Читать книгу Die Fotografin und das Model - Susanne Danzer - Страница 2
ОглавлениеKapitel 2
Es war spät geworden. Anny hatte lange gearbeitet und schloss gerade das Atelier hinter sich ab, als ihr Handy klingelte. Seltsam. Wer rief sie um diese Zeit noch an? Es war schließlich bereits kurz vor Mitternacht. Sie fischte das Smartphone aus ihrer Handtasche und meldete sich.
»Ist da Anny?«, fragte eine männliche Stimme, die sie wegen des Lärms im Hintergrund kaum verstehen konnte.
»Ja. Wer ist denn da?«, wollte sie wissen.
»Ich bin Joe. Der Barkeeper der Sunrise Bar. Könntest du herkommen und deinen Freund Chandler abholen?«
»Wen?« Wovon sprach dieser Kerl?
»Chandler. Chandler Reese. Er hat mir deine Karte gegeben und gesagt, du holst ihn ab. Der Typ ist besoffen. Jemand muss ihn abholen.«
»Warum setzen Sie ihn nicht einfach in ein Taxi?«
»Weil er sich weigert. Hör zu, Mädchen: Er will von dir abgeholt werden. Er hat noch was von einem silbernen Medaillon gefaselt, das du bestimmt haben willst. Keine Ahnung, was er damit gemeint hat. Ist mir zudem vollkommen schnurz. Komm einfach her und hol ihn ab.«
Damit legte er auf.
Verdutzt blickte Anny auf ihr Handy. Verdammt, anscheinend musste sie ihn tatsächlich aufgabeln, denn es klang beinahe so, als hätte Chandler Reese das Medaillon ihrer Großmutter gefunden, das sie beim Shooting am Strand verloren haben musste. Jedenfalls war es weg gewesen, als sie danach heimkam. Sie hatte es überall gesucht, aber nirgends gefunden. Jetzt wusste sie, wo es sich befand. Natürlich war sie erleichtert und mehr als froh darüber, dass es wieder aufgetaucht war. Weniger schön war die Bedingung, unter der sie es wiederbekam. Sie seufzte. Um die Kette zu erhalten, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und den Kerl abholen.
Sie wusste, dass die Sunrise Bar im Westen der Stadt lag und sie somit einen großen Umweg machen musste. Das würde sie noch eine ganze Weile von ihrem wohlverdienten Schlaf abhalten, doch sie wollte auf keinen Fall das Medaillon länger als nötig in den Händen dieses Ignoranten wissen. Anny hing an diesem kleinen Erbstück, denn ihre Großmutter war der liebste und beste Mensch in ihrem Leben gewesen. Selbstverständlich würde sie praktisch alles dafür tun, um es wieder bei sich zu wissen. Immerhin hatte sie es in den letzten Jahren, seit sie es bekommen hatte, jeden Morgen angelegt, sobald sie das Haus verließ.
Nun gut, dann machte sie sich wohl besser auf den Weg.
***
Als sie die Bar betrat, schlug ihr Lärm entgegen, der ihr in den Ohren klingelte. Ein Gemisch aus Stimmen, Musik und Gläserklirren. Anny blickte sich um und entdeckte Chandler auf einem Barhocker sitzend, den Kopf auf den Tresen gelegt. Ganz offensichtlich hatte er zu tief ins Glas geschaut.
Hinter der Bar stand ein kahl rasierter, muskulöser Mann, der ein Glas abtrocknete. Rasch ging sie hinüber und stellte sich neben Chandler, der völlig weggetreten schien. Als Anny ihn an die Schulter stupste, hob er träge den Kopf und grinste sie an.
»Die Ersatzfotografin«, nuschelte er und versuchte sich zu ihr umzudrehen, wobei er fast von seinem Barhocker fiel. Er brach in haltloses Kichern aus.
»Bist du Anny?«, fragte der Typ hinter der Bar und sie nickte. »Gut, dann schaff ihn mal nach Hause. Der Schönling hat definitiv genug für heute. Besser, er kommt ins Bett und schläft seinen Rausch aus.«
»Wenn ich nur wüsste, wo sein Bett ist«, murmelte sie und nickte dem Barmann erneut zu.
