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Udy

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Im Norden

Der Himmel färbte sich schwarz, Schreie zerrissen den Tag und tauchten ihn in eine tiefe finstere Nacht. Alles was wir kannten, war vergangen – versunken im roten Nebel. Die Schreie der Riesen wurden verspeist von dem hohen, schrillen Kreischen der Drachen, die von einem Augenblick auf den nächsten mehr als die Hälfte des Dorfes mit ihrem Höllenfeuer vernichteten.

Rauch, Rauch, überall Rauch. Blut haftete an meinen Händen, meiner Kleidung. Ich schmeckte Blut auf meiner Zunge, würgte gebeugt und geplagt über den toten Leibern meiner Familie. Ich schrie und hustete, fluchte und heulte wie ein kleines Kind.

Meine Mutter lag mit offener Kehle am Boden, ihre Augen starr und leblos zum Himmel gerichtet. Ich wollte sie umarmen, ein letztes Mal halten und mich geborgen fühlen. Doch ich klammerte mich an einen kalten, starren Körper und mit dem Wissen, meine Mutter für immer verloren zu haben, wuchs die Verzweiflung. Mein Herz presste sich zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Sie war die Einzige, die mich verstand. Die Einzige, die mich beschützte. Sie war es, die sich vor mich stellte, als die Soldaten unser Heim angriffen. Sie schenkte mir das Leben und starb für mich und alles, was ich ihr gab, waren meine Tränen. Ich weinte um sie, um mein Volk und um mich.

Die Drachen hatten bei ihrem Angriff das Dach weg gerissen und während ich meine Mutter hielt, sah ich den schwarzen Himmel, vernahm aus weiter Ferne die kräftigen Flügelschläge und die schweren klirrenden Schritte der Soldaten.

Die Drachen zerstörten unser Heim – sie zerstörten alles in nur einem einzigen Augenblick. Wie konnte uns das nur geschehen? Wir waren vorbereitet gewesen, unser Volk war kampferprobt. Aber auf eine Naturgewalt wie diese konnten sich die Lebenden nie vorbereiten, denn das waren die Drachen. Eine Naturgewalt, die es immer gab und immer geben wird. Geboren aus Feuer – nur sich selbst gehörend.

Ich schloss die Augen, wartete ich auf die Soldaten und auf meinen Tod.

Hitze durchflutete meinen Körper und schwemmte die Wärme von meinen nackten Füßen bis hinauf zu meinem Kopf. In meinen Vorstellungen war der Tod stets kalt und betäubend gewesen. Grabeskälte, so erinnerte ich mich an die Worte meines Vaters. Ich blinzelte in das Licht, konnte meine Augen nicht öffnen. Tränen rannen über meine blutigen Wangen. Meine Augen schmerzten von dem grellen Licht. War das die Sonne? Meine Haut brannte, und die Hitze drückte meinen Atem tief in meine Brust.

Kein guter Tag zu sterben. Die Worte flimmerten in meinem Kopf. Kein guter Tag zu leben. Was nun? Ich musste mich für eines entscheiden.

Ich wog das Für und Wieder ab, bis ich einfach müde die Augen schloss und das Feuer einen Weg über meinen Körper fand.

„Dummes Kind!“

Das waren die ersten Worte, die ich vernahm, als ich das Bewusstsein wieder erlangte. Kaum öffnete ich die Augen, da traf mich rechts und links ein kräftiger Faustschlag. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht. So fest konnte nur eine zuschlagen.

„Amüsiere ich dich? Glaubst du, ich habe mich zu meinem Vergnügen ins Feuer geworfen, um deinen verkrüppelten Körper aus dem Schutt zu ziehen?“

Mit Leichtigkeit wurde ich an den Schultern hoch gezogen und auf die Füße gesetzt. In meinem Kopf flimmerte es. Ich hustete Staub und Asche und Baktas ungeduldige Tritte gingen mir gehörig auf die Nerven. Blinzelnd öffnete ich die Augen, mein Herz schlug so schnell, das es in meiner Brust schmerzte. Die Erinnerung traf mich wie ein weiterer Faustschlag. Mein Heim stand in Flammen, über ihm kreiste in großen Bahnen ein schwarzer Drache. Auf ihm saß eine Gestalt, die ich von hier unten nicht erkennen konnte, aber es konnte sich nur um ihn handeln.

Der finstere König.

Die Angst schnürte meine Kehle zu und das Wissen, dass meine Mutter tot in der Hütte lag, zerriss mein Innerstes. Sie gewährte mir keine Sekunde der Trauer, als ihre Stimme über mich hinweg grollte: „Leg´ dich nie wieder zum Sterben hin!“

Zum ersten Mal schaute ich ihr direkt ins Gesicht. Die markanten Züge und die klaren, wachen Augen waren die meines Vaters so ähnlich. Meine Tante war groß und stämmig wie ein Bär. Ihre tiefe Stimme ähnelte der eines Mannes, so wie ihre körperliche Statur. Ihr Haar leuchtete in einem Rot, dass bekannt für unsere Familie war. Sie war grob, zäh und hatte überlebt.

„Bakta.“

Dieses Mal schlug sie mit der flachen Hand zu.

„Hast du mich verstanden, Udy?“, in ihrer Stimme lag ein drohendes Zittern. „Leg dich nie wieder zum Sterben hin.“

Mit ihren großen Händen packte sie meinen Oberarm und zog mich hinter die nächste Hütte. An uns zog eine Gruppe von Soldaten vorbei. Ihre Rüstung war ebenso schwarz wie das elende Land, welches die Ungeheuer ausspuckte. Aus unserem Versteck erblickten wir Gefangene, mehr tot als lebendig, und an schweren Ketten gefesselt, die einen Riesen bändigen sollten. Ich kannte jeden Einzelnen von ihnen und vor Hilflosigkeit wünschte ich mir zu schreien, aber meine Tante warf mir sogleich einen drohenden Blick zu. Meine Kehle schmerzte und klickte bei jedem Atemzug unangenehm. Ich spürte wie heiße Tränen meine Wangen hinab rollten. Das Kreischen des Drachen ließ meinen ganzen Körper erzittern. Meine Gedanken kreisten, die Umgebung verschwamm langsam vor meinen Augen und ich wusste, dass ich ohne meine Tante endlos verloren war.

„Ganz ruhig“, flüsterte sie dicht an meinem Ohr und hielt meine Hand. Ihre Schläge waren hart, aber umso weicher waren ihre Berührungen. Bakta holte mich ein Stück zurück in die wahre, grausame Welt, in der ich nicht mehr leben wollte.

Sie klopfte auf die Seite ihrer rechten Hüfte und unter ihrem Mantel entdeckte ich Vaters Schwert, dass er nur selten aus den Händen gab. Es war ein kleiner Trost, das Bakta es nun mit sich führte und eine Waffe bot uns die Gelegenheit zu überleben.

„Wir werden uns in die Wälder retten“, ihre Stimme klang seltsam verzerrt. „Du wirst überleben.“

Wir zogen uns ins Innere der Hütte zurück, beobachteten still die abrückenden Soldaten und die wenigen Drachen, die von der Schlacht noch übrig waren. Sie fraßen sich am Fleisch meines Volkes satt und das Schmatzen und Kauen dröhnte in meinen Ohren, dass ich fürchtete den Verstand zu verlieren.

Die Schreie unseres Volkes verebbten. Ich hörte hier und da ein leises Stöhnen, ein Schluchzen und Wimmern. Unser eigener, schwerer Atem zerriss die Stille und ich fürchtete mich so sehr, dass ich Schutz in Baktas Armen suchte. Aber Bakta war nicht meine Mutter. Sie duldete meine Berührungen, aber ich spürte an ihrer Haltung, wie unerwünscht sie waren.

„Du zählst bald 16 Winter. Du bist kein Kind mehr, also reiß dich gefälligst zusammen. In deinem Alter hatte ich bereits drei Kinder zu versorgen“, waren die einzigen Worte, die sie mir bitter zu raunte. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich war nicht die einzige, die an einem Tag alles verlor.

Erst in der tiefen Nacht wagten Bakta und ich uns aus unserem Versteck. Mein Körper zitterte vor Kälte und die Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Im Gegensatz zu Bakta trug ich keinen Mantel zum Schutz gegen den frostigen Wind, sondern nur ein einfaches Kleid aus Tierfellen. Der Winter zählte im Norden viele Monate. Unser Volk war an kalte Tage gewöhnt, aber gegen die Kälte der Angst half kein Mantel und Feuer der Welt.

„Sei mutig“, sprach ich zu mir selbst, denn die Hölle die sich uns bot, zerschlug alle Gedanken an Kälte, Hunger und Angst. Vor uns öffnete sich ein Trümmerfeld, das wir selbst in der Dunkelheit erkennen konnten. Blutende, abgetrennte Körperteile, zur Asche gefallenes Holz – verbrannte Erde, geschlachtetes Vieh und Zerstörung, wo auch immer man blickte. Der Geruch von Asche, Tod und Blut war unerträglich. Ich hielt die Hände vor Mund und Nase, um nicht Blut und Galle zu würgen. Mit jedem Schritt hörte ich ein schauriges, saugendes Geräusch. Wasser drang durch meine dünnen Lederschuhe und als ich mich ängstlich nach unten beugte und nach meinem Schuh tastete, war es kein Wasser, das an meinen Händen haftete. Es war schmieriges schwarzes Blut, das an meinem Finger klebte.

„Gehen wir.“ Bakta warf mir einen bösen Blick zu. Er sagte mir deutlich: Kein Geheul mehr. „Sieh dich nicht um, Kind. Lauf – lauf in den Wald.“

An Baktas Seite rannte ich über verkohlte Erde, vorbei an den Aasfressern, die sich über die Reste meines Volkes her machten. Ich stolperte mehr, als dass ich auf zwei Beinen lief.

Im Lauf warf ich einen Blick zurück auf unser Dorf, dass 16 Jahre meine Heimat war. Hier wurde ich geboren. Ich erlebte hier die schönsten und schlimmsten Tage meines Lebens. Die Drachen hatten mir alles genommen. Nein, er hatte mir alles genommen! Er tötete meinen Vater, meine liebe Mutter. Er stahl mir mein Heim und das an einem einzigen Tag! Ich kannte doch nichts anderes. Hier war mein zu Hause. Hier war mein Leben.

Oh Göttin, was soll nur aus uns werden? Hast du dein Volk verlassen?

Bakta verpasste mir einen leichten Schlag auf die Schulter und ich kehrte meiner Heimat den Rücken. Es dauerte nicht lange und wir erreichten das schützende Geäst der Bäume, kühlen Erdboden und entflohen dem beißenden Geruch nach Feuer und Tod. Zum ersten Mal erlaubte ich mir aufzuatmen und sah meiner Tante an, dass auch sie sich eine winzige Pause gönnte. Der Wald roch erdig, würzig und nach frischem Holz. Noch vor einem Tag jagte unser Volk in diesem Wald, erlegte Böcke, Wölfe und hin und wieder sogar einen Bären. Heute Nacht wusste ich, dass wir auf den Schutz des Waldes angewiesen waren.

Bakta zog mich unermüdlich weiter, obwohl ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich lief blind durch die Dunkelheit, klammerte mich unentwegt am Mantel meiner Tante fest. Meine Kräfte schwanden. Die Müdigkeit zerrte an meinem Körper. Seltsame Gedanken drangen durch meinen Kopf.

Ich will sterben. Nein, ich will leben. Ach, gib es doch zu, du hast Angst zu leben und zu sterben. Du bist ein Feigling, Udy Häuptlingstochter.

Plötzlich stoppte Bakta. Schnaufend beäugte sie unsere Umgebung, empfand sie scheinbar für sicher. Wir rasteten unter einem großen Baum, umgeben von Sträuchern und dem Schutze der Nacht. Liebevoll breitete sie ihren Mantel auf der Erde aus, auf dem ich mich keuchend fallen ließ. Ich war so müde und leer und dennoch erlaubten mir die wirren Gedanken keine Ruhe. Trotzdem drehte ich mich von Bakta fort und tat, als ob ich schliefe.

„Ich erlaube dir nicht zu sterben“, sprach Bakta in die Nacht und mit einer rauen Stimme, die zur Dunkelheit passte. Als ich keine Reaktion zeigte, schlug sie mir gegen die Schulter.

„Halte mich nicht zum Narren, Udy Häuptlingstochter! Ich weiß, dass du nicht schläfst.“

„Lass mich in Ruhe“, zischte ich herausfordernd und ihrer Schläge müde. „Wir werden alle sterben! Ob ich jetzt zu meinen Ahnen gehe oder morgen. Was macht es für einen Unterschied? Ich wünschte, du hättest mich in der Hütte verbrennen lassen. Unser Volk ist tot – alles ist zerstört! Wo wollen wir hin? Wo können wir hin, Bakta? Die Soldaten werden uns erkennen, ganz egal wo wir uns aufhalten werden. Ein Leben auf der Flucht? Ist dies das Schicksal, das unsere Göttin für uns erwählt hat? Lieber sterbe ich hier und jetzt, als ein solches Leben zu führen.“

Trotzig reckte ich mein Kinn nach vorn. Wenn meine Tante mich verprügeln wollte, sollte sie es ruhig tun. Ich war nicht mehr in der Lage, etwas zu empfinden. Körperliche Schmerzen erinnerten mich zumindest daran, dass ich noch am Leben war.

„Bist du von Sinnen, Kind? Du redest, als wärst du bereits tot!“

„Das bin ich.“ Die Wut verrauchte und entblößte die Trauer, die sich dahinter versteckte. „Mutter... Vater... Ich bin so müde Bakta, so müde...“

Die Tränen rollten über mein Gesicht. In diesem Moment legte meine Tante, ganz im Gegensatz zu ihrer Natur, den Arm um mich, und ich weinte und schrie laut in ihre Umarmung gehüllt. Sie strich geduldig und tröstend über meinen bebenden Körper, bis ich keine Tränen mehr weinen konnte.

„Es tut mir leid, dass du solche Grausamkeiten erleben musst“, sprach sie leise, und ich hörte an ihrer gebrochenen Stimme, dass sie denselben Verlust erlitten hatte. Ihre Kinder lagen unter einem Berg von Asche und ich schämte mich für meinen Ausbruch. „Du wirst überleben. Du musst überleben.“

„Du redest blöd daher.“ Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen fort. „Und in Rätseln. Wie immer.“

Leise lachend löste Bakta die Umarmung.

„Du bist meine Familie, Udy. Und nun, da deine Eltern von uns gegangen sind, übernehme ich die Verantwortung. Außerdem…“, senkte sie ihre Stimme. „…habe ich dich im Traum gesehen, Kind. Das Leben hat für dich ein besonderes Schicksal erwählt.“

„Ach Bakta“, stöhnte ich und verdrehte merklich die Augen.

Meine Tante erzählte meiner Familie und mir oft von ihren Träumen, und nichts von dem, was sie uns vorhergesagt hatte, war jemals eingetreten. Es waren, wie sie selbst sagte, nur Träume.

„Hör mir zu!“, forderte sie mit eisiger Stimme.

Abwinkend legte ich mich auf das Lager, hüllte mich in ihren Mantel und zog den Stoff hoch bis zu meinem Gesicht.

„Davon will ich nichts hören“, murmelte ich, noch bevor ich die Augen schloss. „Die Hoffnung, die in deinen Träumen liegt, kannst du für dich behalten.“

Sie sagte kein Wort mehr, bis ich einschlief.

Mit einem heftigen Stoß in die Rippen weckte Bakta mich aus meinen Träumen. Auf der einen Seite dankte ich ihr, denn meine Träume bestanden aus Blut, kreischenden Drachen und Soldaten in klirrenden Rüstungen, aber auf der anderen Seite wollte ich nur bis zu meinem Lebensende schlafen.

„Wir gehen weiter“, erklärte sie kurz angebunden.

Sie streckte müde ihre Arme in die Höhe, enthüllte ihre wahre Größe. Immer wieder erstaunte mich ihre Gestalt, und ich fragte mich, ob ich jemals zu solcher Größe heranwachsen würde. Meine Statur war für das Volk der Ahm Fen eher untypisch. Mein Körper war klein und zierlich – zu dünn und zu schwach für das raue Land. Meine Tante erzählte mir immer wieder, wie enttäuscht mein Vater war, als er den kleinen Säugling in den Armen hielt, der gerade auf seine Handfläche passte.

In unserem Blut fließt das Geschlecht der Riesen. Von Natur aus ist das Volk der Ahm Fen grob, grimmig und Fremden feindlich gesinnt. Ahm Fen ist unsere Göttin und stolz trägt jeder Riese ihr Geburtsmal auf der Stirn: Eine mit drei roten Strahlen durchzogene Sonne.

