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Einführung

Ein alter Irrtum namens Lexikon

Kommt ein Wort in den Kopf. Der Bibliothekar, ein alter Mann mit rutschender Brille auf der Nase und einem weiten dunklen Samtmantel, schlurft zum Lexikon. Das Lexikon ist riesig und sehr, sehr alt, der Ledereinband verschlissen. Mühsam wuchtet der Alte das Lexikon auf den Tisch seiner Studierstube und schlägt ächzend den dicken Folioband auf. Die Buchseiten sind ehrenvoll krakeliert. Der Bibliothekar hustet. Der Staub wirbelt in alle Richtungen. „Das Wort ... Moment ... das Wort ... Das Wort heißt ‚Wort’“, sagt er „und ist ... ein Wort. Es gibt auch noch einige Zusammensetzungen. Möchten Sie die auch noch wissen? Nein? Gut.“ Er schlägt das Lexikon wieder zu, mehr Staub wirbelt auf, der Alte hustet.

Das Bild vom Lexikon als dickem Folianten klingt ein wenig staubig. Die moderne Variante des Lexikons im Gehirn ist eine Datenbank, in der das Wort mitsamt seiner genauen Bedeutung liegt. Hier geht alles ein bisschen schneller, und es ist auch nicht so staubig. Da liegt nun also unser Wort gespeichert mitsamt seiner genauen Bedeutung, das Wort an sich sozusagen, im Grunde genau wie im alten Lexikon auch. Wirklich?

In diesem Buch geht es darum, wie Sprache funktioniert und wie sie wirkt. In Zeiten von „Fake News“ und „Hate Speech“ überschlagen sich die Deutungen für deren Ursachen. Eines fällt dabei auf. Von der Macht der Sprache an sich, davon, wie sie funktioniert und wie sie wirkt, ist dabei kaum die Rede. Marketingleute, immer schon auf Manipulation aus, wissen darüber offenbar mehr als die vermeintlich der Aufklärung verpflichteten Journalisten. Gewisse „Alpha-Journalisten“ halten neuere Untersuchungen zum Thema sogar für „akademische Spielereien“. Offenbar erfreuen sie sich an der Vorstellung, die eigenen goldenen Worte mit all den Weltdeutungen und Wahrheitsrettungsaktionen kämen 1 : 1 beim Publikum an. Das ist, wie wir sehen werden, magisches Denken.

Das Buch ist eine kurzweilige Handreichung, sich im sprachlichen Alltag besser zurechtzufinden. Es lohnt sich, hier und da genauer hinzuhören, etwas noch einmal zu lesen und zu durchdenken, anstatt die Wörter in Hochgeschwindigkeit zu „scannen“ – es sei denn, Sie wollen sich unbedingt manipulieren lassen.

„Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens.“

Karl Kraus

Das Konzept von den Wörtern, die im Lexikon ausharren, bis sie gerufen werden, birgt ein Problem. Wörter haben keine feste Bedeutung, jedenfalls nicht so, wie wir uns das immer vorstellen. Dieses Konzept würde nämlich voraussetzen, dass Wort und Ding in einer festen Beziehung miteinander lebten. Tun sie aber nicht. Sie leben nicht in monogamer Ehe miteinander, sondern wechseln das (Beziehungs-)Hemd, wie es gerade kommt. Nehmen Sie ein Wort wie „Schale“. Haben wir es hier mit Nüssen, Äpfeln, Teetassen oder Müsli zu tun? Haselnüssen, Walnüssen, roten Äpfeln, grünen Äpfeln, grünem Tee, chinesisch oder japanisch? Der „Baum“ ist was genau? Ein Stammbaum oder ein Baumstamm?

