Читать книгу Mami Classic 45 – Familienroman - Susanne Svanberg - Страница 3

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Marlene wurde blaß. Fester preßte sie den Hörer des schnurlosen Telefons ans Ohr. Ihr hübsches Gesicht verzog sich, als hätte sie Schmerzen.

»Nein«, flüsterte sie entsetzt. Sie schüttelte den Kopf mit dem schulterlangen dunklen Haar. Der Blick ihrer schönen braunen Augen wurde verzweifelt. Angestrengt lauschte sie auf die Stimme aus dem Gerät.

Für einen Moment schloß Marlene die Augen, atmete schwer. Es war, als müßte sie Kraft schöpfen, um sprechen zu können.

»Ich komme selbstverständlich«, flüsterte sie bedrückt. »Wann? Ich fahre so bald wie möglich weg und kann morgen bei euch sein. Es tut mir ja so leid… so furchtbar leid.« Marlene preßte die Lippen aufeinander und schluckte mehrmals. Dabei rannen die Tränen über ihr jugendliches Gesicht. »Ja, bis morgen. Und danke, Arne, daß du mich informiert hast.« Gewohnheitsmä­ßig schaltete Marlene das Gerät ab und legte es auf den Früh­stücks­tisch. Sie wurde sich dieser Handlung gar nicht bewußt. Ihr Blick ging in die Ferne.

Die sanften Hügel der Toskana waren dort zu sehen, bepflanzt mit Reben und Olivenbäumen, unterbrochen von kleinen Eichenwäldern, vor denen lange Ketten uralter Zypressen standen. Dunkel hoben sie sich vom wolkenlosen blauen Himmel ab. Doch Marlene hatte keinen Blick für die liebliche Landschaft. Es waren ganz andere Bilder, die durch ihre Gedanken geisterten.

Celestino Piotta, ihr Ehemann, hatte sie aufmerksam beobachtet. Er war einundfünzig und damit genau zwanzig Jahre älter als Marlene. Seine ständig schwelende Eifersucht hatte vermutlich ihre Ursache in diesem Altersunterschied.

Heitere Gelassenheit vortäuschend, lehnte er sich im Rattansessel zurück. »Schlechte Nachrichten?« fragte er ironisch in seiner italienischen Muttersprache. Deutsch zu lernen, hatte er nie für nötig gehalten. Für ihn war es selbstverständlich, daß seine Frau die italienische Sprache beherrschte. Daß sie das gemeinsame Töchterchen Antonia zweisprachig erzog, nahm er hin, hielt es allerdings für Unsinn.

»Ist dein Freund in Schwierigkeiten?« fragte Celestino grinsend. Er gab sich keine Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen. »Sie müssen ernster Natur sein, sonst könntest du nicht so erschüttert aussehen. Bist so bleich, als wärst du dem Teufel begegnet.« Celestino rieb sich zufrieden die dicken Hände. Es ging ihm gut, das sah man an seinem runden, glänzenden Gesicht ebenso wie an den teueren Maßanzügen, die er trug.

Marlene atmete tief durch. Sie fühlte sich durch die Bemerkungen ihres Mannes oft gedemütigt. Heute prallten sie an ihr ab.

»Meine Schwester Iris ist gestorben. Es war Arne, der eben anrief.

»Arne? Auch einer deiner Liebhaber?«

»Arne ist mein Schwager, das weißt du doch«, seufzte Marlene geduldig. Längst hatte sie es aufgegeben, sich gegen ihren Mann aufzulehnen. Er war stärker, er hatte Macht und Geld. In seiner Heimat war er ein angesehener Mann. Ein Weingut und große Ländereien gehörten ihm, dar­überhinaus besaß er nach eigenen Angaben ein ansehnliches Aktiendepot. Sie dagegen war eine mittellose Ausländerin. Natürlich hätte sich Marlene von ihrem Mann trennen und in ihre Heimat zurückkehren können. Aber damit hätte sie ihr Kind verloren, und deshalb blieb sie, ertrug wehrlos Celestinos Sticheleien.

Der Italiener lachte spöttisch. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß er früher scharf auf dich war, dieser Arne? Daran hat sich bestimmt nichts geändert. Er will dich in eine Falle locken, das ist jedem klar, nur dir nicht. Du sagst natürlich sofort zu, weil…«

»Celestino, ich wiederhole: Meine Schwester ist in der vergangenen Nacht gestorben. Sie wird Anfang der nächsten Woche beerdigt.«

Antonia, sieben Jahre alt, vorlaut und altklug wie jedes verzogene Einzelkind, hörte der Unterhaltung schweigend zu. Das war kein Thema, das sie interessierte. Da beschäftigte sie sich schon lieber mit dem neuen Spielzeug, das ihr der Vater gestern von einer Reise mitgebracht hatte. Es war ein teueres elektronisches Spiel, eigentlich für Erwachsene gedacht. Doch Antonia, in solchen Dingen sehr geübt, beherrschte es bereits erstauntlich gut.

Celestino Piotta war entsprechend stolz auf das Töchterchen. Daß die Kleine nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern auch sehr begabt war, schmeichelte seinem Geltungsbedürfnis. Er verwöhnte Antonia mehr, als es ihrer Mutti lieb war. Kein Wunsch des kleinen Mädchens blieb unerfüllt. Auch jetzt beobachtete der stolze Vater selbstgefällig das Kind. Die schwarzen Locken, die glänzenden dunklen Augen und den sonnenbraunen Teint hatte Antonia von ihm. Aus ihr wurde bestimmt einmal eine Schönheit, die sich ihren Partner unter den reichsten Männern des Landes auswählen konnte. Alles, was er in Antonia investierte, war also gut angelegt.

