Читать книгу Sterben für Anfänger - Susanne Conrad - Страница 6
Von unserem Umgang mit Sterben und Tod
ОглавлениеErfahrungen sind Maßarbeit. Sie passen nur dem, der sie macht. Carlo Levi
Ich hatte Glück: Meine Reise mit dem Zug des Lebens begann beschaulich. Die Welt meiner Kindheit war ein behaglicher und freundlicher Ort, jedenfalls in meiner Erinnerung. Alles hatte seinen Platz, die Dinge waren, wie sie waren, einfach und klar. Die großen Konstanten waren meine Eltern, meine Brüder, ein Zuhause, in dem ich mich geborgen fühlte, eine beste Freundin, mit der ich im Heu Höhlen baute und Gummitwist hüpfte. Im Winter gab es noch Eisblumen an den Fenstern und der Holzofen bullerte. Alles war gut, und ich war sicher, dass sich daran nie etwas ändern würde.
Wir lebten im Glottertal in der Nähe von Freiburg, in einem Zweifamilienhaus, in dem neben uns auch unsere Vermieter wohnten, Herr und Frau Kapp, ein Ehepaar, das mir uralt vorkam. Frau Kapp war eine besonders liebe, herzliche Schwarzwälderin mit knittrigem Gesicht, die mit ihrem alemannischen Dialekt Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte. Sie passte auf mich auf, wenn die Eltern abends mal weggingen, wenn sie backte, durfte ich immer die Teigschüssel ausschlecken, und bei Kapps habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ferngesehen – wir bekamen erst Jahre später einen Fernseher. Spätestens mit dem Tod von Frau Kapp wurde mir klar, dass das Leben endlich ist. Sie war ganz plötzlich zu Hause gestorben, und die Tage danach war im Haus ein einziges Kommen und Gehen – Leute, die ich noch nie gesehen hatte, kamen, um Abschied zu nehmen und Beileid zu wünschen. Am Tag der Beerdigung war Frau Kapp im Hof im offenen Sarg aufgebahrt, und ihre Familie und alle Nachbarn hielten im Wechsel Totenwache. Auch mein Vater hatte eine Stunde lang am Sarg gestanden und mit den anderen gebetet. Später würden alle Nachbarn und viele aus dem Ort hinter dem Sarg her die Dorfstraße entlang auf den Friedhof gehen. Die Menschen, an denen die Trauerprozession vorbeizog, würden sich bekreuzigen und verneigen.
Ich kann mich noch heute an die außergewöhnliche Stimmung dieses Tages erinnern. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Während die Erwachsenen Totenwache hielten, versuchte ich, einen Blick auf die Tote zu erhaschen. Hatte sie die Augen offen oder geschlossen? Was hatte sie an? Ein Totengewand vielleicht? Ich stellte mir vor, Frau Kapp würde eine Art langes, weißes Nachthemd tragen. Konnte sie sehen, wer da alles um ihren Sarg herumstand, und konnte sie das Schluchzen der Frauen hören? Ich hatte so viele Fragen ...
Als meine Mutter hereinkam, fand sie mich mit plattgedrückter Nase am Fenster. Ich beschwerte mich über die schlechte Sicht, die ich von der Küche aus hatte, und die Ungerechtigkeit, dass alle Frau Kapp noch einmal anschauen durften, nur ich nicht. Während ich auf meinem Beobachtungsposten blieb, berieten sich meine Eltern leise im Flur und erlaubten mir dann, in den Hof hinunterzugehen. Ich solle aber nicht erschrecken, bereitete mich meine Mutter behutsam vor, Frau Kapp sähe jetzt anders aus als früher, denn sie sei ja tot.
Frau Kapp war der erste tote Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Sie trug kein Nachthemd, sondern Tracht, ihre Augen waren geschlossen, die Nase sehr spitz, und der Mund wirkte fast ein bisschen verkniffen. Sie sah jedenfalls sehr streng aus, nicht so lieb und freundlich wie früher. War das überhaupt noch Frau Kapp oder war sie schon im Himmel? Und wie konnte sie da oben sein, wenn sie doch hier vor mir lag? Jemand sprach von ihrer Seele, die jetzt »heimgegangen« sei zu Gott – aber was war das überhaupt, die Seele? Ein körperloser Geist, eine Art Gespenst vielleicht?
Als Sieben- oder Achtjähriger war mir klar, dass ich – jedenfalls aller Voraussicht nach und wenn ich mir nichts weiter zuschulden kommen ließ – wie all die anderen Menschen, die ich kannte, in den Himmel kommen würde. Dort gäbe es dann ein Wiedersehen, eine Art riesige Familienfeier. Aber in welchem Alter, in welchem Zustand würden wir uns da begegnen? Wären wir Kinder oder Greise oder alle gleich alt? Gesund oder krank? Wären wir nur seltsame Seelenwesen und immer fröhlich oder, wie auf der Erde, auch mal traurig oder gar böse? Wie sollte ich meine Eltern und Großeltern und Frau Kapp überhaupt finden und erkennen – denn da oben wäre ja, bei all den Toten seit der Steinzeit, sicher der Teufel los.
Und noch eine Frage trieb mich um: Was würden wir mit der ganzen unendlichen Zeit im Himmel anfangen? Ich hatte mir immer vorgestellt, ich würde mit meiner Freundin Christa im Paradies Schlüsselblumen pflücken auf einer großen Himmelswiese ganz ähnlich der vom Überhof im Ohrensbachtal. Das konnte man vielleicht ein paar Tage machen – aber Wochen, Jahre, Jahrtausende, bis in alle Ewigkeit? Mir wurde ganz schwindelig.
