Читать книгу Die Fotografin und das Model - Susanne Danzer - Страница 1

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Kapitel 1

»Komm schon, Anny«, jammerte ihr Kollege Marc ins Telefon. Sein schrecklicher Klingelton hatte sie viel zu früh am Morgen aus dem Schlaf gerissen. Dabei war sie erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen, weil das Brautpaar sie nicht hatte gehen lassen. Immer weitere Fotos von der Hochzeitsfeier hatten sie verlangt, obwohl sie vereinbart hatten, dass Anny gegen zweiundzwanzig Uhr die Feier verlassen würde. Irgendwann jedoch war es ihr gelungen zu verschwinden, indem sie sich zum Hinterausgang der Lokalität geschlichen hatte. Schnell war sie in ihren Mini gestiegen und davongebraust, um ja von niemandem mehr aufgehalten zu werden.

»Hör zu, Marc«, sagte sie verschlafen und rieb sich die Augen. »Heute ist mein freier Tag.«

»Du musst mir aus der Patsche helfen«, bettelte er. »Dieses Shooting ist verdammt wichtig und ich komme hier nicht weg, weil die Vogue noch länger bleiben will. Ich kann erst in zwei Tagen zurückfliegen.«

»Das ist nicht mein Problem«, brummte sie.

»Bitte, Annnnyyy, es geht um Chandler Reese. Er ist das männliche Topmodel. Jeder Fotograf reißt sich um ihn. Wenn du das Shooting nicht übernimmst, verliere ich ihn möglicherweise als Kunden, was unglaublich schlecht für meine Karriere wäre. Einem Chandler Reese sagt man nicht ab.«

»Es hilft nichts, wenn du ihn noch so in den Himmel lobst. Ich bin Fotografin für Hochzeiten und Babyporträts. Nicht für Modeshootings«, wehrte sie ab.

»Komm schon! Du kannst das. Du warst im Studium besser als ich. Als Modefotografin könntest du dir eine goldene Nase verdienen, anstatt auf diesen albernen Hochzeiten rumzuhüpfen oder dir Babykotze von der Kleidung zu wischen.«

Ja, Anny kannte Marc schon seit dem Kunststudium und sie war schon immer talentierter gewesen als er. Doch im Gegensatz zu ihr passte er in die Welt der Designer und Topmodels. Er hätte selbst ein Model sein können, mit seinem blendenden Aussehen, dem strahlenden Lächeln und dem sexy Dreitagebart, auf den so viele Frauen abfuhren. Sie selbst wäre in dieser Branche so unpassend wie ein Elefant im Porzellanladen.

Natürlich kannte sie Chandler Reese. Wer nicht? Er zierte nicht nur sämtliche Cover einschlägiger Magazine, sondern auch ganze Plakatwände. Allerdings war er auch ein arroganter Kerl, der mehr Überheblichkeit im kleinen Finger hatte, als manch anderer in seinem ganzen Leben aufbringen konnte. Auf so jemanden hatte sie definitiv keine Lust.

»Anny, du bist meine beste Freundin. Du kannst mich jetzt nicht hängen lassen. Bitte! Ohne dich bin ich verloren.«

»Oh, nun hör schon auf zu jammern. Deine Bettelei ist ja unerträglich«, maulte sie. »In Ordnung. Wann fängt das Shooting an?« Sie versuchte gleichmütig zu klingen, allerdings ließ sich ein genervter Unterton nicht vermeiden.

»Um zehn. Du bist wirklich ein Schatz. Ich verspreche, dass ich es wiedergutmache, sobald ich zurück bin. Alles, was du willst.«

Sie verdrehte die Augen.

»Hör auf, mit den Augen zu rollen, Anny«, sagte Marc.

»Ich habe nichts gemacht.«

»Du brauchst es nicht abzustreiten. Ich kenne dich.«

Erneut seufzte sie. »Dann gib mir die Anschrift durch, damit ich weiß, wo ich hinmuss.«

»Du solltest deinen Badeanzug einpacken. Es geht an den Strand.«

»Was …?«

»Ich schicke dir die Adresse«, meinte er schnell und legte auf.

Anny warf das Handy auf die Decke und ließ sich ins Kissen zurückfallen.

Verdammt! Sie hatte sich wieder mal von Marc dazu breitschlagen lassen, etwas zu tun, was sie eigentlich gar nicht tun wollte. Sie hasste Modeshootings, bei denen die schlanken, grazilen Models stets auf sie herabschauten, nur weil sie nicht Size Zero trug, sondern eher ein paar Kilos zu viel mit sich herumschleppte und ihre blonden Locken ohnehin ein Eigenleben führten. Und das war schon immer so gewesen. Da sie zudem zurückhaltend und unauffällig war, fühlte sie sich in diesen Kreisen unwohl. Sie hasste es, wenn man sie behandelte, als wäre sie es nicht wert, sich in denselben Kreisen aufzuhalten oder gar dieselbe Luft zu atmen. Als sie nach dem Studium gemeinsam mit Marc das Fotoatelier eröffnet hatte, war sie froh, als er sich mit Enthusiasmus auf die Modefotos stürzte. Hochzeiten zu fotografieren war in Ordnung, denn dort konnte sie einfach in der Gästemenge verschwinden. Babys und Kleinkinder interessierten sich nicht für Annys Aussehen und deren Mütter ebenso wenig, da sie nur darauf bedacht waren, dass ihre Kleinen möglichst gut in Szene gesetzt wurden. Jedenfalls hatte sie sich inzwischen einen guten Namen gemacht und konnte ganz passabel von ihrer Arbeit leben, womit sie mehr als zufrieden war, weil sie alles hatte, was sie zum Leben brauchte.