Zur Enttäuschung meines Vaters war mein Geburtsmal nur schwer zu erkennen. Ein verkrüppeltes Bild auf meiner Stirn, von dem niemand sagen konnte, was es war. Die weisen Alten sprachen von Unheil, aber meine Mutter wollte von alledem nichts wissen und drohte jedem, der gegen mich etwas sagte, mit Folter und Tod. Die wispernden Stimmen starben schnell, niemand wünschte den Groll meiner Mutter.

Mein Vater gab mir daraufhin den Namen Udelka. Übersetzt bedeutet mein Name in unserem Dorf "die Unvollständige". Meine Mutter aber nannte mich von Geburt an nur Udy. Ich war ihr einziges Kind - ihr Sonnenschein. Aus diesem Grund erwählte sie auch diesen Namen für mich, denn Udy bedeutet Sonne.

Ich unterdrückte ein leises Schluchzen, als ich mich an die Umarmungen meiner Mutter erinnerte. Und daran, dass ich sie nie wieder spüren würde.

„Vorwärts, vorwärts“, drängte Bakta mit ernstem Blick.

Zügig räumten wir unseren Lagerplatz zusammen und vernichteten alle Spuren, die unsere Anwesenheit verraten konnten. Wie gehetzte Tiere flüchteten wir durch den Wald, folgten einem Weg, der ins Ungewisse führte und fürchteten uns vor dem kleinsten Schatten.

Nein, sollte die Flucht unser Leben bestimmen? Auch wenn ich neben Bakta wie ein Zwerg wirkte, so besaß ich dennoch denselben Stolz wie alle Ahm Fen Krieger.

Ich verlangsamte meine Schritte, bis ich einfach stehen blieb. Irritiert davon, meine Schritte nicht mehr neben ihren zu hören, blickte Bakta über ihre breite Schulter zurück, und hielt sogleich in ihrem Tempo inne.

„Weiter!“, befahl sie so streng, wie mein Vater es immer gewesen war. Es war, als blickten seine eisigen Augen auf mich herab.

Mit verschränkten Armen schüttelte ich den Kopf.

„Nein, ich gehe keinen weiteren Schritt.“

Bakta trat schnaubend auf mich zu. Sie erhob drohend ihre Hand, schlug aber nicht zu. Stattdessen blitzte es in ihren Augen auf, und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

„Am Tag deiner Geburt, als ich dich eigenhändig aus deiner Mutter zog, wusste ich: Dieses Kind wächst zu einer starken Frau heran. Auch wenn du ein Zwerg bist.“

Meine Tante lachte, und ich konnte ihrem krächzenden Lachen nicht widerstehen. Das war das erste Mal, dass sie meine Größe liebevoll und nicht vorwurfsvoll verspottete.

„Wo laufen wir hin, Bakta?“

„Kannst du dich an die Geschichte der Bergriesen erinnern, die ich dir in Kindertagen erzählte?“

Meine Tante erzählte mir als Kind so manche Geschichten, doch die der Bergriesen blieb mir besonders in Erinnerung. Nicht nur, weil sie brutal und blutrünstig waren, sondern auch unvorstellbar weit ab von der wirklichen Welt. Jedes Mal wenn es donnerte und blitzte, sagte Bakta zu mir, die Bergriesen beginnen ihre Wanderung zu den ewigen Gefilden.

„Erzähl mir bitte nicht, wir folgen den Spuren der Bergriesen...“

Ich schlug mir ungläubig gegen die Stirn, als Bakta meinem Blick auswich.

„Himmel, Bakta!“ Meine Schreie hallten hohl durch den Wald. „Du klammerst dich an Träume und Geschichten, während das wahre Grauen unser Land heimsucht! Wir sind auf der Suche nach Mythen und Legenden, die du dir in deinen eigenen Träumen zusammen gesponnen hast. Du bist verrückt!“

„Nein, hör mir zu...“

Ein Pfeil schoss an meinem Ohr vorbei.

Die Federn am Ende des Holzes streiften meine Wange, und einen Augenblick später steckte der Pfeil im Baum. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie Bakta zu dem Schwert griff, das sie unter ihrem Mantel trug, es entschlossen und ohne Furcht hielt. Das Schwert meines Vaters. Mein Atem stockte. Ich bereute meine Worte, meinen Wutausbruch. Mit tränenverhangenem Blick suchte ich nach einer entschuldigenden Geste. Mein Mund öffnete sich, doch meine Tante schüttelte nur ihren Kopf.

„Sagte ich nicht, dass sich die restlichen Bastarde im Wald verstecken werden?“

Der Mann lachte, und als er einen Schritt nach vorne trat, vernahm ich wie in meinem Albtraum das Klirren seiner schwarzen Rüstung.

„Es sind nur eine Frau und ein Mädchen. Mach schnell. Ich bin müde, und will zurück zum Lager. Die Nacht war lang, ich habe genug von diesen Barbaren gesehen. Mehr, als ich in diesem Leben vertrage.“

Langsam und zitternd drehte ich mich um. Es waren drei Soldaten, die vor uns standen und uns beobachteten. Ein Soldat mehr, als ich vermutete.

„Egal was passiert, Udy“, sprach meine Tante in unserer Stammessprache, denn diese Worte waren nur für mich bestimmt. „Überlebe und gehe deinen Weg. Auf dich wartet eine ganz neue Welt.“

Eine Träne rollte über meine Wange. Die Soldaten lachten schallend über uns.

„Seht euch die Bastarde nur an! Ihre Sprache klingt wie das Schnaufen meines alten Gauls und sie bewegen sich wie fette Schweine“, jaulte einer von ihnen.

„Die Tiere nehmen wohl Abschied voneinander“, grölte ein anderer.

Nein, schrie ich in Gedanken, und als ob meine Tante meine Gedanken lesen könnte, antwortete sie mit warmer Stimme: „Folge deinen Träumen, Udy Häuptlingstochter, und lebe weiter.“

Wie eine schwere Glocke tönte Baktas Kriegsschrei in den Wald hinein. Mit dem ersten gezielten Schlag ihres Schwertes zerteilte sie den Soldaten, der Pfeil und Bogen trug. Überrascht über ihre Kraft zogen die beiden Soldaten ihre Waffen und griffen meine Tante von zwei Seiten an. Mühelos wehrte Bakta die ersten drei Angriffe ab, schwang ihr Schwert wie unsere Göttin Ahm Fen selbst und tötete einen zweiten Mann. Mit dem nächsten Schlag entwaffnete sie den letzten Soldaten, der blitzschnell einen Dolch aus seinem Stiefel zog und mit festen Tritt Bakta ihre Kniekehle traf. Mit einem Grunzen strauchelte Bakta vorwärts, fand aber ihre Gleichgewicht, und gerade als ich es wagte, aufzuatmen, packte der Soldat in Baktas lange rote Haarpracht, zog kräftige ihren Kopf nach hinten und schnitt ihr die Kehle durch.

So groß und massig ihre Gestalt auch war, so sanft und geräuschlos fiel ihr Körper auf den weichen Erdboden. Ihre funkelnden Augen verloren sich in der Ferne, kein Atem hob ihre Brust, kein Laut floss über ihre Lippen.

Bakta war tot.

Wie betäubt starrte ich auf ihren regungslosen Körper.

Ahm Fen, steh mir bei.

„Genau aus diesem Grund töten wir euch!“, schrie der letzte Mann triumphierend, und reinigte seinen Dolch an ihrem Mantel, auf dem ich letzte Nacht noch geschlafen hatte. „Bei allen Göttern, ihr seid die Pest!“

Seine Sprache war mir geläufig. Mein Vater lehrte mich, den Feind besser zu kennen als sich selbst, aber er redete sehr schnell und abgehakt. Ich verstand nur einzelne Worte, aber das Schwert in seiner Hand konnte man in allen Sprachen verstehen. Er benutzte es zum Töten.

„Bleib ganz ruhig Mädchen, dann ist es auch schnell vorbei.“

Mit dem Dolch vor seinem Körper schritt er gelassen auf mich zu. Er war sich siegessicher und warum auch nicht? Wer war ich denn? Udelka, die Unvollständige. Der Krüppel, der Zwerg, der nie ein Schwert in den Händen hielt und stattdessen die Tiere versorgen musste, kochen, putzen, sich unauffällig verhalten. Udy, die unter der Decke ihre Geheimnisse der Dunkelheit anvertraute die Zerrissenheit in die Wiege gelegt bekam.

Sieh dich um.

Wie?

Sieh dich um, Kind.

Die Stimme in meinen Kopf lenkte meine Bewegung. Sie klang wie meine eigene und doch ganz anders. Ich drehte mich um und entdeckte den im Baum steckenden Pfeil. Der Soldat erkannte meine Absicht und stürmte auf mich zu, aber da zog ich den Pfeil bereits aus dem Baum, holte weit aus und stach dem Mann das rechte Auge aus. Kreischend ließ er den Dolch fallen, hielt sich die Hand vor sein Gesicht. Keuchend holte ich ein zweites Mal aus, stach erneut zu. Erblindet wälzte er sich auf dem Boden, heulte in seiner dreckigen Sprache.

„Miststück. Du verdammtes, elendes Miststück!“

Auf der Erde lag sein Dolch, mit dem er meine Tante getötet hatte. Ihr Blut haftete an der Klinge und glänzte in der Wintersonne. Obwohl die Kälte durch meine Kleidung pfiff, brannte mein Gesicht von all den geweinten Tränen. Das musste enden. Hier und jetzt. Was sagte Bakta zu mir? Ich sollte leben? Gut, dann musste er sterben.

Einen Moment später lag die Waffe in meiner Hand, und der Stahl fühlte sich großartig an.

Mit meinem Fuß drehte ich den Mann auf den Rücken, kniete mich zu ihm hinunter. Seine Miene verzerrte sich und er grunzte hektisch, als ich den Dolch an seinen Hals presste.

„So stark bist du gar nicht“, flüsterte ich und bemerkte, wie er bei meinen Worten zusammen zuckte. „Du. Bist. Tot.“

Ich wunderte mich, wie leicht sich seine Haut durchtrennen ließ. Meine Mutter hatte mich von den Kämpfen zwischen unseren Stämmen ferngehalten, und mein Vater nie in Erwägung gezogen, mich mit zu nehmen. Daher hatte ich noch keine Kampferfahrung. Noch nie hatte ich ein Lebewesen getötet. Ich sah, wie es Stück für Stück aus seinen Augen wich. Wie ein Stern in der Nacht, der erlosch.

Der Soldat, der sich seines Siegs so sicher war, starb durch meine Hand. Ich hatte ihn getötet. Die Erkenntnis traf mich wie eine Faust in den Magen. Überwältigt von Trauer und Entsetzen warf ich den Dolch von mir. Meine Gefühle zerrissen mich, wie eine offene Wunde, in die der Feind immer wieder seinen Finger legte und auf einmal war sie wieder da. Die Stimme, die mich lenkte, meinen Verstand vernebelte, mir Kraft schenkte.

Ich bin beeindruckt.

Nach dem Ritual der Ahm Fen begrub ich Baktas Leichnam und sang in unserer Stammessprache ein Grablied, welches ihren Geist auf den langen Weg zu ihren Ahnen begleitete. Meine Stimme brach unter der Last von Tränen und Schuldgefühlen, die ich nicht verbergen konnte. Eine Schwäche, die ich mir nicht erlauben durfte, jetzt, da ich alleine auf mich gestellt war. Doch die Trauer drückte mich zu Boden.

„Was soll ich nun tun?“, erschöpft brach ich zusammen. „Was ist mein Weg, Bakta? Ich bin schwach und allein. Alleine werde ich es nicht schaffen.“

Ein kühler Windhauch umspielte ihr Grab, tanzte um die Blumen, die um das Grab wuchsen und wehte zart durch meine roten Locken. Ein Strahl der untergehenden Sonne brach sich auf Baktas Schwertklinge, die ich zum Zeichen in die Erde stieß, blendete mich für einen Augenblick. In diesen Moment vernahm ich die überirdische Stimme erneut. Dunkel und bedrohlich, stark und eindringlich.

Geh nach Westen, Udy, Hände aus Eis umklammerten mein Herz. Die Stimme drang in meine Gedanken ein und umspielte meinen Geist mit flüssigem Gold.

Bakta...?

Du kennst bereits deinen Weg. Folge den Spuren des Blutes. Ergreife die Waffe und lösche das Einzige, das dich mit deiner Vergangenheit verbindet. So wirst du dein Ziel erreichen.

Ich suchte den Dolch, den ich von mir geworfen hatte und fand ihm in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee. Mein Gesicht spiegelte sich auf dem blanken Metall, offenbarte das entstellte Geburtsmal des Ahm Fen Stammes auf meiner Stirn. Wie ich es hasste, es war so klein und verkrüppelt. So wie ich.

Sieh nur, wie erbärmlich es ist, flüsterte sie heiser. Es muss getan werden, um zu überleben. Nimm den Dolch. Lösche die Vergangenheit.

„Was ist mein Ziel“, mein Hals tat weh von dem zurück gepressten Schluchzen. Ich dachte an meine Eltern. Meine Mutter, die mich so liebte wie sie mich gebar und mein Vater, der in allem was ich tat, nur Enttäuschungen sehen konnte. Bakta, meine gute Bakta, die mich verspottete und „Menschenkind“ schimpfte. Ihre Geister würden mich ohne Geburtsmal nicht erkennen, ganz egal wie klein und unkenntlich es auch war. Sie werden mich verachten – ich werde meinen eigenen Blick nicht standhalten können.

Dein Ziel ist Blut, Macht und Stärke. Er ist dein Ziel. Der finstere König. Er, der dir alles stahl und noch mehr nehmen wird, wenn wir uns nicht erheben. Ich habe deinen Ruf gehört, mein Kind und hier bin ich. Mit mir kannst du überleben. Meine Macht wird dich leiten, dich stärken. Öffne dein Herz für mich und lass mich ein. War es nicht ihr letzter Wunsch? Überlebe, so sagte deine Tante. Ich kann dir alles ermöglichen, Udelka Häuptlingstochter, und mein Preis zahlt sich von ganz allein.

Die Stimme hatte recht. Es waren Baktas Worte, aber woher sollte sie davon wissen? Eine Erinnerung klopfte an meine Stirn: in schwerer Stunde rief ich Ahm Fen um Hilfe. Hatte ich Blut gegen meinen Verstand getauscht? Sprach meine Göttin zu mir?

Doch ganz gleich wer und was die Stimme war, ich war nicht mehr allein. Und das war alles was für mich in diesem Moment zählte.

„Mein Ziel“, wiederholte ich geistesabwesend.

Schluchzend führte ich den Dolch an meine Stirn, schnitt mir schreiend ins Fleisch. Der Schweiß floss an meinen Körper hinunter wie Öl und Blut strömte meine Wangen entlang, mischte sich mit den Tränen, die ich um meine Herkunft vergoss. Benommen fiel ich auf den nassen Boden, umgeben von dem letzten Schnee in diesem Jahr und der Blumen mit den sonderbaren Namen Zaubernuss, die im Winter blühten. Sie starrten auf mich herab und der Wind schüttelte ihre gelben Köpfe. Es waren meine liebsten Blumen, denn selbst der Winter konnte ihnen ihre Schönheit nicht nehmen.

Die Ohnmacht zerrte mich hinab in dunkle Tiefen und dort unten erwartete sie mich. Meine Göttin, die ihre eisigen Arme um mich schloss und mit einem hungrigen Lächeln meinen Atem raubte.

Die Vergangenheit musste ausgelöscht werden.

Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, hielt ich noch immer den Dolch in meiner rechten Hand.

Stöhnend setzte ich mich auf. Meine Stirn brannte, als hätte der Hufschmied heißes Eisen an meine Haut gesetzt, aber noch unerträglicher war die stumpfe Leere in meinem Herzen. Ich erinnerte mich an Ahm Fen, an ihr Lächeln, ihre süßen Worte, aber war es nicht vielmehr ein Traum gewesen? Meine Wunde beantwortete die Frage mit einem klaren Nein, denn etwas war geschehen und Ahm Fen war alles andere als ein Traum.

In dem Moment fiel mir alles wieder ein. Weder Ahm Fen, noch der finstere König, noch der Tot meiner Eltern, meiner geliebten Mutter, waren ein Traum. Es war alles geschehen. Alles! Die Qualen wuchsen ins Unermessliche, und gerade als ich befürchtete meinen Verstand unter der Last der Verzweiflung und Trauer zu verlieren, breitete sich ein Schatten auf meiner Seele aus. Er drückte meinen Atem tief in die Brust, bis ich dachte, daran zu ersticken. Dann, auf der Schwelle des Todes, löste sich der Druck, und ich empfand nichts mehr.