Irgendwann nach der Beerdigung von Frau Kapp fragte ich meine Mutter, wie sie denn abends einschlafen könne bei all dieser Ungewissheit und ob ihr die Unendlichkeit und das Universum nicht auch unheimlich seien. Ihre Antwort beruhigte mich nicht wirklich: Sie könne sich gut erinnern, dass sie als Kind auch oft darüber nachgedacht habe, aber das hätte aufgehört, andere Dinge wären dann wichtig gewesen.
Meine Mutter hatte recht: Eines Tages dachte ich abends vor dem Einschlafen an Klassenarbeiten und schlechte Noten, träumte von Jungs und Abenteuern in Südamerika. Später machte ich Einkaufslisten, führte in Gedanken Gespräche mit Vorgesetzten oder machte mir Sorgen um den Husten meiner Kinder. Das Grübeln über Unendlichkeit und Tod und Sterben hatte ich ordentlich in eine Truhe im hintersten Winkel auf dem Dachboden meiner Seele gepackt. Nur selten habe ich bei bestimmten Anlässen vorsichtig hineingespäht und den Deckel gleich wieder zugeschlagen, wenn die düsteren Gedanken in mir hochzukriechen drohten. Denn das war der Tod – düster. Während ich als Kind unbefangen und neugierig wissen wollte, was es mit ihm auf sich hatte, fürchtete ich ihn nun, sah ihn als das dunkle, gnadenlose Schicksal, das uns aus dem Leben reißt.
Natürlich habe ich mich immer wieder mit Tod und Sterben befasst, beruflich sowieso, wenn ich von Hungersnöten oder Kriegen, von Terroranschlägen und Unglücken aller Art berichten musste. Auch privat konnte ich dem Thema nicht ständig aus dem Weg gehen, es starben ferne, ältere Angehörige und Bekannte, oft im Krankenhaus oder im Heim. Aber es traf immer die anderen, die »Einschläge« kamen in sicherem Abstand, der Tod hatte etwas Abstraktes, er blieb weit weg.
Und unsere Sprache hilft uns mit einem ganzen Arsenal an Formulierungen, um ihn uns vom Hals zu halten. Noch nicht einmal das Wort »Sterben« müssen wir in den Mund nehmen. Formulierungen wie »er ist von uns gegangen«, »sanft entschlafen« oder »erlöst« ersparen uns, beim Namen zu nennen, was für uns eigentlich unaussprechlich ist. Auch für die eigene Haltung in der Begegnung mit Sterben und Tod gibt es passend konfektioniertes Vokabular: Man ist »bestürzt«, »setzt sich auseinander«, »geht mit dem Verlust um«, »stellt sich seinen Gefühlen«, »leistet Trauerarbeit«. Worte, die uns erlauben, all unsere Gefühle und Gedanken, die Trauer und die Angst fein säuberlich zu verpacken, gegebenenfalls verziert mit einem Schleifchen aus Pathos oder Betroffenheit.
Leichter als die Berührung mit dem alltäglichen Tod fällt uns erstaunlicherweise die Begegnung mit dem spektakulären, skandalösen Dahinscheiden. Mal ist es die Art und Weise des Todes, mal die Prominenz des Toten, die für Aufsehen sorgt. Im Fall von Michael Jackson traf beides zu. Der plötzliche Tod des Megastars unter mysteriösen Umständen wurde zum globalen medialen Ereignis der Superlative. Auch bei Prinzessin Diana oder dem deutschen Torwart Robert Enke wurde öffentliche Trauer bühnenreif inszeniert und die Erschütterung von Millionen medienwirksam kanalisiert. Aber der Schrecken des Todes bleibt hier ohne Risiken und Nebenwirkungen. Als bloßer Beobachter, als Schaulustiger lässt man sich emotional zwar mitreißen, ist aber persönlich nicht betroffen. Aus sicherem Abstand können wir Anteil nehmen und im Schutz der anonymen Masse den Schrecken des Todes als wohligen Grusel erleben. Beerdigungen und Trauerfeiern werden hier zur Show, bei der alle Gefühlsregister gezogen werden. Im Hintergrund immer eine diskrete Regie, die – anders als im richtigen Leben – alles unter Kontrolle hat.
Tod und Sterben sind für die meisten von uns heute ein virtueller Akt. Im Fernsehen oder auf der Leinwand wird mal fein säuberlich im Bett gestorben, ein andermal blutig durch Unfall oder Mord, in jedem Fall aber tauchen die, die eben noch kalt auf dem Seziertisch oder blutend im Wohnzimmer lagen, kurz darauf quicklebendig im nächsten Film wieder auf. Das Sterben in Videospielen hat eine besondere Qualität durch die Interaktion, denn der Spieler kann entscheiden, wer wann und auf welche Weise stirbt. Der Tod ist nicht echt, nichts jedenfalls, was uns tiefer berührt. Und: Wir haben die Dinge in der Hand – im wahrsten Sinn des Wortes –, mit Joystick oder Fernbedienung. Ein Knopfdruck genügt, und schon haben wir den Sender gewechselt, das Spiel beendet, abgeschaltet. Im wahren Leben allerdings können wir nicht wegzappen, wenn uns das Programm nicht mehr gefällt. Der Tod lässt sich nicht wegschalten.
