Читать книгу Zucker im Gepäck - Susanne Löw - Страница 7

Оглавление

September 2002, Krankenhaus Haunstetten bei Augsburg. „Diabetes mellitus Typ 1“ lautete die Diagnose, die mir hier einen Aufenthalt beschert hat. Vorausgegangen waren vier Monate, in denen ich immer schlapper wurde, ständig Durst hatte und immer mehr abgenommen habe – obwohl ich bereits Kalorienbomben zu mir nahm, um dem entgegenzuwirken.

„Diabetes“ – das sagte mir damals herzlich wenig. Mein ein Jahr zuvor verstorbener, innig geliebter Großvater hatte Diabetes und ich erinnerte mich an sein Mäppchen mit Spritzen, das er immer zu den Mahlzeiten hervorzog. Mehr wusste ich nicht. Und mehr wollte ich damals auch gar nicht wissen. Insulin spritzen, Blutzucker messen, Kohlenhydrate schätzen – das war doch nicht ich! Ich war 21, mitten in meinem Studium, die Zwischenprüfungen standen an – mein Leben fing gerade erst an. Für die Zusammensetzung von Nahrung – Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette – habe ich mich noch nie interessiert. Jetzt musste ich in Schulungen aber genau das lernen und die Broteinheiten (BE) von Pasta, Brot und Reis analysieren. Würde der Diabetes künftig mein Leben dominieren und diktieren?

„Krank“ habe ich mich von Anfang an nicht gefühlt. Daher bin ich auch die meiste Zeit meines einwöchigen Krankenhausaufenthaltes, in dem ich lernen sollte, wie ich mich den Rest meines Lebens zu verhalten habe, die steril wirkenden, weißen Flure auf und ab getigert – anstatt auf dem Krankenhausbett in meinem Zimmer zu sitzen. Die Zeitschriften in einer Auslage vor dem Schulungsraum hatte ich aus Langeweile und Neugierde gleichermaßen nach zwei Tagen alle durchgelesen.


„Krank“ fühlte ich mich nie.


Zum Glück! Denn in einem Magazin schrieb eine junge Typ-1-Diabetikerin über ihre Reise nach Kanada. Ach, das geht? Reisen mit Diabetes – und dann auch noch so weit weg? Schon damals bin ich gerne gereist, daher war das ein wahrer Aha-Effekt für mich. Ich beschloss, der Autorin einen Brief zu schreiben und mich für ihre Motivation zu bedanken. Mehr noch: Ich habe in dem Brief angekündigt, ebenfalls eine große Reise zu machen, sobald ich die Dos und Don‘ts des „Daily Diabetes“ draufhabe. Und, so habe ich vollmundig angekündigt, ich würde dann ebenfalls einen Bericht veröffentlichen. (Wenn man etwas aufschreibt, ausspricht oder sogar jemand anderem schriftlich mitteilt, wird es gleich viel verbindlicher.)


Mit Sandkastenfreundin Claudia ging es kreuz und quer durch Spanien …

… mit (zu) schweren Backpacks.

Die junge Diabetikerin hat geantwortet. Und ich habe mir ein Jahr später tatsächlich mit meiner Sandkastenfreundin Claudia ein Semester freigenommen, um zwei Monate lang mit dem Rucksack durch Spanien zu reisen – wo ich auch gleich meine erste Herausforderung zu bewältigen hatte: Mein Messgerät wurde geklaut (siehe Postkarte hier). Anschließender Reisebericht in einem Magazin inklusive – wie ich es mir selbst versprochen hatte. Aber das war erst der Anfang für viele weitere Reisen. Getreu dem Motto: Jetzt erst recht!

Die Bergdörfer in Andalusien sind bezaubernd.


Diabetiker dieser Welt – vereinigt euch!