»Dieser Arne hat gewußt, daß deine Schwester nicht alt wird. Jetzt streckt er die Fühler nach dir aus.« Unvermittelt wurde Celestino ernst und sah seine Frau warnend an.

Vielleicht hätte Marlene auf diese Anspielung anders reagiert, hätte sie nicht unter dem Schock der traurigen Nachricht gestanden. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Marlene den Gedanken vielleicht weitergesponnen, denn für Arne hegte sie Gefühle, die noch immer lebendig waren, obwohl sie seit fast acht Jahren mit Celestino verheiratet war und die eheliche Treue nie gebrochen hatte. Arne war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Doch daran wollte sie sich jetzt nicht erinnern.

»Höre bitte mit dem Unsinn auf«, fuhr sie ihren Mann ungewohnt heftig an.

Für Celestino war dies die Aufforderung, seinen Vermutungen weitere hinzuzufügen. »Vermutlich hast du von den dunkelhaarigen, heißblütigen Italienern genug. Ein kühler Blonder aus dem Norden wäre doch ’ne nette Abwechslung.

Marlene überging die höhnische Äußerung. »Ich richte ein paar Sachen und fahre gleich.«

»Du hast noch nicht gefrühstückt.« Celestino wies auf das unberührte Frühstücksgedeck.

»Entschuldige, ich kann nicht. Der Schreck…«

Piotta verzog das feiste Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen.

»Sagen wir lieber… die Vorfreude. Das kommt den Tatsachen schon näher. Sag mal, hast du keinerlei Hemmungen, Mann und Kind alleinzulassen?«

Marlene seufzte. »Ich war seit fast acht Jahren nicht mehr in meiner Heimat, habe Iris nie wiedergesehen. Und nun soll ich nicht einmal zu ihrer Beerdigung?«

»Wer sagt das? Allerdings mußt du damit rechnen, daß ich auch meine eigenen Wege gehe.« Celestino schmunzelte selbstgefällig.

Schweigend stand Marlene auf. Schon im ersten Jahr ihrer Ehe hatte Piotta eine Freundin gehabt, mit der er seine Freizeit verbrachte. Er richtete der jungen Dame in Mailand eine teure Wohnung ein und bedachte sie mit vielen Geschenken. Weitere Mätressen folgten. Marlene erfuhr durch die Zeitung davon oder auch durch unachtsame Bemerkungen des Personals. Schon seit Jahren bestand ihre Ehe nur noch auf dem Papier, und sie wären sicher längst nicht mehr beisammen gewesen, hätte es die kleine Antonia nicht gegeben. Nie und nimmer hätte ihr Celestino das Kind überlassen. Was blieb Marlene da übrig, als seine Launen zu ertragen.

»Mama, darf ich mitkommen?« In Gegenwart des Vaters sprach Antonia italienisch. Deutsch redete sie nur, wenn sie mit Marlene allein war. Beides beherrschte sie fehlerfrei.

»Es ist kein erfreulicher Anlaß, sonst würde ich dich gerne mitnehmen. Du könntest deine Kusine Lea kennenlernen. Sie ist nur zwei Monate jünger als du.«

»Wie sieht sie aus? Hübscher als ich?«

»Ich werde dir ein Foto mitbringen.«

»Vergiß es, principessa!« Celestino neigte sich herüber, legte seinen Arm um das kleine Mäd­chen. »Sie kann gar nicht hübscher sein, weil du ja die Schönste bist, Antonia.« So klangvoll wie der Vater konnte niemand Antonias Namen aussprechen. Strahlend sah die Kleine zu ihm auf. »Du bleibst hier, und wir machen uns ein paar schöne Tage. Na, wie findest du das?« Herausfordernd sah Celestino das Töchterchen an.

Sie ließ das neue Spiel im Stich, sprang auf und umarmte den Dicken.

*

Es war ein ganz normales Reihenhaus, das Arne Nielson in einem Hamburger Stadtteil bewohnte. Verglichen mit dem Domizil der Piottas in der Toskana war es ein recht bescheidener Wohnsitz. Dabei verdiente Arne als Schiffsingenieur an einer Hamburger Werft sehr gut. Den größten Teil der Einnahmen verschlang bisher Iris’ Krankheit. In der Hoffnung, daß man ihr helfen konnte, hatte Arne seine Frau zu den besten Ärzten in Amerika, Japan und China geschickt. Immer wieder war das Schlimmste so hinausgezögert worden. Wirklich helfen konnte ihr allerdings niemand.

Marlene parkte ihren Wagen am Straßenrand, ging langsam durch den bescheidenen Vorgarten. Sie hatte Herzklopfen, als sie auf den Klingelknopf drückte.

Nach so vielen Jahren würde sie den Mann wiedersehen, den sie geliebt hatte wie keinen anderen. Sie war sehr enttäuscht gewesen, als er ihre Schwester heiratete.

