Читать книгу Wer küsst hier wen? - Susanne Fülscher - Страница 6
zu schön
für diese welt
ОглавлениеDie Wohnung war hässlich.
Sie war schon am Tag des Einzugs hässlich gewesen, als Umzugskisten den Weg blockiert hatten und Flip Flops, Zuckerdosen, Kloreiniger und Keksschachteln durcheinander geflogen waren. Aber auch eine Woche später, nachdem sich Helen und Ebbi ohne Hilfe des Machos und ohne Maus (beide waren wie vom Erdboden verschluckt) einigermaßen eingerichtet hatten, war aus dem hässlichen Entlein kein Schwan geworden.
Beispielsweise das Bad. An der Wand eine beige gemusterte Tapete, die Fliesen eitergelb mit giftgrünen Hühnerschiss-Sprenkeln, Toilette und Badewanne versprühten Anmut und Grazie einer Bedürfnisanstalt aus längst vergangenen Epochen. Ebbi hatte sich zwar alle Mühe gegeben, dem fensterlosen Kabuff durch Muscheln und Seesterne ein maritimes Flair zu verleihen, doch es war, als wollte man versuchen, verdorbenen Fisch wieder zum Leben zu erwecken.
Aber auch der Rest der knapp 90 Quadratmeter erinnerte mehr an ein Domizil für Hausbesetzer als an eine Wohnung. Zu DDR-Zeiten waren die Holzdielen mit Linoleum in einer undefinierbaren Schlammfarbe überklebt worden, die Tapeten moderten einen Farbton heller vor sich hin. Wer nicht schon lebensmüde war, konnte es hier schnell werden.
Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, brachten Ebbi und Helen leuchtend rot-orangefarbene Vorhänge an, sie dekorierten ihre Betten mit Überwürfen, das Gemeinschaftszimmer wurde mit Helens Cordsofa, einem zitronengelben Paravent vom Flohmarkt und alten, von Helens Mutter gesponserten Praxisstühlen bestückt.
Irgendwann, so nahmen sie sich vor, würden sie die Wohnung komplett renovieren. Tapeten runter, Farbe an die nackten Wände, Dielen abziehen, die Toilette austauschen, vielleicht sogar eine Heizung einbauen lassen. Wann das allerdings sein würde, stand in den Sternen. Renovieren kostete Zeit und Geld. Und von beidem hatten sie nicht genug.
Helen steckte so kurz vor den Sommerferien bis zur Halskrause in Klausur-Vorbereitungen; Ebbi, die seit kurzem frisch gebackene Abiturientin war, hatte ein Praktikum beim xylo, einem neuen Berliner Citymagazin, ergattert. Für stolze 300 Euro im Monat ging sie den Redakteuren bei den Recherchen zur Hand, textete Bildunterschriften und schrieb bisweilen kleine Artikel. Mit ein bisschen Glück würde man ihr nach dem Praktikum vielleicht ein Volontariat anbieten. Doch bis dahin war es noch ein langer Weg, denn im Moment kochte sie vor allem Kaffee, holte Kuchen für die Belegschaft, Aspirin für ihre Chefin Frau von Eschenburg, Gummibärchen für Claas, mit dem sie das Zimmer teilte, erledigte Botengänge für Chefredakteur Pitschke und, und, und ... Doch Ebbi störten diese Begleiterscheinungen, wie sie es nannte, herzlich wenig. Schon immer war es ihr Traum gewesen, Journalistin zu werden. Egal wie, egal zu welchem Preis. Dass sie so schnell beim xylo untergekommen war, glich sowieso einem kleinen Wunder. Drei Mails hatte sie geschrieben, viermal angerufen und Frau von Eschenburg von der Mittagspause abgehalten, dann hatte man sie endlich genommen. Wegen ihrer Hartnäckigkeit, wohl aber auch wegen ihres frischen unverbrauchten Tons, den sie in den Mails hatte anklingen lassen. Seitdem schwebte Ebbi – so hart der Arbeitsalltag in der Redaktion auch sein mochte – auf Wolke sieben.
Eine Woche nach dem Einzug also – es war ein für die Jahreszeit zu kühler und regnerischer Sonntag – saßen Ebbi und Helen beim Frühstück in der Küche und dachten darüber nach, ob ein dritter Mitbewohner wohl ihre traute Zweisamkeit stören würde. Von oben dröhnte Hildegard Knefs Stimme. Für mich soll’s rote Rosen regnen – Lieblingssong des lilaweißen Pagenkopfs, dessen Bekanntschaft sie am Umzugstag zwangsweise gemacht hatten. Einmal pro Tag drehte die alte Dame ihre Anlage so laut auf, dass die Tassen in Ebbis und Helens Küchenschrank vibrierten. Und so eine hatte sich angemaßt, ihnen wegen gar nicht stattfindender Sex-Abenteuer einen Vortrag zu halten.