Sie blickte auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand, und fluchte. Es war erst kurz nach sechs Uhr morgens. Schlafen konnte sie vergessen. Würde sie sich eben einen Kaffee machen, um nicht beim Shooting am Strand vor Müdigkeit im Stehen einzudösen und mit dem Gesicht voran in den Sand zu kippen. Also schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf. Als ihr Blick auf ihren Shorty mit pinkfarbenen Schweinchen fiel, verzog sie das Gesicht. Oh Mann, warum musste die Location ausgerechnet eine sein, die ihr so überhaupt nicht lag?

So ein Morgen konnte einem wirklich den Tag vermiesen, bevor er richtig angefangen hatte, dachte Anny und schwang die Beine aus dem Bett, wobei ihr Blick auf ihre Füße fiel. Wenigstens blieb ihr noch genug Zeit, sich die Zehennägel frisch zu lackieren, bevor sie losmusste, sodass ihr Äußeres nicht gänzlich zu einem Debakel würde. Doch zuerst war der Kaffee dran. Sie stand auf und tapste barfuß in die Küche.

Als sie die Dose für das Kaffeepulver öffnete, entdeckte sie, dass diese leer war. Wie es schien, hatte sie beim letzten Einkauf nicht daran gedacht, ein neues Päckchen mitzubringen.

Es konnte nur besser werden. Hoffte sie, bis sie ihren Kühlschrank öffnete, um sich wenigstens ein Glas Milch einzuschenken. Auch hier blickte sie gähnender Leere entgegen. Das durfte doch nicht wahr sein!

Mit Schwung schlug sie die Kühlschranktür zu und ging zurück ins Schlafzimmer. Dort schmiss sie sich rücklings aufs Bett und starrte an die Decke, als plötzlich ihr Handy piepste und fröhlich verkündete, dass eine Nachricht eingetroffen war. Sie warf einen raschen Blick darauf: Danke, Süße … bla, bla … mach es wieder gut … bla, bla … du bist die Beste … bla, bla … Adresse lautet

Genervt warf sie das Smartphone zurück aufs Bett.

Anny war eigentlich niemand, der von Haus aus schlecht gelaunt war. Doch weil sie kaum geschlafen hatte und diesen doofen Job für Marc übernahm, war sie mies drauf und konnte sich im Moment selbst nicht leiden.

Nun gut, jammern half ohnehin nichts. Sie würde duschen und in dem kleinen Café um die Ecke ein Frühstück einnehmen. Ihre Fotoausrüstung stand noch gepackt neben der Eingangstür ihrer Wohnung. Als sie mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, war sie nicht mehr in der Lage gewesen, die schwere Tasche in den Schrank zu stellen. Sie war einfach nur noch fix und fertig ins Bett gefallen.

Knapp zwei Stunden später saß sie mit einer Tasse dampfendem Kaffee zwischen den Händen im Café und fühlte sich bereits versöhnlicher gestimmt mit Marc und dem Rest der Welt.

Während sie einen Schluck trank, warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah geradewegs auf ein Plakat von Chandler Reese – nur in Badeshorts bekleidet, um Werbung für Schwimmmode zu machen. Natürlich präsentierte er seinen perfekten Waschbrettbauch vorteilhaft. Mit einem Seufzer stellte sie den Becher ab. Es würde sicher keinen Spaß machen, davon war sie überzeugt. Modefotografie war für sie eine Qual und daran würde auch das Shooting mit ihm nichts ändern. Oh ja, Marc schuldete ihr einen riesigen Gefallen und den würde sie auch auf alle Fälle einfordern.

Nach einem Blick auf die Armbanduhr schnappte sie sich ihre Taschen und ging hinaus zu ihrem Mini, um zum Strand zu fahren. Sie wollte auf alle Fälle pünktlich sein.

Glücklicherweise gelang ihr das auch, denn wie durch ein Wunder hielt sich der Verkehr auf den Straßen zum Strand in Grenzen.

Als Anny am Ort des Shootings ankam, lief ihr bereits vor Hitze und Anstrengung der Schweiß über den Rücken. Die anderen Mitglieder des Teams waren bereits anwesend. Sie standen in einem kleinen Grüppchen zusammen und musterten sie argwöhnisch, als sie schnaufend ihre Fototaschen neben ihnen abstellte. Nachdem sie kurz erklärt hatte, sie sei der Ersatz für Marc Carter, wurde sie mit leidlichem Enthusiasmus begrüßt. Nach dem heutigen Termin würde sie diese Leute nie wiedersehen. Sie war ohnehin nicht scharf darauf, hier Freundschaften zu schließen.

