidend war immer auch das Abstützen auf wissenschaftlich nachprüfbare Daten, die zu einer Veränderung genügend Anlass geben. Mein Ziel ist, Nachhaltigkeit in ihren drei Dimensionen – Ökologie, Ökonomie und Soziales – miteinander zu vernetzen und daraus die Erkenntnisse zur Umsetzung zu erlangen. Die segmentierte Betrachtung nur einer Dimension ist meiner Meinung nach fatal und wirklich nachhaltigen Lösungen hinderlich. In der globalisierten Finanzwirtschaft sind wir alle geprägt vom Denken in wirtschaftlichen Dimensionen. Häufig ist darum der Einstieg in und der Entscheid, sich mit einem Thema zu befassen, finanzgeprägt: Was sind die Kosten, vorher – nachher?
Zeitgeist | Nicht selten werden neue Ideen zuerst nicht beachtet, dann lächerlich gemacht oder abgelehnt und – bei Erfolg – als eigene Idee ausgegeben. Meiner Erfahrung nach ist das das Beste, was passieren kann. So herrscht in der Aufbauphase die nötige Ruhe und Konzentration auf Inhalt und Formgebung für die Idee; Opposition ist wenig zu erwarten, da Außenstehende häufig den Aufwand scheuen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Steigt der Bekanntheitsgrad, folgt relativ rasch die Ablehnung, aus was für Gründen auch immer. Da hilft es, wenn die »Hausaufgaben« gemacht sind, also die Idee durch fundierte Fakten und Konzepte sowie gesicherte finanzielle Unterstützung glaubwürdig vertreten werden kann.
Für Pioniere sind diese manchmal sehr herausfordernden Phasen dankbar anzunehmen, weil sie letztlich helfen, die Idee zu einem erfolgreichen Modell reifen zu lassen. Auch wenn der Zeitgeist für soziale Projekte nicht günstig scheint, gilt es für die Entscheidungsträger, stimmige Anreize zu finden. In unserer Zeit der hohen öffentlichen und privaten Verschuldung mit unablässig neu aufgegleisten Sparprogrammen in Wirtschaft und Politik hat der gesuchte Anreiz meist für möglichst viele finanziell interessant zu sein, d.h. Geld zu sparen.
Meine Motivation für ein Projekt verstärkt sich eher, wenn der Zeitgeist nicht von Anfang an unterstützend ist. Visionen und Pioniergeist leben vermutlich gerade von solchen Herausforderungen. Die Bedeutung des Zwischenmenschlichen und des Miteinanders hat in unserer individualisierten, von Überfluss an materiellen Dingen geprägten Zeit abgenommen. Gleichzeitig sehnen sich aber viele Menschen nach sozialen Kontakten auf Augenhöhe, die sie sich aufgrund hoher Belastungen in Beruf, Familie, Geldverdienen schwer erfüllen können.
Polaritäten respektieren und verbinden | Im Alter von etwa zwölf Jahren hat mich mein Vater auf meine frühen Leitsterne geschubst. Der erste war Marco Polo (ca. 1254–1324),12 venezianischer Kaufmann und unerschrockener Chinareisender, der in der Nachfolge seines Vaters und Onkels wenig bekannte, weit entfernte Welten bereiste, harte Strapazen erlitt und gleichzeitig lukrative Geschäfte initiierte. Warum übte diese Erfolgsmischung eine solche Faszination auf mich aus? Im späteren Aufarbeiten dieser frühen Erfahrungen habe ich realisiert, dass der Gegensatz zu meinem Elternhaus meine Begeisterung auslöste. Das »statische« Drogeriegeschäft meiner Eltern war so ziemlich das gegenteilige Geschäftsmodell von Marco Polo. Aber genau dort habe ich in Schubladen und Gestellen Ingredienzien der zu Polos Zeiten neuen Handelstätigkeit gefunden, gerochen, ausprobiert, vor allem fremdländische Gewürze und Früchte. So habe ich früh Gegensätze verbunden: Fernes und Nahes, Fremdes und Bekanntes, Welthandel und lokales Ladengeschäft, Familie und die Wahlverwandtschaft, einheimische Interessen und fremde Kulturen, persönliches Engagement und Dienst am Staat.
