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Strategie 1: Fokus –
Aufmerksamkeit bewusst lenken
ОглавлениеSich fokussieren zu können, ist ein wesentliches Kriterium für den unternehmerischen Erfolg. Der Fokus auf bestimmte Themen erfordert eine gute Entscheidung: Wir fragen uns:
• Was ist wirklich wichtig?
• Auf was kommt es hier tatsächlich an?
Die Basis: Leverage Points identifizieren
Um den richtigen Fokus zu finden, ist es hilfreich, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte, wesentliche Faktoren zu richten, damit zu arbeiten und diese so in ihrer Wirkung zu verstärken. Das sind die Faktoren, die das Unternehmen entwickeln und die es voranbringen. Um diese Faktoren zu identifizieren, ist eine fundierte Kenntnis des Unternehmens und der Zielmärkte erforderlich. Die Fähigkeit, das eigene Unternehmen zu beobachten, sich Zeit zu nehmen, um Muster zu erkennen und diese zu nutzen, ist hier von besonderem Wert. Sind diese sogenannten »Leverage Points« identifiziert, können Sie systematisch Ihren Fokus auf diese Punkte richten und hier die möglichen Hebel nutzen.
Flexibel bleiben
Gleichzeitig ist es wesentlich, im Rahmen des gefundenen Fokus flexibel und veränderungsfähig zu bleiben. Alles um Sie herum unterliegt einer permanenten Veränderung, die sich in Ihrer eigenen Flexibilität widerspiegelt. Dabei gilt es, eine gute Balance zwischen Stabilität und Veränderung im Unternehmen zu realisieren.
Wir widmen uns auf den folgenden Seiten diesen fünf Themen:
Fokus 1: Aufmerksamkeitsmanagement
Fokus 2: Aufmerksamkeit und Denken
Fokus 3: Leverage Points in Systemen erkennen
Fokus 4: das Prinzip Langfristigkeit
Fokus 5: Flexibilität und Veränderungsfähigkeit
Fokus 1: Aufmerksamkeitsmanagement
»Bei uns wird Multitasking verlangt. Alles gleichzeitig auf dem ›Schirm‹ haben. Dann klappt es. Aber ich habe das Gefühl, dass ich das gar nicht kann«, sagte mir einmal eine Führungskraft im Coaching. Der Manager dachte außerdem, dass seine Kollegen – anders als er – dazu in der Lage seien, ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig voll und ganz auf mehrere Dinge zu richten, und schloss daraus, dass sie ihm überlegen waren.
Multitasking als Zaubermittel?
Multitasking scheint die Lösung für das Problem der Komplexität und Parallelität zu sein. Gut, wenn man das kann. Frauen, so meinen viele Menschen, sind in dieser Hinsicht den Männern deutlich überlegen. Das ist jedoch nur eine Hypothese.
Wie ist das zum Beispiel beim Autofahren? Gelingt es Ihnen, mit voller Aufmerksamkeit zu telefonieren oder ein Gespräch mit dem Beifahrer zu führen, wenn Sie Auto fahren? Frauen wie Männer bestätigen sofort, dass sie in einer schwierigen Verkehrssituation ihre Aufmerksamkeit für das Gespräch herunterfahren und sie dem Geschehen auf der Straße widmen. Sie bekommen von dem Gespräch nicht mehr so viel mit, bis der Verkehr wieder normal läuft. Und umgekehrt wissen die meisten Fahrer nach einem konzentriert geführten Gespräch oft nicht so ganz genau, wo sie sind. Sie können nicht beschreiben, wie sich der Verkehr in den letzten Minuten gestaltet hat, oder wissen nicht, wie schnell sie momentan fahren dürfen.
Die volle Aufmerksamkeit kann – wenn man der Gehirnforschung Glauben schenkt – nur bei einem Thema sein. Tut man zwei Dinge gleichzeitig, dann bekommt eine Tätigkeit mehr Aufmerksamkeit und die andere weniger. So lassen sich Routinetätigkeiten gut mit fordernden Tätigkeiten verbinden: Hausarbeit und Radio hören, Essen und ein Gespräch führen, joggen und nachdenken und so weiter.
Eine Versuchsanordnung
Mit der geringen Fähigkeit zu Multitasking sind Sie also in guter Gesellschaft. Die sequenzielle Verarbeitung des Gehirns wird in den letzten Jahren auch immer wieder durch die Forschung nachgewiesen – so erst kürzlich (2009) in einer Studie von Steven Yantis, Professor für Hirnforschung und Psychologie an der Johns Hopkins Universität, und seiner Mitarbeiterin Sarah Shomstein. Sie untersuchten die Gehirnaktivität von 19- bis 35-jährigen Probanden mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Die Versuchspersonen wurden gebeten, sich schnell verändernde Buchstaben und Zahlen auf einem Computerbildschirm anzuschauen, während drei unterschiedliche Stimmen ihnen per Kopfhörer andere Zahlen und Buchstaben vorlasen.
Es zeigte sich, dass die Gehirnaktivität sich veränderte, je nachdem, welcher Sinneskanal in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte: Achteten die Probanden primär auf die visuellen Informationen, sank die Aktivität in den für das Hören zuständigen Gehirnregionen deutlich ab. Im umgekehrten Fall reduzierte sich die Aktivität im visuellen Kortex (Gehirnrinde):
Die Aufmerksamkeit wird geteilt
»Wenn wir die Aufmerksamkeit dem Hören zuwenden, regelt dies gleichzeitig die Signalstärke der eintreffenden Signale im visuellen Bereich unseres Gehirn herunter«, erklärt Yantis. »Die Daten, die wir jetzt haben, deuten stark darauf hin, dass unsere Aufmerksamkeit streng limitiert ist – ein Nullsummenspiel. Wenn die Aufmerksamkeit auf einen Kanal gerichtet ist – beispielsweise das Telefonieren mit einem Handy –, geht dies auf Kosten eines anderen Sinneskanals – in diesem Fall die visuelle Leistung des Fahrens.« (The Journal of Neuroscience)
Diese Auffassung teilen verschiedene Hirnforscher. So zum Beispiel auch Gerald Hüther und Manfred Spitzer, mit deren Erkenntnissen wir uns noch beschäftigen werden.
Aufmerksamkeitslevel wählen
Das Aufmerksamkeitsdilemma
Aufmerksamkeit kann also verteilt, aber nicht vermehrt werden. Vielleicht erleben Sie es auch häufiger, dass viele Dinge, die gleichzeitig ablaufen, Sie eher zerstreuen, als Sie zu fokussieren. Stellen Sie sich einen Tag vor, an dem Sie versucht haben, viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten und parallel an Lösungen zu arbeiten. Außerdem haben Sie sich dabei auch noch bemüht, strategisch an die Dinge heranzugehen. Vermutlich werden Sie anschließend das Gefühl nicht los, nichts wirklich geschafft zu haben – ganz im Gegensatz zu dem Erlebnis, ein Thema tatsächlich durchdrungen und zufriedenstellend bearbeitet zu haben. Die volle Aufmerksamkeit fehlt und damit leidet die Verarbeitungstiefe, die für ein wirkliches Durchdringen einer Thematik Voraussetzung ist.
Es scheint eher unpopulär zu sein, sich mit voller Aufmerksamkeit einem Thema zu widmen. Vermutlich wird man sogar aktiver und energetischer wahrgenommen, wenn man vieles gleichzeitig und nichts richtig macht. Die Qualität leidet aber langfristig unter einem solchen Verhalten und die fehlenden soliden Ergebnisse fallen nach einiger Zeit auf Sie selbst zurück.
Wie Aufmerksamkeit verteilt werden kann
Was schon gelingen kann, ist, seine ungeteilte Aufmerksamkeit im schnellen Wechsel verschiedenen Themen zuzuwenden. So ist es denkbar, ein großes Projekt zu verfolgen, daran strategisch zu arbeiten und immer wieder zwischendurch zu anderen Themen Entscheidungen zu treffen. Sie arbeiten dann an Thema A, bis Ihnen nichts mehr dazu einfällt, dann arbeiten Sie an Thema B, dann an C und dann nehmen Sie sich wieder A vor. Meistens fällt Ihnen dann wieder etwas dazu ein. Das wäre vielleicht auch passiert, wenn Sie intensiver darüber nachgedacht hätten. So haben Sie das Thema A nur in den Hintergrund gebracht und sich mit voller Aufmerksamkeit mit B und C beschäftigt. A blieb aber präsent. Es arbeitete im Hintergrund weiter und wurde dann wieder fokussiert, als B und C entschieden waren.