„Vielleicht wird mit einem dritten Mitbewohner aber alles auch noch viel spaßiger“, sagte Helen. „Je nachdem, wer hier einzieht ...“
Ebbi nickte bloß. Theoretisch hatte Helen Recht, nur jetzt, da die Sache konkret wurde, bekam sie doch ein wenig Muffensausen. Dabei war von Anfang an klar gewesen, dass sie das Zimmer neben dem Bad des Grauens vermieten würden. Nicht weil ihnen die Wohnung zu groß vorkam, sondern weil sie unter chronischem Geldmangel litten. Ebbi musste bei ihrem mageren Verdienst jeden Cent dreimal umdrehen, aber auch Helen wurde von ihren Eltern kurz gehalten. Absichtlich. Damit sie lernte, dass das Geld nicht bündelweise vom Himmel regnete, sondern hart verdient werden wollte.
„Vorschlag: Wir verteilen ein paar Flyer in der Gegend und probieren es einfach aus.“ Helen lächelte aufmunternd, dann legte sie ein Stück nassen, wabbeligen Tofu auf ihr Körnerbrot und beschmierte das Ganze mit Meerrettich. „Wunderschönes WG-Zimmer in Traumwohnung zu vermieten ...“
„Igitt, wie kannst du das bloß essen!“ Ebbi musste kurz wegsehen. Ihr wurde allein schon vom Anblick übel. Alles, was beim Frühstück über Schokocreme und Marmelade hinausging, zeugte in ihren Augen nicht nur von übertriebenem Gesundheitsbewusstsein, sondern auch von schlechtem Geschmack.
Aber Helen kaute und grunzte und erklärte ungerührt, dass Ebbi bei ihrem Süßkramkonsum sowieso nochmal an Herzverfettung sterben würde. Ach, und vorher würden ihr noch die bis dahin vergammelten Zähne ausfallen.
„Na, vielen Dank auch.“ Ebbi biss in ihr Croissant, auf dessen Spitze ein dicker Marmeladenklecks klebte. „Dann solltest du dir vorsichtshalber schon mal zwei Mitbewohner suchen. Ich falle ja demnächst aus.“
„Wird gemacht!“ Helen lachte und bot sich an, in der Humboldt-Uni Zettel ans schwarze Brett zu pinnen. Unter Garantie gäbe es etliche Studenten, die für ein billiges Zimmer in einer Traumwohnung über Leichen gehen würden.
„Okay.“ Ebbi taxierte eine Weile nachdenklich ihre rosa lackierten Fingernägel, dann sagte sie: „Ich könnte unten im Café nachfragen, ob wir dort ein paar Flyer auslegen dürfen.“
„Klar, mach nur.“ Ein breites Grinsen huschte über Helens Gesicht. „Und schönen Gruß an den Macho-Arsch.“
Immer wieder in den letzten Tagen hatten die Mädchen einen Abstecher ins Café gemacht, um Antonio zum Aufbauen der Regale anzuheuern, aber umsonst. Der Kerl hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Was Ebbi und Helen ziemlich empörte. Erst bot er großspurig seine Hilfe an, weil die ach so zarten weiblichen Wesen seiner Meinung nach sowieso nicht in der Lage waren, Hammer und Wasserwaage in die Hand zu nehmen, und dann verdünnisierte er sich einfach in einer Nacht- und Nebelaktion.
Aber sie hatten es auch so geschafft. Ohne männliche Hilfe. Nur einmal war Helens Mutter, die selten freiwillig einen Schritt über die Türschwelle der ostigen Wohnung setzte, vorbeigekommen, um beim Anbringen der Lampen und beim Programmieren des Fernsehers mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Der schöne Mann mit dem unwiderstehlichen Geruch von Aftershave, reifen Pfirsichen und Kornfeldern war für Ebbi gestorben. Mit Seifenblasen, die vorschnell platzten, wollte sie nichts zu tun haben. Dafür war das Leben zu kurz und die Männerwelt zu schillernd.
Umso perplexer war sie, als sie am Nachmittag die kopierten Zettel im Café abgab und dem Adonis dabei direkt in die Arme rannte. Ohne dass sie es verhindern konnte, lief sie so rot an wie ein Hummer, den man gerade ins siedende Wasser geworfen hatte.