Wenn sich die Truhe öffnet
So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehen. Matthias Claudius
Wer nicht will, muss also seine Truhe auf dem Dachboden in der Regel für lange Zeit nicht öffnen und hineinschauen. Und das kann über Jahre und Jahrzehnte auch gut funktionieren. Aber irgendwann, beim einen früher, beim anderen später, geschieht etwas, und die Truhe öffnet sich von ganz allein, und wie Geister spuken dann die Gedanken an Tod und Sterben auf dem Dachboden unserer Seele herum. Wir entkommen ihnen nicht.
Meine Truhe öffnete sich, als ich mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde und keiner wusste, ob und wenn ja, wie lange, ich weiterleben würde. Plötzlich war es mein eigener Tod – bis dahin etwas Abstraktes, Unwirkliches, etwas, das in einer fernen Zukunft lag –, der mir nun ganz real entgegentrat. Angst packte mich, schüttelte mich durch. Als Kind wäre ich in einer solchen Situation zu meinen Eltern ins Schlafzimmer geschlichen, um unter ihrer Bettdecke Schutz zu suchen. Diesmal konnte ich mich nicht verkriechen, nirgends. Auch Verdrängen funktionierte nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als meiner Sterblichkeit ins Auge zu blicken. Ungeschützt.
Ich werde von dieser Zeit, meinen Zweifeln und Ängsten später noch ausführlicher erzählen. Für den Moment nur so viel: Wenn ich gefragt werde, was sich seither verändert hat, versuche ich das so zu beschreiben: Ich stehe zwar immer noch am selben Fluss des Lebens wie alle – aber auf der anderen Seite. Meine Perspektive hat sich verändert und meinen Blick weit geöffnet für Dinge, die ich vorher nicht oder anders gesehen habe. Sterben und Tod machen Angst, ja! Aber was wäre unser Leben ohne ein Ende? Es wäre wertlos, beliebig, eine Aneinanderreihung von Ereignissen, ein endloser Trott. Erst der Tod macht das Leben kostbar. Und wenn uns bewusst wird, dass jeder Augenblick wertvoll und unwiederbringlich ist, dann beginnen wir, unsere Zeit tatsächlich zu nutzen und zu genießen. Dann werden wir vielleicht auch mutiger, trauen uns, Dinge zu bewegen, Grenzen zu sprengen, uns über Konventionen hinwegzusetzen, denn wenn nicht jetzt, wann dann?
Vielleicht ist der Tod tatsächlich nur ein Horizont, diese Linie zwischen Himmel und Erde, bis zu der wir schauen können. Und wer weiß schon, was dahinter kommt?
Das Einzige, das wir sicher wissen, ist, dass wir hier und heute die Chance haben, unsere Zeit zu nutzen und bewusst zu leben. Wenn wir lernen, Sterben und Tod als Teil unseres Lebens zu begreifen, dann werden sich Türen öffnen, dann werden wir zu verstehen beginnen, warum wir auf der Erde sind.
Das Verdrängen
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben wird. Die Verdrängung dieses Wissens ist das einzige Drama des Menschen. Friedrich Dürrenmatt
Wir alle sind Anfänger, wenn es ans Sterben geht. Wir leben ein ganzes Leben auf diesen Moment zu, »alle Tage wandern wir zum Tode«, schreibt Montaigne. Aber nur ein einziges Mal gehen wir diesen Weg ganz zu Ende. Es ist Premiere und letzter Vorhang in einem. Ein Trost allerdings ist, dass wir im Laufe unseres Lebens immer mal wieder die Gelegenheit haben, auf Tuchfühlung mit dem Tod zu gehen. Das ist unsere Chance, sein letztes Geheimnis zwar nicht zu ergründen, aber ihn uns vertraut zu machen, auszukundschaften, zu »probieren«1.
Der Tod von Frau Kapp war meine erste, eine sehr unmittelbare Begegnung mit ihm. Aber es gab in der Welt meiner Kindheit noch andere Anlässe und Situationen, die mich in seine Nähe führten und mir damit die Möglichkeit gaben, seine Rätselhaftigkeit zu erkunden, mich zu fragen, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Zu den schönen Erinnerungen meiner Kindheit gehört es, krank zu sein. Wirklich! Auch wenn ich kaum schlucken konnte vor Halsschmerzen oder mich bellender Husten quälte – nie bekam ich so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, wie wenn ich das Bett hüten musste. Das Wunderbarste war ein Glöckchen, das auf meinem Nachttisch stand und das ich läuten durfte, wenn ich »dringend« etwas brauchte. Eine heiße Milch mit Honig, ein neues Zwiebelsäckchen gegen die Ohrenschmerzen oder einfach das Gefühl der kühlen Hand meiner Mutter auf meiner Stirn.
Einmal – ich war acht Jahre alt – lag ich wochenlang im Bett. Ich hatte einen schlimmen Unfall im Schwimmbad gehabt und mir dabei das Knie so schwer verletzt, dass die Ärzte Sorge hatten, ich könnte ein »Humpelbein« zurückbehalten. Das hat man mir natürlich nicht erzählt, um mich nicht zu ängstigen. Und so war ich nicht grade geduldig, als ich nach der Operation das eingegipste Bein eine gefühlte Unendlichkeit lang nicht bewegen durfte. Ich lag im Bett und drohte, mich zu Tode zu langweilen. Einen Fernseher hatten wir noch nicht, ohnehin begann das Programm damals erst um 17 Uhr, davor gab es nur ein Testbild. Meine Freundin Christa war in der Schule, und meine Mutter hatte anderes zu tun, als mich stundenlang zu bespaßen. So wurden zu meiner Unterhaltung Unmengen von Büchern herangeschleppt, und ich las und las, alles, was mir zwischen die Finger kam. Schön, aber auf Dauer auch eintönig. Und weil man bekanntlich zusammen weniger alleine ist, war es eine wunderbare Abwechslung, wenn Odi, meine geliebte Großmutter, zu Besuch kam. Dann saß sie stundenlang an meinem Bett, klapperte mit ihren Stricknadeln, erzählte von früher oder las mir vor. Gemeinsam haben wir in jenen Wochen alle Märchenbücher gelesen, die aufzutreiben waren – die von Hauff, den Gebrüdern Grimm und Hans-Christian Andersen, chinesische und indianische und natürlich die Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht.