„Ein Wort im Kopf zu haben, heißt nicht nur, es in seinem grammatischen und syntaktischen Kontext zu sehen“, erklärt der Kognitionswissenschaftler Arthur Jacobs. „Für das Gehirn ist es vielmehr ein Stichwort für alle damit verbundnen Assoziationen“. (Schrott, Jacobs, 2011)

Mit anderen Worten: Wörter haben so etwas wie unscharfe Ränder. Die genaue Bedeutung eines Wortes muss im Gehirn in jedem neuen Kontext neu konstruiert oder rekonstruiert werden. Beim Lesen gleicht das Gehirn Bekanntes mit Unbekanntem ab, sucht und findet Strukturen, erinnert sich an Bewegungen, Gerüche oder Klänge, bewertet das Gelesene und weist dann Bedeutung zu, je nach Erfahrungshintergrund.

Mit anderen Worten:

Wörtlichkeit ist immer die Ausnahme.

Das Wort an sich ist also stets nur ein Bruchteil der übermittelten Information. In der Lebenswirklichkeit herrschen die Konnotationen, die Beiklänge mit ihrem verwirrenden Geplapper aus ähnlichen, sich überlappenden oder einander widersprechenden Bedeutungen. Sich darin zurechtzufinden, setzt eine Grundausstattung geteilten Weltwissens und gemeinsamer Sprachpraxis voraus.

Einige Zweige der Kognitionswissenschaft untersuchen diese Prozesse seit einigen Jahrzehnten und können inzwischen sehr genaue Aussagen zum Zusammenhang von Sprache und Denken machen. Es ist ein Zusammenhang, den die Klassische Rhetorik seit jeher kennt (Ueding 2011). Für den Ethnologen Edward T. Hall organisiert Sprache die Gedanken im eigenen Gehirn und löst in dem des Gegenübers wiederum Gedanken aus. Sie ist nie nur einfach ein Transportmittel für Gedanken und Bedeutung von einem Gehirn zu einem anderen. Und nichts von dem, was wir sprechen oder schreiben, kommt 1 : 1 bei diesem Gegenüber an. (Hall, 1976)

Auf den ersten Blick klingt das trivial. Doch Sprache und Denken werden in der Alltagsvorstellung irrtümlich als getrennte Systeme angesehen, die nichts miteinander zu tun haben. Besonders in großen Teilen der Wissenschaft gilt die – falsche – Devise: Erst denke ich, dann spreche oder schreibe ich. Geniekult und Talentmythen der deutschen Romatik haben hier ihre Hand im Spiel. Naturwissenschaftlich inspirierte Linguisten früherer Jahrzehnte taten ein Übriges, den Glauben an diese Märchen zu legitimieren. Sprache wird nicht einfach einem zuvor Gedachten übergestülpt. Vor allem ist sie kein Instrument einsamen Vor-sich-hin-Räsonnierens, sondern ein ganz und gar geselliges Wesen.

Bewegung

Sprechen wir über Bewegung – und damit zurück zu unserem Wort. Es kommt also in den Kopf und entfaltet dort zusammen mit seinen Kumpanen unheimliche Kräfte. Sie wissen, was passiert, wenn wir lesen. Wir vergessen die Welt um uns herum.

Dazu noch einmal der Kognitionswissenschaftler Arthur Jacobs. „Beim Lesen wie beim Sprachverstehen sind Prozesse im Spiel, die auf denselben oder ähnlichen neuronalen Mechanismen beruhen wie beim direkten Erleben. Diese mentale Simulation verbal oder schriftlich beschriebener Situationen bewirkt demnach ( ... ) eine mit der realen Wahrnehmung vergleichbare, bisweilen sogar stärkere Eindrücklichkeit. Das Schriftbild von Worten und Sätzen stellt dieselbe Art von sensorischen Reizen dar wie Objekte oder Gesichter.“ (Schrott, Jacobs, 2011) Und mehr noch. „Nur“ Wörter sind imstande, das Gehirn auf physische Bewegung vorzubereiten. „Allein an einen Kiesel zu denken“, so Jacobs, „bereitet uns schon darauf vor, die Hand auszustrecken, die Finger zu schließen und mit dem Arm auszuholen.“

Jetzt wird auch verständlich, warum Texte, in denen keine Handlungen vorkommen oder in denen Handlungen in Passiv- und Nominalstil formuliert sind, so unangenehm zu lesen sind. Ist die Sprache hingegen aktiv und anschaulich, geht das Gehirn auf volle Leistung. Konfrontieren wir es aber mit Nebelwerfertexten und Schachtelsätzen, geht es auf Sparflamme und fragt:

Ist das Text oder kann das weg?