Iris war ein Jahr älter als sie, und sie hatten sich immer gut verstanden, hatten eine glückliche Kindheit verlebt. Die ersten Symptome der Krankheit zeigten sich, als Iris 22 war. Natürlich galt die Sorge der Eltern fortan in erster Linie ihr. Marlene hatte Verständnis dafür, war auch gerne damit einverstanden, Knochenmark für ihre Schwester zu spenden. Alle waren sehr erleichtert, als sich daraufhin der Zustand der Kranken verbesserte, als sie wieder ein normales Leben führen konnte.

An der Uni hatte Marlene Arne kennengelernt und mit nach Hause gebracht. Mit Iris zusammen verbrachten sie manchen fröhlichen Abend, unternahmen gemeinsame Ausflüge.

Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Marlene nahm mit großer Selbstverständlichkeit an, daß Arnes Interesse ihr galt, daß er sich nur aus Höflichkeit auch mit ihrer Schwester befaßte. Sie träumte von einer gemeinsamen Zukunft.

Um so mehr war sie enttäuscht darüber, als Arne und Iris ihre Verlobung bekanntgaben. Marlene fühlte sich hintergangen und verließ verbittert ihre Familie.

Bei einem Urlaub in Italien lernte sie Celestino Piotta kennen. Er hatte sich gerade von seiner zweiten Frau scheiden lassen und war sofort begeistert von Marlene.

Der wesentlich ältere Mann war ihr gleichgültig, und doch nahm sie seinen Heiratsantrag an, denn Piotta bot ihr nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch eine beachtliche gesellschaftliche Stellung und die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens. Nachdem Arne Nielsen für sie unerreichbar geworden war, versprach sie sich von einer Partnerschaft ohnehin nichts mehr. Es war ihr egal, wo sie künftig lebte. Eine Einstellung, die sie später sehr bereuen sollte.

Nach außen hin war alles in Ordnung. Jeder glaubte, daß Marlene das große Glück gefunden hätte, und sie gab sich auch zufrieden und glücklich. Niemand ahnte, wie sehr sie litt, am wenigsten Celestino, der keiner Frau treu sein konnte.

Marlene hatte Arne nie wiedergesehen, vergessen hatte sie ihn allerdings nicht.

Es dauerte einige Minuten, bis geöffnet wurde. Dann stand Marlene nicht ihrem Exfreund, sondern einem kleinen Mädchen gegenüber. Zierlich, schmal und blond war die Kleine und sah mit großen blauen Augen zu Marlene auf. Augen, wie Arne sie hatte. Marlene verspürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Wie oft hatte sie davon geträumt, daß ihr Kind so aussehen würde. Zwei blonde Schaukelzöpfchen baumelten zu beiden Seiten des schmalen Gesichtchens und gaben ihm einen unwiderstehlichen Reiz.

»Du bist Lea, nicht wahr?« fragte Marlene befangen. »Ich bin deine Tante, die Schwester deiner Mutti.«

Verunsichert sah sich das Kind um. »Papa!« rief es ein wenig ängstlich durch den Flur. Lea hatte in ihrem jungen Leben schon viel Schweres erfahren, war viel zu ernst für ihr Alter. Die Krankheit der Mutter hatte sie ebenso belastet wie den Vater. Das ständige Hoffen und Bangen und schließlich der unabwendbare Tod hatten Leas kindliche Fröhlichkeit unterdrückt, ließen die jugendliche Unbekümmertheit gar nicht aufkommen. Lea war reifer und erfahrener als andere Kinder ihres Alters. Zu früh hatte sie die harte Wirklichkeit des Lebens kennengelernt. Sie hatte auch gelernt, sich an­zupassen, abzufinden, das Schick­sal als vorgegeben hinzunehmen.

Ein Mann erschien, hochgewachsen, sportlich schlank mit einem kantig wirkenden und dennoch hübschen Gesicht und Augen, die überhaupt nicht dazu paßen. Sie waren sanft und erinnerten in ihrem reinen Blau an einen Bergsee. Tief, still, geheimnisvoll.

»Marlene!« Mit ausgestreckten Händen ging Arne auf die Schwägerin zu. Er begrüßte sie mit einem Lächeln, das echte Freude verriet. Seine für einen Mann so ungewöhnlich blauen Augen strahl­ten. »Wie schön, daß du gekommen bist. Du siehst gut aus, noch besser als früher.«

Der letzte Satz war ein laut geäußerter Gedanke und deshalb für Arne etwas peinlich. Eine leichte Röte überflog seine bleichen Wangen. Arne erinnerte sich flüchtig an früher, an die glückliche Zeit des Studiums. Nein, er hatte nichts vergessen, aber er hatte es vermieden, an Marlene zu denken. In den vergangenen zwei Jahren hatte die Sorge um seine Frau all sein Denken beherrscht. Daneben war für nichts anderes Platz gewesen. Es war, als hätte er auf dem Mond gelebt und müßte sich jetzt wieder auf der Erde zurechtfinden. Es war fast etwas peinlich für ihn.

»Arne, ich wußte nicht, daß es Iris wieder schlechter ging. Sonst wäre ich viel früher gekommen«, erklärte Marlene etwas schuldbewußt. Sie hatte die Sonnenbrille, die sie beim Fahren zum Schutz gegen die blendenden Strahlen der untergehenden Sonne getragen hatte, ins Haar geschoben und sah so jung und lebensfroh aus, trotz der Trauerkleidung.