Aufmerksamkeit ist also kein geschlossenes Konzept, sondern kann eher in verschiedenen Intensitätsstufen betrachtet werden. So können Sie Ihre Aufmerksamkeit gestuft vergeben:
Intensitätsstufen der Aufmerksamkeit
• Level 1 – fokussierte Aufmerksamkeit: Sie versuchen, ein Thema voll fokussiert zu verstehen und sinnvolle Schritte abzuleiten. Dabei nutzen Sie alle Ihre Sinneskanäle und Kontextinformationen, Ihre Aufmerksamkeit schwingt also frei zwischen verschiedenen interessanten und zum Thema gehörenden Aspekten. Ihre Interaktion mit den beteiligten Personen ist fokussiert. Sie lassen sich nicht durch andere Themen ablenken. Diese Mischung aus Fokussieren und freier Aufmerksamkeit bringt viele gute Ergebnisse.
• Level 2 – einfache Aufmerksamkeit: Sie bearbeiten ein Thema, das nicht Ihre gesamte Kapazität benötigt, weil es eine Routinearbeit ist. Sie recherchieren etwas im Internet oder beobachten eine Sitzung. Gleichzeitig denken Sie über andere Dinge nach. Sie haben Ideen und es fallen Ihnen Dinge ein, die Sie noch erledigen möchten, Sie springen gedanklich von Thema zu Thema. Sie lassen Ihre Gedanken treiben. In diesem Modus arbeiten Sie nicht voll fokussiert und das, was Sie vordergründig tun, enthält leicht Fehler. Sie bearbeiten aber gleichzeitig mit entsprechend weniger Tiefe andere Themen.
• Level 3 – Hintergrundaufmerksamkeit: Ein Thema ist für Sie im Hintergrund präsent. Sie denken nicht aktiv darüber nach. Es entwickeln sich möglicherweise dennoch Lösungen, die Ihnen erst bewusst werden, wenn Sie sich wieder voll fokussiert diesem Thema widmen. Manchmal schieben sich gute Ideen auch in den Vordergrund. Das erleben wir dann als spontane Ideen, ohne wahrzunehmen, dass unser Prozessor auf einem geringen Level von Aufmerksamkeit die ganze Zeit an diesem Thema gearbeitet hat.
Level 1: Operating in the zone
Aufmerksamkeitsmanagement bedeutet, bewusst und aktiv zu entscheiden, mit welchem Level an Aufmerksamkeit ein Thema bearbeitet werden soll. Wählen Sie für ein wichtiges Thema bewusst Level 1 aus, bleiben Sie gleichzeitig gelassen, entspannt und frei. Spitzensportler nennen diesen Zustand »Operating in the zone«. Hier geht synchron nichts anderes.
Aufmerksamkeit vs. Konzentration
Seine Aufmerksamkeit zu fokussieren bedeutet noch etwas anderes, als sich zu konzentrieren. Beim Fokussieren von Aufmerksamkeit nehmen Sie weiterhin mit allen Sinnessystemen wahr und beziehen die breiteren Kontexte mit ein. Bei der Konzentration hingegen schalten Sie bestimmte Prozesse ab, um sich nur mit dieser Aufgabe zu beschäftigen. Das ist bei Aufgaben, die Konzentration erfordern, unbedingt nötig, beispielsweise beim Rechnen. Hier gibt es eine klare Aufgabe und auch nur ein richtiges Ergebnis. Bei Aufgaben der Führung und des Managements sind die Dinge nicht immer so einfach und klar strukturiert. Hier kann es ergebnisreicher sein, den Fokus weiter zu stecken, um relevante Dinge nicht aus der Betrachtung zu verlieren. Sie kennen das vermutlich auch, dass zum Beispiel ganz geniale Konzepte entwickelt werden, die aber weder zum Unternehmen noch zur aktuellen Marktsituation passen.
Störfaktoren
In den Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit zu gelangen, erfordert etwas Übung. Manchmal ist diese Fähigkeit nicht spontan abrufbar. Angenommen, Sie nehmen sich nun vor, einer Aufgabe mit fokussierter Aufmerksamkeit zu begegnen. Sie sorgen dafür, dass Sie nicht abgelenkt werden, und nehmen sich ausreichend Zeit. Dennoch gelingt es Ihnen nicht, in einen inneren guten Zustand der Gelassenheit bei gleichzeitiger Energie und einem guten Fokus zu gelangen. Sie kommen nicht recht voran. Immer wieder stören andere Gedanken. Es gibt im Moment nicht genügend Raum.
Innere Hindernisse
Manchmal hindern wir uns selbst daran, in diesen Zustand zu gelangen, selbst wenn alle äußeren Störungen ausgeschaltet sind. Es sind innere Themen, die uns den Fokus nehmen: Wir stehen uns selbst im Weg. Timothy Gallaway bringt es so auf den Punkt: Performance = Competence – Disturbance (Performance = Kompetenz minus Störung).
In seinen Büchern über Golf- und Tennistraining zeigt es der Autor deutlich: Ein guter Spieler spielt im Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit. Gelingt bei perfekter Technik ein Schlag nicht, dann liegt es daran, dass es innerlich zu viele Störungen gibt. Der Spieler hat die Balance aus Energie, Gelassenheit und Fokus noch nicht gefunden. Er lenkt sich immer wieder selbst ab. In diesem Zustand kann keine gute Performance gelingen.
Voraussetzungen für fokussierte Aufmerksamkeit
Und so ist das auch im Job. Wenn zu viele Dinge im Kopf hinund herwandern, ist es schwer, sich zu fokussieren. Es kann zunächst wichtig sein, ein Thema, das diesen Prozess stört, zu bearbeiten, um freie Kapazitäten zu schaffen. Manchmal reicht es auch, wenn wir mit uns selbst klären, wann wir auf dieses Thema zurückkommen. Das bewirkt oft, dass unser Arbeitsspeicher wieder frei wird.
Für diesen Zustand braucht es Energie bei gleichzeitiger Gelassenheit. Sobald Sie sich beispielsweise unter Druck setzen und unbedingt ein gutes Ergebnis erzielen wollen oder zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein möchten, kann dieser innere Druck das Gelingen stören. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist die Basis, um in diesen guten Zustand zu gelangen.
Operating in the zone
Den Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit erleben Sie immer dann, wenn Sie mit Spaß bei der Sache sind und alle inneren »Muss«- und »Soll«Gedanken ausblenden können. Besonders gut können Sie das beim Sport erleben. Neben Tennis, Golf und diversen Kampfsportarten bietet sich dafür auch das Bogenschießen an. Im Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit lassen sich fast alle Themen des Lebens wunderbar lösen.
Das Gefühl: zu hohe Erwartungen
Oft sind es gar nicht einmal störende Gedanken, die das »Operating in the zone« begrenzen, es geht dabei meistens um Gefühle. Ein besonders störendes Gefühl ist bei vielen Führungskräften der Erwartungsdruck an sich selbst. Sie haben sehr hohe Erwartungen an sich und eine genaue Vorstellung davon, wie, mit welchem Erfolg und in welcher Zeit sie eine Aufgabe gelöst haben wollen. Gelingt das dann nicht sofort oder stellt sich das Problem als komplexer heraus als bei der ersten Betrachtung, dann gelingt es ihnen nicht, die Aufmerksamkeit gleichzeitig fokussiert und frei zu halten. Es wird in vielen Fällen eine Art innerer Druck aufgebaut: »Das schaffst du nie«, »Wie soll das denn gelöst werden?«, »Du musst was tun!«, »Das dauert alles viel zu lange«, »Der Markt wartet sicher nicht auf uns«, um nur einige Beispiele zu nennen.
Innerer Druck: nicht unbedingt positiv
Der Leistungsanspruch an sich selbst ist bei vielen Führungskräften so hoch, dass sie in ihrer realen Performance hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Das Gefühl, dass diese inneren Treiber die Leistung verbessern, lässt sich in der Praxis nicht bestätigen. Der innere Druck hält uns eher davon ab, die Dinge mit fokussierter und freier Aufmerksamkeit zu betrachten und strategisch sinnvolle Lösungen zu entwickeln. Wie sind dann gefangen in uns selbst, fühlen uns getrieben und arbeiten im Laufe der Zeit dadurch immer mehr reaktiv als proaktiv.