Bücher und Geschichten sind ein unerschöpflicher Schatz an Wissen und Erfahrung. Sie legen uns eine Welt zu Füßen, die wir in unserer Phantasie bereisen können – bis an die Enden der Erde und in die hintersten Winkel unserer Seele. Es gibt nichts, was wir in Büchern nicht finden könnten.
Auch mir lieferten damals die Märchen viel Stoff zum Nachdenken und mündeten in endlose Gespräche mit meiner Großmutter. Da gab es zum Beispiel ein arabisches Märchen – Fern in Bagdad – über den Lieblingsdiener des Königs von Damaskus. Der stürzte eines Tages in die Gemächer seines Herrn und erklärte ihm ganz aufgeregt, er brauche das schnellste Pferd im Stall, da er umgehend nach Bagdad fliehen müsse. Der überraschte König fragte nach dem Grund für diese überhastete Flucht und erfuhr, dass sein Diener im Garten soeben dem Tod begegnet war. Und der habe bereits die Arme nach ihm ausgestreckt. Nun müsse er so schnell wie möglich fort, um dem Tod zu entkommen. So geschah es dann auch. Nachdem der verängstigte Mann mit dem besten Pferd seines Herrn vom Hof geritten war, ging der König selbst in den Garten, um nach dem Rechten zu sehen. Als auch er dem Tod begegnete, fragte er erzürnt: »Was fällt dir ein, meinen Diener so zu erschrecken? Was willst du von ihm?«
»Ich wollte ihn nicht erschrecken«, entgegnete der Tod, »ich war nur überrascht, ihn hier zu sehen, denn eigentlich wollte ich ihn am Abend in Bagdad treffen, wo er heute noch sterben wird.«
Wir können dem Tod nicht entfliehen – nicht einmal mit dem schnellsten Pferd der Welt. Wir können ihn auch nicht übertölpeln, wie es der Arzt in Grimms Märchen vom Gevatter Tod versucht. Der Mann galt als Wunderheiler, wobei niemand wusste, dass er das Patenkind des Todes war und eine Abmachung mit ihm hatte: Stand der Tod bei einem Patienten am Kopfende des Bettes, so konnte der Kranke ganz sicher geheilt werden. Zeigte er sich aber zu dessen Füßen, so war dem Patienten nicht mehr zu helfen – er musste sterben. Das ging lange gut so, bis der Arzt eines Tages zum sterbenden König gerufen wurde. Als er an dessen Bett trat, sah er am Fußende den Tod stehen. Damit war klar, dass es hier eigentlich keine Hilfe mehr gab. Der Arzt aber wollte dieses Urteil nicht annehmen und drehte das Bett kurzerhand um, so dass Gevatter Tod sich mit einem Mal am Kopfende des Bettes wiederfand und der König weiterleben konnte. Der Tod, über diese Hinterlist zwar erbost, ließ den Arzt dennoch dieses eine Mal gewähren.
Kurze Zeit später wurde die Tochter des Königs, sein einziges Kind, schwer krank und der Herrscher versprach: Wer sie rettet, der darf sie zur Frau nehmen, wird König und erbt das ganze Reich. Der Arzt konnte der Versuchung nicht widerstehen und drehte abermals das Bett herum. Diesmal aber hatte der Tod kein Verständnis für diese List, am Ende bezahlte der Arzt mit seinem eigenen Leben.
Den Tod kann man nicht hinters Licht führen – nicht einmal im Märchen.
*
In unserer modernen Gesellschaft glauben wir, die Welt im Griff zu haben, alles kontrollieren zu können. Wir sind daran gewöhnt, uns gegen alles abzusichern, was unangenehm oder eine Bedrohung sein könnte: gegen Feuer und Wasserrohrbruch, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit, gegen Reisehindernisse und verlorenes Gepäck. Gegen den Tod aber gibt es keine Versicherung. Ihm müssen wir uns stellen, ohne Sicherheitsnetz und Rettungsleine, ohne ADAC-Schutzbrief oder Rücktrittsklausel. Er ist das einzige Ereignis, von der Geburt einmal abgesehen, das unausweichlich wirklich jeden Menschen trifft.
Aber statt uns darauf vorzubereiten, versuchen wir, das Thema Tod und Sterben zu meiden, selbst wenn es uns geradezu ins Gesicht springt.