Für wenige Augenblicke vergaßen die Erwachsenen das Kind, das zwischen ihnen stand und verwundert hochschaute. Lea spürte die Vertrautheit zwischen den beiden Menschen, und das war erstaunlich für sie. Seit Iris’ Krankheit wieder aufgeflackert war, hatten die Nielsons alle Kontakte zu Freunden und Bekannten abgebrochen und lebten ganz zurückgezogen.

Der Vati mochte also die fremde Tante, und Lea beschloß, sie auch zu mögen. Sie hatte sofort bemerkt, daß diese Frau eine sehr liebe, verständnisvolle Art hatte.

»Bitte, komm herein«, forderte Arne den Besuch auf. Er führte Marlene ins geräumige Wohnzimmer, in dem viele Handarbeiten an Iris erinnerten. Arne bat die Schwägerin, auf der Couch Platz zu nehmen und setzte sich ihr gegenüber, etwas steif und unbeholfen. »Iris wollte nicht, daß jemand von ihrer Krankheit erfährt, auch du nicht. Sie hoffte bis zuletzt, daß sie wieder gesund werden würde. Aber leider…« Traurig zuckte Arne die Achseln.

»Und ich dachte immer, sie hätte die Krankheit überwunden.« Marlene war aufgewühlt und nervös, sie hatte Mühe, ihre Hände stillzuhalten.

»Wir haben das auch gedacht, und als Lea zur Welt kam, war das auch die Meinung der Ärzte. Iris wollte ein ganz normales Leben führen. Fast sechs Jahre lang hat sie es geschafft.«

Es war die Liebe, die ihr diese Kraft gab, dachte Marlene ohne Neid. Daß Iris in Arne verliebt war, wußte sie schon damals, als sie an derselben Uni studierten. Allerdings hätte sie nie geglaubt, daß die Schwester so unfair sein würde, ihr den Freund zu nehmen.

»Die Ärzte hielten es für ein Wunder«, erzählte Arne, und es war, als führte er ein Selbstgespräch. »Doch was dann kam, war die Hölle, das darfst du mir glauben. Ohnmächtig zusehen zu müssen, wie der Partner von Tag zu Tag schwächer wurde, das würde ich auch meinem schlimmsten Feind nicht wünschen. Für viel Geld gab es dazwischen immer wieder Hoffnung, aber letzten Endes doch nur Enttäuschungen.« Arne ließ den Kopf hängen, wirkte jetzt viel älter, als er mit seinen 34 Jahren war.

Lea drängte sich an seine Seite und schmiegte das Köpfchen an die Schulter des Vaters.

Marlene ahnte, daß dieses Kind mehr Trost geben mußte, als es selbst erfuhr. Sie war bewundernswert tapfer, die kleine Lea. Ein Kind, das man gern haben mußte.

»Ich weiß, wie schwer das alles für euch war. Immerhin hat Iris zehn Jahre länger gelebt, als die Ärzte vorausgesagt haben. Ich glaube, das ist ein Grund zur Dankbarkeit, nicht zur Verzweiflung. Sie möchte euch bestimmt nicht traurig sehen.«

Arne nickte und legte dabei den Arm um sein Töchterchen. »Ich möchte so gerne Abstand gewinnen, aber hier kann ich das nicht. Am liebsten würde ich in meine Heimat zurückkehren, wo mich nichts an Iris erinnert. Aber was sollte aus Lea werden? Ich müßte mir in Schweden zunächst eine Existenz aufbauen. Es wird einige Monate dauern, ehe ich sie nachkommen lassen kann.«

»Lea kann vorübergehend bei mir bleiben, kann mit Antonia zusammen die deutsche Schule besuchen und nebenbei ihre Sprachkenntnisse in schwedisch vervollständigen.«

»Echt?« fragte Arne verblüfft. Was die Schwägerin da sagte, hörte sich unwahrscheinlich gut an.

»Selbstverständlich. Lea soll es gut bei uns haben.«

»Daran zweifle ich nicht. Aber was wird dein Mann dazu sagen? Er hat mich nie gemocht.«

»Celestino ist nur selten zu Hause. Er wird Lea kaum bemerken. Außerdem wird er froh sein, wenn Antonia eine Spielkameradin hat.«

»Das wäre wirklich eine gute Lösung«, antwortete Arne nachdenklich. Es war ihm aufgefallen, daß Marlene bedrückt wirkte, wenn sie von ihrem Mann sprach. Die Ehe schien nicht glücklich zu sein. Der Gedanke beunruhigte ihn, denn all die Jahre war er der Ansicht gewesen, daß Marlene so etwas wie das große Los gezogen hatte. Ihr Mann war reich, sie lebten in einem der schönsten Landstriche Europas, hatten ein gesundes Kind und keine Sorgen. War dieses Glück denn nicht perfekt?

Arne fühlte sich schuldig. Das Wiedersehen mit Marlene hatte Erinnerungen aufgewühlt, die er gerne vergessen wollte. Es war alles so anders gekommen, als er es damals geplant hatte. Waren seine Entscheidungen falsch gewesen? Arne fühlte sich innerlich zerrissen, verunsichert wie ein Versager. Er war mit den Nerven am Ende, brauchte dringend Abstand, um wieder neue Kraft zu schöpfen. Das würde ihm nur in seiner Heimat gelingen, denn nur dort würde er Ruhe finden.

»Lea und Antonia werden sich bestimmt gut vertragen«, vermutete Marlene und freute sich darauf, die beiden Mädchen zusammenzubringen.