Sie griff unter Chandlers Achsel, legte sich seinen Arm um die Schulter und hievte ihn hoch.
Er kicherte immer noch, während sie ihn nach draußen zu ihrem Auto bugsierte, was nicht gerade einfach war, denn er hatte ordentlich Seegang. Zum Glück erreichten sie den Mini, ohne dass sie beide ungewollt Bekanntschaft mit dem Asphalt machten. Sie lotste ihn zur Beifahrerseite, wo sie ihn gegen den Kotflügel lehnte, um den Autoschlüssel aus ihrer Hosentasche herauszukramen und den Wagen zu öffnen.
Erleichtert atmete sie aus, als er endlich angeschnallt auf dem Beifahrersitz saß und sie bereit war loszufahren. Sie fragte sich allerdings, wohin.
»Wo wohnst du?«
»Ich hab keine Ahnung«, gluckste er.
Oh Mann, das konnte ja heiter werden. »Du musst doch deine Adresse kennen.«
»Kenn ich auch. Nur grad eben nich.«
Was sollte sie jetzt mit ihm machen? Ihr kam eine Idee. Sie startete den Wagen und fuhr los, nur um kurze Zeit später vor Marcs Haus zu parken. Chandler war während der Fahrt eingeschlafen und hatte den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, die von seinem Atem beschlug.
Als sie ausstieg, um Marc zu holen, zog sie vorsichtshalber den Autoschlüssel ab und nahm ihn mit. Sicher war sicher.
Sie musste ein paarmal die Klingel betätigen, bevor ein verschlafener und übel gelaunter Marc die Tür öffnete.
»Was gibt’s?«, maulte er.
»Hallo Marc«, grüßte sie ihn betont fröhlich.
»Anny, was tust du hier um diese Zeit? Es ist mitten in der Nacht. Bist du verrückt geworden? Du weißt, wie dringend ich meinen regelmäßigen Schlaf brauche.«
»Ich habe Chandler Reese in meinem Wagen sitzen.«
»Chandler? Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden? Trotzdem ziehst du mit ihm um die Häuser?«
»Ich bin nicht … Hey, was denkst du von mir?«, protestierte sie. »Der Barkeeper aus der Sunrise Bar hat mich angerufen, dass ich ihn abholen soll. Chandler hatte meine Visitenkarte in der Tasche und wohl darauf bestanden, dass ich ihn nach Hause fahre. Tja, er kann sich nur nicht daran erinnern, wo er wohnt. Der Alkohol hat sein Hirn komplett lahmgelegt.«
»Das weiß ich auch nicht. Wir sind ja keine dicken Kumpels. Die Aufträge mit ihm laufen immer über die Agentur. Die buchen mich und geben mir den Ort für das Shooting durch. Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
»Darf ich dich an den Gefallen erinnern, den du mir schuldest? Ich dachte, er kann in deinem Gästezimmer übernachten.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.« Entsetzt blickte er sie an. »Auf gar keinen Fall.«
»Wo soll ich denn mit ihm hin?«
»Nimm ihn mit zu dir«, schlug Marc vor.
»Du hast ein leer stehendes Gästezimmer und ich soll ihn mit zu mir in meine kleine Wohnung nehmen?« Anny war erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen. Damit hätte sie nun wirklich nicht gerechnet.