Halte deinen Verstand beisammen. Ohne ihn wird es schwierig, erklang ihre goldene Stimme in der Leere meines Herzens. Deine Göttin wacht über dich. Komm, sieh ihn dir an. Es wird dein erstes Meisterwerk von vielen sein.

Ihre Stimme führte mich zum Leichnam des Soldaten und ein böses Lächeln verzerrte mein Gesicht. Statt der Trauer verspürte ich nun Stärke und Stolz.

Mit Ahm Fen an meiner Seite, wer konnte mich da noch aufhalten?

Im eisigen Wasser, eines nahe gelegenen Baches, nahm ich ein schnelles Bad, versorgte und verband meine Wunde. Ich säuberte den Mantel meiner Tante, den ich nicht mit ihr unter der Erde vergraben konnte. Ich musste die Vergangenheit löschen, aber ich konnte mich nicht von dem Geruch des Mantels trennen. Es war, als hielt ich ein Stück Liebe in den Händen. Sie starb für mich und ich würde Bakta noch einige Zeit mit mir tragen, damit die Nächte nicht zu lang und dunkel wurden.

Außerdem diente der Mantel zusätzlich als Schutz, denn an meiner Stammeskleidung, die ich nicht vollständig ablegen konnte, würden die Soldaten des finsteren Königs mich sofort erkennen. Unter dem Stoff verbarg ich den Dolch des Soldaten, an dem in der Zukunft das Blut unzähliger Opfer haften sollte. So zumindest hatte Ahm Fen es mir versprochen.

Mit Ahm Fen in meinen Gedanken schritt ich den Pfad entlang. Mühsam setzte ich einen Fuß nach dem anderen. Am Abend vernahm ich das Geräusch eines näher kommenden Wagens und in der Ferne erkannte ich Reiter und Pferde, die vor dem Wagen gespannt mit hängenden Köpfen trabten. Es war ein ungewöhnlich großer Wagen, und je weiter die Gefolgschaft sich mir näherte, desto deutlicher vernahm ich einen süßlichen Geruch. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, woher ich diesen Geruch kannte. Als ich die erste schwarze Rüstung in der Ferne erblickte, wusste ich wo ich ihn zum ersten Mal vernommen hatte. Es war der Duft des Todes. Schwer nach Erde, süßlich riechender Tod.

Mein Herz hämmerte so hart in meiner Brust, dass die Übelkeit in mir hochstieg. Die Soldaten des finsteren Königs hatten mich entdeckt. Zum Weglaufen war es nun zu spät.

Zehn Soldaten in schimmernder Rüstung, bewaffnet mit Silber glänzenden Schwertern, fuhren an mir vorbei und hielten nach Anweisung des Hauptmannes die Pferde an. Düster blickten zahlreiche Augenpaare auf mich herab. Kühl und unschuldig versuchte ich ihren Blick zu erwidern, doch die blanke Angst stand hinter meinen Augen geschrieben.

„Mädchen, was machst du alleine am Straßenrand?“, neugierig beugte sich der Soldat mit dem goldenen Helm zu mir herunter. Zum ersten Mal in meinem Leben dankte ich meinem kleinen und zierlichen Körper. Die Männer erkannten nicht den Riesen, sondern nur ein Menschenkind in mir.

Erneut dankte ich meinem Vater in Gedanken für seine strenge Erziehung, und dass er darauf bestand, dass ich ihre Sprache erlernte. Das war meine Chance auf Rache.

„Dorfbewohner des Ahm Fen Stammes haben meine Gefährten und mich im Wald angegriffen. Sie stahlen unseren Proviant und töteten meine Freunde. Ich konnte rechtzeitig fliehen, jedoch nicht unverletzt...“, log ich stockend und wies auf meinen Verband, der nass und klebrig an meinem Kopf haftete. „Ich bin müde. Ich habe Hunger und Durst. Überlasst mich meinem Schicksal.“

Mit einem Satz sprang der Hauptmann vom Wagen. Das Gold seines Helms glänzte poliert in der Abendsonne und als er mich unerwartet an den Schultern packte und auf die Füße setzte, unterdrückte ich einen leisen Schrei. Seine Berührungen waren kalt und grob. Sein Atem stank nach Alkohol, altem Fisch und verdorbenen Essen.

„Ahm Fen Bastarde, ja?“, rief er den anderen Soldaten spöttisch zu. Der Dolch legte sich wie von alleine in meine Hand. „Unmöglich, kleines Mädchen. Wir haben letzte Nacht alle getötet. Es hat keiner die Dunkelheit überlebt. Sieh selbst.“

Mit einer Handbewegung gab er mir zu verstehen, in das Innere des Wagens zu blicken. Langsamen Schrittes näherte ich mich der hinteren Seite, strich über das glatte Holz und spürte an meinen nackten Fußsohlen jeden einzelnen Kieselstein. Meine Zähne klapperten aufeinander. Ich biss mir auf die Zunge und schmeckte mein eigenes Blut. Am hinteren Teil des Wagens blieb ich stehen, blickte zum Hauptmann zurück und sah in seinen Augen ein Lächeln. Es war kein liebevolles Lächeln, sondern eines, das nur Albträume und Leid verursachte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als er mit festen Schritten auf mich zu trat und mich ungeduldig hoch hob.

Ich warf nur einen kurzen Blick auf die Fracht. In Panik und wie ein kleines Kind versuchte ich, mich frei zu strampeln, bis der Hauptmann mich fluchend auf den Boden fallen ließ und ich mich würgend am Rand des Pfades übergab. Zitternd rutschte ich auf den Knien, presste die Hände gegen meinen Unterleib. Die misstrauischen Blicke der Soldaten brannten auf meinem Rücken.

Nun ist es vorbei“, dachte ich voller Schrecken. Bebend umklammerte ich meinen Körper. „Alles ist vorbei, das kann ich nicht überleben. Sie werden auch die Letzte des Ahm Fen Stammes vernichten und geschlachtet auf den Wagen werfen.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die Hand des Hauptmannes zu seinem Schwertknauf wanderte.

Nichts ist verloren, beruhigte die Stimme mein Herz. Sie werden die Wahrheit nicht erkennen. Lass mich für dich sprechen.

„Verzeiht, Hauptmann“, meldete sich ein junger Soldat mit heller Stimme. Seine blonden Locken quollen unter dem schwarzen Helm hervor. „Das Mädchen ist noch fast ein Kind. Der Anblick von Gewalt und Blut erscheint ihr fremd. Bedenkt, was sie vergangene Nacht ertragen haben muss. Sie ist verletzt. Womöglich braucht sie unsere Hilfe.“

Ruckartig wirbelte der Hauptmann herum, duldete keine Zwischenrufe und schlug den jungen Soldaten ohne Vorwarnung zu Boden. Er schlug ihn mit der Faust, trat mit seinen schweren Stiefel in seinen Unterleib und voller Grauen sah ich seinen eigenen Speichel auf seine Rüstung spritzen. Er empfand Freude an Gewalt und mein Magen drehte sich im Kreis, weil ich nicht wusste, wie Ahm Fen mich sicher nach Westen bringen wollte.

Erst, als der Mann sich im eigenen Erbrochenen wälzte und Blut spuckend um Gnade winselte, ließ der Hauptmann von ihm ab. Angewidert versuchte ich, den Berührungen des Mannes zu entfliehen, der mir erneut auf die Beine half und mich einen Moment zu lange festhielt.

„Ist es so?“, fragte er an mich gewandt.

Seine Hände wanderten von meinen Schultern hinauf zu meinem Nacken und meinem roten Haar. Mit einer Hand zog er meinen Kopf grob nach hinten, mit der anderen zeichnete er die Linien meiner Lippen nach. Er betrachtete meine blauen Augen mit geöffnetem Mund.

Ich lag noch nie bei einem Mann, obwohl ich das Alter für eine Verbindung längst überschritten hatte. Die Mädchen aus unserem Dorf vermählten sich nach 14 Wintern und gründeten eine Familie, mit der Verantwortung viele Kinder zu zeugen. Mein Vater duldete keinen Mann an meiner Seite. Er fürchtete sich zu sehr vor der Missgeburt, die ich auf die Welt bringen würde. Es gab trotzdem einen Riesen, dem ich gefiel, aber mehr als ein paar Küsse und Liebeleien unter dem Wintermond kannte ich nicht. Er war tot, so wie alle die ich kannte und somit hatte sich die Sorge um ein Erbe erledigt. In der Gegenwart des Hauptmannes wünschte ich mir nur ein Bad in einer heißen Quelle.

„Der kleine Scheißkerl hat Recht“, gewaltsam zwang er mich, seinen Blick zu erwidern. Mir wurde übel von seinem Geruch. Schweiß, Blut und Unrat hafteten an ihm und ich musste unwillkürlich würgen.

Heule mit dem Wölfen, mein Kind. Ich werde dir helfen.

Von diesem Moment an übernahm Ahm Fen. Ich gewährte ihr den Vortritt und spürte eine dunkle Macht in den Vordergrund rücken. Beklommen sah, hörte und spürte ich, was sie mit meiner Stimme sprach. Ich war immer noch Udy, aber Ahm Fen kontrollierte nun mein Handeln. Auf der einen Seite dankte ich ihr für diese Unterstützung, denn wie sollte ich ohne Erfahrung einen Mann umgarnen und seinen Verstand benebeln? Auf der anderen Seite wurde ich unruhig und ihre Hilfe fühlte sich nicht richtig an.

Gefangen in seiner Umarmung schenkte ich ihm einen anbetungswürdigen Augenaufschlag.

„Hebe mich auf den Wagen“, befahl ich. Niemand erkannte den Unterschied. Niemand wusste, dass meine Göttin anwesend war und den Hauptmann mit ein paar Worten verzauberte. „Bringe mich zu deinem Lager.“

Er gehorchte sofort, hob mich beinahe sanft empor.

Beim Anblick der geschlachteten Körper meiner Brüdern und Schwestern, die mit weit aufgerissenen Augen und Mündern mein Schauspiel stumm verfolgten, weinte ich still im Hintergrund. Das kleine Mädchen und die heranwachsende Frau in mir verschmolzen zu einem verwirrenden Gebilde. Ahm Fen lachte und freute sich über die Dummheit der Männer.

„Warum fahrt Ihr mit toten Ahm Fen Bastarden durch die Gegend? Auf meiner Reise sah ich mehrere Dörfer brennen. Das muss doch eine unglaubliche Last für Euch sein“, Ahm Fen sprach und ich hasste sie dafür. Es war ihr Volk, über das sie sprach. Wie sprach sie über uns? Bastarde? Eine Last? Wütend drängte ich mich nach vorn, aber Ahm Fen schob mich zurück. Knurrend wartete ich auf meine Gelegenheit und versprach mir selbst, solch einen Kontrollverlust nie wieder zu zulassen.

„Wie aufmerksam, hübsches Mädchen, aber sie sind keine Last. Für jeden Bastard zahlt der finstere König mit barer Münze.“

„Der finstere König zahlt für totes Fleisch?“

„Nicht doch. Er zahlt für ihre Geburtsmale. Wir schneiden sie im Lager sauber von der Stirn und den Rest verfüttern wir an die Wölfe. Du musst wissen, die Riesen des Ahm Fen Volkes waren ungeheuer mächtig und man munkelt, dass ihre Male besondere Kräfte innehalten. Unser König ist ganz verrückt danach. Für ihre Male zahlt er besonders gut. Ich fahre fette Beute mit mir herum.“

Er lachte schäbig und während ich all das nicht hören wollte, war es für Ahm Fen eine interessante Information.

„Wir fahren ins Lager. Dort gibt es etwas zu essen und zu trinken für dich, Mädchen.“ Er konnte den Blick nur schwer von mir lösen. Die Gelegenheit, eine Frau in seinem Bett zu wissen, bereitete ihm große Freude.

„Danke. Ich benötige noch einen Platz zum schlafen“, antwortete ich.

Ein hässliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und es war nicht schwer zu erraten, welch schmutzigen Gedanken ihn beschäftigten.

„Da kenne ich ein sehr warmes und gemütliches Lager, das nur auf dich gewartet hat.“

Ahm Fen legte gegen all meinen Widerwillen meine Hand auf sein Bein und tastete sich langsam an den Bereichen empor, die nicht von seiner stählernen Rüstung bedeckt waren. Unter dem Leder spürte ich ein warmes Pochen. Als der Hauptmann leise zu stöhnen begann, wusste ich, dass ich seinen Tod besonders genießen würde.

Wir erreichten mit der Dunkelheit das Lager der Soldaten. Kaum waren wir angekommen, gab Ahm Fen die Kontrolle freiwillig auf und ich stieß sie zurück in die Verwundbarkeit meines Herzens. Sie lachte und verspottete mich und ich schwor ihr, dass sie niemals wieder so viel Macht über mich besitzen würde. Ihr Antwort bereitete mir eine Gänsehaut: Wer sagt denn, dass ich deine Erlaubnis benötige?

Wie der Hauptmann es versprochen hatte, brachte man mir Essen und Trinken. Ich nahm die Speisen dankend an, denn seit meiner Flucht hatte ich nichts außer Gras und Beeren gegessen.

Während ich mich unter einem Baum stärkte, beobachtete ich das Treiben der Soldaten, die damit beschäftigt waren, die Leichen vom Wagen zu tragen und im Wald zu verscharren. In der Dunkelheit bemerkte ich glühende Augenpaare, die sich aufgeregt hin und her bewegten. Wölfe, die auf ihre Mahlzeit warteten. Doch bevor die Tiere ihr Fressen erhalten sollten, zog jeder der Soldaten ein Messer hervor, schnitt die Geburtsmale meiner Brüder und Schwestern von der Stirn. Mein Magen drehte sich und eh ich mich versah, würgte ich das Essen wieder hoch.

Das Abschlachten meines Volkes war unverzeihlich, doch ihnen allen den Weg zur ewigen Ruhe zu verwehren, war das denkbar Schlimmste. Wir glaubten daran, dass unsere Seelen und Male direkt miteinander verbunden waren. Sie sind ein Zeichen der Zugehörigkeit, der Stärke und ohne die Male wanderten unsere Seelen nach dem Tod blind und ruhelos in der Zwischenwelt umher, suchend nach Erlösung. Der finstere König vergönnte meinem Volk selbst nach dem Tod keinen Frieden. Er stahl unser Land, unsere Körper und unseren Seelenfrieden.

Der Dolch brannte in meiner Hand, schrie nach Vergeltung und Rache. Es gelüstete mich danach, die Soldaten wie Schweine aufzuschlitzen und gemeinsam mit den Wölfen von ihrem Fleisch zu fressen, doch ich rief mich selbst zur Vernunft zurück. Voreilige Entscheidungen bedeuteten nur meinen Tod, und sterben wollte ich noch nicht. Bakta hatte Recht. Ich musste überleben und den finsteren König stellen. Seine Grausamkeiten mussten ein Ende finden.

Aufgeregt sprang ich auf, aber meine hitzigen Bewegungen zogen die Aufmerksamkeit der Männer auf mich. So setzte ich mich erneut unter den Baum und trank mit vorgeführter Ruhe aus dem Becher, der mir gereicht wurde.

Ahm Fen. Diese Männer müssen sterben. Sie müssen leiden.

Mit angezogenen Beinen beobachtete ich weiterhin die schneidenden Bewegungen der Soldaten, hörte sie vor Anstrengung grunzen und fluchen, und den stetig wachsenden Berg aus Leichen. Vom Fuß aufwärts verspürte ich plötzlich ein Kitzeln und sog die Luft scharf ein, als ich sah, was den Weg zu meinem Knie hinauf fand.

Acht haarige Beine tänzelten auf einer Stelle, sechs glänzende Augen betrachteten mich mit Interesse. Die glühend roten Streifen auf dem Rücken der Spinne warnten vor dem Gift, das sie in sich trug. Mit nur einem Biss vermochte sie mich zu töten. In unserem Dorf hatte es nur einen Krankheitsfall gegeben, hervor gerufen durch einen Spinnenbiss. Ich erinnerte mich deshalb so gut, da der Todeskampf drei Tage andauerte und der Mann drei Tage und Nächte schrie, bis er endlich starb. Es gab kein Heilmittel, denn das Gift dieser seltenen Spinne änderte sich immerzu.

„Ist das deine Antwort, Ahm Fen? Ist das ein Friedensangebot?“, dachte ich und betrachtete die gefährliche Spinne. An Zufälle wollte ich nicht glauben. Das Tier war ein Geschenk des Himmels.