Die gute Nachricht: Wir bemerken es nicht, denn wir haben das Gefühl, uns anzustrengen und unser Bestes zu geben. Das fühlt sich erst einmal gut an und wir denken, schon damit erfolgreich sein zu können. Die schlechte Nachricht: Anstrengung zeigt sich nicht unbedingt in der Qualität des Ergebnisses. Es gibt hervorragende Leistungen, die wie von selbst entstehen. Und es gibt mühsam und mit viel Disziplin erbrachte Leistungen, die eher mittelmäßige Qualität haben. Und eines ist ja klar: Ein Unternehmen erwartet von seinem Management nicht, dass es sich anstrengt, es erwartet einfach gute Ergebnisse.
Die gelassene fokussierte Aufmerksamkeit immer wieder zu trainieren, damit sie uns im rechten Moment zur Verfügung steht, kann daher sehr hilfreich sein.
Fokus 2: Aufmerksamkeit und Denken
Wechselwirkung von Denken und Richtung der Aufmerksamkeit
Das Aufmerksamkeitsmanagement ist sehr eng mit dem Denken verbunden. Diese zwei Dinge sind kaum voneinander zu trennen. Sie kennen das Phänomen, dass Sie nur das erleben, was Ihre Aufmerksamkeit zulässt. Sind Sie gerade intensiver damit beschäftigt, sich ein neues Auto auszusuchen, dann nehmen Sie viel mehr unterschiedliche Autos auf der Straße wahr als sonst, wenn Ihre Aufmerksamkeit gerade etwas anderem gilt. Gehen Sie über die Straße, konzentrieren Sie sich auf den Verkehr und sehen vielleicht den Kollegen nicht, der Ihnen entgegenkommt. Außerdem ist auch die Richtung der Aufmerksamkeit bestimmend für Ihr Denken; und Ihr Denken bestimmt wiederum die Richtung der Aufmerksamkeit.
Weltbild bestätigen …
Denken Sie beispielsweise: »Meine Mitarbeiter sind nicht uneingeschränkt vertrauenswürdig«, dann richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf jedes Signal, das Ihr Gefühl von »Ich kann nicht vertrauen« bestätigt. Liegt die Denkrichtung auf »Nichtvertrauen-können«, wird auch die Aufmerksamkeit so fokussiert: Wann gerate ich schon wieder in eine Situation, in der ich besser nicht vertraut hätte? Das Denken spiegelt sich in der Aufmerksamkeitsführung und bestätigt dieses. Menschen mögen es, wenn ihre Annahmen, Einstellungen und Erfahrungen – ja, ihr ganzes Weltbild – bestätigt werden. Auch wenn es nicht unbedingt immer gut für uns ist, bleiben wir gerne bei unserem tradierten Denken. Es stabilisiert gefühlsmäßig unser Sein. Das ist das Schöne daran. Wenn Sie trotzdem Lust haben, damit zu arbeiten, dann verschieben Sie Ihre Aufmerksamkeit und machen – analog für Ihr eigenes Beispiel – folgendes Experiment:
… oder die Richtung ändern
Aufgabe: »Heute achte ich darauf, wann sich die Mitarbeiter so verhalten, dass ich ihnen vertrauen kann.« Mit dieser Aufmerksamkeitsführung werden Sie neue Erfahrungen machen, die Ihr Denken verändern können. Sie werden an einem solchen Tag viel mehr vertrauensvolle Momente mit Ihren Mitarbeitern erleben als an anderen Tagen. Allein dadurch, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was Sie gerne erleben möchten, tritt dies auch ein. Und mit Ihrer neuen Wahrnehmung kann sich auch Ihr Denken ändern: »Ich kann meinen Mitarbeitern überwiegend vertrauen« ist schon eine ganz andere Haltung als die vorherige.
Unsere aktive Rolle
Aufmerksamkeit und Denken steuern die Wahrnehmung und stabilisieren oder irritieren das Weltbild. Insofern steuern Sie aktiv, was Sie in Ihrer Umgebung erleben möchten. Sie sind derjenige, der sich die »Welt bastelt«. Auch wenn Sie das noch nicht systematisch für sich nutzen, sind Sie an dem, was Sie erleben, und daran, wie Sie diese Erlebnisse bewerten, maßgeblich beteiligt. Das klingt zunächst befremdlich. Meistens haben wir doch eigentlich eher das Gefühl, dass außen etwas geschieht, was wir nur passiv aufnehmen. Da unsere Wahrnehmung leider extrem unzureichend ist und maßgeblich in unserem Denken entsteht, tragen wir mehr dazu bei, als wir zunächst annehmen. Deswegen können wird diesen Vorgang auch aktiv steuern und beeinflussen.
Mit dieser neuen Aufmerksamkeit rücken Sie die erfolgreichen Anteile der Zusammenarbeit in den Vordergrund. Sie verstärken sich fast automatisch und werden Teil einer neuen Realität. Auch das Verhalten der anderen Personen passt sich Ihrer Wahrnehmung an: ein unmerklicher und sehr erfolgreicher Prozess.
Lösungsorientierte neuronale Autobahnen
One in a million!
Der Hirnforscher Manfred Spitzer schreibt in seinem Buch Lernen, dass von einer Million Nervenzellen nur eine einzige mit der Außenwelt verbunden ist. Alles andere spielt sich intern ab. Diese Tatsache regt zum Weiterdenken an: Nur eine von einer Million Nervenzellen nimmt einen Impuls außerhalb unseres Körpers auf. Das bedeutet, dass wir überwiegend mit uns selbst beschäftigt sind. Die Wahrnehmung ist also ein kreativer Prozess: Wir schaffen uns die Welt, in der wir leben, zu einem großen Teil selbst. Die gute Nachricht: Unser Einfluss ist größer als gedacht. Die schlechte Nachricht: Wir bekommen erheblich weniger mit, als wir glauben. Die Wahrnehmung ist vollkommen unzuverlässig.
Aufmerksamkeit aktiv zu steuern bedeutet, das wenige, was aufgenommen wird, aktiv auszuwählen und so zu verarbeiten, dass wir die Anteile fokussieren, die uns weiterbringen. Es geht also darum, intern neuronale Autobahnen für Gelingen, für Zielerreichung, für Ergebnisse, für Lösungen und so weiter anzulegen. Denn jede Wahrnehmung und Verarbeitung bahnt Nerven und stabilisiert bestimmte Wege der Informationsübertragung.
Mit welcher Mannschaft kann man was erreichen?
Kämpfen Manager beispielsweise mit der geringen Lösungsorientierung in Meetings und hören tagein tagaus nur Rechtfertigungen, warum die Ziele nicht zu erreichen sind, dann verlieren sie schnell die Lust: »Mit dieser Mannschaft kann ich nichts erreichen«, sagen sie und schrauben ihre Erwartungen zurück oder trennen sich von Personen, in der Hoffnung, dass danach lösungsorientierter gedacht wird. Diese Rechnung geht in der Regel nicht auf.
Wege zu lösungsorientiertem Denken
Lösungsorientiertes Denken braucht zunächst einmal eine neuronale Autobahn in diese Richtung, die über Aufmerksamkeitsmanagement aufgebaut werden kann. Wenn Sie experimentierfreudig sind, können Sie Ihr eigenes Denken und damit Ihre Haltung und Ihr Verhalten beeinflussen: Suchen Sie Ansatzpunkte für Lösungen, machen Sie die Mannschaft darauf aufmerksam, was bereits gelingt. Finden Sie kleine Erfolge. Seien Sie gleichzeitig mutig und trennen Sie sich von langfristigen Unrentabilitäten. Verschieben Sie mit diesen kleinen, aber beständigen Aktionen systematisch die Aufmerksamkeit Ihrer Mannschaft, dann ändern Sie auch langfristig deren Denken, deren Haltung und schließlich das Verhalten.