Diabetes ist eine chronische Krankheit, mit der man gut leben kann. Mal gibt es bessere Tage, mal schlechtere. Ärzte, Diabetesberater, Ernährungswissenschaftler, sie alle können gute Tipps geben – in der Theorie. Besonders wertvoll sind daneben aber auch Erfahrungen anderer Diabetiker. Wie machst du das? Warum machst du das so? Ob Selbsthilfegruppen, Online-Chats oder Urlaubsfahrten mit anderen Diabetikern: Tauscht euch aus! 18 Jahre nach der Diagnose will ich persönlich zwar immer noch nicht Teil einer Selbsthilfegruppe sein, aber unter meinen Freunden ist auch ein Diabetiker. Na klar ist das toll, wenn man beim Italiener gemeinsam über die Kohlenhydratmenge der Pizza diskutieren kann! Und noch aufregender ist es – und das können wohl nur Diabetiker nachvollziehen –, wenn man im Ausland zufällig Gleichgesinnte trifft. Offenheit lohnt sich also, sowohl was die eigene Diabetes-Erkrankung betrifft als auch gegenüber fremden Kulturen.


Medizinische Fakten

Über sieben Millionen Menschen haben in Deutschland aktuell Diabetes, rund 370.000 davon Typ-1-Diabetes. Der Körper zerstört bei dieser chronischen Autoimmunkrankheit die Langerhans’schen Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse, die für die lebensnotwendige Insulinproduktion verantwortlich sind. Ohne den „Türöffner“ Insulin gelangt keine Energie in die Zellen – man verhungert, der Körper übersäuert. Typ-1-Diabetiker sind daher ihr Leben lang auf Insulin angewiesen, müssen die Kohlenhydrate in ihrer Nahrung schätzen, die den Blutzucker ansteigen lassen, und die Menge an Insulin danach ausrichten. Ein täglicher Balanceakt.

Was bedeutet die Diagnose Typ-1-Diabetes heutzutage? Intelligente Insulinpumpen, kontinuierliche Glukosemesssysteme mit Alarmfunktionen, Analoginsuline und Insuline mit schnellen Wirkprofilen helfen Diabetikern, ihren Blutzucker zu kontrollieren. Mit Werten im normnahen Bereich lassen sich die möglichen Folgeschäden wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Neuropathie oder Nierenschäden mittlerweile so weit hinauszögern, dass man sie nicht mehr erlebt – die Lebenserwartung ist dann dieselbe wie bei Nichtdiabetikern.

Typ-2-Diabetiker produzieren im Gegensatz zu den Typ 1ern zwar noch Insulin, allerdings ist dessen Wirksamkeit reduziert. Die Folge: hohe Blutzuckerwerte, die oft viele Jahre lang – weil symptomlos – nicht erkannt werden. Mit Bewegung und gesunder Ernährung, gegebenenfalls auch Tabletten, kann die Insulinsensibilität wieder erhöht werden. Auch neue Medikamente, die die Wirkung des körpereigenen Insulins verstärken, sind mittlerweile verfügbar. Hilft das alles nicht, muss auch hier Insulin gespritzt werden.

Für eine erfolgreiche Therapie müssen Diabetiker ihre Krankheit akzeptieren und sich selbst managen – Typ 1er genauso wie Typ 2er. Denn trotz vierteljährlicher Kontrolle beim Diabetologen: Bei jeder Mahlzeit, bei jeder Sporteinheit, bei jedem zu hohen oder zu niedrigen Blutzuckerwert im Alltag müssen Diabetiker ihre eigenen Entscheidungen treffen. Nach anfänglicher Schulung lernt man das vor allem durch Erfahrung.

Daher gilt: Mutig sein, eigene Erfahrungen sammeln – ohne dabei natürlich leichtsinnig zu sein! Sich trauen, neue Dinge auszuprobieren. Und vor allem: Gelassen bleiben, wenn der Blutzucker mal nicht perfekt ist.

In der Stierkampfarena in Ronda ging ich in Deckung – in Sachen Diabetes bin ich mutig.

Zucker im Gepäck

Подняться наверх