Offensichtlich war der Star des Shootings noch nicht erschienen. Nun, das sollte ihr recht sein. Auch wenn er gar nicht auftauchen würde, was ihr persönlich am liebsten wäre.

Anny war gerade dabei, ihre Fotoausrüstung noch einmal zu überprüfen, als Bewegung in die Crew kam. Fragend blickte sie auf und entdeckte Chandler Reese, der über den Strand von Newport herangeschlendert kam. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass er lediglich eine halbe Stunde zu spät kam. Wow, das war für jemanden wie ihn praktisch pünktlich. Sie warf einen Blick über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg zu den anderen, die Chandler umringten, als wäre er die Sonne und sie die Planeten, die ihn umkreisten.

»Wieso ist Marc noch nicht da?«, hörte sie Chandler fragen.

»Ist irgendwie verhindert«, antwortete einer seiner Anhänger. »Die da hinten ist der Ersatz.«

Chandler hob den Kopf, und Anny konnte den abfällig musternden Blick förmlich auf sich spüren, den er ihr zuwarf. Täuschte sie sich oder hatte er sie tatsächlich mit einem angewiderten Blick bedacht?

Na wunderbar, dachte Anny ironisch. Der Tag kann nur ein voller Erfolg werden.

Sie atmete tief durch und setzte ihren Weg fort. Musste er eben mit ihr vorliebnehmen oder es sein lassen. Sie war nun mal kein aufgebrezeltes Püppchen in schicken Klamotten und High Heels. Und um für Aufnahmen am Strand im Sand entlangzurobben, waren ihre türkisfarbenen Bermudashorts und das weiß-blau gestreifte T-Shirt gerade recht. Die Klamotten hatte sie nach dem Duschen praktisch blind aus ihrem Schrank gefischt. Selbst ihre langen, blonden Haare hatte sie nur achtlos zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte lediglich ein wenig Make-up und Mascara aufgetragen, um die Spuren ihrer kurzen Nacht zu verstecken. Alles andere war ihr egal. Immerhin war sie zum Arbeiten hier und besuchte keine Party. Zudem konnte man nichts schöner machen, wo es nichts zu verschönern gab.

Chandler schnippte mit den Fingern und rief: »Dauert das noch lange, Ersatzfotografin?«

Anny verdrehte die Augen, erwiderte jedoch nichts darauf. Warum hetzen, wenn er sich noch nicht mal ausgezogen hatte? Bei diesem zweideutigen Gedanken musste sie grinsen. Zudem würde sicher erst mal die Visagistin Hand anlegen wollen, besonders um sein braunes Haar zu stylen. So war es dann auch, und es dauerte eine weitere halbe Stunde, bevor Anny überhaupt gebraucht wurde und die Chance hatte, erste Aufnahmen zu machen.

Wie immer, wenn sie durch die Linse einer Kamera sah, vergaß sie die Welt um sich herum. Es gab nur noch sie, das Motiv und die Stimmung, die sie einfangen wollte. In diesem Moment war es eben Chandler Reese. Viele Anweisungen musste sie ihm nicht geben, denn er war eindeutig ein Profi vor der Kamera. Immer, wenn sie eine kurze Pause machten, ließ sich Chandler die Aufnahmen zeigen, brummte etwas Unverständliches und begab sich wieder in Position.

So ging es bis in den späten Nachmittag hinein, als endlich der Leiter des Teams das Ende verkündete und sich alle ans Aufräumen machten.

Anny packte gerade ihre Ausrüstung in die dafür vorgesehene Tasche, als sie aufschaute und ihr Blick zufällig auf Chandler fiel, der mit den Füßen im Wasser stand und gedankenversunken auf das Meer hinaus in die Ferne blickte. Die Abendsonne brachte sein braunes Haar zum Glänzen. Es hatte etwas Anrührendes, und Anny konnte nicht anders, als ihre Kamera zu heben, die sie noch in der Hand hielt, und ihn zu fotografieren, ohne dass er es bemerkte. Es kam ihr so vor, als hätte sie einen verletzlichen Moment seiner Seele eingefangen.

Gerade als sie die Kamera sinken ließ, drehte er den Kopf und sah in ihre Richtung. Rasch senkte sie den Blick und brach damit den Zauber des Moments.

Als sie ihre Sachen verstaut hatte, kramte sie eine Visitenkarte hervor und reichte sie im Vorbeigehen Chandler. Er sah sie beiläufig an und steckte die Karte in die Taschen seiner Jeans. Nach einem knappen Abschiedsgruß ging sie über den Strand davon zu ihrem Auto.

Hinter dem Steuer ihres Mini atmete sie tief durch. Der Tag war nicht ganz so schlimm geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte. Dennoch war sie froh, zu Hochzeitspaaren und Babys zurückkehren zu können.

Bye, Chandler Reese, dachte sie, auf Nimmerwiedersehen.

Dann startete sie das Auto.

Die Fotografin und das Model

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