Ihre Berührungen waren federleicht, als sie meinen Arm hinauf kletterte und auf meiner Hand zum Stehen kam. Sechs Augen blickten in meinen Becher. Von ihren spitzen Zähnen tropfte eine gelbe, klebrige Flüssigkeit. Sie kletterte von meinem Arm zurück auf mein Knie und verharrte, als ob sie auf eine Antwort wartete.

„Das ist ein hervorragender Einfall“, sprach ich leise.

Vor dem Zelt des Hauptmannes entdeckte ich ein Fass, aus dem seine Männer lachend ihre Becher füllten.

Ein wirklich hervorragender Einfall.

Auf ihren acht Beinen erreichte die Spinne vor mir die Fässer und vollendete ihr Werk. Ein paar wenige Tropfen ihres Giftes in jedes Fass reichten aus, um die gesamte Truppe elendig verrecken zu lassen. Höchst zufrieden klatschte ich in die Hände. Das war der Tod, den die Männer verdienten.

„Der Wein ist ausgezeichnet“, ertönte eine tiefe Stimme hinter meinen Rücken. Erschrocken hielt ich nach der Spinne Ausschau, doch sie war bereits verschwunden.

Erleichtert drehte ich mich zu dem Hauptmann, der noch immer kein Bad genommen hatte. Er stank nach Schweiß, Urin und etwas, das ich nicht definieren konnte.

Es ist Lust, mein Kind. Er wird es dir sehr einfach machen.

Angewidert rümpfte ich die Nase. Der Gedanke, dass er mich berühren wollte, ließ mich erschauern.

„Hier, nimm“, auffordernd reichte er mir zwei Messingbecher. „Fülle sie und folge mir dann ins Zelt.“

Seiner Aufforderung folgte ich nur zu gern. Während ich die Becher mit Wein füllte, entdeckte ich meine neue Freundin am Rand des Fasses. Die glänzenden Augen beobachteten jede meiner Bewegungen.

„Bleibst du in meiner Nähe?“, flüsterte ich mit belegter Stimme. „Es ist gut, dich in meiner Nähe zu wissen.“

Die Spinne kletterte vom Fass hinauf zur Zeltwand, und ich deutete ihr Verhalten als Zustimmung auf meine Bitte.

Mit dem Wein in der Hand öffnete ich das Zelt. Auf dem Boden lagen Felle, ein einfacher Tisch stand in der Mitte des Raumes, auf dem aufgerollte Karten lagen. Eine Feuerstelle im Boden verströmte eine angenehme Wärme.

Der Hauptmann lag bereits nackt auf einem Lager aus Bärenfellen. Meine Füße wollten mich auf der Stelle wieder hinaus tragen, doch der Anblick seiner schmierigen, nackten Haut und seines schlaff hängenden Penis schockierten mich derart, dass ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte.

„Komm her“, befahl er. „Lass mich nicht warten.“

Schwer atmend ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, musste aufpassen, dass mir die beiden Becher nicht aus der Hand glitten. Meine Hände waren vor Furcht nass und glitschig. Der Gedanke, dass dieser Mann mein erster Mann sein sollte... Unmöglich.

Oh Himmel, ich konnte meinen Ekel nicht überwinden. Ahm Fen bot mir bereitwillig ihre Hilfe an, aber ich lehnte fröstelnd ab. Der Gedanke, ein Zuschauer meiner selbst zu sein, bereitete mir Unbehagen. Dennoch brauchte ich ihre Hilfe. Konnte sie mir versprechen, eines Tages nicht vollends die Kontrolle über mich zu übernehmen?

Ahm Fen schwieg. Ein Versprechen blieb aus und somit sammelte ich all meinen Mut zusammen und das verkrüppelte Mädchen trat ihm allein gegenüber.

„Bitte“, sprach ich mit rauer Stimme, räusperte mich und reichte ihm Wein.

Er setzte sich auf, begutachtete mich von oben bis unten.

„Zieh dich aus. Ich will deinen Körper sehen.“

Es gab etwas, das ich nicht bedacht hatte: Meine Stammeskleidung unter dem Mantel. Bis jetzt hatte ich sie erfolgreich verborgen, doch meine Glückssträhne endete genau hier. Mit trockenen Hals suchte ich nach einer Erklärung. Was sollte ich tun?

„Was ist?“, fragte er ungeduldig.

Gedanken schossen durch meinen Kopf, wie und wann ich ihn töten sollte. Eher schneide ich ihm sein Gehänge ab, bevor ich mich zu ihm ins Bett lege, war der lauteste Gedanke, der in meinem Kopf kreiste.

„Ich habe eine kleine Bitte“, wiederholte ich die Worte, die Ahm Fen mir leise zuflüsterte. Schüchtern kniete ich vor dem Hauptmann, blickte mit großen Augen zu ihm hinauf und streichelte sein Bein. „Schaut weg.“

„Warum sollte ich?“

Stumm erwiderte ich seinen fragenden Blick, und er fand die Antwort selbst heraus.

„Du bis noch unberührt.“ Allein die Tatsache, eine Jungfrau in seinem Bett zu wissen, verschaffte ihm beinah einen Höhepunkt. „Nichts kann meinen Abend mehr übertreffen. Tod, Wein und eine Jungfrau. Ein Geschenk des Himmels. Lass uns trinken, Mädchen.“

Während der Hauptmann seinen Becher in einem Zug leerte, ließ ich mein Getränk auf dem Tisch stehen und verschwand hinter dem Vorhang, um mich auszukleiden.

Hoffnungsvoll wanderte mein Blick hinauf zur Zeltwand.

Bitte lass mich nicht allein, dachte ich, als ich den Mantel und meine Stammeskleidung ablegte. Mit dem Dolch in der Hand riskierte ich einen Blick hinter den Vorhang. Mit weichen Beinen erreichte der Hauptmann den Tisch, leerte auch meinen Becher. Er sprach zu sich selbst mit lang gezogen Worten. Das Gift begann zu wirken.

„Was dauert das so lange?“

Gerade als er den Satz ausgesprochen hatte, trat ich hinter dem Vorhang hervor und versteckte den Dolch hinter meinen Rücken. Ich schämte mich meiner Nacktheit. Bis jetzt hatte ich mich noch keinen Mann von dieser Seite präsentiert. Bleib ruhig, ermahnte ich mich selbst. Du kannst es tun. Du musst es tun! Mein Herz schlug schnell und der Gedanke an sein Blut erfüllte es mit Leben. Ich dachte an den Fuhrwagen, an meine Brüder und Schwestern. Mein Volk. Ihr Leid kümmerte ihn nicht. Er sah nur die bare Münze. Warum sollte mich sein Schicksal kümmern?

Er ist das Leben nicht wert. Er ist nichts!

Wessen Stimme sprach in meinem Kopf? Ahm Fens, meine eigene? Die Töne verschmolzen ineinander.

Der Hauptmann torkelte unbeholfen zu seinem Lager, stürzte auf halben Weg zu Boden und kroch auf Händen und Knien weiter. Es dauerte mir zu lange, ich trat dem Hauptmann kurz entschlossen so heftig in den Rücken, dass er nach vorne stolperte und auf sein gerötetes Gesicht fiel.

„Höh...“, murmelnd suchte er seine Umgebung ab und erkannte mich kaum, als ich mich grinsend zu ihm hinunter beugte. „Mir geht es nicht gut. Ruf meine Männer.“

„Nein“, antwortete ich kalt. „Es ist Zeit, zu sterben.“

Grunzend versuchte der Hauptmann sich aufzusetzen. Er tastete nach seinem Schwert, das er neben seinem Lager abgelegt hatte, aber ich hielt es bereits in den beiden Händen und schleuderte es gegen die Zeltwand.

„Was... ist? Meine... Männer...?“

Ich stemmte mein Knie an seine Kehle, schnürte ihm den Atem ab. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber da stopfte ich ihm schon Fell ins Maul.

„Mein Name ist Udy Häuptlingstochter.“ Es war an der Zeit sich von dem Mädchen zu verabschieden. „Du hast meine Familie getötet. Du hast ihnen das Wichtigste geraubt. Was du ihnen angetan hast, wirst du nun am eigenen Leib erfahren.“

Als er den Dolch in meiner Hand aufblitzen sah, begann er zu kreischen, aber der Knebel dämpfte sein elendes Gebrüll. Das Gift lähmte seinen Körper, Arme und Beine zuckten kaum merklich und so konnte ich seiner Stirn besondere Aufmerksamkeit schenken. Seine Augen quollen hervor, als ich die Haut von seiner Stirn schälte. Ahm Fen machte es keinen Spaß ein wehrloses Opfer derart zu foltern. Sie schätzte einen guten Kampf, bei dem jeder mit seinem Blut bezahlte, aber ich spuckte auf ihr Gejammer.

Mein Werk beendete ich mit zahlreichen Stichen in seine Brust. Ich stach wieder und wieder zu, bis ich völlig außer Atem von seinem Körper rutschte. Ich hielt den Dolch in meinen verkrampften Händen und schluchzte ein paar Tränen hinunter, als die Anstrengungen von mir wichen.

„Oh Mutter, wenn du mich nur sehen könntest. Würdest du dich für mich schämen?“, dachte ich und Ahm Fen antwortete mit einem Lachen.

Ist es nicht das, was du wolltest? Rache? Hast du seine Angst gerochen? Riechst du seinen Tod? Komm mein Kind, schmecke sein Blut. Koste es für mich.

Angewidert verzog ich die Nase und kleidete mich an. Ihrer Bitte würde ich ganz sicher nicht nachkommen.

Gerade als ich das Zelt verlassen wollte, stürmte ein Soldat in das Zelt. Beim Anblick meines vollbrachten Werkes glotzte er ungläubig auf meine blutigen Hände, sah mir ins Gesicht und schüttelte stotternd den Kopf. Ich erkannte ihn wieder: Es war der junge Mann, der vor dem Wagen vom Hauptmann zusammen geschlagen wurde und er hielt ein besonderes Geschenk für mich in den Händen. Ein schwerer, nasser Lederbeutel, dessen Inhalt ich sofort erkannte.

„Her damit“, zischte ich und zielte mit der blutigen Waffe auf sein Herz. Meine drohende Geste war unnötig, er überließ mir ohne weiteres die Geburtsmale meines Volkes. Gebannt blieb er vor der Leiche stehen, schüttelte noch immer den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass sein Anführer tot zu seinen Füßen lag.

Ich beachtete ihn nicht weiter, denn er hatte mir alles gegeben was ich wollte. Sollte er doch um seinen Hauptmann trauern. Als ich nach draußen trat, begriff ich, warum er zuvor schreiend in sein Zelt stürmte: Vor mir lagen alle Soldaten des finsteren Königs auf der Erde, wälzten sich im eigenen Erbrochenen.

„Beim finsteren König, was hast du getan?“

Der junge Soldat folgte mir nach draußen und starrte auf seine Kameraden, die vor Pein ihren eigenen Namen nicht mehr kannten.

„Wage es nicht von deinem elenden König zu sprechen“, antwortete ich, fuhr herum und hielt ihm den blutigen Dolch an die Kehle. Ein Soldat mehr oder weniger, was machte das schon? „Dein König hat mein Volk getötet. Du hast ihm geholfen, seine Befehle ausgeführt. Und wofür?“

„Dann töte mich. Los, schneide mir die Kehle durch“, er schluckte schwer. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. „Beende es. So viele Tote. Töte mich und schmeiße mich mit auf den Haufen. Einer mehr oder weniger, was macht das schon?“

Er sprach genau das aus, was ich zuvor dachte. Ahm Fen applaudierte und hoffte auf ein aufregendes Schauspiel. Aber ich konnte es nicht und ließ den Dolch sinken. War er, so wie ich, unfreiwillig in den Krieg geraten? Wenn ja, was sollten wir dann tun? Einfach gehen? Zwei unglückliche Gestalten in einer kalten, beherrschten Welt.

„Nein“, antwortete ich. Aus den Augenwinkeln entdeckte ich meine Freundin, die von der Zeltwand hinab geklettert kam, um sich am Festmahl zu erfreuen. Ihre Anwesenheit beruhigte mich. So klein und doch so gefährlich.

„Nein?“, fragte er und stellte sich an meine Seite. Zusammen sahen wir seinen Kameraden beim Sterben zu, bis auch das letzte Stöhnen verstummte. Ich hörte den schweren Atem des jungen Soldaten. Ein paar Schluchzer hier, ein paar Tränen dort. Dann war es vorbei.

„Einfach nein“, flüsterte ich und kämpfte mit meinen eigenen Tränen und meiner Zerrissenheit. Welch passenden Namen mein Vater doch für mich erwählte.

Noch in derselben Nacht brannten wir das Zelt des Hauptmannes mit all seinem Hab und Gut nieder. Der junge Soldat half mir wortlos und ich nahm seine Hilfe ebenso stumm an. Das Einzige, was ich für mich beanspruchte, war eine Karte des Landes, um mich selbst auf der Reise zurecht zu finden und eines der herrenlosen Pferde.

Während ich vor dem brennenden Zelt stand, drückte ich ein letztes Mal den Beutel an mein Herz, sang ein Gebet für meine Landsleute und warf ihn anschließend ins Feuer. Nun waren ihre Seelen frei und ich fühlte statt Trauer Freude. Freude darüber, einen Weg gefunden zu haben, ihnen eine Weg zu den ewigen Gefilden zu ebnen, der mir versagt sein wird. Es war mein eigenes Verschulden, meine eigene Entscheidung. Ahm Fen sagte nichts und überließ mir diesen Moment ganz für mich allein.

Das Feuer brannte herunter. Ich sattelte das Pferd und erinnerte mich an den ersten Ausritt mit meiner Mutter, wie jung und unbeholfen ich doch war. Sie war stets geduldig und großmütig. Entschuldigte meine Fehler schnell und mit einem Lächeln das sagte: Beim nächsten Mal klappt es besser. Ich war so sehr in meinen schweren Gedanken vertieft, dass ich den jungen Soldaten vergaß, der ebenfalls ein Pferd sattelte und mir erwartungsvoll entgegen blickte.

„Und nun?“, fragte er mit Ruß geschwärzten Gesicht. „Was ist mit uns?“

„Mit uns?“, wiederholte ich mehr als irritiert. „Was soll mit uns sein?“

Er wirkte gekränkt, verloren, und ich verstand nicht warum. Ich hatte ihn verschont. Was wollte er da noch von mir?

„Ich weiß auch nicht... Wohin reitest du? Ich könnte dich ein Stück begleiten“, unbeholfen führte er das Pferd an meine Seite. „Wir sind frei. Wir können überall hin, verstehst du?“

„Frei?“, fragte ich und mein Herz gefror zu Eis.

Ahm Fen lachte in meiner Brust und spottete: Du hättest ihn töten sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.

„Ja, frei. Oder glaubst du, wir befinden uns alle freiwillig in diesem Krieg? Na schön, einige Männer gewiss. Der finstere König zahlt gut, aber ich gehöre nicht zu den Menschen, denen Geld wichtiger als das Leben selbst ist. Das viele Blut, die Schreie und Kämpfe. Es reicht. Ich will nach Hause.“

„Halt doch mal dein Maul“, herrschte ich mit funkelnden Augen und nun war der junge Soldat an der Reihe mich unverständlich an zu glotzen. „Von welcher Freiheit sprichst du? Mein Volk wurde vernichtet und unzählige Dörfer werden noch leiden. Solange der finstere König lebt, solange wird es keine Freiheit geben. Es gibt kein uns. Ich sehe dich an und sehe die schwarze Rüstung des Feindes. An deinen Händen klebt das Blut meiner Brüder und Schwestern. Ihr habt mir alles genommen. ALLES!“

Sein Gesicht färbte sich rot. Beschämt blickte er auf seine Rüstung und dann zu mir.

„Meinst du, du bist die Einzige, die etwas oder jemanden verloren hat?“, er schwitzte und sein Geruch bereitete mir Übelkeit. Es war an der Zeit zu gehen, solange Ahm Fen nicht die Überhand ergriff und der Spinne ein Dessert zubereitete. Ich blickte über seine Schulter hinweg und sah, wie sie sich an den Leichen zu schaffen machte. Ein Gefühl verriet mir, dass die Spinne jedes Wort verfolgte.

„Wage es nicht mir zu folgen“, drohend senkte ich meine Stimme. „Begegnen wir uns wieder, dann werde ich dich töten. Du bist mein Feind und ich bin deiner.“

Wütend trat ich dem Pferd in die Seite. Das arme Tier wusste nicht, wie ihm geschah und galoppierte schnaubend davon.

„Ich bin Yeleb“, schrie der Soldat mir ein letztes Mal hinterher.

„So ein Dummkopf“, murmelte ich.

Ein elender Dummkopf mit dem Namen Yeleb.