Den Fokus auf die Lösung legen
Bei jedem Kontakt fokussieren Sie auf die Dinge, die funktionieren, und helfen so Ihrem Gegenüber, die neuronalen Verbindungen dafür aufzubauen. Je mehr Sie über Probleme sprechen, umso mehr bauen Sie an den »Problemautobahnen«. Es geht nicht darum, Schwierigkeiten und Probleme zu ignorieren. Es geht nur darum, den Fokus und die Energie auf die Lösung zu lenken, um Schwierigkeiten und Probleme nicht weiter wachsen zu lassen. Je weniger darüber gesprochen wird, umso mehr verkommen diese Problemautobahnen wieder zu Schotterpisten und es können sich erfolgreiche Verbindungen etablieren. Dieser neuronale Umbau kann schon etwas Zeit in Anspruch nehmen. Es geht also nicht darum, Probleme zu ignorieren, sondern um die Frage, wie man mit Problemen umgehen kann.
Selbst im Coaching gibt es – heute gestützt durch die neuere Gehirnforschung – die Diskussion, ob es sinnvoll ist, mit einem Coachee über Probleme zu sprechen. »Reden über Probleme schafft Probleme« ist die Ansicht einiger modernerer Therapeuten wie zum Beispiel Steve de Shazer. Er sprach immer nur über Lösungen, da er davon ausging, dass man nicht über das Problemverständnis zu einem Ansatzpunkt für Lösungen kommt. Die zentrale Frage ist für ihn nur: Was willst du erreichen? Wenn das Ziel klar ist, ist es fast gleichgültig, woher man kommt. Diese lösungsorientierte Form der Therapie ist zwar sehr umstritten, aber extrem erfolgreich. Sie schließt im Prinzip an Albert Einsteins Philosophie an: »Das Denken, das dich zum Problem geführt hat, bringt dich nicht zur Lösung.«
Die Gehirnforscher geben ihm recht und formulieren heute: Auf der neurologischen Bahn, auf der das Problem gemacht wurde, findet sich keine Lösung. Hierfür brauchen wir eine andere Bahnung.
Fokus 3: Leverage Points in Systemen erkennen
KPIs als Steuerungsmittel
Wenn ein Unternehmen etwas erreichen will, kommt es auf zwei Punkte besonders an. Es sollte die äußeren Prozesse genau kennen und wissen, wie es sich erfolgreich im komplexen Marktgeschehen aufstellen kann. Das ist die Voraussetzung, um in einem zweiten Schritt nach innen zu schauen. Um die enorme Komplexität eines Unternehmens und die Verstärkung dieser Komplexität durch die Interaktion mit dem Markt überblicken zu können, werden in der Regel Key Performance Indicators (KPI) definiert und als Steuerungssystem genutzt. Es gibt für alle Bereiche zahlreiche Indikatoren. Unterschieden wird beispielsweise zwischen verschiedenen Rentabilitätskennzahlen, Liquiditätsgrößen, verschiedenen Betriebsergebnissen, Messkriterien der Kundenbeziehungen, Marketingkenngrößen, unterschiedlichen Gewinnspannen und verschiedenen Prozess-, Projekt-, und Qualitätsmerkmalen.
Die Fülle dieser Indikatoren zeigt, dass die Komplexität des zu steuernden Systems enorm groß und fast unüberschaubar ist. Die Indikatoren stehen nicht nur für sich, sondern beeinflussen sich auch untereinander. Wenn Sie also an einem der Indikatoren etwas verändern, verändern Sie automatisch andere mit – ob Sie das so wünschen oder nicht.
Viele KPIs: komplexe Steuerung
In den verschiedenen Unternehmen wird sehr unterschiedlich mit KPIs umgegangen: Es gibt Unternehmen, die definieren mithilfe der Indikatoren die Prozesse möglichst im Detail, haben konforme und verbindliche Abläufe und bauen ihre strategische Planung auf ihren Quartalszahlen auf. Das sind meist sehr große Unternehmen, bei denen Abteilungen darauf angewiesen sind, Kennzahlen von anderen zu bekommen, um selbst sinnvoll planen zu können. Mittels dieser Kennzahlen beziehen sich also die Bereiche aufeinander. Die Abhängigkeiten beeinflussen das System – eine Steuerung ist komplex.
Je genauer die einzelnen Prozesse definiert sind, umso eher finden sich Redundanzen und Widersprüche. Mathematiker gehen davon aus, dass jede detailgenaue Prozessbeschreibung diese beiden Phänomene hervorbringt. Das heißt, eine genaue Steuerung bleibt unmöglich.
Wenige KPIs: im Idealfall genau und flexibel
Andere Unternehmen definieren nur insgesamt vier oder fünf KPIs. Sie sind davon überzeugt, dass es sich hier um ihre Schlüsselfaktoren handelt, und steuern mit diesen wenigen Kenngrößen ihr System. Auch hinter diesen KPIs stehen komplexere Prozesse. Die Unternehmen sind in einem solchen Fall gut beraten, diese Prozesse so genau wie möglich und gleichzeitig so flexibel wie nötig zu gestalten. Die Steuerung erfolgt in der Regel über regelmäßige Reviews, die mit Reportingsystemen verbunden sind.
Das ist die betriebswirtschaftliche Seite. Nun kommt das Thema Management ins Spiel: Wie werden die KPIs genutzt? Wie werden sie beeinflusst? Welche Hebel kommen infrage?
Schwierige Ausgangslage
Auf diese Fragen gibt es keine so eindeutigen Antworten. Auch wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, macht sich doch eine gewisse Ratlosigkeit breit, wenn es darum geht, diese erfolgreich – in Abhängigkeit zueinander – zu beeinflussen. Der gerade oder direkte Weg ist oft nicht erfolgversprechend. Dafür gibt es im Unternehmen zu viele gegenläufige Interessen. Auch vordefinierte Umwege bringen nicht recht ans Ziel. Die meisten Führungskräfte suchen nach Ansatzpunkten, die mit wenig Aufwand eine große Wirkung entfalten.
Leverage Points nach Meadows
Darum hat sich auch Donella Meadows bemüht. Sie definierte Leverage Points für komplexe Systeme und glaubt hier erfolgreiche Eingriffsmethoden zu finden. Diese Leverage Points sieht Donella Meadows vor allem in folgenden Bereichen: Parameter, interne Prozesse, Feedback Loops, Grad an Selbstorganisation und Fähigkeit zum Paradigmenwechsel.
Ihrer Meinung nach können Menschen intuitiv erkennen, in welchen Bereichen eine Veränderung notwendig ist, um noch erfolgreicher zu werden. Das ist natürlich nicht ganz befriedigend, weil wir lieber mit vordefinierten Prozessen arbeiten. Wir möchten gerne das Gefühl haben, dass wir sicher ans Ziel kommen und auf diese Weise unsere gefühlte Kontrolle (die meist keine echte Kontrolle ist) unterstützen. Je stärker und je erfolgreicher die Veränderung wäre – so Meadows’ Hypothese –, umso mehr wehrt sich das System dagegen. Denn häufig sind es Paradigmenwechsel (die eine neue Form der Haltung und Einstellung fordern), die tatsächlich eine relevante Veränderung erzielen können.
Mit Leverage Points beschreibt Donella Meadows kleine Dinge, die im Vergleich leicht zu verändern sind, die aber eine große Wirkung entfalten können. Damit schließt sie sich an das systemische Denken an, das – ähnlich wie beim berühmten Schmetterlingseffekt – auch davon ausgeht, dass schon kleine Veränderungen eine sehr große Wirkung entfalten können.
Kalkulierbare Instabilität
Was außer KPIs noch wichtig ist
Kennzahlen helfen also nur bedingt weiter. Sie sind eine Art von unternehmerischer Diagnostik und legen auch nahe, in welchen Bereichen eine Veränderung stattfinden muss. Das Management muss dementsprechend in der Lage sein, Muster aus den KPIs herauszulesen. Gleichzeitig bleibt es der Intuition und der Kreativität des Managements überlassen, Punkte zu definieren, die eine große Wirkung erzielen können. Und darüber hinaus muss bei jedem Eingriff ins System bedacht werden, welche Seiteneffekte erzielt werden, die auch dann eintreten, wenn sie unerwünscht sind.
»Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig.« (Gödel 1931)
Denken Sie noch einmal an den Wunsch, Prozesse möglichst genau zu definieren, um die KPIs exakt steuern zu können. Sie werden nicht nur feststellen, dass die Prozesse dann leicht redundant und widersprüchlich werden (Haben Sie schon einmal ein Prozesshandbuch in der Hand gehabt?); die Genauigkeit, mit der sich Führungskräfte und Mitarbeiter an die Vorgaben halten müssen, entbindet sie von jeder Form des Mitdenkens und der Selbstverantwortung: Der Prozess schreibt das eben so vor. Schön. Dann kann ja nichts falsch laufen. Tut es aber. Was auf der einen Seite Sicherheit und Kontrolle bringt, ist auf der anderen Seite der Overkill für Flexibilität, Entscheidungsfreude und für das Nutzen von Marktchancen. Je stärker und besser die Steuerung funktioniert, umso weniger Selbstverantwortung kann erwartet werden. Das soll keine Argumentation gegen KPIs sein. Im Gegenteil. Wir brauchen diese dringend als diagnostisches Basisinstrument. Interessant wird es aber erst dann, wenn es darum geht, diese Zahlen zu interpretieren, zu bewerten und Handlungen daraus abzuleiten.
Das Ziel: kalkulierte Instabilität
Das, was eigentlich erreicht werden soll, funktioniert gerade nicht über ein genaueres Definieren und über ein höheres Maß an Kontrolle. Es funktioniert über Kompetenz und über Vertrauen. Dazu aber mehr an anderer Stelle.
Der Zielzustand ist die kalkulierbare Instabilität. Und dieser gelingt vor allem mithilfe der Leverage Points von Donella Meadows: ein gutes Mittelmaß zwischen Regulierung durch KPIs und dem Chaos, das selbstreflexiv und denkend gestaltet wird.
Nebenwirkungen schneller Lösungen
Jeder Mensch tickt anders
In der Medizin ist das Prinzip der vielen Wirkungen am komplexen System Mensch auch hinlänglich bekannt: Kein Mensch funktioniert wie im Lehrbuch. Alle unsere menschlichen KPIs wie Blutwerte, Stoffwechsel oder Hormone liegen vielleicht im Normbereich, vielleicht auch nicht. Wenn sich Ihre Werte nicht im Normbereich befinden, sind Sie aus medizinischer Sicht erkrankt – was nicht unbedingt richtig sein muss, weil unsere Körperfunktionen sich so eingependelt haben und fein aufeinander abgestimmt sind. Aktivere Menschen haben sicher andere Werte als passivere und Stress – das ist lange bekannt – bedeutet für jeden Menschen etwas anderes und hat auch andere Auswirkungen auf jeden Organismus. Hier zu pauschalieren würde falsche Schlüsse nach sich ziehen.
Greift nun ein Arzt mit einer Medikation in das sensible Gleichgewicht des Organismus ein, um einen entgleisten Wert wieder einzufangen, greift diese in dem chemischen Zusammenspiel automatisch auch auf andere Prozesse zu, beeinflusst diese ungewollt und erzielt auch hier Wirkungen – als Nebenwirkungen bekannt. Insofern müsste jeder gute Arzt vorsichtig eingreifen und über einen längeren Zeitraum beobachten, was geschieht und wie das Zusammenspiel sich langfristig ändert, um das System dann weiter in die gewünschte Richtung zu beeinflussen.
Die Wirkung zu starker Eingriffe in Unternehmen
Genauso funktioniert das im Management auch. Unternehmensführungen neigen dazu, das System komplett auf den Kopf zu stellen, um ihre Markposition über bessere Prozesse zu optimieren. Es werden Bereiche ausgelagert, das Geschäft wird divisioniert, es werden selbstständige GmbHs gegründet. Nach ein paar Jahren – so kann man an vielen Stellen beobachten – wird wieder rückverlagert, die Divisionen werden integriert und Teilbereiche, die selbstständig geworden waren, wieder eingegliedert. Das ist interessant zu beobachten, bietet das eine oder andere kulturelle Lehrstück, bringt das Unternehmen aber nicht wirklich voran: Die Eingriffe sind zu groß, um den Erfolg der einzelnen Maßnahme beurteilen zu können.
Der Kobra-Effekt
Auch auf politischer Ebene finden wir diese Effekte. Bekannt geworden ist beispielsweise der »Kobra-Effekt« aus der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Damals gab es eine Schlangenplage. Der britische Gouverneur setzte eine Prämie auf tote Schlangen aus. Die Konsequenz war, dass die Menschen Giftschlangen züchteten, um diese Prämie zu kassieren. Daraufhin stellte der Gouverneur die Prämie wieder ein. Ergebnis: Die Schlangenplage war viel schlimmer als zuvor. Diese Art von Beispielen findet sich auf allen Ebenen des menschlichen Miteinanders.
Zweifelhafte Zielvereinbarungen
Ähnlich verhält es sich mit den Zielen, die heute in vielen Unternehmen ganz selbstverständlich mit den Führungskräften und Mitarbeitern vereinbart werden. Jeder versucht mit voller Energie seine Ziele zu erreichen, weil die Zielerreichung oft an das Gehalt gekoppelt ist. Ob das Ziel wirklich zur strategischen Unternehmensentwicklung beiträgt, fragt niemand mehr. So kann beispielsweise ein Außendienst an der Zahl der Kundenkontakte gemessen werden. Wie viele Abschlüsse er tätigt, ist unerheblich. Oder umgekehrt: Ein Mitarbeiter wird an den Abschlüssen gemessen – unerheblich bleibt dann der Aufwand, mit dem diese Abschlüsse getätigt werden, oder wie viele Verträge wieder gelöst werden. Einzelne Parameter bilden in der Regel nicht den tatsächlichen unternehmerischen Nutzen ab, werden aber im System der Zielvereinbarungen häufig genutzt. Insofern ist dieses System sicher überdenkenswert.
Monokausalität und triviale Maschinen
Im Kleinen denken
Gefragt sind also nicht die großen Veränderungen. Es geht vielmehr um ein Fingerspitzengefühl für die Leverage Points, die unwesentlich, aber ergebnisreich verändert werden, um Erfolge zu erzielen. Dafür braucht es die Fähigkeit zur genauen Beobachtung und die Fähigkeit, mehrere Faktoren gleichzeitig zu betrachten. Die menschliche Neigung zum monokausalen Denken steht diesen Anforderungen deutlich entgegen.
Menschen arbeiten gerne mit simplen Maschinen – zum Beispiel mit einem Getränkeautomaten. Geld rein, Getränk wählen, Flasche rausholen. Das ist zuverlässig und gefühlt kontrollier- und steuerbar. Sobald es komplexer wird, beginnen die Schwierigkeiten. Solche simplen Maschinen haben durchaus ihre Vorteile. Gleichzeitig verfügen sie über einen nur sehr engen Rahmen. Es gibt wenig Auswahl und es läuft immer der gleiche Prozess ab. Tagein, tagaus. Von Flexibilität keine Spur. Adaptationsfähigkeit gleich null. Und so ein Gedanke wie »Chancen nutzen« oder gar ein Paradigmenwechsel kommt wohl überhaupt nicht vor.
Simplizität täuscht
Simple, zuverlässige Maschinen tun uns gut, wenn wir das Gefühl haben, dass uns alles über den Kopf wächst. Immerhin sind wir noch in der Lage – dank dieser Maschine –, uns zuverlässig eine Cola zu kaufen. Wäre das ganze Leben wie ein Getränkeautomat, dann wäre es nicht wirklich interessant. Aber wenn die eine oder andere Kleinigkeit im Unternehmen etwas einfacher wäre, würden Sie bestimmt nichts vermissen, oder? Verständlich. Die Sache ist aber etwas komplizierter. Deswegen ist es so wichtig, herauszufinden, wie Sie mit wenig Aufwand viel erreichen können. Das gelingt nur intuitiv, da nur mit einer ganzheitlichen Wahrnehmung die Entscheidung für das eine oder andere Vorgehen fallen kann. Mit Logik hat das oft nichts mehr zu tun.
Steigerung der Performance
Ein Beispiel aus dem Bereich des Aufmerksamkeitsmanagements von Timothy Gallaway: Er bekam den Auftrag, in einem Callcenter die Performance zu steigern. Alle Indikatoren wie Kundenzufriedenheit, Call Handling Times, marktgerechte Produkte, Gesprächsqualität und Marge sind bereits bemüht und mithilfe von Qualifizierungen und optimalen Prozessen bearbeitet worden. Es hat sich aber nicht wirklich etwas verändert.