Eine Bekannte beispielsweise, die plötzlich ein Mützchen trug statt des vertrauten Pagenkopfs, wurde von Kollegen zwar aus der Ferne freundlich gegrüßt, aber die meisten, erzählte sie mir, fragten gar nicht, was eigentlich los sei oder wie es ihr gehe. Die schnellen Rückschlüsse in den Köpfen der anderen kann man leicht nachvollziehen, die Gleichung ist simpel: Keine Haare heißt Chemo, und das bedeutet Krebs, und an Krebs kann man sterben – um Himmels willen! Bloß nicht dran rühren! »Ich nehme den Leuten ihr Verhalten noch nicht mal übel«, meinte die Frau, »sie wissen wahrscheinlich einfach nicht, was sie sagen sollen.«
Tatsächlich ist da häufig Unsicherheit und die Angst, indiskret zu sein, etwas anzusprechen, worüber ein offensichtlich Kranker vielleicht gar nicht reden möchte, das ihn womöglich verletzt und Wunden aufreißt. Für die Betroffenen ist solche Rücksichtnahme allerdings oft viel verletzender als jede noch so ungeschickt hervorgebrachte Anteilnahme. Sie fühlen sich in ihrem Leid ignoriert und alleingelassen. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass das Mitgefühl anderer Menschen in einer solchen Lebenskrise eine Wohltat, ein Anker, wirklicher Trost sein kann. Das ist auch eine zentrale Erkenntnis der mittelalterlichen Sage um den jungen Ritter Parzival, der auf der Suche nach dem Heiligen Gral Bewährungsproben bestehen muss und den Schlüssel zur Erlösung schließlich in einer einfachen Frage findet, der Frage nämlich: Was fehlt dir? Als er in der Gralsburg den von schrecklichem Leid sichtbar gezeichneten König Amfortas zum ersten Mal trifft, wagt er nicht, diese Frage zu stellen. Er hält sie für unschicklich und taktlos, es fehlt ihm der Mut, seiner inneren Stimme zu folgen und Mitgefühl zu zeigen. Parzival lässt den Verzweifelten damit in seinem Unglück allein. Erst als er bei der zweiten Begegnung die Frage stellt, die auf der Hand liegt, als er Anteil nimmt, sich der Not und Verzweiflung seines Gegenübers stellt, wird Amfortas geheilt (und Parzival Gralskönig).
In der alten Legende wird thematisiert, was zu jeder Zeit gegolten hat und auch heute noch gilt: Zu spüren, dass sich jemand dafür interessiert, wie es einem geht, hat etwas Befreiendes, Tröstliches. Zu erleben, dass andere mitfühlen und überlegen, wie sie helfen, einen unterstützen können, ist ein Geschenk. Eines, das nichts kostet und doch so viel wertvoller ist, als alles, was wir mit Geld bezahlen können. Eines, das vielleicht etwas Zeit in Anspruch nimmt, einen Moment des Innehaltens und Mitfühlens. Aber das heißt auch, sich an Fragen heranzutrauen und Antworten zu ertragen, die einen auch mit der eigenen Sterblichkeit konfrontieren. Da machen viele lieber einen großen Bogen.
Eine Freundin, die ihren Mann nach langer Krankheit verloren hatte, erzählte mir, wie in den Wochen danach Nachbarn und Bekannte, ja sogar Angehörige nach und nach auf Abstand gingen. Sie riefen seltener oder lange Zeit gar nicht mehr an. Wenn ihr auf der Straße Leute entgegenkamen, die früher für einen kurzen Plausch stehen geblieben waren, wechselten sie nun plötzlich die Straßenseite oder bogen unvermittelt ab. Sie hatten, so das Empfinden meiner Freundin, offensichtlich eine tiefe Scheu, ihr zu begegnen, wussten vielleicht nicht, was sie sagen sollten oder wie sie hätten trösten können. Dabei hilft es oft schon, einfach nur da zu sein und denen, die einen Verlust zu bewältigen haben, einfach zuzuhören.
Da mischen sich Hilflosigkeit und mangelndes Einfühlungsvermögen mit Ignoranz und dem Unbehagen, sich überhaupt mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen.
*
Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod empfinden viele Menschen als morbide, schlichtweg erschreckend. Eine Freundin, der ich von meinem Buchprojekt erzählte, schaute mich entsetzt an: »Warum tust du dir das an?«
Wir wollen uns die Konfrontation mit dem Tod nicht »antun« – nicht bei anderen und schon gar nicht bei uns selbst. Das Verdrängen funktioniert auf allen Ebenen, auch wenn es nur darum geht, Vorsorge zu treffen, sich dem Thema ganz nüchtern und sachlich zu nähern.
Als ich mich in meinem Umfeld kürzlich umhörte, wer denn schon ein Testament oder eine Patientenverfügung aufgesetzt habe, da kamen Antworten wie: »Ach, da hab ich doch noch Zeit«, »Das ist ja viel zu früh«, »Mit so was mag ich mich noch nicht befassen«, einer zeigte sich geradezu abergläubisch: »Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass es Unglück bringt, sich jetzt schon darum zu kümmern«, oder es gab auch die ganz grundsätzlich abwehrende Einstellung: »So was brauche ich nicht, das wird sich dann schon finden«, oder »Sollen doch die anderen sich darum kümmern, wenn’s so weit ist«. Aus mehrfachen Gründen ist es allerdings keine gute Idee, Vorsorgemaßnahmen aufzuschieben oder gänzlich abzulehnen – aber dazu komme ich noch.