»Ich werde voraussichtlich ein bis zwei Monate brauchen, um einen Job zu finden, eine Wohnung zu mieten und einzurichten. Dann kann ich Lea wieder zu mir nehmen. Wenn sie in der Zwischenzeit bei euch bleiben könnte, wäre ich dir sehr dankbar, Marlene.« Schuldbewußt sah Arne die schöne Schwägerin an. Nur zu gut erinnerte er sich daran, daß er ihre Erwartungen seinerzeit schmählich enttäuscht hatte.

Lea verfolgte das Gespräch der Erwachsenen mit großen Augen. Sie hatte Angst vor der Veränderung, aber sie war viel zu vernünftig, um sich zu widersetzen. Wenn es der Wunsch ihres Vaters war, daß sie mit Tante Marlene ging, dann wollte ihm Lea keine Schwierigkeiten machen. Er hatte es in den vergangenen Wochen so schwer gehabt, hatte so viele Opfer gebracht. Jetzt war die Reihe an ihr.

»Magst du, Lea?« fragte Arne und zog das Töchterchen eng an sich. Das blonde Mädchen nickte.

*

Am Tag nach der Beerdigung fuhr Marlene mit ihrer Nichte in die Toskana zurück. Viel Gepäck hatte die Kleine nicht, nur ein paar Kleidungsstücke und den geliebten Teddy. Ihn drückte Lea an sich, als sie vom Rücksitz aus dem Vati ein letztes Mal zuwinkte.

»Bis bald!« rief er und hatte dabei Tränen in den Augen.

Auch Lea weinte still, sprach die ganze Fahrt über mit der Tante kaum ein Wort. Erst bei der Übernachtung in einem süddeutschen Hotel kamen sie sich näher.

Marlene gab sich Mühe, die Nichte etwas abzulenken. Sie erzählte ihr von Antonia und dem Haus in der Toskana. So ganz war Marlene allerdings auch nicht bei der Sache, denn die Begegnung mit Arne hatte alte Wunden aufgerissen, so viele Erinnerungen geweckt. Am nächsten Tag nahmen sie die Autobahn, kamen gut voran und überwanden ohne Stau den Apennin-Paß, erreichten die liebliche Toskana mit ihrer unverwechselbaren Atmosphäre. So manches alte Bauerngehöft aus rotem Backstein lag verlassen auf einem Hügel und wirkte wie ein verwunschenes Schloß, das nur darauf wartete, aus seinem Dornröschenschlaf erweckt zu werden. Kleine weiße Schafe weideten auf grünen Hängen oder dösten unter uralten Olivenbäumen. Das ganze Land strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus.

Selbst Lea empfand die Schönheit der Toskana, freute sich über plätschernde Bäche und die bunten Blumen, die am Ufer blühten.

Als sie auf die Privatstraße einbogen, die zur Villa Piotta führte, wurde Lea still und nachdenklich. Die Allee führte direkt auf ein großes schmiedeeisernes Tor zu, hinter dem es einen weitläufigen Park mit Wasserspielen und weiten Rasenflächen gab. Der langgezogene helle Bau wirkte wie ein Schloß mit einer breiten Treppe als Aufgang und einem mächtigen Portal. Ein teures Auto stand davor, der Chauffeur in Uniform wischte das letzte Stäubchen vom Lack. Lea staunte mit offenem Mund.

»Gehört das alles dir?« piepste das kleine Mädchen ehrfürchtig.

»Nein, es gehört meinem Mann, deinem Onkel Celestino«, antwortete Marlene ohne Bedauern.

In diesem Moment öffnete sich die schwere Eichentür. Ein Mäd­chen rannte die Treppe herunter, weiß gekleidet, die schwarzen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die braunen Beine steckten in weißen Sportschuhen einer Marke, die überall bekannt und so teuer war, daß ein einziges Paar mehr wert war als Leas gesamte Kleidung.

»Mama!« rief Antonia in typisch-italienischem Tonfall und stürmte zu dem gerade anhaltenden Auto. Dann stoppte sie abrupt, zog das hübsche Näschen kraus. »Wen hast du denn da aufgelesen?« fragte sie verächtlich.

Marlene war froh, daß sie sich dabei der italienischen Sprache bediente, die Lea nicht verstand. »Antonia!« mahnte Marlene streng. »Das ist deine Kusine Lea«, machte sie die beiden Kinder miteinander bekannt.

Etwas steif kletterte Lea aus dem Fond und reichte Antonia freundlich die Hand.

»Spielst du Tennis?« fragte sie mit anerkennendem Blick auf Antonias Kleidung.

»Du etwa nicht? Das gehört doch zum guten Ton.« Antonia reckte selbstbewußt das Köpfchen. Sie entdeckte den Teddy, den Lea liebevoll an sich drückte.

»Was hast du denn da für ein ekliges Stofftier?«

»Das ist mein Teddy«, antwortete Lea arglos. »Den haben mir meine Eltern geschenkt, als ich zwei Jahre alt war.«

»Sag bloß, du spielst noch mit Puppen.« Aus dem Mund einer Siebenjährigen hörte sich das nicht nur überheblich, sondern geradezu abstoßend an.

So jedenfalls empfand es Marlene. Sie schob sich rasch zwischen die beiden Kinder und nahm das eine rechts, das andere links an der Hand. »Kommt, gehen wir ins Haus.«

Während Lea sofort dazu bereit war, sträubte sich Antonia. »Ich wollte gerade mit Papa in den Club. Schau, da kommt er schon.« Tatsächlich stolzierte der korpulente Hausherr in diesem Moment stolz die Stufen herab.