»Du warst diejenige, die ihn in dieser Bar eingesammelt hat. Außerdem habe ich Besuch, da kann ich schlecht einen Betrunkenen in mein Haus aufnehmen. Ich habe dich zwar schrecklich gerne, Anny, doch im Moment ist es mir unmöglich, dir zu helfen. Sonst jederzeit gerne. Nur nicht heute.«
»Was soll ich denn jetzt mit ihm machen? Ich will ihn nicht mit zu mir nach Hause nehmen.«
»Dann bringe ihn in einem Motel unter. Der wird schon heimfinden, wenn er wieder nüchtern ist. Ist sicherlich nicht das erste Mal, möchte ich wetten.« Marc zuckte mit den Schultern. »Und jetzt entschuldige mich. Ich muss mich wieder um meinen Gast kümmern.«
Mit diesen Worten schlug er ihr förmlich die Tür vor der Nase zu. Sprachlos stand Anny da. Marc hatte sie tatsächlich im Stich gelassen. Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Schock überwunden hatte. Sollte sie noch einmal läuten? Hatte wohl wenig Sinn. Marc würde nicht aufmachen. Er würde sie einfach ignorieren. Immerhin hatte er »Besuch«. Sie wollte lieber nicht wissen, wer da bei ihm war. Es schmerzte sie allerdings, so von ihm im Stich gelassen zu werden. Sie hätten Chandler ins Gästezimmer bringen können, ohne dass Marcs Gesellschaft etwas davon mitbekommen hätte. Und das Model war betrunken genug, dass es bis zum nächsten Morgen durchschlafen würde, ohne auch nur einmal aufzuwachen. Während ihrer gemeinsamen Collegezeit hätte er so etwas niemals getan. Damals hätte er ihr kichernd geholfen und wahrscheinlich der Versuchung nicht widerstehen können, Chandler mit einem wasserfesten Stift einen Schnurrbart aufzumalen. Diese Zeiten schienen vorbei zu sein. Was war nur aus ihm geworden? War er genauso oberflächlich wie seine Kunden?
Enttäuscht wandte sie sich ab, ging zum Auto zurück und stieg ein. Sie warf einen Blick auf Chandler, der immer noch tief und fest schlief. Ein dünner Spuckefaden lief ihm das Kinn entlang. Seltsam, ihn so zu sehen. Es machte ihn beinahe sympathisch und dämmte die Vorurteile ein wenig ein, die sie von ihm hatte. So wie er dort neben ihr saß, hatte er etwas überraschend Weiches und Verletzliches. Ein Motel mochte eine Lösung sein. Sie griff nach ihrer Handtasche und kramte darin herum. Damit hatte sich diese Option in Luft aufgelöst: Sie hatte ihren Geldbeutel im Atelier vergessen.
Anny seufzte und startete den Motor. Wohl oder übel würde der gute Chandler eben mit ihrem alten Sofa vorliebnehmen müssen, anstatt komfortabel in einem Designerbett in Marcs Gästezimmer zu schlafen.
Während sie durch die nächtliche Stadt zu ihrer Wohnung fuhr, fragte sie sich, wie einsam Chandler Reese wohl tatsächlich war, wenn er sich von ihr abholen ließ, einer quasi Fremden. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er sie längst wieder vergessen hatte. Umso komischer war es, jetzt neben diesem Topmodel im selben Auto zu sitzen. In ihrem Auto, um genau zu sein.
Als sie vor dem Haus ankamen, in dem Annys Wohnung lag, fand sie glücklicherweise einen Parkplatz in der Nähe der Tür. Ihr schwante, dass es nicht einfach würde, den betrunkenen Chandler in ihr Apartment zu bekommen. Und sie behielt recht: Er war wie ein nasser Sack. Zum Glück funktionierte der Aufzug, was es ihr ersparte, Chandler in den sechsten Stock zu schleifen.
Als sie es endlich in ihr Apartment geschafft hatten, ließ sie ihn aufs Sofa plumpsen und versuchte ihn in eine einigermaßen stabile und bequeme Liegeposition zu bringen.
Nachdem es ihr gelungen war, ging sie und holte eine Decke und ein Kissen aus dem Schrank im Flur. Als sie ihn mit allem versorgt hatte, warf sie einen letzten Blick auf ihren unliebsamen Gast und ging ebenfalls schlafen.
***
Ein Scheppern und Fluchen aus dem Wohnzimmer riss Anny ein paar Stunden später unsanft aus dem Schlaf. Sie sprang aus dem Bett und eilte hinüber in den anderen Raum.