Diese Haltung des »Wegschauens« und Ignorierens, wenn es um das Thema Tod geht, ist neu, ein modernes Phänomen. In früheren Zeiten war es schlechterdings unmöglich, dem Tod aus dem Weg zu gehen, ihn zu verdrängen. Er war allgegenwärtig. Im Mittelalter rafften Pest, Hungersnöte und Kriege Millionen dahin. Die Säuglingssterblichkeit war hoch, die Lebenserwartung dramatisch niedrig – noch im 17. Jahrhundert erlebten nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen ihren zehnten Geburtstag. Hatten sie den hinter sich gelassen, waren die Aussichten deutlich besser, alt werden zu können. Viele Kinder starben schon bei der Geburt, wie unzählige Mütter auch, die aufgrund der völlig unzulänglichen hygienischen Verhältnisse oft das Wochenbett nicht überlebten, wenn sie nicht schon während der Geburt ihr Leben ließen. Etliche Krankheiten, die heute relativ ungefährlich sind, weil sie behandelt oder durch eine Impfung verhindert werden können, waren bis ins 19. Jahrhundert hinein noch ein Todesurteil. Diphtherie und Keuchhusten, Masern, Mumps und Wundstarrkrampf wurden nicht nur Kindern zum Verhängnis. Eine harmlose Wunde konnte zu einer schweren Infektion führen und ein baldiges Ende bedeuten. Es wurde massenhaft gestorben, oft plötzlich und schnell. Langes Siechtum war eher selten. Der Tod war den Menschen vertraut, von Kindesbeinen an. Er gehörte zum Leben und konnte jeden jederzeit ereilen. »Media vita in morte sumus« – »mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen«, heißt es schon im 9. Jahrhundert bei Notker von St. Gallen und später bei Luther.
Heute ist das anders: Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 140 Jahren fast verdoppelt. In unseren Breiten ist die Ernährung gut und ausreichend, wir haben sauberes Wasser, schwere, früher tödlich verlaufende Erkrankungen sind gut behandelbar. Bei einer Aussicht auf achtzig Lebensjahre und mehr können wir es uns leisten, unser Ende zu verdrängen. Es ist ein bisschen wie bei kleinen Kindern, die die Händchen vors Gesicht halten und denken, dass sie so für alle anderen unsichtbar sind. Aber: Auch wenn wir noch so trotzig wegschauen, so tun, als ginge uns der Tod nichts an – er wird uns trotzdem finden, vielleicht viel früher oder ganz anders als wir denken.
Unabwendbar steuert unser aller Leben auf dieses gemeinsame Ziel zu. Und wir sind die einzigen Lebewesen, die das wissen. Dass wir dieses Wissen verdrängen, ist, so behauptet Friedrich Dürrenmatt, das große Drama des Menschen.
Warum aber verdrängen wir den Tod? Die Antwort ist einfach: Wir haben Angst.
Die Angst
Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie. Erich Kästner
»Angscht!« – wie ein kleines Gespenst muss ich meinen Eltern an der Bettkante erschienen sein, vielleicht drei Jahre alt, mit schreckgeweiteten Augen und blass um die Nase. »Angscht«, weil ich als Schwarzwälder Kind noch nicht vornehm »s-t« sprechen konnte, schon gar nicht mitten in der Nacht. Und weil mir die »Angscht« wohl deutlich anzusehen war, durfte ich ins Bett meiner Eltern kriechen, wo ich mich den Rest der Nacht gemütlich eingerichtet, tief geschlafen und offenbar so lebhaft geträumt habe, dass meine Eltern kein Auge mehr zutaten. Das hat mein Vater später oft erzählt.
Wovor ich nun genau Angst hatte, das konnte ich damals nicht sagen: vielleicht vor dem »Nachtkrapp«, von dem es hieß, dass er nachts umhergehe und Kinder fange, um sie aufzufressen. Das hatte ich im Kindergarten aufgeschnappt. Vielleicht war es auch einfach nur zu dunkel im Zimmer gewesen oder ich hatte Geräusche gehört, die ich nicht einordnen konnte – wer weiß. Was ich allerdings noch weiß, ist, dass die Angst ein häufiger Begleiter meiner Kindheit war, meist nachts, wenn die Gedanken kamen. Ich bin mir nicht sicher, wann das anfing, aber ich kann mich gut erinnern, wie ich, den Kopf ins Kissen gedrückt, meinen eigenen Herzschlag hörte wie ferne Schritte. Und dann begann das Nachdenken: über die Unendlichkeit, das Universum, das – unvorstellbar für mich – nirgendwo aufzuhören schien, und über die Zeit, die nie begonnen hatte und niemals enden würde. Welche Rolle spielte ich in dieser Ewigkeit? War mein Leben auf diesem Zeitstrahl so viel wie der Bruchteil einer Sekunde oder nur ein Bruchteil dieses Bruchteils oder gar nichts?
*
Die Angst gehört zu unseren größten Feinden, wenn wir sie gewähren lassen. Sie kann aber zu einem zuverlässigen Freund und Ratgeber werden, wenn wir lernen, mit ihr umzugehen.
Etymologisch, also sprachgeschichtlich, ist das Wort »Angst« verwandt mit dem lateinischen angor, was übersetzt Würgen und Beklemmung heißt, und mit dem indogermanischen angh, was eng bedeutet. Tatsächlich erleben wir Angst häufig als etwas sehr Beklemmendes, ein Gefühl, auf das wir auch körperlich reagieren, mit rasendem Puls oder Enge in Brust und Hals, als würde uns jemand die Luft abschnüren.
Die Natur hat diesen Angst-Mechanismus gewissermaßen als Alarmanlage für uns eingerichtet. Es ist ein uralter Überlebensinstinkt, der uns hilft, in einer Gefahrensituation schnell zu reagieren, ohne groß nachdenken zu müssen. Vor Hunderttausenden von Jahren wurde Angst in unserem Gehirn mit drei Impulsen gekoppelt: angreifen, fliehen, tot stellen. Und auch wenn wir uns heute nur noch selten vor wilden Tieren oder Naturgewalten schützen müssen, reagiert unser Gehirn noch immer so, und das kann zu Fehlalarmen führen. Dann übernehmen biologische und chemische Prozesse die Regie. Kein Wunder, dass wir uns »starr vor Angst fühlen«, unter Schock stehen, nicht klar denken können.