„Che sorpresa!“ Antonio musterte sie von oben bis unten, dann sagte er in breitestem Norddeutsch: „Du siehst heute so ... ja so ... ladylike aus. Ganz anders als neulich.“
„Neulich war Umzug“, konterte Ebbi. „Da trägt man selten Rock und Flip Flops.“ Auch wenn alles in ihr flatterte, bemühte sie sich um einen schroffen Tonfall. Bloß nicht wie eine aus dem Takt geratene Mickymaus sprechen, bloß nicht zeigen, wie durcheinander sie war!
„Oh, heute Kratzbürste?“
„Ganz genau. Kratzbürste. Ich erinnere mich nämlich dunkel daran, dass uns jemand bei den Regalen helfen wollte.“
„Madonna mia! Mi dispiace!“ Antonio schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, dann lächelte er wieder sein Filmstar-Lächeln: „Allora? Alles gut gelaufen?“
„Ja. Super.“ Ebbi konnte es sich nicht verkneifen, noch hinzuzufügen, dass sie und Helen die Regale ganz allein aufgebaut hätten und wie unglaublich spaßig das gewesen sei.
Mit ernster Miene deponierte Antonio sein Tablett auf dem Tresen und sagte: „Meine Tante ist an der Hüfte operiert worden ... A Roma. Ich musste mich um sie kümmern ... capisci?“
Ebbi nickte bloß und kam sich ziemlich schäbig vor. Sie hatte die ganze Zeit nur an sich gedacht. An sich, ihre Bequemlichkeit und an etwas, was man wohl flirten nannte.
„Aber du hast Recht. Ich hätte wenigstens Karl Bescheid sagen sollen, unserem Koch. Oder meiner Chefin ...“
„Schon okay.“ Ebbi versenkte sich in seine dunklen Augen und versuchte, die Stimme zu ignorieren, die ihr wie von ferne immer wieder zuflüsterte: Lass die Finger von dem Kerl! Er ist zu schön für diese Welt!
Um die Sache rasch hinter sich zu bringen, wedelte sie mit den kopierten Zetteln und fragte, ob sie ein paar davon im Café auslegen dürfe.
„Aha? Ihr sucht noch jemanden für eure WG?“ Antonio lächelte wieder, und dieses Lächeln war verlockender als jede Pralinenschachtel dieser Welt. „Wie schade, dass ich schon versorgt bin. Che peccato!“
„Ja, schade“, murmelte Ebbi und stellte sich einen Moment lang vor, wie es wohl wäre, mit Antonio Kühlschrank, Klo und Freizeit zu teilen. 24 Stunden Prickeln am Tag? 24 Stunden Herzklopfen? Oder würde es spätestens dann vergehen, wenn sich Teller mit angetrockneten Essensresten stapelten und überall stinkige Männersocken herumflogen?
„Klar kannst du die Zettel hier lassen. Lass den Stapel einfach hier liegen, ich verteile die Zettel später auf den Tischen.“
Antonio griff wieder nach dem Tablett und begleitete Ebbi nach draußen. Obwohl es nieselte und nicht besonders warm war, saß ein Pärchen eng an die Hauswand gedrückt und küsste sich.
„Guck mal, wie im Film!“, raunte Antonio ihr zu und berührte sie dabei so sanft an der Schulter, dass ihr abwechselnd heiße und kalte Schauer über den Rücken liefen. „Magst du Filme?“
Natürlich, dachte Ebbi, was für eine dumme Frage, antwortete dann aber: „Ich mag Filme in jedem Aggregatzustand. Fernsehen, Video, DVD oder Kino ...“
„La Cinema!“, unterbrach sie Antonio und fasste sie um die Taille. „Ich bin ein ... grande ... Cineast! Wenn du Lust hast ... wir könnten ja mal ...“, er zog seine Hand wieder weg, „ ... zusammen ins Kino gehen.“
Seine Worte trafen Ebbi wie ein Paukenschlag. Sie brachte nicht mal ein Nicken zu Stande, starrte ihn bloß wie versteinert an.
„Nächste Woche Freitag? Um acht? Che ne pensi?“
„Freitag ... Ja, das geht in Ordnung“, sagte Ebbi wie von einer fernen Macht gesteuert. Wie konnte sie nur? Freitagabend fand beim xylo die wichtigste Konferenz der Woche statt, und manchmal zog sie sich bis neun, zehn Uhr hin.
Doch zu spät. Sie hatte zugesagt. Antonio schlug als Treffpunkt das Colosseum vor, was Ebbi nur recht war. So musste sie Helen vorerst nichts von der Verabredung mit dem peinlichen Macho-Arsch sagen. Als Antonio nur einen Atemzug später wieder im Café verschwunden war, fühlten sich ihre Beine wie Gummi an, ihre Handinnenflächen klebten, und ihr Herz raste.