Etwa im gleichen Alter hielt mit Paracelsus13 eine andere Weltsicht bei mir Einzug: Der in Einsiedeln geborene und in Ferrara ausgebildete Arzt Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus, 1493–1541) brach mit gängigen Traditionen der damaligen Medizin, z.B. mit der Vier-Säfte-Lehre des Altertums.14 Er versuchte, dem Ursprung einer Krankheit auf die Spur zu kommen, indem er Menschen auf verschiedenen Ebenen in einer ganzheitlichen Sicht zu erfassen suchte: Er beobachtete das Vertrauen des Menschen in die geistige Welt, dessen gutes Einvernehmen mit Mensch, Tier, Natur, den Dialog mit der Seele und die Achtsamkeit für den Körper. An diesem berühmtesten Arzt des Mittelalters haben mich die Mischung aus Forschergeist, ganzheitlicher Weltsicht und sein nicht ganz selbstbestimmtes Wanderleben fasziniert. Er wurde wegen seines volkstümlichen Wesens verehrt und zugleich von seinen Konkurrenten – Ärzte wie Apotheker – bedroht. Das hat mich als Jugendliche besonders beschäftigt, weil ich nicht verstehen konnte, warum ein großer Gelehrter und Mystiker verfolgt werden sollte.
Ein paar Jahre später erlebte ich einen weiteren, für immer prägenden »Erkenntnis-Schub« durch meinen Altgriechischlehrer. Er hatte die Gabe, uns auf besondere Art die griechische Kultur erleben zu lassen, bildhaft Texte zu erläutern und sogar durch seine Pfarrköchin Mahlzeiten der griechischen Söldnerheere nachkochen zu lassen, damit wir – wörtlich zu verstehen – auf den Geschmack kamen. So wurde seine Erläuterung der sagenumwobenen Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi das intensivste Lebensmotto für mich: »Erkenne dich selbst und folge deiner Seele.« Dieser Lehrer machte uns vertraut mit Platons faszinierenden Texten zur (Staats-)Philosophie15 – Sokrates in den Mund gelegt – mit dem unumstößlichen Gerechtigkeitsprinzip für ein gerechtes Gemeinwesen. Dass der Staat einfach ausgestaltet sein und auch so arbeiten soll, ist mir bis heute ein Anliegen. Sicher ein Idealzustand, aber doch anzustreben. Um einen schlanken Staat zu formen, braucht es die gegenseitige Hilfe aller für alltägliche Bedürfnisse: Jeder trägt zum Wohl gemäß seinen Fähigkeiten bei.
Der Philosoph, Mathematiker, Astronom, Musiker und Lehrer Pythagoras (570–510 v. Chr.)16 begeistert mich durch seine Wissensvielfalt in vielen Disziplinen, die er zu einer ganzheitlichen Sicht verwob. Seine Lehrjahre verbrachte er vermutlich in den damaligen Hochkulturen Vorderasiens und Ägyptens. Für die Lehrtätigkeit an seiner Schule im griechischen Süditalien war er berühmt und berüchtigt, weil sie wohl eher eine streng lebende Glaubensgemeinschaft war. Er scheute sich nicht, für seine Überzeugungen und empirischen Erkenntnisse einzustehen. Besonders angetan bin ich nach wie vor von der großartigen Idee der Freundschaft zwischen allem und jedem: Freundschaft der Menschen untereinander, mit den Göttern, mit der Natur.
Im »reiferen« und mit anderen Inhalten gefüllten Lebensabschnitt fand ich Gefallen an zwei Theoretikern und Empirikern, die soziale Vernetzungen als tragfähiges Gesellschaftsmodell untersuchen und befürworten. Der Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu (1930–2002)17 inspiriert mich, weil er die vier Kapitalien des Menschen als interaktive einzusetzende Ressourcen ortete: ökonomisches, soziales, kulturelles und korporales Kapital. Alle vier Kapitalien sind eng miteinander vernetzt und in steter Interaktion. So lassen sich durch Anhebung des sozialen Kapitals, also z.B. mit Nachbarschaftshilfe und Freundschaften, das kulturelle Kapital und das Körperkapital steigern und das ökonomische reduzieren. Mir sind diese Erkenntnisse im heutigen Umfeld von mangelnden ökonomischen und sozialen Ressourcen wichtig; sie erweisen sich gerade bei der Altersvorsorge immer mehr als stimmig und für neue Modelle richtungweisend.