In meinem Traum wanderte ich durch dichten Nebel, vernahm das Geräusch von rollenden Blitzen und tosendem Donner. Von Angst getrieben lief ich blind weiter, bis der Nebel sich mit einem ohrenbetäubenden Peitschen lichtete.

Ich befand mich inmitten einer Bergkette, umzingelt von Stein, Donner und Poltern. Schützend hielt ich meine Hände an die Ohren, blickte im Schmutz kniend nach oben. Die Berge reichten bis zum Himmel hinauf, und ich fühlte mich so klein und verloren wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Plötzlich bewegte sich die Erde, nein, es waren die Berge! Es knirschte und polterte, als sie sich in Bewegung setzten, und ich erkannte, dass es die Berge waren, die donnerten und polterten – nicht der Himmel. Sie redeten miteinander.

Bergriesen! Meine Tante behielt recht. Ich hatte sie gefunden, lief nun mit ihnen zusammen zu den ewigen Gefilden. Welche Freude! Welcher Segen! Endlich befand ich mich in Sicherheit.

Dann entdeckte ich sie. Ihre langen, leuchtend roten Haare wehten im Wind wie loderndes Feuer, und ihre Gestalt wirkte inmitten der Riesen so klein, wie ich mich fühlte.

Bakta lief nur eine Armlänge vor mir – gekleidet in Gold und kostbarster Seide. Ich rief ihren Namen, folgte ihren Spuren im Gras. Doch sie vernahm weder meine Stimme, noch drehte sie sich nach mir um und je schneller ich rannte, desto mehr entfernte ich mich von meiner Tante und den Riesen.

Zunächst schrie ich voller Verzweiflung Baktas Namen, dann verfluchte und beleidigte ich die Riesen in höchsten Tönen in der Hoffnung, sie kehrten um. Doch alle Rufe und Flüche blieben ungehört, und ich erkannte, dass sie ohne mich in die ewigen Gefilde zogen. Ich gehörte nicht mehr zu ihrem Volk. Sie wandten sich von mir ab.

Meine Stirn brannte so heiß wie die Tränen auf meinen Gesicht. Ein letztes Mal schrie ich Baktas Namen und beobachtete ihre Gestalt, wie sie im Nebel verschwand.

Das Geräusch von aufeinander schlagenden Steinen riss mich aus meinem Traum. Halb im Traum und halb in der Wirklichkeit wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

Ein Traum, flüsterte Ahm Fen. Vor dir liegt ein ganz anderer Weg. Wir erschaffen uns unsere eigene ewige Gefilde, mein Kind. Wir werden die Herrscher sein. Was kümmern uns Mythen und Legenden, wenn wir die Welt in den Händen halten können?

Ahm Fen sprach von immerzu von Blut und Macht. Sie sprach für uns beide, versprach den Himmel auf Erden und fragte nicht mit einer Silbe, ob ich den Weg mit ihr gehen wollte.

Ich weiß es nicht, gestand ich mir heimlich ein. Denn die Wahrheit war ganz einfach: Ahm Fen ängstigte mich. Wie weit würde sie mit mir gehen?

Erneut weckte das Geräusch von aufeinander schlagenden Steinen mein Interesse, und ich pirschte mich trotz der Warnungen meiner Göttin mit einer Waffe in der Hand durch Dreck und Sträucher. Geräuschlos schob ich Äste beiseite, erhaschte einen freien Blick auf eine Lichtung. In der Ferne entdeckte ich ein altes Weib, das mit Feuersteinen ein Feuer entfachte. Die Flammen schossen in den Himmel und mein Gefühl sagte mir, dass es sich um kein natürliches Feuer handelte. Wer war diese alte Frau, die mit einfachen Steinen solch ein Inferno entfachen konnte?

Alte Vettel!, zischte Ahm Fen mit einer Wut, die ich mir nicht erklären konnte. Meine Hände zitterten unter ihrem unerklärlichen Hass.

Weiter, mein Kind. Was interessiert uns ein altes Weib.

So gerne ich meiner Göttin auch gehorchen wollte, so sehr zog es mich zu der alten Frau. Ohne auf meine Deckung zu achten, trat ich hinter den Büschen hervor, und schritt so selbstsicher, wie mein Körper es erlaubte, der Fremden entgegen.

Aus der Ferne schätzte ich ihre Statur falsch ein. Vor mir ragte eine Riesin empor, so groß und mächtig wie ein Felsbrocken und ebenso stark mit dem Erdboden verbunden. Ihre Haut glich weißem, kantigen Stein, ihre Augen glänzten so schwarz und tief wie die Nacht und das graue Haar floss wie Wasser an ihrem Körper hinab in das Erdreich.

Ein einziger Blick aus ihren schwarzen Augen verbannte Ahm Fen in den hintersten Winkel meiner Seele und offenbarte das schwache Mädchen, welches ich in Wirklichkeit war. Ohne den lähmenden Schatten meiner Göttin fanden alle Gefühle, die ich seit Anbeginn meiner Reise in mir trug, den Weg zu mir empor, und ich brach unter ihrer Last zusammen. Die Alte murmelte unverständliche Worte. Ich brach zusammen, unfähig, mich gegen ihren Zauber zu wehren. Ich fühlte mich verloren.

Ihre Worte rissen ein Loch in meine Seele. Sie erschuf einen Abgrund, der alle meine Gefühle verschlang und ein Feuer in meiner Brust entfachte. Es fraß zunächst meine Freude, die Liebe zu meiner Familie und meinem Volk, dann meine Zuneigung und mein Mitgefühl. Und als von den wunderbaren Empfindungen keine mehr übrig blieben, verschlang es gierig meine Trauer. All die geweinten und nicht geweinten Tränen, den Kummer, meine Verzweiflung und am Ende meinen Zorn, der mein Handeln und Denken bestimmte. Je mehr der Abgrund von meinen Gefühlen fraß, desto größer und bodenloser wurde er. Es schrie danach, gefüllt zu werden. Doch was verlangte es? Die Gier hatte doch bereits alles an sich gerissen, was meine Seele bot.

Du musst den Abgrund füllen, wisperte Ahm Fen, die hinter der Dunkelheit meiner Seele hervor kroch.

„Füllen?“, fragte ich betäubt. „Mit was?“

Ein Lachen streifte meine Gedanken.

Mit Blut, mein Kind, antwortete sie höchst erfreut. Mit Blut.

Anklagend hob ich meinen Blick. Das alte Weib hatte mich verflucht, ohne dass ich auch nur ein Wort an sie gerichtete hatte. Der Dolch brannte in meiner Hand, und auch wenn die Riesin mich mit nur einem Schlag in den Erdboden rammen konnte, so verlangte der Abgrund in meiner Brust ihr Blut. Er schrie so laut danach, dass ich mich vor Verlangen krümmte.

„Du kannst dich nicht dagegen wehren“, sprach die Alte unerwartet sanft. „Ich habe dein Rufen vernommen Udelka Häuptlingstochter. Als niemand dich hörte, bin ich deinem Licht gefolgt. Doch nun, da wir uns Auge in Auge gegenüber stehen, erkenne ich nur noch ein schwaches Flackern.“

Ihr Mund bewegte sich, doch vernahm ich kaum ihre Worte. Auf meiner Zunge schmeckte ich ihr uraltes Blut, das so köstlich in ihren Venen rauschte. Wie das Feuer zu ihren Füßen, so stark brannte es in ihrem Körper und ich wusste, dass es mich mit den schönsten Empfindungen erfüllen würde.

Blut, Blut, Blut. Nur diese eine Melodie bestimmte meine Gedanken.

„Bist du eine Bergriesin?“, fragte ich und mein eigenes Blut rauschte in den Ohren. „Bist du mir gefolgt? Was willst du von mir?“

Keine Fragen. Nimm es dir, stimmte meine Göttin in das Lied mit ein. Es gehört dir. Das alte Weib hat den Abgrund in deiner Brust erschaffen. Sie bietet dir ihr Blut an. Nimm es dir! So warm, so kraftvoll, so befriedigend!

Meine Hand mit dem Dolch bewegte sich nach vorn. Wie in einem Traum schritt ich endlos langsam auf die Riesin zu.

„Dir gefolgt?“, ihre Stimme klang verwundert und wenig beeindruckt von dem winzigen Messer in meiner Hand. „Ich sitze schon immer hier. Das ist meine Heimat. Ich komme aus den Bergen und eine Riesin bin ich auch. Macht mich das zu einer Bergriesin? Und was bist du? Oh, ich sehe es. Du weißt es selbst noch nicht.“

Ihr Lachen klang rau, und die Frage was und nicht wer machte mich wütend.

„Du hast mich verflucht“, sprach ich und vernahm kaum meine eigenen Worte.

„Den Fluch hast du selbst herauf beschworen, als du Ahm Fen Zutritt in dein Herz gewährtest. So nennt sie sich doch, nicht wahr?“

„Sie ist meine Göttin. Wir leben nach Ahm Fens Gesetzen! Wie könnte sie mich verfluchen?“

„Aber, aber, kleines Wesen. Götter brauchen Menschen, aber Menschen brauchen keine Götter. Namen sind eine mächtige Waffe“, erklärte sie in Rätseln. „Ich sehe sie genau, deine Göttin oder wie auch immer du den Schmutz benennst, der deine Seele befleckt. Ihr Schatten bedeckt dein Licht. Ich öffnete nur eine Tür, hindurch gehen musst du allein. Traust du dich, Häuptlingstochter? Magst du sehen, wer du in Wirklichkeit bist? Ich sage dir: Erkenne dich selbst, Udelka. Lass nicht geschehen, dass Ahm Fen über dein Leben bestimmt.“

Ihre knochige, steinige Hand berührte meine Stirn. Die Berührungen der Riesin kratzten hinunter bis zu meinem Hals.

„Trenne dich von Ahm Fen“, flüsterte sie in mein Ohr. „Finde einen Ausweg.“

„Einen Ausweg?“, fragte ich spöttisch. „Alles was ich mir wünschte, war ein Ort, an dem ich in Frieden leben kann. Ein Ort ohne den finsteren König, ohne Krieg und ohne Verwüstung. Meine Göttin erschuf aus einem kleinen, schwachen Mädchen eine Kriegerin mit einem Ziel vor Augen. Was siehst du, altes Weib, wenn du in meine Augen blickst? Ich bin ein Monster, eiskalt und mit dem Verlangen nach deinem Blut.“

Du sprichst meiner wahrhaftig würdig!, stolz breitete Ahm Fen sich in meiner Brust aus. Die Zeit ist gekommen, das alte Weib zu vergessen. Hörst du ihr Blut rauschen? Es ist nur für dich bestimmt. Es gibt niemanden, der sich mit dir messen kann. Mit mir an deiner Seite bist du unbesiegbar – unsterblich.

Die Riesin neigte nachdenklich den Kopf zur Seite, als könnte sie Ahm Fen ebenfalls vernehmen.

„Du irrst sich, Udelka. Du bist kein Monster.“ Ihre Augen glühten wie die Kohlen im Feuer. „Ahm Fen missbraucht deinen Körper, um sich ihrer eigenen Leidenschaft ganz hinzugeben. Ohne Blut wird sie vergehen, und du versprichst ihr mit deinem Körper ein Dasein, von dem sie niemals zu hoffen gewagt hat. Ahm Fen nennt es Unsterblichkeit, nicht wahr? Denke nach. Möglicherweise bietet sie dir etwas an, das du längst besitzt.“

Mein Atem raste. In meinen Gedanken vernahm ich die Riesin, Ahm Fen und die Melodie des Blutes. Ich schüttelte meinen Kopf - schlug mir gegen die Ohren, aber am Ende überrollten mich das Verlangen und der Durst nach Blut.

Mit einem Sprung gelangte ich an die Brust der Riesin, und stach gezielt in ihr Herz. Ihre Haut war weich und sanft, nicht so steinig und hart, wie ich erwartet hatte. Das alte Weib wehrte sich nicht. Oder vermochte sie sich nicht zu wehren? Mein Blick haftete an ihren zahlreichen Wunden, die ich ihr zufügte, und Ahm Fen und ich lachten, als wir das flüssige Gold sahen, das aus der Riesin wie ein Bächlein sprudelte. Es war warm, köstlich. Während ich mich in ihrem Blut wälzte wie ein Schwein, verspürte ich solch eine Glückseligkeit wie noch nie in meinem Leben.

Der Abgrund schloss sich in meiner Brust, und ich hielt das endlose Hochgefühl mit Freude umschlossen. Mein Lachen hallte über die Lichtung, schreckte Vögel auf und vertrieb alle Lebewesen aus meiner Umgebung.

Dann, mit einem Schrei, riss eine unnatürliche Kraft meine Brust auseinander und der Abgrund verschlang gierig meine Glückseligkeit.

Ich wollte weinen, doch es gab keine Tränen mehr, die ich hätte vergießen können.

Kein Grund zur Trauer. Ahm Fen hatte das Lachen noch nicht verloren. Wir werden immer wieder Befriedigung finden, mein Kind. Immer dann, wenn uns das Verlangen packt, nehmen wir uns einfach, was wir brauchen. Niemand kann uns aufhalten.

„Es wird niemals enden?“

Mit Schrecken blickte ich an mir herab. Von Kopf bis zum Fuß war ich mit Blut besudelt. Es war nicht länger flüssiges, befriedigendes Gold, nein, es war das, was es eben war. Blut. Rotes, dickflüssiges Blut. Was hatte Ahm Fen mir nur angetan? Nein, was hatte ich mir angetan?

Zu meinen Füßen lag die alte Riesin. Ihre Augen glühten noch immer, und ihr Blick schien mir sagen zu wollen: „Erkenne selbst, wer du wirklich bist. Überlebe, Udelka.“

Dies waren auch die Worte meiner Tante gewesen. Sollte es mein Schicksal sein, als Monster mordend und nach Blut lechzend die Ewigkeit zu beschreiten? Ohne jemanden, der mich aufhalten konnte?

Lass dein altes Leben genau an diesem Ort. Du bist nicht länger die Tochter von irgendjemand. Es gibt kein Volk, das auf dich wartet. Es gibt nur dich, mich und die Welt, die vor uns liegt.

„Ich hasse dich“, flüsterte ich und spürte Ahm Fens böses Grinsen.

Die Riesin sagte, ich wäre kein Monster. Wie sehr sie sich täuschte, denn sie folgte meinem Licht, um von mir getötet zu werden. Nicht nur das. Ich trank ihr Blut, oh liebe Mutter, und es war das Köstlichste, das meine Zunge je zu schmecken bekam. Die Riesin sagte auch, sie öffnete für mich eine Tür. Eine Tür, durch die ich gegangen bin. Was hat es aus mir gemacht? Etwas unvorstellbares Böses.

Wohin sollte all das noch führen?

Der nächste Morgen legte sich wie ein würgendes Leichentuch auf die Erde.

An diesem Tag sah ich Welt durch die Augen meiner Göttin, fühlte mich leer und kalt. Ich betrachtete, wie meine Umgebung starb und gleichzeitig neu erblühte. Das Leben hatte an Bedeutung verloren. Ich gehörte nicht länger zu den Lebenden, aber auch nicht zu den Toten.

Mit welchem Zauber hatte die Alte mich belegt, und was stellte Ahm Fen mit meinem Körper an? War ich nur Zuschauer bei diesem elenden Stück?

Du gehörst zu mir, säuselte Ahm Fen mit lieblicher Stimme.

Seufzend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust und betrachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen den Tag begrüßten.

„Nicht, wenn ich es verhindern kann. Ich hasse dich.“

Ahm Fens Lachen erfüllte meine Gedanken. Mittlerweile war es das grässlichste Geräusch in meinen Ohren.

Ach, mein Kind, antwortete sie fast mütterlich. Du weißt doch nicht, was Hass ist – wahrhaftiger und reiner Hass.

Sie hatte recht, denn ich wusste gar nichts mehr.

„Mich beschleicht das Gefühl, dass ich nun Dankbarkeit zeigen sollte“, murmelte ich leise. „Wie du aber am besten weißt, Göttin des Blutes, ist auch Dankbarkeit eine Empfindung, die ich nicht mehr kenne.“ Über Hügel und Wiesen führte mich mein Weg, begleitet von düsteren Gedanken und einer Göttin im Geiste, bei dem jedes gesprochene Wort wie Gift wirkte.

Möglicherweise war es Ahm Fen, die mich auf diese Weise bestrafte, da ich ihr die Aufmerksamkeit verweigerte, die sie verlangte. Ahm Fen dürstete es nach Blut, und auch ich empfand dieses Verlangen, doch ich versuchte, dem zu widerstehen. Da keine Menschen in der Nähe weilten, ertrug ich den Durst mit eiserner Willensstärke. Meine Kehle brannte und die Melodie des Blutes begann, leise zu spielen, dennoch widerstand ich dem Drang, auf die Jagd zu gehen. Stolz erfüllte mich so lange, bis der Abgrund in meiner Brust auch dieses Gefühl verschlang.