Bevor Marlene Gelegenheit hatte, ihr Töchterchen zu fragen, ob es nicht lieber mit Lea spielen wollte, war Piottas unangenehme Stimme zu hören.

»Na, bist du auf deine Kosten gekommen, Marlene?« rief er herüber. »Man sagt den Nordländern und besonders den Schweden nach, daß sie im Bett ziemlich temperamentvoll sein sollen. Aber das trifft wohl doch eher auf die Damen zu.« Celestino lachte mek­kernd.

»Ich komme von der Beerdigung meiner Schwester«, erinnerte Marlene peinlich berührt. In diesem Moment war sie froh, daß ihr Mann nur Italienisch sprach. Lea konnte seine häßlichen Äußerungen also nicht verstehen.

Der feindselige Ton entging ihr trotzdem nicht. Betroffen sah sie auf den Onkel, der sich vom Chauffeur die Autotür öffnen ließ. Ihre Eltern hatten ein gutes, liebevolles Verhältnis zueinander. Daß es auch anders sein konnte, erfuhr Lea zum ersten Mal.

»Arrivederci, mamma«, rief Antonia. Sie hatte sich losgerissen und ließ sich nun ebenfalls beim Einsteigen helfen. Hoheitsvoll wie eine Fürstin winkte sie mit den Fingerspitzen.

Marlene hatte sich die Einführung der kleinen Nichte etwas anders vorgestellt. Sie war nicht nur enttäuscht, sie war schockiert, fühlte sich hilflos.

Ihr Mann beeinflußte Antonia immer mehr, machte sie zu einem arroganten Mädchen, das durch seine Überheblichkeit abstoßend wirkte. Nie und nimmer würde er diesen Fehler einsehen. Es hatte überhaupt keinen Sinn, ihn daraufhin anszusprechen.

Nicht nur Lea, auch Marlene fühlte sich in der Casa Piotta als Fremde, durfte es aber niemand merken lassen.

»Jetzt zeige ich dir dein Zimmer, dann rufen wir deinen Papa an und sagen ihm, daß wir gut angekommen sind«, schlug Marlene gespielt munter vor.

Lea ging folgsam an der Hand der Tante die Treppe hinauf. »Kann ich… darf ich denn nicht bei Antonia schlafen?« erkundigte sie sich dabei schüchtern. »Wir könnten dann abends noch miteinander reden, und keine von uns wäre so allein. Als die Mami sehr krank war, hab ich bei meiner Schulfreundin geschlafen. Das war ganz lustig.« Vertrauensvoll sah Lea hoch.

Marlene lächelte wehmütig. »Dein Vorschlag ist gut, aber ich glaube, er läßt sich nicht durchführen. Antonia war immer nur mit Erwachsenen zusammen, sie muß sich an ein Kind erst gewöhnen. Wir müssen Geduld mit ihr haben. Doch auch wenn du alleine schläfst, Lea, brauchst du dich nicht zu fürchten. Mein Zimmer ist gleich nebenan, und es gibt eine Verbindungstür, die immer offen ist.«

Lea nickte erleichtert. »Das ist gut«, meinte sie versöhnlich.

Immer wieder zeigte sich, daß dieses Kind keinerlei Ansprüche stellte, mit allem zufrieden war.

Marlene zeigte Lea das Zimmer, das früher von Antonias Kindermädchen bewohnt wurde. Inzwischen wollte Antonia keine Betreuung mehr. Sie fühlte sich schon zu erwachsen.

»Hier schläfst du, und wenn du magst, kannst du zu mir herüberkommen.« Marlene öffnete die Verbindungstür und wies in den angrenzenden Raum. »Das war früher das Kinderzimmer. Weil Antonia jetzt mehr Platz braucht, haben wir getauscht.«

Lea war beeindruckt, konnte ihre Verblüffung aber nicht in Worte fassen. Hier war alles viel größer und schöner, als sie es gewohnt war. Das verwirrte sie.

»Schau, da ist auch ein Telefon. Du kannst von hier aus jederzeit deinen Vater anrufen. Die Nummer hat er dir ja aufgeschrieben.«

»Und ich darf wirklich ganz allein…?« fragte das blonde Mäd­chen überwältigt.

»Du sollst dich wohl fühlen bei uns, Lea.« Liebevoll strich Marlene der Nichte übers Haar. Ein Kind wie Lea hatte sie sich immer gewünscht: kindlich, sanft und anhänglich. Antonia war genau das Gegenteil.

Dankbar sah Lea zu ihrer Tante auf. »Du bist so lieb zu mir«, sagte sie leise und schmiegte sich schutzsuchend an Marlene. »Danke für alles. Ich bin froh, daß ich hier sein darf.« Liebebedürftig schmiegte sich Lea an die junge Frau, fühlte sich festgehalten und tröstlich gestreichelt.

*

»Sie ist doch nicht hübscher!« stellte Antonia beim Frühstück erbarmungslos fest. Kritisch musterte sie dabei die etwa gleichaltrige Kusine. »Sie hat noch Milchzähne und eine Babyfrisur. Außerdem trägt sie schäbige Kleider. So kann sie nicht mit mir in die Schule gehen. Ich muß mich ja schämen, wenn die anderen erfahren, daß ich verwandt mit ihr bin. Dieses scheußliche T-Shirt ist doch aus dem Warenhaus und noch dazu von der billigsten Sorte. Die Jeans haben nicht einmal einen Markenaufdruck. Das kann man doch nicht tragen.« Hochmütig schüttelte Antonia den Kopf mit den glänzenden schwarzen Locken.