„Ja, ja, der Antonio“, drang wie aus weiter Ferne eine Stimme an ihr Ohr. „Ein ganz schlimmer Finger! Hat’s auf alle hübschen jungen Mädchen abgesehen.“
Erst jetzt merkte Ebbi, dass sie gerade an der alten Dame aus ihrem Haus vorbeigeschlurft war.
„Guten Tag, Frau Peschke“, sagte Ebbi höflich. „Ich war mit den Gedanken ganz woanders.“
„Das habe ich allerdings gemerkt!“ Frau Peschke lachte.
So übel Ebbi die Frau aus dem dritten Stock beim Umzug auch aufgestoßen war und so sehr sie bisweilen mit ihrer Hildegard-Knef-Musik nervte, in den letzten Tagen hatte ihr Nachbarschaftsverhältnis eine entscheidende Wendung genommen. Von der drohenden Gefahr stöhnender Pärchen war nicht mehr die Rede gewesen, stattdessen hatte die Peschke den Mädchen einmal mit einer Rolle Klopapier ausgeholfen und ein anderes Mal den Wasserableser für sie in die Wohnung gelassen. Die Krönung war jedoch ein Teller mit selbst gebackenen Quarkkeulchen gewesen, den sie ihnen zur offiziellen Begrüßung runtergebracht hatte. Selbst Helen, die die Kombination aus Fett und Zucker normalerweise verteufelte, war gegen den zahnschädigenden Süßkram nicht immun gewesen.
„Tja, Liebe macht blind, was?“
„Wie – welche Liebe?“, fragte Ebbi mit immer noch schlotternden Knien.
„Na ja, der junge Mann hat Sie ja mächtig um den kleinen Finger gewickelt.“ Frau Peschke hob ihren Zeigefinger und ließ ihn wie ein Metronom hin- und herschwingen. „Aber lassen Sie es sich gesagt sein: Der Antonio treibt es doll. Gerade gestern habe ich ihn in der Kaufhalle bei den Südfrüchten gesehen. Arm in Arm mit einer Wasserstoffblondine.“
„Das heißt ja wohl noch gar nichts“, sagte Ebbi und merkte, wie sich alles in ihr sträubte. Was, wenn Frau Peschke Recht hatte? Andererseits spazierte sie manchmal selbst mit ihrem Kollegen Claas Arm in Arm durch die Redaktionsräume. Und zwischen ihnen lief nichts, rein gar nichts.
Sie half Frau Peschke noch dabei, die Einkaufstaschen in deren Wohnung zu befördern, dann polterte Ebbi die Treppen wieder nach unten. Bloß schnell nach Hause und einmal tief durchatmen.
Helen lag auf dem Cordsofa, das Chemiebuch auf dem Bauch, allerdings starrte sie bloß Löcher in die Luft.
„Na? War der Macho endlich mal wieder da?“, fragte sie, indem sie weiter die Decke taxierte.
„Ja.“
„Und?“ Helen fuhr in die Senkrechte. „Wieso hat er uns versetzt?“
„Er musste seine Tante in Rom pflegen. Sie ist an der Hüfte operiert worden.“
Helen lachte gellend auf. „Tante in Rom! Hüft-OP! Das klingt aber ziemlich nach Ausrede!“
„Unsinn. Wenn Antonio Halbitaliener ist – und danach sieht’s ja wohl aus –, kann er doch eine Tante in Rom haben.“
„Hat er ja auch vielleicht, aber ...“ Helen strich sich ihre Haare im Nacken glatt und band sie mit einem Zopfgummi zusammen. „Ich weiß nicht ... irgendwie sagt mir mein Instinkt, dass er lügt. Vielleicht weil er so grässliche Lackaffen-Klamotten trägt, keine Ahnung.“
„Er ist Kellner. Da muss er so was anhaben.“
„Pah! Polohemd mit hochgestelltem Kragen!“, rief Helen verächtlich. „Damit kann er vielleicht in Rimini oder auf Sylt punkten, aber doch nicht in Prenzlauer Berg!“
Ebbi nickte bloß und versuchte, ihren roten Kopf vor Helen zu verbergen. Sie fand Antonios Look gar nicht mal so übel. Ganz abgesehen davon, dass es ihr völlig egal war, was er trug. Am liebsten wollte sie ihn sowieso ohne Klamotten haben. Nackt. In ihrem Bett. Und ohne dass in seinem Leben noch eine namenlose Wasserstoffblondine herumspukte.