Auch wenn keine akute Gefahr für Leib und Leben droht, kennen wir alle das Gefühl, dass Angst lähmen kann. Ich hatte als Kind vor allem Möglichen Angst: vor der Dunkelheit, seltsamen Schatten an der Wand oder vor der nächsten Lateinarbeit. Fast jeder kennt die Angst vor Prüfungen, vor Versagen und Blamage, das Gefühl, etwas nicht zu schaffen. Manche haben gute Gründe, sich vor der Zukunft zu fürchten, weil vielleicht ihr Arbeitsplatz auf dem Spiel steht, eine schwere Schuldenlast drückt oder die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Wir alle haben Angst davor, Menschen, die wir lieben, zu verlieren, und Angst davor, allein zu sein. Wir sollten uns solchen Ängsten nicht widerstandslos hingeben, uns nicht in sie hineinfallen lassen wie in ein tiefes, dunkles Loch. Angst essen Seele auf heißt ein Film von Rainer Werner Fassbinder – treffender kann man kaum formulieren, was mit uns passiert, wenn uns die Angst verschlingt, wenn wir uns auf ihre dunkle Seite begeben.
Aber, so schreibt die Philosophin Rebecca Reinhard in ihrem klugen Buch Die Sinndiät: »Die Angst erinnert uns daran, was uns am wichtigsten ist – weil sie uns darauf hinweist, dass wir es verlieren können. (...) Wenn wir ihr keine Gelegenheit geben aufzutauchen, verlieren wir auf Dauer das Gespür dafür, was wirklich zählt.«2
Angst kann also durchaus sinnvoll und hilfreich sein. Sie kann uns in extremen Situationen das Leben retten, im Alltag aber auch – wie das GPS im Auto – eine Art Navigator für uns sein. Und damit meine ich nicht, dass wir uns von Angst leiten und in unserer Handlungsfreiheit einschränken lassen, wie das bei schweren Phobien der Fall ist. Die Angst kann uns als Lotse aber auf den Weg des Fragens führen: Wovor habe ich Angst und warum?
Als ich vor über zehn Jahren eines Mittags in einer radiologischen Praxis saß, fühlte ich mich sicher und völlig angstfrei. Ich hatte zwar einen Knoten getastet und auch ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust gespürt, aber mein Frauenarzt hatte mich beruhigt: Krebs tut nicht weh, hatte er erklärt, vermutlich sei das eine entzündete Brustdrüse – nichts Ernstes jedenfalls. Die Mammographie hatte er nicht wirklich für nötig gehalten, aber, na gut, zur Kontrolle, sie wäre ohnehin irgendwann fällig gewesen. Ich war also gelassen, bis sich der Gesichtsausdruck des Röntgen-Arztes plötzlich veränderte. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er unvermittelt und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Ultraschallbild, auf dem ich nicht viel erkennen konnte. Nur graue Schlieren, wie Wellen in einem aufgewühlten bleifarbenen Meer. Und dann war da, wie ein Störenfried, noch dieser kleine dunkle Fleck. »Es tut mir leid«, sagte der Radiologe mit tonloser Stimme, »ich fürchte, Sie müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen.« »Das Schlimmste« war ein Mamakarzinom, ein kleiner, aber sehr gemeiner Tumor, der in meiner Brust gewachsen war und schon in die Lymphknoten gestreut hatte.
Da war sie wieder, die »Angscht«. Diesmal war der Schatten an der Wand mein eigener Tod. Ein Gefühl, als würde der Boden unter mir wegbrechen. Der Krebs lehrte mich und meine Familie das Fürchten. In den Tagen nach der Diagnose hatte ich das Gefühl, von allem und jedem wie durch eine unsichtbare Wand getrennt zu sein. Mein Leben war plötzlich aus den Fugen geraten. Wer ich war, wofür ich stand, alles war mit einem Mal in Frage gestellt.
Mütter sind dafür zuständig, dass ihre Kinder vernünftige Schuhe anhaben, das Pausenbrot einpacken und morgens pünktlich aus dem Haus kommen. Sie sorgen dafür, dass man ins Bett geht, obwohl man noch gar nicht müde ist, zwingen einen, alberne Wollmützen aufzusetzen, weil man sich sonst erkälten könnte, und bügeln Ärger aus, wenn in der Schule mal was schiefläuft. Manchmal sind Mütter auch genervt, schlecht gelaunt oder müde, aber sie sind da, wenn man sie braucht. Mütter sind alles Mögliche, doch sie sind nicht krank, jedenfalls nicht ernsthaft. Es passt einfach nicht in die Vorstellungswelt von Kindern, dass Mütter – oder Väter – plötzlich ausfallen, die Dinge nicht mehr unter Kontrolle haben.
Als ich an Krebs erkrankte, waren meine Kinder acht, vierzehn und siebzehn Jahre alt. Mit ihrer Angst sind sie jeweils sehr unterschiedlich umgegangen. Mein Ältester lenkte sich ab, traf sich mit Freunden, machte viel Sport. Meine Tochter fühlte sich verantwortlich, glaubte, meine Aufgaben übernehmen und sich um mich kümmern zu müssen. »Es ist ein Gefühl, als stünde man ganz hoch oben unter der Zirkuskuppel auf dem Seil, und unten fehlt das Netz«, so hat sie mir einmal beschrieben, wie sie diese Zeit erlebt hat. Unser Jüngster musste zuschauen, wie seine Welt aus den Fugen geriet, wie es seiner Mama immer schlechter ging, sie eine Glatze bekam und sich ständig übergeben musste. Mein Mann war damals der Einzige, der unseren Alltag irgendwie am Laufen hielt. Er war nicht unterzukriegen, aber Angst, das weiß ich, hatte auch er: Wie würde unsere Zukunft aussehen? Würde es eine Zukunft ohne mich sein? Würde ich meine Kinder aufwachsen sehen?