Spaß als Leverage Point
Seine Hypothese war nun, dass die Agenten unter Langeweile litten, die am Telefon hörbar war. Träfe das zu, dann wären sie wohl kaum in der Lage, dem Kunden ein attraktives Angebot zu machen. Folgerichtig wurde nun nicht an der Performance, sondern am Spaß gearbeitet: Anstatt also mehr von dem zu machen, was alle schon kannten – Prozesse weiter zu optimieren und die Qualität weiter zu steigern –, arbeitete Gallaway an einem wesentlichen Leverage Point, der in keinem seriösen Businessbuch dieser Welt zu finden ist: Bei zu gleichförmiger Arbeit macht es irgendwann einfach keinen Spaß mehr. So erfand Gallaway Wettbewerbe, bei denen die Mitarbeiter herausfinden sollten, in welcher emotionalen Stimmung sich ihr Kunde gerade befand. Die Mitarbeiter füllten also begleitend zum Gespräch eine Einschätzung darüber aus. Diese verifizierten sie zum Schluss.
Die neue Aufgabe und der Austausch darüber machten so viel Spaß, dass ganz unabhängig von Prozessen das Ergebnis beträchtlich gesteigert wurde.
Fokus 4: das Prinzip Langfristigkeit
Irgendwo im fernen Süden, wo die Kokosnüsse vom Baum fallen und die Fische von alleine ins Netz springen, liegt ein Fischer faul am Strand. Bekommt er Hunger, fängt er einen der zahlreichen Fische. Hat er Durst, schlägt er eine Kokosnuss auf.
Vom Fischer und seinem Fang
Der Urlauber aus dem kapitalistischen Norden sieht den natürlichen Reichtum und erkennt die Möglichkeiten. Er wendet sich an den Fischer:
»Siehst du nicht die vielen Fische? Du brauchst nur ein großes Netz und kannst eine Menge davon fangen.«
»Und was soll ich damit anfangen? So viel esse ich doch gar nicht.«
»Du könntest sie verkaufen und hättest viel Geld.«
»Und was soll ich damit machen?«
»Du könntest dir ein größeres Netz kaufen und noch mehr Fische fangen.«
»Und wozu?«
»Du könntest noch mehr Geld machen!«
»Was hätte ich davon?«
»Du könntest die Leute anstellen, die für dich weiter fischen gehen.«
»Und wozu?«
»Dann könntest du den ganzen Tag faul am Strand liegen«, endet der Mann aus dem Norden.
»Aber das tue ich doch jetzt schon«, ist die Antwort.
Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral ist immer wieder lesenswert. Warum sollte der Fischer diesen ganzen Aufwand betreiben, wenn er schlussendlich nur dasselbe Ergebnis erhält, das er bereits jetzt schon hat? Sicher gibt es unterwegs einige Verlockungen: Er fühlt sich gut, er hat Macht und Ansehen, er wird respektiert, er erreicht Ziele, er vergrößert sein Imperium, er baut seinen Selbstwert auf. Aber was genau ist das Ergebnis?
Kurzfristige Entscheidungen: immer gut?
Viele geschäftliche Entscheidungen werden mit der Aussicht auf schnelle, verlockende Ergebnisse getroffen, anstatt langfristig überdacht zu werden. Und manches, das kurzfristigen Gewinn verspricht, zieht langfristig noch größere Probleme nach sich. So haben beispielsweise einige Unternehmen in der Wirtschaftskrise ihre Know-how-Träger entlassen, nur um einige Monate später die gleichen Personen wieder zurückzuholen. Vor lauter Begeisterung für neue Ideen und Aktionen vergessen wir manchmal das Nachdenken. Gerade Menschen im Management, die gerne anpacken und Dinge stemmen, denken angesichts reizvoller neuer Möglichkeiten oft nicht viel weiter als bis zum ersten Schritt. Zu schön ist es, gegen Schwierigkeiten schnell etwas tun zu können. Das Gefühl, aktiv zu sein, gibt so viel Zufriedenheit und Selbstbestätigung, dass wir uns nur ungern fragen, wohin diese Aktivität langfristig eigentlich führt. Außerdem ist der kurzfristige Erfolg enorm befriedigend.
Vor allem in Gruppen tritt dieses Phänomen gerne auf. Wenn sich schnell alle einig sind, dass ein größeres Netz gekauft werden soll, um noch mehr Fische zu fangen, dann scheint das vor dem Hintergrund unseres gewohnten Denkens völlig plausibel. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, zu überlegen, was wir mit den vielen Fischen tun werden. Mehr Fische zu haben, ist einfach gut.
Mut zur eigenen Entscheidung
Es braucht schon Mut, das eigene Urteil gegen das Urteil anderer aufrechtzuerhalten. Als soziale Wesen bevorzugen wir Konsensentscheidungen und schließen uns gerne der Meinung anderer an. Manchmal tun wir das auch, wenn wir selbst eine andere Überzeugung haben und tief in unserem Inneren wissen – meistens fühlen wir es, ohne die genauen Gründe zu kennen –, dass eine Entscheidung falsch ist. Das Leben des Fischers würde aus seiner Sicht ungleich komplizierter und anstrengender und er würde für seine Lebenswelt nicht wirklich etwas erreichen. So bleibt er bei seiner Haltung. Dabei handelt es sich jedoch um eine Haltung, die in der westlichen Welt nicht akzeptabel ist. Sie wird als »faul« bezeichnet, denn der Fischer könnte in unseren Augen eine ganze Menge erreichen.
Der Wunsch nach Kohäsion
Ideal und Wirklichkeit
Der »ideale« Manager bildet sich stets eine eigene, unabhängige Meinung und setzt diese gegen alle Widerstände durch. Viele Manager entsprechen diesem Idealbild im beruflichen Alltag nicht. Sie scheuen sich, die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu tragen, vor allem, wenn es gegen den Trend geht. Also suchen sie gerne nach einer Argumentation, die es ihnen möglich macht, sich der Mehrheit anzuschließen – oft in dem Wissen, dass es sich wahrscheinlich um eine falsche Entscheidung handelt. Sie suchen die kurzfristige Kohäsion, also das »Schwimmen mit dem Schwarm«, ohne darauf zu achten, dass sie damit langfristig ihre Ziele und Ideen aus dem Blick verlieren. In verschiedenen psychologischen Untersuchungen hat man herausgefunden, dass die Antworttendenzen umso konformer ausfallen, je mehr Personen zuvor ein bestimmtes Urteil gefällt haben. Diese Tendenz verstärkt sich noch, wenn besonders relevante Personen ein Urteil gefällt haben.
Konformität statt Eigensinn
Dieser unbewusste Prozess steuert sehr viele Entscheidungen. Die wenigsten Menschen haben tatsächlich den Mut, ihre langfristigen Überlegungen in die Tat umzusetzen. Zu verlockend sind die kurzfristigen Erfolge, die mit einem gewissen Maß an Konformität erzielt werden können. Das fängt bei der Kleidung an und hört beim Denken und Handeln auf.
Wir gehen gerne konform mit unseren Mitstreitern. Je höher Sie im Unternehmen rangieren, umso weniger Mitstreiter haben Sie. Je weniger Mitstreiter auf gleicher Ebene es gibt, umso wertvoller ist die einzelne Vertrauensperson und damit die gemeinschaftliche Meinung. Diese Einzelposition kann auch dazu führen, dass Sie sich daran gewöhnen, mit Ihrer Meinung alleine zu sein. Sie wissen, dass Sie grundsätzlich unpopulär entscheiden. Entscheidungen, die auf oberer Ebene sinnvoll und nützlich erscheinen, kommen auf den unteren Ebenen nicht mehr unbedingt als solche Entscheidungen an.
Spiegelneuronen als Steuerungsinstrument
Für den Wunsch nach Kohäsion sorgen alleine schon unsere Spiegelneuronen. Spiegelneuronen bilden quasi die internen Prozesse, die bei einem Gegenüber ablaufen, im eigenen Gehirn ab. So fühlen wir beispielsweise die Freude oder die Enttäuschung des Gegenübers mit. Spiegelneuronen ermöglichen es uns also, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Gelingt das zu gut, lassen wir uns stark beeinflussen. Arbeiten diese Neuronen weniger gut, fällt es leichter, auf Distanz zu bleiben.