»Antonia, bitte, das sind doch Nebensächlichkeiten«, ermahnte Marlene ihre Tochter. Normalerweise machte sich eine Siebenjährige über solche Dinge bestimmt keine Gedanken. Doch Antonia kam im Club mit vielen älteren Mädchen zusammen, versuchte ihnen nachzueifern und beschäftigte sich deshalb mit solchen Dingen. Marlene war froh, daß ihr Mann noch schlief, denn er hätte das Töchterchen bestimmt unterstützt.

Lea sah verständnisvoll auf ihre Kusine. Sie fand, daß Antonia wunderschön aussah, beneidete sie aber nicht. »Meine Eltern haben kein Geld für teure Kleider«, antwortete sie bescheiden und biß mit gutem Appetit in ein knuspriges Croissant. Am Abend zuvor war Lea durch die lange Autofahrt zum Essen viel zu müde gewesen. Jetzt holte sie das versäumte Abendessen nach.

»Kein Geld?« erkundigte sich Antonia amüsiert. »Dann muß dein Vater ein Versager sein.« Hochmütig sah sie auf Lea.

Jetzt wurde die Kusine lebhaft. »Nein, das ist er nicht«, verteidigte sie Arne empört. »Es ist, weil meine Mutti so viele teure Medikamente gebraucht hat und eine Pflegerin und Ärzte, die der Papa hat bezahlen müssen.«

»Ph, das kann doch nicht wahr sein, daß man deswegen keine ordentlichen Jeans kaufen kann.«

»Meine Jeans sind ordentlich«, behauptete Lea ohne Aggression. Sie nahm Antonia ihre häßlichen Äußerungen nicht übel, denn sie hatte ja recht, sie besaß tatsächlich die hübscheren Sachen. Doch Lea war nicht neidisch.

Marlene war ärgerlich auf ihre kleine Tochter, verzichtete aber darauf, sie zurechtzuweisen, denn damit hätte sie nur Antonias Trotz herausgefordert und die Sache noch verschlimmert. Also versuchte sie, die Kinder abzulenken.

»Heute ist ja schulfrei, da könnten wir Lea das Meer zeigen. Sie hat es noch nie gesehen, und von hier aus ist es ja nicht sehr weit.« Freundlich sah Marlene die Kinder an.

»Das wäre schön«, freute sich Lea, während das Gesichtchen ihrer Kusine Antonia finster wurde.

»Mann, das ist doch langweilig«, protestierte sie. »Am Meer war ich schon so oft. Ich fahre lieber mit Papa. Er bekommt heute seinen neuen Ferrari. Das ist ein Geschoß, sagt er, der hängt alle ab. Wir fahren zu dem neuen Golfplatz. Der gehört auch meinem Vater. Zur Eröffnung hat er lauter ganz reiche Leute eingeladen. Könige und Prinzen und so.« Die Prahlerei galt Lea, die davon allerdings nicht beeindruckt war.

Sie konnte sich unter einem Golfplatz nichts vorstellen, da ihre Eltern solche Einrichtungen nicht nutzen konnten. Dagegen hatte Arne oft vom Meer erzählt, das dort, wo er aufgewachsen war, sehr stürmisch war.

»Möchtest du es dir nicht überlegen, Antonia? Der Ausflug wird bestimmt viel lustiger, wenn ihr zu zweit seid. Ihr könnt eine Sandburg bauen, vielleicht auch baden.«

»Mama, ich bin doch kein Baby mehr«, kritisierte Antonia vorwurfsvoll. »Sandburgen bauen die Touries. Und das Salzwasser mag ich sowieso nicht. Da schwimme ich doch lieber in unserem Pool.« Antonia sah hinüber zu dem Sportbecken, dessen Wasser türkisfarben in der Sonne glänzte.

»Ich kann noch nicht schwimmen. Zeigst du es mir?« bat Lea verlegen. Aufgrund der Krankheit der Mutter hatte die Familie nie ein Schwimmbad besucht.

Antonia lachte schadenfroh. »Du kannst nicht Tennis spielen, nicht reiten, verstehst nichts von Golf, nicht einmal schwimmen kannst du. Was hat dir denn dein Papa beigebracht? Kannst du wenigstens einen Computer bedienen?«

Lea schüttelte langsam den Kopf. Sie mochte nicht erklären, daß ihre Eltern für all diese Dinge weder Zeit noch Geld hatten.

»Mann, bist du aber blöd«, schnaubte Antonia, ohne sich der Kränkung, die sie der Kusine zufügte, bewußt zu werden.

Marlene empfand sie um so mehr. Die Nichte tat ihr leid. Nach all den schlimmen Erlebnissen in ihrem Elternhaus mußte sie jetzt auch noch Antonias verletzende Sprüche hinnehmen.

»Bitte, sag so etwas nicht«, wandte sich Marlene an ihr Töchterchen.