*
Ich bin jemand, der über alles immer reden muss. Das war auch während meiner Krebserkrankung nicht anders, und so habe ich mit meinem Mann oft und lange über das »was wäre, wenn« gesprochen. Er war bei mir, wenn ich mir die Seele aus dem Leib kotzte, und machte mir Mut, wenn ich aufgeben wollte. In der Zeit, in der alles dunkel und ausweglos schien, in der ich weder ein Ende des Tunnels und schon gar kein Licht dort sehen konnte, entzündete er im Finstern immer wieder kleine Lampen von Trost und Zuversicht für mich. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, die Gewissheit, nicht allein zu sein, machte die Angst erträglich. Ich wusste, wir schaffen das, ganz gleich, wie die Geschichte enden würde. Auch mit den Kindern haben wir damals vorsichtig und doch so offen wie möglich über die Krankheit und die Therapie gesprochen. Vor allem dem Jüngsten habe ich versucht, Schritt für Schritt und seinem Alter entsprechend zu erklären, was da mit mir passierte und warum. Dass der Knoten herausoperiert werden musste, damit er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und dass die bedrohlichen Nebenwirkungen der Chemo eigentlich ein gutes Zeichen waren, denn wenn es mir so schlechtging, ginge es auch dem Krebs an den Kragen. Uns war wichtig, dass da kein Raum für Angstphantasien blieb, die bei Kindern oft viel schlimmer sein können als die Wirklichkeit. »Bin ich schuld, Mama«, hat mein Achtjähriger einmal gefragt, »bist du krank, weil ich böse war?« Seinem Verständnis nach musste es einen kausalen Zusammenhang für meine Krebserkrankung geben, irgendjemand musste doch verantwortlich dafür sein. Manchmal legte er sich, wenn es mir schlechtging, einfach zu mir ins Bett, und dann redeten wir darüber, dass eine schlimme Krankheit jeden treffen kann, selbst den nettesten Menschen.
Aber auch ich stellte mir die Frage nach der Schuld, nach meiner Schuld: Warum war ich krank geworden? Hatte ich etwas falsch gemacht? Diese Fragen quälten mich Tag und Nacht. Der Knoten, die Metastasen bestimmten mein Denken. Alles drehte sich um die Krankheit: Operation, Chemo-, Strahlentherapie. Irgendwann, während die Therapiemühle so vor sich hin mahlte, las mir mein Arzt die Leviten: »Frau Conrad«, sagte er, »kämpfen Sie nicht so verbissen gegen Ihre Angst, sehen Sie sie als Ratgeber, folgen Sie ihr.«
Und er hatte recht. Als ich mir meine Ängste näher anschaute und mich fragte, wovor genau ich mich eigentlich fürchtete und warum, waren sie keine Gegner mehr.
Da war zum Beispiel die schreckliche Furcht, der Krebs könnte bereits in andere Organe oder die Knochen gestreut haben. Plötzlich schmerzten der Oberschenkel und das Knie, und ich war sicher: Das sind Metastasen. Ich wollte meinem Mann zuerst gar nichts davon erzählen, wollte ihn nicht beunruhigen und machte mir gleichzeitig unendlich viele Sorgen: Was wäre, wenn das Knochenszintigramm verdächtige Stellen zeigen würde? Hätte ich dann überhaupt noch eine Chance? Irgendwie hatte ich das Gefühl, darüber zu reden, meine Ängste zu benennen würde die Gefahr noch viel realer machen. Aber das Gegenteil war der Fall: »Du machst den dritten Schritt vor dem ersten«, erklärte mein Mann, als ich ihm doch von meinen Befürchtungen erzählte. »Was Knochenmetastasen bedeuten, darüber machen wir uns Gedanken, wenn wir wissen, dass du welche hast.« Ich brauchte also Klarheit, und von dem Moment an, als mein Arzt mir sagte, dass die Untersuchung noch nicht einmal den Hauch eines Verdachts ergeben hatte, waren die Schmerzen wie weggeblasen.
Ich merkte: Das beste und wirksamste Mittel gegen die Angst ist Wissen. Sobald ich weiß, was mit mir passiert, was in meinem Körper geschieht, warum sich meine Seele so verknotet, desto weniger wird die Angst. »Die Angst ist verschwunden, wenn man ihr die volle Aufmerksamkeit gewidmet hat«, sagt der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti.
Wenn das Hinterfragen und Verstehen also der Schlüssel ist, unsere Angst vor dem Tod zu besiegen, dann sollten wir uns genauer ansehen, was wir im Zusammenhang mit Tod und Sterben wirklich fürchten. Das mag bei jedem etwas anderes sein, bei vielen Menschen dürften aber, wenn nicht alle, dann vielleicht doch einige der folgenden Punkte auf ihrer persönlichen Liste stehen:
Die Angst, Wichtiges nicht erledigt zu haben
Kein sinnvolles Leben gelebt zu haben
Keine Spuren zu hinterlassen
Schmerzen zu haben
Die Würde zu verlieren
Allein sterben zu müssen
Geliebte Menschen zurücklassen zu müssen
Für immer ausgelöscht zu sein
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilft, die eigenen Ängste näher anzuschauen und sie in Fragen zu verwandeln. Denn dann können wir nach Antworten suchen.