Hin und wieder sah ich mich nach der Spinne um. Seit dem Vorfall im Lager der Soldaten war sie verschwunden. Hatte sie sich satt gefressen und ging ihrer Wege? Seltsam, ich empfand etwas für das Tier und der Gedanke versetzte mir einen leichten Stich. Sie rettete mein Leben und ich nannte sie Freundin. Auch wenn ich sie nicht entdeckte, war mir aber sicher, dass dunkle Augenpaare mich beobachteten.

Auf einem Hügel blieb ich stehen, sah von dort aus schwarzen Rauch in den Himmel empor steigen. Im Geiste erkannte ich die Drachen des finsteren Königs, und ritt näher heran. Neben meinem unvollständigen Leben war doch eines ganz gewiss: der finstere König musste sterben.

Mit einem Finger auf der Karte, las ich mir den Namen des Dorfes laut vor, das zwei Tagesritte von meiner Heimat entfernt lag. Eine Gemeinschaft mit der wir in Frieden lebten und regen Handel betrieben. Bis heute. Mein Vater pflegte seine Freundschaft zu Tantro, dem Häuptling des Dorfes. Ob seiner Familie dasselbe Schicksal ereilte? Mit einem unguten Gefühl ritt ich den Rauchwolken entgegen, in Hoffnung eine Seele lebendig zu finden.

Bereits an den Toren zum Dorf erblickte ich das Ausmaß der Verwüstung: Blutende, zerstückelte und geschändete Körper führten mich zum Herz der Zerstörung. Beim Anblick des Grauens merkte ich, wie trocken meine Kehle wurde, doch nicht vor Durst, sondern vor Entsetzen. Zu meinem Glück währte auch dieses Gefühl nicht lange.

Die gesamte Familie des Stammeshäuptlings Tantro hingen ausgeweidet und entehrt am Baum des Lebens, den jedes Dorf zur Gründung eines Stammes pflanzte. Mit nur einem Blick erkannte ich, wie alt der Baum war, denn er zerfiel nicht vor meinen Augen wie so vieles andere, das meinen Weg kreuzte. Es war, als stünde er bereits immer an diesem Platz.

Die Äste neigten sich mit dem Wind zur Seite, und ich vernahm sein trauriges Lied in der gespenstischen Stille der Zerstörung.

„Finsterer König“, wisperte ich kaum hörbar. Die Augen der Toten blickten auf mich herab und ich las den Vorwurf aus ihnen: Du kommst zu spät. Ihre Leiber schaukelten leicht mit der Brise des Windes, ich spürte die Kälte an meinen Knochen kratzen, und bei dem Geräusch des knarrenden Seils, drehte sich mir der Magen um.

Ich ertrug die Totenstille nicht länger, und auch nicht das drückende Gefühl auf meinem Herzen. Es war an der Zeit zu jagen. Ich wollte dem Verlangen nachgeben. Die Glückseligkeit war so nah, da stimmte ich meiner Göttin zu. Und ich war bereit, sie mir auf der Stelle zu verschaffen.

Während ich diesen Entschluss fasste, fand ein weiteres, düsteres Wesen den Weg ins Dorf – angelockt von dem Feuer der Drachen und dem Blut der Menschen. Es witterte mich, wie nur eine Bestie eine andere erkennen kann.

„Ich sehe, die Ewigkeit hat bereits jetzt ihren Reiz verloren.“ Bei diesen Worten brannte meine Seele im Feuer seiner Hände. Mit Vorsicht wand ich mich dem Wesen zu, und sah dieselbe stumme Leere in seinen Augen, die auch ich in mir trug.

„Wie bedauernswert.“

„Es ist nicht die Ewigkeit, die ihren Reiz verloren hat“, entgegnete ich mit fester Stimme. Wenn ich sogar die Kraft aufbrachte, eine Bergriesin zu töten, so konnte ich es mit einem Feuerdämon ebenfalls aufnehmen. „Es ist der Tod. Eines wird aber niemals seinen Reiz verlieren...“

„...Blut“, beendete der Dämon den Satz, roch leise stöhnend an meinem Haar. „Deine letzte Speise war ein ganz besonderer Leckerbissen. Köstlich. Und ich sehe, du bist in bester Gesellschaft. Ahm Fen hat sich an deine Seele geheftet.“

Die Göttin regte sich in meiner Brust, aber ich konnte nicht bestimmen, ob sie sich auf dieses Wiedersehen freute. Ich stand den Dämonen so nah, dass sein Geruch nach verbrannter Kohle mich benebelte und die Hitze seiner Haut mir Tränen in die Augen trieb.

„In meinem Dorf nennen wir dich Feo Kun“, stellte ich fest. Meine Hand lag tanzend auf dem Dolch. Meine Mutter erzählte mir abends Schauergeschichten über einen Dämon, der kleine Kinder aus den Betten stahl, wenn sie unerlaubt mit Feuer gespielt hatten.

„Das ist einer meiner Namen. Mein Ruf eilt mir also voraus. Was geschieht nun? Begehrst du mein Blut?“ Lachend warf er seinen Kopf nach hinten.

„Ja.“ In seinen Augen sah ich dasselbe Verlangen. Es gab aber noch etwas, das er mehr begehrte als alles andere.

Seine Finger berührten meinen Hals, hinterließen eine Spur aus Feuer auf meiner Haut. Als seine Hand die Stelle berührte, an der mein Herz schlug, glühten seine Augen wie brennende Kohlen.

„Blut kann sehr erfüllend sein, wenn man auf ein ehrbares Opfer trifft. Doch hast du eine Vorstellung davon, wie befriedigend eine Seele sein kann? Nehmen wir an, du wärst in der Lage, beides an dich zu reißen. Du trinkst das Blut deiner Opfer, während du mit Genuss eine Seele aus dem Körper saugst. Glaube mir, so nah wirst du den Sternen niemals kommen können. Es ist eine Offenbarung – der Sinn der Ewigkeit.“

Feo Kun bereitete mir ein weiteres Angebot. Ich verschwendete nicht einen Gedanken daran, es anzunehmen. Ein lästig gewordener Gast in meinen Gedanken reichte völlig aus.

„Nette Worte“, antwortete ich und hielt den Dolch an seine Kehle. Die Melodie erklang erneut, und sie spielte ein Lied über Feuer und Blut. Feo Kun fletschte die Zähne und gab ein wohliges Knurren von sich. Er hatte keine Angst vor mir. Das sollte ich ändern.

„Es gibt mehrere Gründe, warum ich dein Angebot ausschlagen muss. Zunächst teile ich meinen Körper bereits mit einer Göttin, und die Vorstellung, meine Gedanken auch mit dir teilen zu müssen ist geradezu unvorstellbar. Hinzu kommt, dass ich mir eher einen Arm abschneide, als dich näher wie eine Messerlänge heranzulassen.“

Sein Lachen klang wie das Knacken einer Feuerstelle.

„Zu guter Letzt: Alles, was ich begehre, ist Blut. Doch auch hier bin ich wählerisch. Es ist nicht das Blut der Menschen, das ich verlange. Es ist das Blut von Monstern, und deines wird auf meiner Zunge tanzen. Es wird mich in den Himmel heben und hinab in die Hölle schicken. Dein Blut wird mich sehr befriedigen. Mein Interesse gilt nicht deiner verdorbenen Seele. Sofern du überhaupt eine besitzt.“

Kaum war das letzte Wort gesprochen, packte Feo Kun blitzschnell meine Handgelenke, drückte so fest zu, dass der Dolch aus meiner Hand glitt und klirrend zu Boden fiel.

„Du kannst mich nicht töten“, zischte der Dämon, und sein Haar schoss in Flammen von seinem Kopf. „Wer bist du schon, dass du es wagst, dich gegen mich zu stellen? Ich bin ein Dämon, mächtig und alt. Ich fraß bereits Seelen, als es euch mindere Kreaturen noch nicht gab. Also, was willst du tun, Mädchen?“

„Ich brauche keine Waffe, um mich an deinem Blut zu laben, Feo Kun.“

Meine Worte verwirrten ihn, und ich benötigte nur diesen einen Augenblick der Starre, um zu bekommen, was mein war. Kraftvoll schlug ich meine Zähne in seinen Hals, riss Haut, Muskeln und Sehen auseinander. Schreiend hielt sich der Feuerdämon die blutende Wunde, aus der meine Belohnung sprudelte. Aus seinen weit aufgerissenen Augen wich die Arroganz. Ahm Fen kicherte über das Erstaunen, das aufflackerte. In der nächsten Sekunde lag der Dolch wie ein alter Freund in meiner Hand, beendete mit mir gemeinsam das begonnene Werk.

Feo Kuns Körper fiel zu Boden und ich trank gierig aus seiner blutenden Wunde. Ich genoss meinen Sieg, schmierte mir sein Blut auf das Gesicht, Arme und Beine. Es brannte auf meiner Haut als stünde ich in Flammen, aber es machte mir nichts aus. Ich liebte das Gefühl sogar und kostete es aus.

Du hast es dir verdient, triumphierte Ahm Fen, und lachte mit mir.

„Es ist mein Sieg“, knurrte ich wütend über ihre falsche Freundlichkeit. Sie hörte mit dem Lachen nicht auf, genoss das Blut so sehr wie ich, aber das musste aufhören und zwar sofort. Es war mein Verdienst, nicht ihrer! Aus meiner Kehle drang ein tierähnliches Fauchen, Hitze überschwemmte meinen Körper und mit schmerzhaften Krämpfen in meinen Muskeln, wallte ein Feuer in meiner Brust hoch, das Ahm Fen in die hinterste Ecke meiner Gedanken verbannte.

Götter brauchen Menschen, aber Menschen brauchen keine Götter, so sagte es die Alte.

Ahm Fen war auf meinen plötzlichen Angriff nicht vorbereitet, genauso wenig wie ich selbst.

Wer war ich? Was war ich?

Es wurde Abend und ich entdeckte auf meiner Reise einen See, und nutzte die Gelegenheit, das Blut Feo Kuns von meinem Körper zu waschen. Zunächst suchte ich mir einen passenden Rastplatz und stellte eine einfache Falle auf, um für mein Abendessen zu sorgen. Ahm Fen betrachtete mürrisch mein Werk und hoffte, dass es keinen Hasen zum Essen geben würde. Sie bevorzugte Blut, aber für mich musste es auch noch etwas anderes geben. So wünschte ich es mir zumindest.

Der Frühling nahte. Ich erkannte es nicht nur an den Pfützen des geschmolzenen Schnees, ich spürte es auch in meinem Knochen und in der Luft lag ein blumiger Duft, der die Kälte vertrieb.

Das Wasser war eisig. Ich sprang kopfüber hinein und vor meinem Mund bildeten sich kleine Rauchwolken. Die Kälte schadete mir nicht und ich genoss mein Bad in vollen Zügen. Seit der Bergriesin veränderte sich mein Körper. Welche unheimliche Tür meiner Seele hatte sie geöffnet? Was geschah mit mir? Eine Sache machte sie mir ganz deutlich: Ahm Fen musste verschwinden und mittlerweile war es mir ganz recht. Die Reise lehrte mich Ahm Fens Rücksichtslosigkeit und ich gestand mir ein: Ahm Fen liebte nur sich selbst und benutzte mich als Trichter für ihre Leidenschaft.

Auf den Rücken liegend öffnete ich die Augen und blickte in einen sternenklaren Himmel. Der Wintermond starrte bleich auf mich herab und mit ihm, schlichen sich Träume in meine Gedanken. Geheime Wünsche, die ich dem See anvertraute. Wie schön wäre es, ein Stern am Himmel zu sein? Die Stille, die Einsamkeit und nur die Anwesenheit von anderen Sternen, die liebten, wer sie waren. Es musste ein wahrer Segen sein.

Du hast mich, flüsterte eine leise Stimme und wagte sich in einen Schritt in den Vordergrund. Seit dem Feuer kehrte Ahm Fen mir beleidigt den Rücken zu.

Eine Reise mit mir ist jedes Opfer wert.

Knurrend schüttelte ich meinen Kopf. Wie konnte ihre Stimme mir in den wenigen Tagen so lästig werden?

„Eine Reise mit dir ist der Gang durch das Feuer. Es ist ein Albtraum.“

Ahm Fen hatte mit ihren giftigen Worten mein Bad verdorben, und ich begann zurück zum Ufer zu schwimmen.

Das Ufer lag noch weit entfernt, da sah ich den Nebel, der über das Wasser kroch. Mein Körper zitterte, doch nicht vor Kälte. Ich spürte sofort, dass der glitzernde Nebel kein natürlicher Nebel war, und dass der nächste Kampf mich erwartete. Der Nebel umschloss mich in einem Ring, ich sah nichts außer silbernem Dunst.

„Wer zur Hölle wagt es, mich herauszufordern?!“, brüllte ich und schlug auf das Wasser. „Meine Waffen liegen an Land, du feiges Schwein!“

„Waffen sind nutzlos“, antwortete eine Stimme.

Der Nebel raubte mir die Sinne. Ich konnte nicht bestimmen, ob die Stimme von nah oder fern sprach. So wie der Nebel war sie überall. Der Dunst legte sich auf meine Haut, und ich tauchte unter Wasser. Ahm Fen hatte sich bereits in meinen Geist geschlichen. Ich ließ es nicht zu, dass ein Gespenst Besitz von meinem Körper ergriff. Gegen meinen Willen wagte es niemand mehr, mich zu berühren.

Nach Luft schnappend tauchte ich wieder auf, hoffte unter dem Nebel hindurch geschwommen zu sein. Ich strich die nassen Strähnen meines roten Haares aus den Augen, und als ich die Augen öffnete, stand sie direkt vor mir. Ihre Kraft überrollte mich wie ein Donnerschlag, schnürte mir die Kehle zu. Mit ihrem Erscheinen verschwand der Nebel, sie schwamm ebenso nackt und unbewaffnet im Wasser wie ich.

Immerhin, murmelte ich in Gedanken. Wollte sie kämpfen oder mich anstarren? Unruhig wand ich mich unter ihrem Blick, der über mein Gesicht strich und mir eine Gänsehaut bereitete. Auch meine Göttin regte sich in meiner Brust, zischend und übel gelaunt.

Die Fremde sah aus wie ein Mensch, auch wenn ihre Kraft mir etwas gänzlich anderes deutete. Ihr langes, silbernes Haar schwamm auf der Wasseroberfläche, es funkelte im Mondlicht wie ein Meer aus Diamanten. Das Lächeln in ihren grünen Augen war freundlich, aber ich traute ihr keinen Fingerbreit. Eine Nackte, die aus dem Nichts erschien? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich drückte meine Feindlichkeit mit einem Knurren aus.

„Es wird keinen Kampf geben.“

Die Fremde antwortete auf eine Frage, die ich mir gerade selbst gestellt hatte: Wie könnte ich sie am klügsten angreifen? Schätze deine Feine ein und handle schnell. Das waren einst die Worte meines Vaters. Mit guten Ratschlägen sparte er nie, gab mir aber nie Schwert in die Hand. Insgeheim war ich erleichtert. Ich wollte nicht gegen die Fremde kämpfen.

Mich in den höchsten Tönen verspottend, fuhr meine Göttin ihre blutdurstigen Fänge aus. Sie tastete lüstern nach dem Blut der Fremden. Das Verlangen zerriss meine Brust und der Abgrund öffnete sich. Mit großen Augen starrte ich auf die Fremde, die nicht sehen konnte was mit mir geschah, oder etwa doch? Die Worte: Ich will dein Blut nicht, halte mich auf! lagen auf meinen Lippen, aber vor Verlangen quälten sich gurgelnde Laute aus meinen Mund. Die Frau schwamm näher an mich heran. Nein, dachte ich würgend, aber da war es zu spät. Meine Hände packten ihren Haarschopf, ihr Kopf wirbelte nach hinten und meine Zähne lagen knirschend an ihrem Hals. Mit der Zunge leckte ich über ihre glatte Haut, schmeckte Blütenstaub und Honig, während ihre Hände sanft auf meinen Schultern ruhten. Sie sprach zu mir - ohne Zauber: „Beende es. Hier und jetzt.“

Ich wusste genau, was zu tun war.

Nein!, schrie Ahm Fen, als meine Zähne sich vom Hals der Fremden lösten, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Der Bann war gebrochen und ich entschied mich für das Richtige. Mein Mund klappt zu. Ahm Fen konnte sich zum Teufel scheren.

