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PROLOG

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233 nach Christus am Nachmittag des Samhain unweit der Stadt Cambodunum, Provinz Raetia

Ingrun griff ein paar Holzscheite, huschte dann nach einem prüfenden Blick über den kleinen Platz geduckt zwischen der Hütte des Häuptlings und dem Backofen hindurch zu ihrer beinahe fertigen Feuerstelle.

Sie würde den Ahnen ein Feuer entzünden, auch wenn die Versammlung und Herr Arne, der Häuptling, es verboten hatten. Sogar ihr eigener Mann hatte gegen sie gestimmt. Der Groll darüber nagte böse an ihr.

Flüchtig glitt ihr Blick hinauf zu den dichten Wipfeln der Eichen und Buchen. Nieselregen befeuchtete ihr Gesicht. Kein Alamanne würde an diesem trüben Tag den Rauch bemerken.

Die Alamannen waren viel zu dumm, um hier oben auf dem bewaldeten Hügel überhaupt jemand zu vermuten, schon gar nicht eine Wallburg. Sie waren noch dümmer als die verweichlichten Römer.

Verächtlich musterte sie die Rückseite des Blockhauses des Häuptlings. Ein Halbrömer. Nicht Fisch, nicht Fleisch, trotzdem war er zum Häuptling gewählt worden. Ingrun war sich sehr wohl bewusst, dass ihr Hass auf die Alamannen und die Römer mit jedem Jahr verzehrender an ihr fraß.

Ihre Zeit der Rache würde kommen, auch wenn Ivo, ihr Mann, der Sohn des Stammesfürsten der Likater, die Nachfolge seines Vaters abgelehnt hatte. Ivo hätte es zum Hochkönig bringen können. Hochkönig der Vindeliker. Er hätte die Stämme versammelt, um die Eindringlinge, die alamannischen Mörder ihrer Familie, die fetten römischen Maden in ihren Kastellen, von ihrem angestammten Land zu vertreiben. Doch Ivo hatte abgelehnt. Den Armreif des Fürsten nicht genommen. Abgelehnt, weil er Rinder und Pferde züchten wollte. Ivo wollte nicht für seine Freiheit kämpfen.

Im erneut aufflammenden Zorn ließ Ingrun das Holz viel zu laut in die Feuerstelle fallen. Sie fluchte leise und schaute sich um.

Niemand schien sie bemerkt zu haben, obwohl natürlich ein paar der Frauen ahnten, was sie vorhatte. Sicher hatte das Gerücht, dass Ingrun trotz des Verbotes ein Ahnenfeuer entzünden würde, längst die Runde durch die Hütten gemacht. Sie wusste aber genau, dass keine der Frauen einen Verrat wagen würde. Manchmal war es gut, wenn einen die Menschen fürchteten. Sollten sie Ivo doch für ihren Ungehorsam bedauern. Das berührte sie nicht. Unwillkürlich spuckte sie ins gefrorene Gras.

Es war ein Fehler gewesen, Ivo zu erwählen. Der größte Fehler, den sie jemals gemacht hatte. Die Enttäuschung schmeckte wie bittere Galle.

Lauschend wendete sie den Kopf zu den einfachen Weidenhütten hinüber. Hatte jemand nach ihr gerufen? Tatsächlich sah sie Ivo am Eingang ihrer Hütte stehen. Behutsam schob sie sich tiefer in den Schatten der hohen Holzpalisaden. Ja, Ivo war ein schrecklicher Fehler gewesen, dachte sie erneut, obwohl ihr Herz bei seinem Anblick verwirrend freudig klopfte. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste, spürte, wie sich dabei ein Holzsplitter in ihre Handfläche bohrte. Noch fester presste sie die Finger zusammen. Es tat weh, doch der Schmerz der Enttäuschung war schlimmer und sie wollte nicht, dass ihr Herz etwas anderes fühlte als sie. Sie war so blind gewesen.

Den Kopf gesenkt, schritt Ivo nur wenige Augenblicke später über den kleinen Platz vor der Hütte des Häuptlings zum Tor hinüber. Ingrun hörte das Holztor knarren, dann rumpelte es leise. Es kam ihr ein wenig so vor, als schlössen sich endgültig auch die Tore ihres Herzens.