Worüber Soziologen und Ökonomen in den jüngsten Jahrzehnten vor allem empirisch forschen, ist das Rechtsmodell der Allmende. Als Korporationsbürgerin der Stadt Luzern war ich schon als Jugendliche mit dieser Organisationsform vertraut, auch etwas frustriert, weil damals nur Männer den »Bürgernutzen«18 bekamen. Zusätzlich und definitiv dafür eingenommen haben mich die Forschungen und der Nobelpreis von Elinor Ostrom (1933–2012).19 Ihre Forschungen zu Umweltökonomie und Selbstorganisation haben »Commons«,20 also Allmenden, ein eindrückliches Gewicht gegeben. Sich selbst organisierende Allmenden – eine besondere Rechtsform – gibt es in der Schweiz seit Jahrhunderten für die nachhaltige Bewirtschaftung vor allem von Land- und Vieh-Ressourcen; sie haben überlebt und sind erfolgreich. Ostrom sieht sie vor allem bei knappen Ressourcen als ideale Form der Kooperation. Sie erachtet Allmenden gegenüber staatlichen Stellen oder Privatfirmen meist als überlegen. Die lange Tradition dieser sich selbst organisierenden Rechtsform wird nun durch viele Neugründungen von Genossenschaften und wissenschaftlichen Untersuchungen dazu wieder neu belebt, auf weitere Inhalte und Handlungsfelder als Land und Vieh ausgedehnt und beweist ihre hohe Effizienz zur Steigerung von Selbstverantwortung und Solidarität.
Inspirierendes Modell Genossenschaft oder Allmende | Diese Designprinzipien für Commons-Institutionen hat Elinor Ostrom bereits 1990 in ihrem Hauptwerk »Governing the Commons (Die Verfassung der Allmende)« veröffentlicht. In ihrer Nobelpreisrede 2009 stellte sie eine gemeinsam mit Michael Cox, Gwen Arnold und Sergio Villamayor-Tomás präzisierte Fassung vor, die hier stichpunktartig wiedergegeben wird.21
1 Grenzen | Es existieren klare und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und nicht Nutzungsberechtigten. Es existieren klare Grenzen zwischen einem spezifischen Gemeinressourcensystem und einem größeren sozio-ökologischen System.
2 Kongruenz | Die Regeln für die Aneignung und Reproduktion einer Ressource entsprechen den örtlichen und den kulturellen Bedingungen. Aneignungs- und Bereitstellungsregeln sind aufeinander abgestimmt; die Verteilung der Kosten unter den Nutzern ist proportional zur Verteilung des Nutzens.
3 Gemeinschaftliche Entscheidungen | Die meisten Personen, die von einem Ressourcensystem betroffen sind, können an Entscheidungen zur Bestimmung und Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen (auch wenn viele diese Möglichkeit nicht wahrnehmen).
4 Monitoring der Nutzer und der Ressource | Es muss eine ausreichende Kontrolle über Ressourcen geben, um Regelverstößen vorbeugen zu können. Personen, die mit der Überwachung der Ressource und deren Aneignung betraut sind, müssen selbst Nutzer oder den Nutzern rechenschaftspflichtig sein.
5 Abgestufte Sanktionen | Verhängte Sanktionen sollen in einem vernünftigen Verhältnis zum verursachenden Problem stehen. Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen.
6 Konfliktlösungsmechanismen | Konfliktlösungsmechanismen müssen schnell, günstig und direkt sein. Es gibt lokale Räume für die Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden (z.B. Mediation).
7 Anerkennung | Es ist ein Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechts der Nutzer erforderlich, ihre eigenen Regeln zu bestimmen.
8 Eingebettete Institutionen (für große Ressourcensysteme) | Wenn eine Gemeinressource eng mit einem großen Ressourcensystem verbunden ist, sind Governance-Strukturen auf mehreren Ebenen miteinander »verschachtelt«.