Wie gewöhnlich suchte Ahm Fen ein Versteck in meiner Seele, aber es gab keine Ecke mehr, in der sie Schutz suchen konnte. Das Feuer wallte in meiner Brust auf und erhellte jeden Winkel. Ahm Fen fluchte, spuckte, bettelte, aber ich gewährte ihr keinen Unterschlupf mehr.

Warme Finger legten sich auf meinen Brustkorb und ich spürte, wie die Fremde etwas aus mir heraus zog. Sie hielt eine kleine Flamme in den Händen und als ich sie so betrachtete wusste ich, dass sie zu mir gehörte. Ahm Fen schrie noch lauter und winselte um Gehör. Sie war mir egal. Alles was zählte war dieses Licht.

„Gehört es mir?“, flehend bat ich um Bestätigung.

„Natürlich, wem soll es sonst gehören? Du bist das Licht, Udy und wenn du dich erkennst, dann wirst du hell am Himmel erstrahlen. Das Licht unterscheidet dich von allen Monstern, auf die du treffen wirst.“

Mit langsamen Bewegungen führte sie die Flamme zurück an meine Brust, legte ihre Finger an die Lippen und lächelte zufrieden hinter erhobener Hand. Sie freute sich für mich!

„Tu es“, sprach sie nun aufgeregt. „Zeige mir dein Feuer.“

Und das tat ich. Es war so einfach. Ahm Fen schrie, bäumte sich auf wehrte sich gegen das Licht, das sich in meiner Brust ausbreitete.

Denkst du tatsächlich, du kannst gegen mich kämpfen? Mich vernichten? Du hast mich in dein Herz gelassen, deine Seele erflehte meine Hilfe. Stehen die Türen erst offen, wirst du mich nicht mehr los. Ich bin deine Göttin. Wage es nicht!

Mein Feuer hüllte sie ein. Es gab kein Entkommen und Ahm Fen wusste es.

Kind, oh mein Kind. Ihre Stimme nahm den Klang meiner Mutter an. War ich nicht immer für dich da? Was tust du mir nur an? Ich liebe dich. Mein Kind!

„Es reicht!“, ich öffnete den Mund und schwarzer Rauch qualmte empor. „Du gehörst nicht zu mir!“

Mit einem Grollen spuckte ich Feuer gen Nachthimmel und mit dem Strahl würgte ich Ahm Fen aus meinem Herzen, die fluchend dem Feuer zu entkommen versuchte. Ihr Körper war ein einziger unförmiger Schatten, nur die bösartigen Augen stachen aus dem Dunklen hervor.

Ich finde einen anderen Körper, fauchte sie mit verzerrter Stimme. Einen besseren!

„Das wirst du nicht“, sprach die Fremde, die nicht von meiner Seite wich. Mit einer Hand deutete sie auf Ahm Fen. Silberner Nebel strömte aus ihrer Haut und hüllte den bösen Schatten zusammen mit meinem Feuer ein. Das Zusammentreffen von Hitze und Kälte verwandelte sich in einen Wirbelsturm, der auf dem Höhepunkt seiner Geschwindigkeit Ahm Fen zerriss. Sie war fort, ihr Schrei verstummte für immer und ich? Ich war endlich frei.

Glücklich drehte ich mich zu der Fremden um, wollte ihr danken, sie umarmen, sie nicht mehr gehen lassen, aber sie war verschwunden und alles, was von ihr übrig blieb, war der Silber glitzernde Nebel.

„Danke“, flüsterte ich und wusste, dass ich allein war. Ganz allein, denn es gab niemanden mehr, der auf meinem Herzen saß und spottenden Kommentare verlauten ließ. „Warum verschwindet bloß alles Gute aus meinem Leben?“

„Ich muss weiter“, erklang ihre Stimme aus dem Nebel. Nein, es war der Nebel selbst! „Wir werden uns wiedersehen, Udy.“

„Aber wann?“, ich konnte nichts daran ändern. Meine Stimme klang hilflos erbärmlich.

„Eh du dich versiehst. Ich schicke dir eine Erinnerung“, ihr Lachen erklang. Der Nebel wirbelte um mich herum, nahm Abschied, und löste sich dann einfach auf.

Kopfschüttelnd schwamm ich zum Ufer zurück. War das alles wirklich geschehen? Hatte ich es mir nicht eingebildet? Es fühlte sich an wie ein Traum, aber die Stille war so real.

An Land angekommen, wickelte ich mich in Baktas Mantel und sog ihren Duft ein. Hast du das alles gewusst Tantchen? Hast du mich auch in deinen Träumen gesehen?

Dann begann ich zu lachen. Ich lachte so laut und so lange, bis ich vor Erschöpfung einschlief.

Frei...

Am nächsten Morgen erwachte ich mit schlimmen Kopfschmerzen, als hätte ich mit hunderten Bergriesen und Feuerdämonen zur selben Zeit gekämpft. In Baktas Mantel gehüllt lag ich da, wie ich am Abend zuvor eingeschlafen war. Ich erinnerte mich an silbernen Nebel, grüne Augen und Diamanten, die im Mondlicht schimmerten. War es ein Traum oder packte mich nun endgültig der Wahnsinn.

Den Kopf reibend und fluchend sammelte ich meine Kleidung ein. Das Feuer war längst herunter gebrannt, und in der Falle lag kein Hase. Das Frühstück fiel also aus.

Prüfend führte ich meine Hand an die Brust, erfühlte meinen Herzschlag. Er war kaum zu spüren, und unter meiner Berührung bemerkte ich das bekannte und verhasste Reißen in der Mitte meiner Brust. Mein Hals wurde trocken, meine Hände zitterten und sehnsüchtig reckte ich meine Nase in den Wind. Das Fleisch eines Hasen konnte mich bei weitem nicht so sättigen, wie das zäh fließende Blut eines warmen wohligen Körpers, dessen Herz schnell und regelmäßig schlug.

Dann wurde es mir mit einem Schlag bewusst: Ahm Fen hatte mich benutzt UND betrogen! Ich dachte, aufgrund ihrer Leidenschaft verzehrte ich mich nach Blut, aber es war ganz anders. Ich war das Monster, das nur ein weiteres blutdurstiges Monster beherbergte. Ahm Fen erkannte die Gelegenheit, verführte mich. Lenkte gar sie mich zu der Bergriesin? Erst bei diesem Zusammentreffen entflammte das Verlangen! Die Alte grub in meiner Seele und befreite etwas Dunkles und Böses. Ob meine Eltern davon wussten? Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich an all die Momente dachte, in denen ich zu Hause bleiben musste. Kochen, putzen, Tiere versorgen. Öffentliche Versammlungen? Oh nein, mein Kind, sprach da meine Mutter. Ich brauche dich hier zu Hause.

Zu Hause! Verborgen und weg gesperrt! All die Jahre.

„Verdammt seien alle Götter dieser Welt und der Welt der Unsterblichen!“, schrie ich meine Wut hinaus. Gierig sog der Abgrund meine Gefühle auf, zurück blieb nur das dumpfe Gefühl, der größte Narr der Erde zu sein.

„Wusstet ihr, wer ich war?“, der See verschluckte meinen Schrei. Ich erwartete Ahm Fens Antwort, doch es blieb still. Meine Gedanken durchforstend suchte ich die Schwere ihres Schattens – ihre giftigen Spuren, die sie auf meiner Seele hinterließ. Nichts. Ein Blick auf meine Hände sagte mir, dass es sich doch nicht um einen Traum handelte. Meine Finger lagen noch immer auf meiner Brust, und das weiße Licht, das hindurch schimmerte, weckte alle Erinnerung von vergangener Nacht.

Es ist kein Traum, dachte ich verletzt. Es ist alles die bittere Wahrheit und es gibt niemand mehr, der weiß wer oder was ich bin...

Eh du dich versiehst. Ich schicke dir eine Erinnerung.“

Ja, nickte ich stumm, als könnte sie meine Antwort noch vernehmen. Wir werden uns wiedersehen und bis dahin, verliere ich nicht mein Ziel aus den Augen.

Mein Blick schwang gen Süden, und sogleich erhaschte meine Nase den Duft warmen, süßen Blutes. Menschen - verschwitzt, ängstlich und verstört. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Diesen einen Duft unter den zahlreich verschwitzten Körpern erkannte ich wieder. Männlich, vorlaut und vom Wein so besoffen, das er nicht mehr in der Lage war, seinen eigenen Namen zu nennen.

Ich kannte ihn sehr gut: Yeleb.

Meine Nase führte mich in ein weit abgelegenes Dorf, dessen stümperhafte Holzbarrikade nicht einen einzigen Ansturm der finsteren Soldaten standhalten könnte. In der Ferne arbeiteten die Bauern wie gewohnt auf dem Feld, als stünde ihnen kein Angriff bevor. Dumme, unbeschwerte Menschen, dachte ich grummelnd. Die Soldaten werden keinen Stein auf den anderen lassen, keine Frau bliebe unentdeckt und jeder Mann wird unter dem Eisenschwert schreien, wie die Kinder, die sie nicht beschützen konnten.

Das unbeschwerte Lachen und Treiben der Dorfbewohner verstummte augenblicklich, als sie mich am Dorfbrunnen entdeckten. Ihre Blicke verfolgten jeden meiner Schritte. Verständlich, denn in meiner schmutzigen und blutigen Kleidung bot ich einen schaurigen Anblick. Meine roten, verfilzten Haare verliehen mir das Aussehen einer Wilden, und mein finsterer Blick versteinerte ihre Bewegungen. Am Dolch haftete noch Blut, von dem ich nicht mehr bestimmen konnte, von wem es stammte. Auf meinem Weg hierher hatte ich schon so viele getötet.

Aus der Menge trat eine junge Frau, mit hübschen braunen Locken und einem Gesicht, auf dem die Unerfahrenheit geschrieben stand. Der Sand dämpfte ihre Schritte, und dennoch war es das einzige grelle Geräusch, das die Stille durchbrach.

„Komm mit mir“, sprach die Frau mit hoher Stimme, reichte mir ihre kleine Menschenhand.

Ihr Blut erinnerte mich an eine Wiese im Frühling. Grün und saftig wuchs das Gras unter den ersten Sonnenstrahlen heran, und die ersten Blumen erwachten aus ihrem Winterschlaf. Der Wind trug ihren süßen Duft über das Land, und alles erleuchtete in einem neuen Licht.

Je länger ich sie betrachtete und den wundervoll leichten Geruch ihres Blutes einsog, desto schneller alterte die Frau vor meinen Augen. Nur widerwillig löste ich den Blick von dem Menschlein und blinzelte den roten Schleier fort, der meine Sinne benebelte.

Nicht sie, rief ich mich zur Vernunft. Das brennende Verlangen schmerzte in meiner Brust, doch wegen ihres Bluts hatte ich den Umweg nicht auf mich genommen.

Warum nicht? fragte ich mich auf der anderen Seite. Die Soldaten des finsteren Königs waren bereits auf dem Weg, und wenn sie eintrafen, würde dieses Dorf bis in den Himmel hinauf brennen. Ich wusste, dass mein Feind ein gutes Feuer schätzte, und nichts brannte so gut wie die Eroberung. Die Menschen werden unter den Schwertern des Königs fallen. Welche Verschwendung wäre ihr Tod für mich?

„Mein Name ist Dora“, fuhr sie fort, während ich meine Entscheidung von allen Seiten betrachtete.

„Dora“, wiederholte ich leise. Ein kleiner Name für ein winziges Menschlein.

„Mir gehört die Schänke, gleich dort vorne.“ Mit ihrem Arm deutete sie an der glotzenden Menschenmenge vorbei auf ein kleines Haus. „Ich biete dir Kleidung und Essen.“

Die Augen der Menschen glühten auf meinem Rücken, als ich der Frau stumm zu ihrer Schänke folgte. Noch immer wägte ich ab, von ihrem Blut zu kosten. Dora öffnete die Tür. So unauffällig das Haus von außen wirkte, umso gemütlicher war es im Inneren eingerichtet. Auf den Stühlen lagen Felle, Kerzen aus Bienenwachs standen auf den Tischen und verströmten einen angenehm lieblichen Duft. Die Wände hatte Dora mit Ebenholz verkleidet, am Ende des Raumes entdeckte ich neben dem Schanktisch einen Kamin.

In meinem Dorf hatten wir sehr einfach gelebt. Aus diesem Grund verachteten uns die Menschen. Wir lebten von dem, was die Natur uns bot, schneiderten unsere Kleidung aus der Haut und den Fellen der Tiere, und unsere Hütten bestanden aus Lehm und Holz. Statt auf Stühlen saßen wir auf dem Erdboden, und eben dieser war unser Tisch. Ich spürte einen leichten Stich in meiner Brust, der nicht von Ahm Fens Fluch her rührte. Möglicherweise handelte es sich um Heimweh.

„Bitte setz´ dich.“ Dora rückte einen Stuhl zurecht, auf den ich mich zögernd niederließ.

„Ich habe keine Münzen“, antwortete ich. An meinem Akzent musste Dora erkennen, woher ich stammte. „Ich kann dich nicht entlohnen.“

Einen Augenblick musterte sie mich schweigend.

„Damit habe ich auch nicht gerechnet, Fremde“, sprach sie schließlich lächelnd. „Ich begnüge mich mit deiner Gesellschaft.“

Dora drehte sich um und eilte zum Schanktisch. Wenig später kehrte sie mit einem Getränk zurück, das sie Gerstensaft nannte. Es schmeckte scheußlich. Sie brachte mir ebenfalls Obst und Brot, welches ich aus Höflichkeit verspeiste. Die Speisen schmeckten nach Asche und Staub, und das Rauschen ihres Blutes öffnete den verhassten Riss in der Brust Stück für Stück, bis meine Kehle vor Verlangen brannte.

„Es wäre besser gewesen, du hättest mich den Dorfbewohnern überlassen.“

„Glaube mir, einen Moment länger und sie hätten dich in der Luft zerrissen. In meiner Schänke bist du vorerst sicher.“

Dora konnte natürlich nicht wissen, dass es mein Wunsch gewesen war, angegriffen zu werden. Leichter konnte ich nicht an das Blut der Menschen gelangen, ohne mich in der Nacht mit Albträumen zu plagen.

„Es kommen meist nur Ehemänner hierher, weil sie wissen, dass ich sie nicht an ihre Frauen verpfeife“, lachend schlug sie auf den Tisch. „Du bist nicht sehr gesprächig, oder?“

Ich hob entschuldigend die Schultern und trank von dem Bier, in der Hoffnung, das Brennen in meiner Kehle zu mildern. Vergebens.

„Die Dörfler trauen mir nicht. Ich sehe Dinge, verstehst du? Nein, wie könntest du. Ich verstehe es ja selbst nicht. Sie fürchten sich vor meinen Träumen – Visionen, die mir von einem Augenblick zum nächsten erscheinen. Letzte Nacht da...“

„Hör zu, Menschlein“, unterbrach ich Dora barsch. Wo war ich bloß hinein geraten? Sah ich wie jemand aus, dem man sein Herz ausschüttete? „Gib mir die Kleidung, die du mir versprochen hast und ein Bett. Ich will schlafen. Sobald die Sonne untergegangen ist, breche ich auf. Ich brauche Ruhe, und keine Geschichten.“

Etwas in ihrem Blick zerbrach, und Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln, die sie mit schneller Hand trocknete. Dora konnte wissen, welchen ungehobelten Klotz sie sich ins Haus schaffte. Sie hatte Visionen, Träume und lud eine Mörderin in ihr Heim ein? Was für eine dumme Gans.

Auf der anderen Seite war sie nett zu mir. Ich wollte ihr kein Leid zufügen, sondern musste aus ihrer Gegenwart verschwinden, wenn sie nicht unter meinen Händen sterben wollte. Ihr Blut war einfach zu köstlich, und jeder weitere Moment mit ihr trieb mich an den Rand des Wahnsinns.

„Folge mir“, sprach sie nun leise. Wir standen auf und ich folgte ihr die Stufen zum Dachgeschoss empor.

Wir betraten ein Zimmer mit einem sauberen Bett in der Mitte des Raumes, einem kleinen Waschtisch mit frischem Wasser und sogar Kleidung, die auf dem Nachttisch bereit lag, als hätte Dora auf mein Erscheinen gewartet.

Wissend traf mich ihr Blick, als ich ihr dankbar zunickte. Ohne ein weiteres Wort schloss ich die Tür, und erst als ich ihre Schritte verstummen hörte, trat ich an das Fenster und blickte zum Dorfplatz hinunter.

Als wäre nichts geschehen, gingen die Menschen ihrer Arbeit nach. Meine Nase verfolgte die Spur, die sie hierher geführt hatte und wurde kurze Zeit später fündig. Yeleb trat hinter den Hütten hervor, wurde sogleich von mehreren Menschen bestürmt. Dreckig und schwitzend wehrte er ihre Rufe ab. Eine Greisin mit weißem Haar warf sich vor ihm auf den Boden, schrie und streckte die Hände betend zum Himmel.