Wir sollten die Wirkung der Sprache besser nicht unterschätzen. Schließlich lesen und schreiben wir täglich. Wenn wir nicht wenigstens ungefähr wissen, wie Sprache funktioniert – und ihr damit den nötigen Respekt erweisen – , sind wir womöglich allerhand Gefahren ausgesetzt. Wir lesen vielleicht etwas in einen Text hinein, was gar nicht darinsteht. Oder wir handeln auf der Grundlage der Wirkung von Wörtern, die in unserem Gehirn – außerhalb unserer Kontrolle – ein Eigenleben entwickeln. Diese Wörter bringen uns womöglich dazu, etwas zu denken, was diejenigen wollen, die um die Wirkmächtigkeit der Sprache wissen und die dieses Wissen ausnutzen. Das sind die Produzenten der Frames und der subtilen Fake News, die wissen, was sie tun müssen, damit ihre Manipulationen funktionieren.

Das Ganze gilt natürlich auch umgekehrt. Wir glauben nur zu gern, alle unseren goldenen Worte kämen so bei Publikum und Gegenüber an, wie wir sie in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Kontext meinten und schrieben. Allerdings haben keine zwei Menschen haargenau denselben Erfahrungshintergrund. Der ist aber die Grundlage, auf der das Wort bewertet und eingeordnet wird. Zu glauben, beim „mal darüber Reden“ werde das „richtige Wort“ schon die „richtige Reaktion“ hervorrufen, ist magisches Denken.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen außerordentlich wichtigen Dingen ist in aller Regel eine elitäre Veranstaltung. Große Teile der Wissenschaft – sogar der einschlägigen – wollten mit den praktisch-handwerklichen und lebensdienlichen Angelegenheiten so wichtiger Kulturtechniken wie Sprache und Schreiben nichts zu tun haben – und man will es im Großen und Ganzen auch heute noch nicht. Aber es geht noch schlimmer.

Im 20. Jahrhundert begannen die Wissenschaften vom Menschen und von der Sprache für die Naturwissenschaften zu schwärmen. Für die klassischen Kognitionswissenschaften hieß das: Sie wurden von der „Programmhypothese“ des menschlichen Geistes heimgesucht. Man glaubte, das Gehirn sei nichts anderes als eine Rechenmaschine. Der Kognitionspsychologe Dietrich Dörner führt diese verzweifelte Komplexitätsreduktion angesichts der verwirrenden Wirklichkeit darauf zurück, dass man Prozesse wie Schlussfolgern, Gedächtnissuche oder den Umgang mit Analogien relativ leicht mit Computerprogrammen nachbilden konnte. Also mochte das wohl in lebenden Gehirnen auch nicht so viel anders sein. Schließlich überlegte man im Ernst, wozu man da noch echte Sprache benötigen sollte. (Dörner, 1976)

Die Verachtung der Sprache in großen Teilen der Wissenschaft geht aber sehr viel weiter zurück. In jüngerer Vergangenheit waren es der schon erwähnte Geniekult, die Talentmythen und ähnliche Fantasiegebilde der deutschen Romantik. Sie wurden und werden gegen Kompetenzen ausgespielt, die man sich schließlich aneignen kann und nicht einfach hat. Ein „Genie“ ist man, oder man ist eben nicht. Bis auf sehr wenige Ausnahmen glänzt besonders die Literaturwissenschaft durch Naserümpfen gegenüber dem Handwerk, derjenigen Kompetenz also, die man lernen kann. Der Schreibforscher Otto Kruse spricht von der „traditionelle[n] Ablehnung der deutschen Germanistik gegenüber einer ‚Regelpoetik’ (Kruse, in: Perrin 2002)

Was Akademiker unter sich tun, muss uns nicht interessieren. Doch leider setzt diese Haltung sich fort in der Lehrerausbildung. Meldungen über die katastrophalen Auswirkungen im Schulunterricht solcher Absurditäten wie „Schreiben nach Gehör“ haben inzwischen die Feuilletons erreicht – wenn auch nicht die Bildungspolitik – und werfen Überlegungen dazu auf, wie man eine Bildungsnation am besten an die Wand fährt. Gern auch digital.