Chandler lag neben dem Sofa auf dem Boden und versuchte sich aus der Decke zu befreien, in der er sich verfangen hatte. Sein Haar war zerzaust und stand wild in alle Richtungen ab. Es war so komisch, dass Anny nicht anders konnte, als zu lachen.
Schnell eilte sie zu ihm und half ihm dabei, sich zu befreien. Als das geschafft war, starrte er sie mit einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung an. Irritiert blickte er sich um.
»Wo zum Teufel bin ich?«, verlangte er zu wissen. »Und warum zur Hölle bin ich hier?«
»Du bist in meiner Wohnung«, antwortete Anny und versuchte ruhig zu bleiben. »Ich habe dich hierhergebracht, nachdem ich dich aus einer Bar abgeholt habe und du dich nicht an deine Adresse erinnern konntest.«
»Habe ich mich etwa von dir abschleppen lassen?«
»Was soll das jetzt bitte schön heißen?«
»Na, ich muss schon sehr besoffen gewesen sein, wenn ich zulasse, dass mich eine wie du aufreißt.«
Annys Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. »Hör zu, ich hab keinen großen Wert darauf gelegt, nachts durch die halbe Stadt zu fahren, um dich in der Sunrise Bar abzuholen. Doch der Barkeeper hat darauf bestanden, dass ich kommen soll, weil du danach verlangt hast. Also hör auf dich zu beklagen.«
»Ich soll gewollt haben, dass du mich abholst?« Er schnaubte. »Das hättest du wohl gern, Ersatzfotografin.«
»War ja klar.«
»Was?«
»Dass du jetzt große Töne spuckst, Möchtegernherzensbrecher. Ich bin lediglich dorthin gefahren, um das Medaillon meiner Großmutter wiederzubekommen. Zufällig hänge ich sehr daran. Ansonsten hättest du von mir aus irgendwo verrotten können.«
»Auf mich stehen die Leute wenigstens, was man von dir ja wohl kaum behaupten kann.«
»Dann gib mir die Kette und hau ab. Gleich da hinten ist die Tür. Verschwinde. Ich lege keinen Wert auf deine Gesellschaft.«
»Du schmeißt mich raus?«
»Scheint wohl eine neue Erfahrung für dich zu sein, was?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »So gut warst du jetzt auch wieder nicht, dass ich dich am Morgen danach hierbehalten müsste«, erwiderte Anny sarkastisch. »Tja, normalerweise biete ich den Männern, die ich in Bars aufreiße, am nächsten Morgen noch einen Kaffee an, aber bei dir verzichte ich großzügig darauf.«
»Pah, als ob ich mich mit einer wie dir einlassen würde.«
»Gut, das nächste Mal soll dich der Barkeeper einfach in die Gosse schmeißen, wenn die Bar schließt. Da passt du viel besser hin. Auf meine Hilfe brauchst du jedenfalls nicht mehr zu hoffen. Und jetzt hau ab.«
Sie drehte sich um, ging zur Wohnungstür, öffnete sie und bedeutete ihm wortlos, er solle genau durch ebendiese verschwinden. Nicht ohne auffordernd die Hand auszustrecken. Sie würde ihn nicht gehen lassen, solange er noch das Medaillon hatte.
Einen Moment lang sah es so aus, als wäre er unschlüssig, was er tun sollte, doch dann zog er die Kette aus seiner Hosentasche, ließ sie auf ihre Handfläche fallen und verließ das Apartment. Nicht ohne ihr noch einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
»Scheißkerl«, sagte sie wütend und warf die Tür hinter ihm ins Schloss. Was für ein arroganter Mistkerl! Als ob sie freiwillig dort gewesen wäre. Dankbarkeit konnte man von einem wie ihm wohl nicht erwarten.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Damit hatte Chandler Reese sein Kontingent an Hilfsbereitschaft von ihrer Seite mit einem Schlag ausgeschöpft. Mehr würde er von ihr ganz sicher nicht bekommen. Sie hoffte sehr, ihn niemals wiedersehen zu müssen.