Die Götter verfolgen ihre eigenen Pläne, alte Menschenfrau, dachte ich kopfschüttelnd.

„Mein Sohn“, vernahm ich ihre Schreie. „Wo ist mein Sohn?“

Nun stimmten alle Dorfbewohner in den traurigen Gesang der Greisin ein – weinten, schrien und beteten zu ihren Göttern, die auf die Menschen hinab blickten und lachten.

„Sie sind begraben“, antwortete er nun mit letzter Kraft. „Ich habe sie alle begraben!“

Yeleb beugte sich zu der alten Frau hinunter, die ihn mit den Fäusten auf die Brust schlug, bis er seine Arme öffnete, um ihr Trost zu spenden.

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Dora, die wegen dem Lärm vor die Türe ihrer Schänke trat, und nachdenklich zu mir hinauf blickte.

Ich kehrte ihr den Rücken zu und erholte mich ein paar Stunden in einem Bett, das auf seltsamen Stelzen gebaut wurde.

Nachdem die Sonne untergegangen war, verließ ich mit neuer Kleidung das Zimmer und trat die Stufen hinunter, die geräuschvoll unter meinen Schritten knarrten. Vor der Eingangstür traf ich auf Dora. Ihre roten Augen verrieten, dass sie geweint hatte, und ihre Hände hielt sie zitternd hinter ihrem Rücken versteckt.

„Sie werden kommen, nicht wahr?“, fragte sie. Ich wusste, worum es sich handelte.

„Ja“, antwortete ich knapp. Der Schmerz in ihren Augen durchbohrte mich und traf mein Herz. Was hätte ich vor wenigen Tagen dafür gegeben, zu wissen, welcher Feuersturm uns erwartete? Warum sollte ich die Menschen warnen? Nahmen sie an meinem Schicksal teil? Was kümmern sie mich?

Zum Teufel, wem machte ich etwas vor? Zu dem Zeitpunkt, als Dora mich in ihr Haus einlud, waren mir die Menschen nicht mehr egal.

Dora trat auf mich zu. Das Verlangen wurde in ihrer Nähe immer unerträglicher.

„Warum?“ Tränen rollten über ihr gerötetes Gesicht.

Gab es auf die Frage „Warum“ eine Erklärung?

„In Zeiten des Krieges kennt der finstere König weder Verbündete, noch Feinde“, meine Hand berührte tröstend ihre Schulter. Dora griff dankbar nach meiner Berührung, die ich sofort zurück zog. „In der Luft hängt der Atem der Drachen. Sie werden bald erscheinen, und euer Dorf mit ihrem Höllenfeuer niederbrennen.“

„Ich wusste es.“ Bestürzt hielt sich Dora beide Hände vor den Mund. „In einer Vision habe ich es deutlich gesehen. Rauch, Feuer und Blut... Die Drachen kreischten am schwarzen Himmel, und ich habe das Gesicht eines Mannes gesehen. So finster und kalt. In seinen Augen erblickte ich den Tod. Er war der Tod.“ Ihr kleiner Körper erzitterte. „Dann, umgeben vom schwarzen Rauch und Feuer, erblickte ich rotes Haar und eine Narbe, die im Schein des Drachenatems leuchtete. Ich habe dich gesehen, Fremde. Ich wusste, du wirst uns vor dem finsteren König retten.“

„Es reicht, Dora!“, brüllte ich, und schlug Dora härter ins Gesicht, als ich es beabsichtigte. Stumpf stürzte die Menschenfrau zu Boden. In meiner Hand lag zitternd der Dolch, und als ich mich zu ihr herab beugte, erblickte Dora in meinen Augen die Bestie, die ich nicht mehr vor ihr verbergen konnte.

„Ich kämpfe nur für mich! Meine Taten retten niemanden.“

Schwer atmend steckte ich den Dolch in den Schaft. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Dora meine Bewegungen, und in ihrem verheulten Blick konnte ich nun erkennen, warum ich es nicht über mein Herz brachte, sie auszuschlürfen wie eine reife Frucht. Die Erinnerung streifte mich wie ein Blatt im Wind. Vor mir hockte das kleine Mädchen, das ich einst gewesen war. Wir wurden zur Belustigung der Götter erschaffen, um unser Leben in einem ewig währenden Kampf zu bestreiten und um statt von Liebe, von Furcht und Beleidigungen umgeben zu sein. Weil wir immer anders sein würden als alle anderen unseres Schlages.

„Was soll ich denn nur tun?“ Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Hilflosigkeit stand wie ein Schild zwischen uns.

Ich schnaubte. „Packe das Nötigste, und renne so schnell dich deine Füße tragen können.“

Entschlossen öffnete ich die Tür, achtete nicht weiter auf ihre Tränen, die mein Herz so sehr berührten. Der Abgrund verlangte nach Blut und Dora sollte nicht zu meinen Opfern zählen.

Dank der Dämmerung befanden sich die meisten Dorfbewohner in ihren Hütten. Meine Brust schmerzte mittlerweile so sehr und in meiner Kehle brannte ein Feuer, dass ich sofort Yeleb finden musste, bevor ich den schnellen Weg wählte und Dora tötete.

Der Wahnsinn ließ mir am Ende meiner Kräfte keine andere Wahl.

Sein Geruch war überall, aber am stärksten vernahm ich ihn nicht weit von Dora entfernt, in einer weiteren Schänke. Im Schatten verborgen wartete ich auf Yeleb wie eine Spinne auf ihre Beute, geduldig und immer hungrig.

Eine Stunde später stolperte der Soldat die Stufen der Schänke hinunter, lachte betrunken und stürzte erneut in den Sand.

Blitzschnell trat ich aus den Schatten heraus, packte ihn an dem Kragen seines Hemdes und zog ihn in einen Gang zwischen zwei Hütten. Ächzend richtete ich ihn auf, und setzte mich ihm schweigend gegenüber. Er roch nach dem scheußlich schmeckenden Gerstensaft, aber ich blendete den Geruch aus und konzentrierte mich auf den süßen Duft seines Blutes, das warm in seinen Adern floss und für mich die schönste Melodie sang.

Leise murmelnd und nicht Herr seiner Sinne, wischte er sich den Dreck aus den Augen, blinzelte in die Dunkelheit und sackte schließlich seufzend zusammen, als er mich erkannte.

„Bei allen Göttern.“ Seine Augen drehten sich bei dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. „Träume ich?“

„Nein“, flüsterte ich mit rauer Stimme. Meine Hand lag ruhig auf dem Dolch.

„Was willst du noch von mir?“ Seine Stimme lallte, und er schwankte verdächtig von einer Seite zur anderen. „Mein Leben?“

Langsam löste ich den Mantel von meinen Schultern und ließ ihn auf die Erde fallen. Verwirrt, aber auch gleichzeitig erfreut, beobachtete Yeleb, wie ich ein Kleidungsstück nach dem anderen auszog und am Ende nackt vor ihm stand. Das einzige was ich nicht ablegte, war der Gürtel mit dem Dolch daran.

Vom Gerstensaft berauscht zeigte Yeleb keine Furcht, als ich mit dem Dolch die Knöpfe seines Hemdes abschnitt. Mit tiefen Schnaufen ergab er sich seiner Erregung, ließ mich gewähren.

Das Metall wanderte von seinem Hals hinab zu seinem Bauch, wo ich den Knopf der Hose abschnitt. Mit einer einzigen Handbewegung riss ich ihm auch den letzten Stoff vom Leib.

Mein Kopf senkte sich auf seine Brust, und ich atmete den Geruch seines Blutes ein. Mit der Messerspitze schnitt ich in seine Haut - genau an der Stelle, an der sein Herz schlug. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm, als meine Zunge sein Blut auffing und über seine Wunde leckte. Das Feuer bäumte sich auf, verwandelte sich in Lust. In Gedanken hörte ich die Flüche meines Vaters und die warnenden Worte meiner Mutter. Es war mir egal. Alles was ich in diesem Moment begehrte war, mich dem prickelnden Gefühl hinzugeben.

Wir verschenkten keine weiteren Worte. Mit dem Dolch in der Hand, setzte ich mich auf seinen Schoß, und wir liebten uns kurz, aber heftig.

„Yeleb.“

Der Soldat vernahm seinen Namen aus meinem Mund, beendete stöhnend unser Liebesspiel.

Sein Kopf schaukelte befriedigt auf seiner Brust, als ich mich von ihm löste und mich sogleich ankleidete.

„Und nun?“, fragte er leise. „Folgt jetzt wie versprochen mein Ende?“

Seine trüben Augen waren auf mich gerichtet. Der Geschmack seines Blutes lag noch auf meiner Zunge, und es gab nur eine Antwort auf seine Frage.

„Ja.“ Das Metall glänzte in meiner Hand. „Ich will dein Blut an meiner Klinge.“

Er lachte leise, als handelte es sich um einen Witz.

„Dann war unser Liebesspiel eine Entschuldigung?“

Langsam beugte ich mich zu ihm hinunter. Der Stahl in meiner Hand fühlte sich großartig an, kein Mann dieser Erde konnte mir dieses Gefühl geben.

„Nein, es war ein Tausch.“

Kopfschüttelnd verbarg er sein Gesicht in seinen Händen.

„Du bist ein anständiger Mann, Yeleb“, versuchte ich zu erklären. „Allerdings schuldest du mir dein Leben. Ich hatte es dir gesagt. Beim nächsten Treffen töte ich dich.“

Lachend schlug Yeleb auf sein Knie und starrte zu mir herauf, als wartete er auf das Ende eines Scherzes. Nur langsam begriff der Soldat, dass der Tod nur noch einen Schnitt entfernt vor ihn stand.

„Du bist wahnsinnig. Du bist eindeutig wahnsinnig!“

Ja, wahnsinnig vor Durst.

Mit Bedacht setzte ich den Dolch an seine Kehle, schnitt in seine Haut und beobachtete wie die ersten Tropfen roten Blutes an dem Stahl hinunter rannen. Yeleb begann zu schwitzen und zu wimmern, aber das Rauschen seines Blutes übertönte diese Geräusche. Befriedigung umschloss mein Herz, und Wärme durchströmte meinen Bauch. Ich wollte mehr, viel mehr. Der Abgrund in meiner Brust klaffte weit auf, bereit, das flüssige Gold zu empfangen.

„Nein, bitte... Bitte nicht...“, keuchte Yeleb.

Er würde sein Leben aushauchen und dachte an all die Wünsche und Träume, die er noch erreichen wollte. Warum hatte er sich bloß betrunken, statt in den Armen seiner Frau zu liegen? Er dachte wohl so etwas wie: Das Leben war schön. Warum musste es jetzt enden, und warum musste ausgerechnet er sein Leben lassen? Hatte er nicht bereits genug erlitten? Der Krieg formte seinen Körper und seine Seele. Er wollte es nicht mehr. Er wollte nicht mehr kämpfen – er wünschte doch nur zu leben. Mit einer Frau, mit Kindern und einem Haus, das er mit eigenen Händen und Schweiß erbauen wollte.

Mein Blick folgte seinem zum Himmel und ich vernahm beim Anblick der Sterne flüsternd die Worte: „Bewahre dein Licht. Es unterscheidet dich von den Monstern, auf die du treffen wirst.“

Von allen Monstern war ich das blutrünstigste. Auch wenn ich mein Licht nicht verloren hatte, so würde ich doch immer nur das eine begehren und dafür töten. Wie konnte ich mich von den Bestien unterscheiden?

„Es ist das Verlangen, dem ich nicht standhalten kann. Dein Blut ist so köstlich, Yeleb. Es singt und wird auf meiner Zunge tanzen. Es schmeckt wie ein lieblicher Wein, von dem man niemals genug trinken kann. Dein Blut ist berauschend, stark und erfüllt mich so sehr. So entsetzlich das Brennen und das Verlangen sind, so unglaublich befriedigend und ausfüllend ist das Töten. Du bist nur einer von vielen Menschen, Yeleb.“

Die Menschen würden immer auf mein Mitleid hoffen, wenn ich ihnen zu sprechen erlaubte.

Der Soldat öffnete den Mund, um Flüche und Schreie auszustoßen, doch ich war es leid. Mit einer Handbewegung durchtrennte ich seine Kehle und genoss sein warmes Blut auf meinem kalten Gesicht.

Eine Woge tiefster Befriedigung erfasste mich, riss mich in roten Fluten fort an einen Ort, an dem ich nur Freude, Glück, und Freiheit verspürte. Der Höhenflug endete viel zu schnell und der Anblick von Yelebs Leiche rief Schuld in mir hervor.

Du wolltest keine Menschen töten, nur Monster, und nun sieh dir an, was du gemacht hast.

Die Anschuldigungen klangen wie von Ahm Fen gesprochen, aber es war meine eigene Stimme, die von oben herab schimpfte.

Es wird niemals enden. Ich kann nicht, kann nicht, kann nicht...

Blut verschmiert stahl ich ein Pferd und verließ im schnellen Galopp das Dorf. Dora wusste um die Gefahr. Sie würde die Dörfler warnen und mit viel Glück, retteten sie sich ins nächste Dorf. Wie viel Zeit blieb den Menschen? Nicht genug, fluchte ich, als ich die ersten Schreie der Drachen vernahm.

„Ein paar werden es schaffen“, murmelte ich und versuchte das schlechte Gewissen weg zu reden. Ohne Erfolg.

Mit meinen eigenen Dämonen im Rücken ritt ich im Schutze der Dunkelheit den kreischenden Drachen davon, hielt erst inne, als mich ihr Schatten nicht mehr verfolgte.

Unter den Sternen errichtete ich mein Lager, ruhte am Feuer und starrte bewegungslos in die Flammen. Wie sollte ich nur jemals wieder Schlaf finden? Die Gesichter meiner Blutopfer verfolgten mich, und es würden nicht die einzigen bleiben. Ich besaß nicht die Kraft, dem Verlangen zu widerstehen.

Mein Körper gehörte wieder mir allein. Keine Gedanken, die die meine störten und keine Stimme, die meine Taten lenkte. Ahm Fen war fort, und dennoch war ich ein bluttrinkendes Monster. Ich bin kein Mensch und kein Riese. Was war bloß?

Hinter meinem Rücken vernahm ich plötzlich ein Geräusch, und griff kampfbereit nach meinem Dolch. Es waren keine Menschen in der Nähe, denn nur der Geruch von Erde, Feuer und Holz lag in der Luft. Das nächste Dorf war meilenweit entfernt. Ich schritt zu der Stelle, an der ich das Rascheln vernahm, doch ich fand keine Spuren eines Lebewesens. Nun waren es schon Hirngespinste, die mir zusätzlich den Schlaf raubten.

Nachdenklich kehrte ich zu meinem Lager zurück und fragte mich, was mich als nächstes erwartete.

Die Ruhe hielt nur eine Weile an, denn im nächsten Moment huschte ein schwarzer Schatten an mir vorbei und blieb tänzelnd im Schein des Feuers vor mir stehen.

Ein Lächeln zierte meine Lippen, als ich den Eindringling erkannte.

„Ahm Fen ist fort und deine Aufgabe ist erfüllt.“

Sechs glänzende Augen betrachteten mich abschätzend, und insgeheim freute ich mich über unser Wiedersehen. Die Spinne gab mir ein unerklärliches Gefühl der Sicherheit. Ohne ihre Hilfe hätte ich im Lager der Soldaten nichts ausrichten können.

Die Spinne tänzelte weiterhin auf einer Stelle, ließ mich keinen Augenblick aus den Augen. Ich fürchtete mich nicht vor ihr, und ich konnte in ihren schwarzen Augen erkennen, dass auch sie mich nicht fürchtete.

„Du spürst dasselbe Verlangen, nicht wahr?“ Ich hob meinen Blick von den Flammen und sah, dass die Spinne unbemerkt mein Bein hinauf geklettert war, mich erwartungsvoll musterte. Unter ihrem schwarzen Haar glänzten ihre todbringenden Klauen.

„Willst du mich begleiten?“

Wir verstanden uns wortlos. Wer sollte mich auch sonst begleiten, wenn nicht ein weiteres Monster?

In Windeseile spannte die Spinne ein Netz zwischen zwei Bäumen, verharrte dort wartend auf frische Beute. Sie begnügte sich vorerst mit Insekten und anderen Spinnenarten, bis wir auf eine weitere Bestie treffen würden.

Nach langer Zeit fand ich den ersten erholsamen Schlaf und träumte von einem fernen Land bestehend aus weiten Sandteppichen, glühend heißer Sonne und dem Wunsch nach Freiheit.


Sternstunde

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