Beide Ausprägungen – die Überidentifikation und die starke Distanz zum Gegenüber – sind wichtig und vor Entscheidungen zu berücksichtigen. Sobald in einer Diskussionsrunde sehr schnell ein Konsens entsteht, kann man sich fast sicher sein, dass hier die Spiegelneuronen am Werk waren und etwas Wesentliches übersehen wurde. Bei schneller Einigkeit müssen wir also besonders aufmerksam sein und strategisch denken: Wenn wir so entscheiden, welche Konsequenzen wird das dann haben?
Nachhaltigkeit ist überall
Das Prinzip Langfristigkeit heißt auf gut Neudeutsch »Nachhaltigkeit«. Über Nachhaltigkeit sprach in den letzten zehn Jahren nahezu jede Branche. Seit etwa zwei Jahren ist der Begriff in den normalen Sprachgebrauch übergegangen (»Das müssen wir nachhaltig ändern«) und hat damit an Bedeutung verloren. Außerdem hat sich der Begriff, der ursprünglich aus dem ökologischen Umfeld kommt, zu einem sogenannten »Container-Begriff« entwickelt. Nachhaltig ist inzwischen alles, was nicht sofort vorbei ist. Und was es tatsächlich bedeutet, weiß eigentlich keiner mehr so genau. Unklar ist auch die Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen wie »langanhaltend«, »mit langer Wirkung« oder »zukunftsfähig«. Es gibt nachhaltiges Marketing, nachhaltiges Personalmanagement, nachhaltige Entscheidungen und vieles mehr. Der Unterschied zum früheren Management, das ohne dieses Wort auskam, bleibt aber unklar.
Momentexploration
Ein gängiger Denkfehler
Wesentlich bleibt bei allen Entscheidungen, dass ihre Konsequenzen gut durchdacht werden und wir stets abwägen, ob kurzfristige Erfolge die Ressourcen rechtfertigen. Wir dürfen dabei auch nie vergessen, an langfristigen Strategien zu arbeiten. Das ist nicht ganz einfach, denn unser Denken schließt aus den aktuell gemachten Erfahrungen auf die Zukunft. Wir nehmen also an, dass die Dinge, so wie sie sich im Moment darstellen, immer weitergehen. Dieser Denkfehler heißt »Momentexploration« und hilft uns dabei, die Komplexität zu reduzieren. Aber er führt uns beim Nachdenken über langfristige Strategien in die Irre. Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen, bleiben nicht immer gleich und sie folgen auch nur bedingt gewissen Schemata.
Langfristige Strategien entwickeln
Es wäre zum Beispiel zu einfach, zu sagen »Der DAX war noch nie dauerhaft im Keller«, und daraus zu schließen, dass es nach einer gewissen Zeit genauso weitergeht wie zuvor. Es ist aller Erfahrung nach eher unwahrscheinlich, dass es wieder so werden wird wie früher. Es wird anders werden. Wie genau, darüber gibt es nur Spekulationen. Und innerhalb derer können wir an langfristigen Strategien zum unternehmerischen Erfolg arbeiten. Ein Szenario könnte zum Beispiel so aussehen: Wie kann das Geschäft entwickelt werden, wenn der DAX sich nicht wieder auf einer sehr hohen Ebene stabilisiert? Möglicherweise ist es sinnvoll, zukünftig zuverlässiger und beständiger wieder mit dem lokalen Geschäft zu wirtschaften. Die vielen neuen Privatbanken, die momentan entstehen, machen uns genau das vor: Geschäfte werden nur noch im lokalen Markt mit persönlich vertrauten Partnern getätigt.
Die Rahmenbedingungen werden sich immer wieder auch in unvorhergesehener Weise verändern. Langfristige Strategien sind dennoch wichtig. Zum einen helfen sie uns dabei, nicht nur reine »Reagierer« zu sein. Wir haben mehr Möglichkeiten, aktiv zu sein und mitzubestimmen, und können so den Markt in eine positive Richtung hin entwickeln. Eine offene und flexible Haltung, die Fähigkeit, sich schnell anzupassen und dennoch langfristig zu denken, ist dem rein spontanen Reagieren deutlich überlegen.
Fokus 5: Flexibilität und Veränderungsfähigkeit
Was bedeutet »Charakter«?
»Je mehr Charakter ein Mensch hat, umso weniger Möglichkeiten hat er«, sagt Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie. Charakter zu haben bedeutet, in einem werteorientierten Denken fest verwurzelt zu sein und damit auf bestimmte Fragen des Lebens festgelegte Antworten zu wissen. Die Denkund Handlungsflexibilität ist damit begrenzt. Ein Mensch mit Charakter ist ein Mensch mit Kanten, nicht mehr so flexibel. Die Kunst scheint darin zu bestehen, sich insgesamt treu zu bleiben – also Charakter zu haben, wie Perls es nennt –, und sich gleichzeitig seine Flexibilität zu erhalten.
Flexibilität kann uns stark und schwach machen. Als Stärke nutzen wir sie, wenn wir die Dinge immer wieder neu betrachten, die Perspektiven wechseln und Lösungen entwickeln, die neu, mutig und anders sind. Zur Schwäche wird Flexibilität dann, wenn sie an Willkür erinnert, wenn sie haltlos wird und wir ohne werteorientierte Guideline heute so und morgen anders denken.
Vor- und Nachteile von Flexibilität
Ein rechtes Maß an Flexibilität scheint für ein Unternehmen sehr wertvoll zu sein. Eine Familie wäre zum Beispiel auch nicht im positiven Sinne denkbar, wenn alle vierzehn Tage der Vater wechselt beziehungsweise die Person, die diese Rolle ausfüllt. Es ist auch nicht gut, wenn sich die Spielregeln immer wieder ändern und man das nicht nachvollziehen kann: An manchen Tagen gibt es ein gemeinsames Frühstück, an anderen nicht – je nachdem, wie sich das Vorabendprogramm von Mutter oder Vater gestaltet hat. Sicher gibt es begründete Ausnahmen, wenn sich einmal etabliert hat, dass an den meisten Tagen ein gemeinsames Frühstück gut in die zeitlichen Abläufe aller Beteiligten passt. Dienstreisen, veränderte Tagespläne und andere Umstände machen Ausnahmen immer notwendig. Werden diese Spielregeln jedoch quasi nach dem Zufallsprinzip variiert, wird es den Kindern schwerfallen, sich in diesem System gut zu entwickeln.
Vor- und Nachteile unflexibler Systeme
Ein allzu starres System ist aber auch keine gute Lösung. Starre Systeme dulden keine Ausnahmen. Da müssen es zum Beispiel die heranwachsenden Jugendlichen lange und umständlich begründen, wenn sie keine Lust (mehr) auf ein gemeinsames Frühstück haben. Für die Kinder passt das in ihre Entwicklungsphase, für die Eltern ist das eher mühsam. Vielleicht haben sie sich einfach noch nicht daran gewöhnt, dass die Familie nun in eine andere Phase geht und hierfür neue Spielregeln notwendig sind. Manchmal machen die Eltern einfach die Entwicklung der Kinder nicht mit. Sie bleiben bei ihren tradierten Vorstellungen und bemerken gar nicht, wie sich die Kinder weiterentwickeln. Vielleicht sehnen sie sich auch einfach nach der Zeit zurück, in der die Kinder noch klein waren. So behandeln sie dann ihren 14-jährigen Sohn wie den Vierjährigen – und das schon seit zehn Jahren …
Nachteile von zu hoher Prozesskomplexität
Die mangelnde Fähigkeit, Veränderungen wahrzunehmen und sich an diese anzupassen, bringt Starre in ein System – es wird dadurch aber eher zerstört als stabilisiert. Unter dem Vorwand, die Prozesse zu stabilisieren, wird in Unternehmen oft bewusst eine Starre installiert. Großunternehmen sind für diese Starre wesentlich empfänglicher als kleine Unternehmen. Komplexe Systeme brauchen mehr Steuerung, wenn sie nicht auf Vertrauen und Verantwortung basieren. Je unüberschaubarer die Vorgänge sind und je weniger Verantwortung delegiert wird, umso komplexer müssen Prozesse Regeln und Abläufe abbilden, an denen sich die einzelnen Mitarbeiter orientieren können. Und wir haben ja gesehen, dass mit zunehmender Prozesskomplexität die Zahl der Redundanzen und Widersprüche ansteigt. Daraus kann man schließen, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, eine absolute Steuerung und Kontrolle für komplexe Prozesse anzubieten.