Folgen wir Gert Ueding, Professor em. für Rhetorik in Tübingen, in die fernere Vergangenheit. Eine der Ursachen der lang anhaltenden Missachtung des Handwerks, der Rhetorik und des Sprachdenkens ist nach Ueding den „sokratischen Feldzügen“ Platons und seinen Diffamierungen der Rhetoriker zuzuschreiben. Diese Feldzüge wirken so nachhaltig, dass, so Ueding, „die Rehabilitierungsbemühungen der neueren Kulturgeschichtsschreibung bis heute wenig gefruchtet haben.“ (Ueding 2011)

Heutige Karriereturbo- und Schlagfertigkeits-Schwundstufen der „Rhetorik für Manager“ und der „Magie der Rhetorik“ vertiefen dann nur das vernichtende Urteil bei denen, die immer schon wussten, dass alles plebejische Niederung ist, wo nicht der „reine Geist“ herrscht.

Einen Höhepunkt erlebte die Verachtung der Rhetorik und mit ihr des Sprachdenkens übrigens in der sogenannten Aufklärung. Man verurteilte die Rhetorik, da sie nicht mit den Forderungen nach „Rationalität“ vereinbar sei. Auch Frauen und Wilden, bevorzugten Gegenbildern der aufgeklärten Geisteshelden, sprach man die Fähigkeit „rational“ zu sein, rundheraus ab. Denken Sie doch einmal einen Moment lang nach, ob Ihnen da etwas bekannt vorkommt.

So wundern wir uns nicht, dass gute Sprachbeherrschung und gutes Schreiben vielen „klugen Köpfen“ bis heute als Weiberkram gelten. Ich bin brillant. Was also soll ich mit der Kosmetik, und die formal-rhetorische Artistik kann ich mir zur Not auch sparen.

Spricht das Genie und sagt sich in rechter Geheimratsmanier: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor ...“ oder à la Einstein: „Wenn du vorhast, die Wahrheit zu beschreiben, dann überlasse die Eleganz dem Schneider.“ Einstein mag durch seine Dyslexie (Lese- und Schreibschwäche) zu dieser Aussage ermuntert worden sein. Bei Goethe aber ist es reine Koketterie. Der Geheimrat hatte nämlich eine umfassende rhetorische Ausbildung.

Die Kapitel des Buches

Kapitel 1 und 2 widmen sich den Unschärfen der Wörter und der Wortbedeutungen. Ferner: Wie wir uns trotzdem im unübersichtlichen Geplapper der Wirklichkeit zurechtfinden.

„Lasst uns das mal sachlich bereden ... das kennen Sie. Nur: So einfach ist das nicht mit der Sachlichkeit, offenbart uns Kapitel 3. Denn wie heißt es so schön: Ungefärbt ist Vernunft auch nur ein Wort ...

In Kapitel 4 erfahren Sie, warum Sie das Gesicht verziehen, wenn Sie lesen, wie jemand in eine Zitrone beißt.

Frames und andere Manipulationsversuche auf sprachlicher Ebene sind die Themen in Kapitel 5. Ein kleiner Exkurs führt ins Reich der „Plastikwörter“.

Mit Benjamin Lee Whorf, einem Chemiker aus Massachussetts, beginnt Kapitel 6. Es geht um Sprache und ihre Verbindung mit dem Denken und deren Verbindung mit der Kultur.

Das Wort im Kopf

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