Zum Verständnis von Commons und den Herausforderungen im Umfeld von Politik und Wirtschaft sind Ausschnitte aus zwei Büchern der Heinrich Böll-Stiftung (Hg.) zitiert:
»Eine neue Weltsicht«22 | »Commoning ist ein radikales Konzept, weil es auf den Aktiven, wissender Teilnahme und Teilgabe von Menschen basiert, die ihr Leben selber gestalten wollen. Dabei geht es nicht einfach nur darum, gemeinsame Ressourcen zu teilen (das wäre auch per Algorithmus zu organisieren), sondern um die aktive Zusammenarbeit mit anderen. Es geht darum, gemeinsame Ziele zu verfolgen und Probleme zu lösen.« »… Dass Commons zeitlos sind, also zugleich so alt und modern wie das Musizieren, verweist auf eine Schlussfolgerung, die vermutlich viel Gegenwind ernten wird; Commons stellen zahlreiche Prämissen unserer modernen Zivilisation grundlegend infrage. Hier sei Etienne Le Roy zitiert, der in seinem Beitrag ›Wie ich dreißig Jahre zu Commons forsche, ohne es zu wissen‹, folgende These wagt: Sobald man anfängt, Commons ernst zu nehmen, ›gerät das Ideenfundament, auf dem die moderne westliche Zivilisation ruht, außer Balance, und das fundiert Geglaubte stürzt in sich zusammen: Staat, Recht, Markt, Nation, Arbeit, Verträge, Schulden, Schenken, juristische Personen, Privateigentum und Institutionen wie Verwandtschaft, Ehe- und Erbrecht werden plötzlich hinterfragt.« … »Commons fordern uns auf, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und grundsätzlich anzuerkennen, dass ein Ich aus Beziehungen hervorgeht und nur in ihnen und aus ihnen heraus existieren kann.« … »Angesichts der gegenwärtigen Übermacht von den abstrakt gedachten Entitäten Markt und Staat (die längst nicht so alt und dauerhaft sind, wie gemeinhin vermutet), könnte man versucht sein, jedes einzelne Commons als unbedeutendes Staubkorn abzutun. Doch indem das Handeln in Commons, das Commoning, uns mit dem tieferen Kreislauf lebender Systeme verbindet und mit anderen vernetzt, entfalten sie eine unaufhaltsame Kraft, die systemische Veränderung hervorzubringen vermag.«
Eine commons-sensitive Architektur von Recht und Politik23 | »Commons sind sehr verschieden, und sie wissen nicht unbedingt im Voraus, wie ein gemeinsames Ziel vereinbart und verfolgt werden kann. Die einzige verallgemeinerbare Aussage ist daher, dass wir überall (Frei-)Räume für den intensiven und konstruktiven Dialog und für das Ausprobieren von Regeln und Vereinbarungen brauchen.
Die Belastbarkeit der Commons hängt auch davon ab, dass Institutionen und Gesetze diese Vereinbarungen nicht unterlaufen. Wir brauchen Gesetze, Institutionen und eine Politik, die Allmendeprinzipien aktiv unterstützt und deren Torpedierung sanktioniert, so wie sie derzeit das Marktprinzip unterstützt und dessen Übertretung sanktioniert. Commoners müssen ihre Interessen deutlich machen und dazu beitragen, dass Commons-Prinzipien im Mittelpunkt politischer und rechtlicher Innovation stehen. So konstituiert sich beides neu: Bürgerschaft und Governance.
Seitdem die Dysfunktionalitäten des Staates in der Unfähigkeit, die Finanzkrise strukturell zu lösen oder der ökologischen Zerstörung wirksam zu begegnen, deutlich wurden, hat der Staat ein vermehrtes Interesse daran, dass die Menschen Aufgaben übernehmen, die er selbst nicht lösen kann. Doch damit dieser Prozess tatsächlich unseren Lebensinteressen dient und nicht in unverantwortlicher Staatsverschlankung und Vereinnahmung endet, muss der Staat zunächst die Vielfalt kollektiver Eigentumsformen anerkennen und es den Menschen tatsächlich ermöglichen, dass sie Mitbesitzer und -verwalter der Gemeinressourcen sind. In der jüngeren Geschichte hingegen wurden Commons von der Politik ignoriert. Projekte und Netzwerke waren gezwungen, ihre eigenen Lösungen und Regeln zu entwickeln, um kollektive Rechte zu verteidigen.«
Nach wie vor sehr lebendig: Korporation Unterägeri | Die historischen Wurzeln der Korporation Unterägeri reichen in den Beginn des 15. Jahrhunderts. Heute ist nicht mehr auszumachen, wann und wie die Genossenschaft entstanden ist. Das auf 1407 datierte, vermutlich aber später entstandene Ägerer Hofrecht regelte Rechte und Pflichten von Herrschaft und Bauern: Ausgangspunkt war der Wunsch und Wille zur Schaffung einer rechtlichen Ordnung, die die landwirtschaftlichen Arbeiten unter den Bewohnern auf der Sonnenseite des Tals organisierte – weg von See und Sumpf. Wie die Nutzung dieser Allmend und der Allmendgenossen organisiert war, ist unbekannt.