Was einfache Regelungen bewirken
In Indien gibt es beispielsweise eine Schule, die nur eine bestimmte Haltung von Lehrern und Schülern verlangt. Wenn alle diese Haltung verinnerlichen, dann braucht das Miteinander kaum noch andere Regeln und Prozesse. Diese Einstellung, zu der sich jeder bekennen muss, der an dieser Schule sein möchte, heißt: »Wir lernen, um anderen zu helfen.« Diese Schule hat inzwischen einen enormen Zulauf. Die Einigkeit in der übergeordneten Haltung macht ein starres darunterliegendes System überflüssig.
Dieser Grundsatz ist allerdings nicht flexibel handhabbar. Wer dem System beitritt, akzeptiert das. Übertragen auf ein Unternehmen bedeutet das, dass nur jene Menschen an Bord genommen werden, die in die Unternehmenskultur passen. Kommt es bei aller Unterschiedlichkeit im Denken und Handeln zu Unterschieden in der grundsätzlichen Haltung, dann wird man in der Regel versuchen, diese Einigkeit über starre Regeln und Prozesse wieder herbeizuführen. Dass das nicht gelingen kann, haben Sie sicher schon an vielen Stellen selbst erfahren.
Fokussierung statt Konzentration
Planungen schränken darüber hinaus immer den Blickwinkel ein. Mit der Konzentration auf bestimmte Ziele lasse ich andere außer Acht. Ich treffe Annahmen über meine Erwartungen, die meine Aufmerksamkeit genau auf diese Aspekte lenken. Aufgrund dieser Erwartungen werden gelenkte Entscheidungen getroffen. Erwartungen schaffen genauso viele Probleme wie Pläne und Ziele. Das macht es eben so schwierig, achtsam zu handeln, wenn man zu sehr mit Plänen und Zielen beschäftigt ist. Deswegen unterscheiden wir hier so genau zwischen Konzentration und Fokussierung. Eine Fokussierung ermöglicht immer noch den Seitenblick – eine Konzentration nicht.
Ziele flexibel gestalten
Ziele schaffen Erwartungen und Erwartungen mobilisieren die Energie, seine Ziele zu erreichen. Durch die Konzentration auf das Erreichen des Ziels und die stetig steigende Erwartungshaltung wird häufig viel Energie und damit auch Hoffnung gebunden. Die Wahrnehmung ist oft sehr eingeschränkt und enttäuschte Gefühle sind fast unvermeidbar. Die meisten Ziele gehen nicht genau so in Erfüllung, wie man es sich vorgenommen hat: weder im Unternehmen noch im Leben. Es gibt immer Abstriche, Kompromisse und Ergänzungen. Das ist auch in Ordnung und manchmal sogar noch besser als das ursprüngliche Ziel. Doch viele von uns nehmen diese Abweichungen eher als Abstrich oder Zugeständnis wahr und sehen darin eben nicht eine viel bessere Lösung für das ursprüngliche Problem.
Zufällige Ziele: ein Geschenk
Sich über alles zu freuen, was gelingt, unabhängig davon, ob es nun in meinem Zielkorridor war oder nicht – das ist eine Haltung, die viel mehr Erfolg verspricht. Auch Ziele, die Sie sich nicht bewusst gesetzt und quasi nebenbei erreicht haben, machen den Erfolg aus. Viele bahnbrechende Erfindungen sind rein zufällig entstanden. Denken Sie zum Beispiel an die Entdeckung der Röntgenstrahlen, die aus purem Zufall gelang, oder an die Erfindung des Penicillins, die im Grunde nur das Ergebnis von Faulheit war: Weil die Reinigung einer Petrischale vergessen wurde, konnte der Pilz wachsen.
Achtsamkeit als Indikator für Veränderungen
Wenn wir uns auf ein Ziel konzentrieren, gibt uns das das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Wir glauben, einen Prozess genau zu kennen und die Parameter so einstellen zu können, dass wir erfolgreich sind. Das kann auch gelingen. Es klappt aber nicht immer. Denn wir verlieren den Fokus, also die Achtsamkeit gegenüber den Dingen, die sich entweder verändern, mehr Gewicht bekommen oder deren Wirkung nachlässt. Weick (2003) formuliert das so:
»Achtsamkeit gründet in der Erkenntnis, dass Wissen und Unwissenheit gemeinsam wachsen. Wenn das eine zunimmt, nimmt auch das andere zu. Achtsame Menschen akzeptieren die Tatsache ihrer eigenen Unwissenheit und geben sich große Mühe, ihre Lücken aufzudecken, weil sie sehr wohl wissen, dass jede neue Antwort eine Vielzahl von Fragen aufwirft.«
Mit unliebsamen Informationen umgehen
Weick empfiehlt, sich nicht auf der sicheren Seite zu fühlen – sich also nicht auf die gefühlte Kontrolle zu verlassen –, sondern immer offen für neue Informationen zu bleiben. Das gilt insbesondere für die Informationen, die man eigentlich gar nicht so gerne hören will: die Dinge, die man bisher für irrelevant gehalten hat, unangenehme Dinge, ungewisse Dinge, implizite Schlüsse oder Widersprüchlichkeiten. Die Fähigkeit, diese unliebsamen Dinge auszublenden, schützt uns nicht davor, dass sie eintreten und berücksichtigt werden müssen. Beziehen wir sie von vorneherein mit ein und widmen ihnen beständig einen Teil unserer Aufmerksamkeit, dann fällt es leichter, flexibel zu agieren und den Handlungskorridor so zu öffnen, dass diese Dinge in unsere Entscheidungen mit einfließen können.
Eine gute Achtsamkeit öffnet außerdem die Wahrnehmung für positive Ereignisse. Möglicherweise habe ich in meinen Prozessen sehr viele Sicherheitsschleifen eingebaut, die ich so gar nicht brauche. Oder – um ein konkretes Beispiel zu nennen – es werden in langen Exceltabellen Zahlen produziert, die niemand nachfragt und mit denen nicht wesentlich weitergearbeitet wird. Achtsamkeit und die Fähigkeit, über den Prozess hinaus denken zu können, lassen uns bis dahin unberücksichtigte Dinge entdecken, die nun eine hohe Wirkung entfalten können.
Die ideale Flexibilität
Flexibilität ist ein sehr wichtiger Wert, der Führung erfolgreich machen kann. Sie ist jedoch kein Wert an sich, der unabhängig von anderen Werten ein System erfolgreich führt. Flexibilität auf der Basis von starken Annahmen und in verantwortlichen Grenzen scheint das zu sein, was Unternehmen in ihrer Kultur anstreben können.
Es ist sehr wichtig, in seinem Denken immer flexibel zu bleiben. Hilfreich sind Perspektivwechsel, antizipierende Betrachtungen und die Fähigkeit, Erfahrungen aus der Vergangenheit modifizieren und zukunftsfähig machen zu können. Das sollte immer von einer Erkenntnis geleitet sein: Es gibt ohnehin nicht die richtige Entscheidung und was heute wichtig und richtig erscheint, kann morgen ganz anders aussehen. Aber für diese neuen Probleme suchen wir dann morgen die geeignete Lösung.
Veränderung als Chance
Veränderungen fordern von uns, immer wieder Abschied zu nehmen und mutig einen neuen Weg zu beginnen. Das muss keineswegs radikal sein. Im Grunde genommen verabschieden wir uns fast täglich von etwas und bauen etwas Neues auf. Eine bewährte Verkaufsstrategie funktioniert nicht mehr, die Lizenz für ein Produkt läuft aus, neue Technologien erschließen neue Märkte und Vertriebswege, neue Mitarbeiter bringen neuen Wind in das Unternehmen, bewährte Mitarbeiter verlassen das Unternehmen, neue Qualitätsvorschriften kommen auf den Tisch – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Kein Tag, an dem sich nichts verändert oder weiterentwickelt. Die meisten Veränderungen erleben wir nicht dramatisch, sondern wir wenden intuitiv ein bestimmtes Schema an: nachdenken, Möglichkeiten suchen, auswählen und weiter geht es. Jedem Anfang geht ein Ende voraus. Es ist ein ständiger Neubeginn: Jede Tasse Kaffee ist eine neue, jeder Golfball, unabhängig vom Ball zuvor, jedes neue Produkt eröffnet neue Chancen …