Antonias schwarze Augen funkelten sie zornig an. »Wenn es doch wahr ist. Überhaupt will ich nicht, daß sie bei uns bleibt. Sie hat hier nichts zu suchen!« Antonia bemerkte wohl selbst, daß sie damit zu weit gegangen war. Sie warf das Brötchen, das sie in der Hand hielt, auf den Teller, sprang auf und stürmte ins Haus.

Marlene wußte, daß sie zu ihrem Vater laufen würde, um sich zu beschweren. Sie hielt Antonia nicht zurück.

Liebevoll wandte sie sich der kleinen Lea zu, der der Appetit nun ebenfalls vergangen war. »Warum ist sie so böse?« fragte sie traurig.

»Antonia meint es nicht so«, versuchte Marlene die Nichte zu trösten. »Sie wird von ihrem Vater sehr verwöhnt und befürchtet jetzt, mit dir teilen zu müssen.«

Lea schnupfte unglücklich. »Ich will ja gar nichts von ihren vielen Spielsachen und ihren schönen Kleidern. Antonia hat mir ihre Schränke gezeigt. Ich glaube, so viele Sachen hat nicht einmal ein Filmstar. Ich habe auch den großen Fernseher gesehen, der in ihrem Zimmer steht, das Videogerät und die Stereoanlage, den Computer und die CDs. Sie hat einen Roboter, der richtig laufen und sprechen kann. Die ferngesteuerten Puppen und Autos mag sie gar nicht mehr, hat sie gesagt. Warum ist sie nicht zufrieden?« Lea sah ihre Tante groß an.

»Vielleicht kannst du mir helfen, Antonia zu ändern. Allein habe ich es nicht geschafft.« Marlene lächelte das Kind gewinnend an.

»Hm, wenn ich kann.« Lea schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Soll ich ihr nachlaufen?« Lea machte Anstalten, vom Stuhl zu rutschen.

Marlene hielt sie zurück. »Warte, Antonia kommt bestimmt gleich wieder.«

In dieser Hinsicht sollte Marlene recht behalten.

»Wollen wir zum Spielplatz?« fragte sie so harmlos, als wäre nichts vorgefallen.

»Gern.« Lea war sofort bereit. »Ist das weit?« fragte sie, neben Antonia herlaufend.

»Nein. Es ist gleich neben dem Schwimmbecken.«

»Du hast einen richtigen Spielplatz, ganz für dich allein?« staunte Lea, die an eine öffentliche Einrichtung gedacht hatte. »Das ist super. Schaukeln, Rutsche, Wippe, alles da.«

»Hast du das nicht?« erkundigte sich Antonia herausfordernd.

»Nein. Dafür wäre ich unserem Garten kein Platz. Er ist nur ganz klein.«

Antonia stemmte die Arme in die Seite, beugte sich etwas vor.

»Sag’ mal, was hast du überhaupt?«

Lea brauchte nicht nachzudenken. »Meinen Teddy und einen Hamster. Er heißt Hansi und ist ganz süß.«

Antonia zog die gerundete Kinderstirn in tiefe Falten. »Iiih, so was Ekliges.«

»Gar nicht. Den Hansi kann ich lieb haben. Das kannst du mit deinem Computer nicht.« Sehnsüchtig dachte Lea an ihr kleines Haus­tier, das vorübergehend von ihrer Schulfreundin versorgt wurde. Bei ihr hatte es Hansi gut.

Leas Argument machte Antonia für einen Augenblick nachdenklich.

»Ph«, kam es dann hochmütig über ihre Lippen. »Wenn ich will, kauft mir mein Papa jedes Tier. Einen Hund oder einen Elefanten, ganz gleich. Ein Pferd habe ich schon, aber das steht im Reiterhof, und der gehört auch meinem Papa.«

Sie waren beim Spielplatz angekommen, und Lea stürmte sofort zur Kletterwand. Die zierliche Lea war in dieser Hinsicht sehr geschickt. Das Klettern war ihre große Leidenschaft.

Erstaunt sah Antonia zu, wie leicht die Kusine die steile Wand erklomm. Antonia selbst war in dieser Sportart nicht so geübt. Das stachelte ihren Ehrgeiz an.

*

Celestino kam aus dem hauseigenen Fitneßstudio. Ein tüchtiger Masseur hatte ihn dort durchgeknetet und dafür gesorgt, daß

die altersbedingten Verspannungen ver­schwanden. Schließlich wollte Piotta so fit und beweglich sein wie ein Zwanzigjähriger. An der Erfüllung dieses Wunschtraums hinderte ihn allerdings sein Gewicht.

Piotta war ein Freund der guten Küche, verachtete weder den Chianti noch die hochprozentigen Schnäpse der Region, und das sah man ihm an.

Mit forschen Schritten kam er im Bademantel zur Terrasse, wo das Hausmädchen eben die benutzten Gedecke abräumte. Celestino gab ihr, seinen Gewohnheiten gemäß, einen kleinen Klaps auf den verlängerten Rücken. Daß seine Frau dies beobachtete, störte ihn nicht. Er empfand auch nicht die Peinlichkeit, die das Hausmädchen erröten ließ. Die junge Frau hatte nicht den Mut, sich gegen die Zudringlichkeit zu wehren, denn sie brauchte das Geld, das sie bei Piotta verdiente.

Marlene sah beschämt zur Seite. Längst begrüßte ihr Mann sie nicht mehr wie früher mit einem flüchtigen Kuß, sondern nur mit einem brummigen »Buon giorno.«

Mami Classic 45 – Familienroman

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