Im Verlaufe der Jahrhunderte gab es immer wieder Änderungen und Ergänzungen. Die erste überlieferte Allmendnutzungsordnung datiert vom 28. April 1803. Bis weit ins 19. Jahrhundert musste die Bevölkerung ihren Lebensunterhalt aus den lokalen Ressourcen bestreiten. Diese bestanden vor allem aus den gemeinsam genutzten Allmenden mit offenem Land, Wald und Wasser. Durch die strengen Regeln wurde eine übermäßige Nutzung verhindert, der maximale Ertrag für den Einzelnen hatte zurückzustehen vor dem Nutzen vieler und der Sicherung der Selbstversorgung. Im 19. Jahrhundert sind viele arme Unterägerer ausgewandert, meist nach Nordamerika.
Über Konflikte zu Lösungen | Die Allmend war zu Beginn bis in die jüngste Vergangenheit eine sachliche und emotionale Schicksalsgemeinschaft. Mit der Nutzung im Kollektiv ist Aufwand verbunden, aber der entscheidende Vorteil ist die Verteilung von Lasten und Verlusten, die über Jahre gemeinsam einfacher tragbar sind. Die Korporation organisierte die Arbeitsteilung unter den bäuerlichen Bewohnern, parzellierte Flächen, um die Bewirtschaftung von meist kleinen Flächen zu vereinfachen und sicherzustellen. Verwaltet wurde die Korporation durch sogenannte Anwälte, die Feld und Wald beaufsichtigten, Holz und Land austeilten und den Unterhalt von Allmend und Straßen durch Fronarbeit organisierten.
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1885 kam es immer wieder zu Konflikten wegen der Zuteilung und Nutzung von Vieh- und Pflanzland. 1846 wurde die Allmendweide generell aufgehoben, aber nicht privatisiert. 1875 wurde die vollständige Privatisierung des Allmendlandes von den Genossen beschlossen, aber durch den »Weiberprozess« 1876 verhindert: Einige Frauen aus der bürgerlich-liberalen Oberschicht beschlossen, dagegen zu klagen, und bekamen nach der Ablehnung durch das Kantonsgericht vom Obergericht recht. Das Gericht sah eine Verletzung der Rechte der Frauen, die durchaus Miteigentümerinnen seien; der überraschende Sieg sicherte die Weiterexistenz der Korporation. In der Allmendordnung von 1885 wurde endgültig geregelt, dass Allmendland zwar verteilt wird, aber nicht als Privateigentum, sondern als ständiger, aber beschränkter Besitz. Zudem: Land darf nicht verpfändet oder sonst belastet und nur an andere Genossen übertragen werden.
Mutter aller Gemeinden | Bis zur Gründung der modernen Korporation Unterägeri 1849 waren die seit 1798 eigenständige politische Gemeinde und Korporationsgemeinde eins; der Gemeinderat verwaltete auch die Korporationsgüter, und die Bürger entschieden über politische Güter und Allmendnutzung. Auch die 1714 gegründete Pfarrei Unterägeri war in die Korporation integriert: Die Korporationsversammlung fungierte zugleich als Kirchgemeindeversammlung. 1857 übernahm die Korporation einen großen Teil der Baukosten für die neue Pfarrkirche durch Verkäufe von Land und Wald und wirkte durch Fronarbeit direkt am Bau mit. 1874 erfolgte schließlich die Trennung zwischen Bürger- und Kirchgemeinde.
Über Jahrhunderte hat sich die Korporation immer wieder erneuert; sie hat jeweils mehr Geschäfte zu bestimmen als die Einwohnergemeinde, sie hat auch doppelt so viele Besucher. Weltweit zählt die Korporation Unterägeri 3500 Mitglieder, im Kanton Zug 1800, von den 8500 Gemeindeeinwohnern stammen 900 Korporationsbürger aus neun Familien.
Das stete mit der Zeit Gehen wird auch in Zukunft eine Herausforderung bleiben, denn die Korporation ist Grundeigentümerin von viel Land, Wald und Wasser, sie besitzt zwei Drittel des Unterägerer Gemeindelandes und die größten Baulandreserven im Dorf. Das stellt eine große Verantwortung dar und fordert laufend eine sorgfältige Überprüfung der eingeschlagenen Nachhaltigkeitsstrategie, z.B. für den Erhalt des wertvollen Naherholungsbietes für die Allgemeinheit, für den Bau von preisgünstigen Wohn- und Gewerbebauten und den Einsatz für Kindergarten, Skilift, Vitaparcours, Fußballplätze, Werkhof, die praktisch gratis zur Verfügung stehen.