Seit Jahren versuchte sie alles, um Ivo umzustimmen. Gebettelt hatte sie, ihn mit Macht und Ruhm gelockt, logische Argumente für einen Aufstand gebracht, sogar ihre Weiblichkeit benutzt. Vergebens. Ivo wollte hier im Dorf leben und Rinder züchten. Sie schnaubte wütend. Vor ein paar Wochen, als an Mabon, der Herbst-Tagundnachtgleiche, die Boten seines Vaters den Armreif des Stammesfürsten überbrachten, um ihn als seinen Nachfolger zu legitimieren, da hatte sie sich trotzdem am Ziel ihrer Träume gewähnt. Doch Ivo hatte abgelehnt. Abgelehnt. Dieses Wort machte sie fast wahnsinnig. Jetzt bewahrte Cedric, der Druide, den kunstvoll geschmiedeten Armreif auf.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, unbändiger, hilfloser Zorn ließ sie glühen. Ivo war ein Feigling, der sich hinter dem philosophischen Geschwätz der Druiden versteckte. Ein Schwächling, der sich lieber einem halbrömischen Häuptling unterordnete, als die Verantwortung seiner Herkunft anzunehmen.

Tief aufseufzend löste sie ihre verkrampften Fäuste. Genau diese Herkunft hatte sie geblendet, ihre Hoffnung auf Rache jahrelang genährt. Geblendet hatte sie auch Ivos Schönheit. Jede Frau im Dorf schaute dem Sohn des Fürsten begehrend hinterher. Jede hätte ihn an Beltane, dem Beginn des Sommers, dem Fest der Fruchtbarkeit, genommen. Jeder mochte Ivo, den Stillen. Immer wahrhaftig, immer ehrlich. Erneut übermannte sie ihr Zorn und sie spuckte ins Gras.

Ihr Hass war Ivo fremd. Ivo kannte solche Gefühle nicht. Er missbilligte sie, glaubte, dass auch die Götter dieses Zehren nicht guthießen. Und Cedric, dieser alte Wirrkopf, bestärkte ihn darin. Einzig Frieden und Vergebung, so meinte der Druide, könne ihre Wunden heilen. Sie spuckte ein drittes Mal ins winterliche Gras.

„Nein“, flüsterte sie böse, „nein.“

Nur Blut konnte diese Wunden heilen. Alamannisches Blut, römisches Blut. In Strömen sollte es fließen. Tausendfache Schmerzensschreie für die Schreie ihrer Mutter und ihrer Schwestern, für den Todesschrei ihres Vaters und ihrer Brüder. Sie schloss kurz die Augen, hielt ihr Gesicht in den leichten Sprühregen. Für einen langen Moment fühlte sie sich unendlich müde. Sterbensmüde.

Dann atmete sie tief durch, schob sich unauffällig hinter den Hütten vorbei zu ihrem geheimen Holzlager, wo sie ein letztes Mal Scheite aufklaubte und zur Feuerstelle schleppte. Genau deswegen würde auch dieses Jahr, heute, an Samhain, ein Feuer für ihre geschändete und ermordete Familie brennen und für alle anderen Ahnen, die seit Generationen unter der römischen Knechtschaft gelitten hatten. Das war ihr Versprechen. Niemand würde sie daran hindern. Weder Herr Arne noch Ivo. Niemand. Nicht einmal die Götter.

Für einen erstickenden Atemzug lang beneidete sie Ivo um seinen Seelenfrieden, dann kniete sie sich ins nasse Gras neben der Feuerstelle. Konzentriert verteilte sie die mitgebrachten Glutstücke im Reisig zwischen den Holzscheiten, blies all ihren Hass in sie hinein, bis die Flammen gierig in den dämmrigen Himmel schlugen. Sie wusste, dass dieses Feuer alles verändern würde.

Es gab kein Zurück. Schwerfällig stemmte sie sich auf die Beine. Wie lange würde es dauern, bis man ihr Feuer bemerkte? Nicht lange, dachte sie, aber das schmälerte ihre Freude nicht. Die Götter würden sie für ihren Mut segnen. Eine kalte Windbö fegte in die aufbrausenden Flammen. Wie damals, als der Hof ihrer Familie in Flammen aufging. Sie kannte die zerstörerische Kraft des Feuers nur zu gut. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und legte kurz ihre kalten Hände auf ihre Wangen, die von der Hitze des Feuers glühten.

In diesem Moment brüllte der Häuptling. Zuerst verstand sie seine Worte nicht, zu laut toste das Feuer, dann sah sie seine Sklaven mit Wassereimern auf sie zu rennen. Sie werden es nicht wagen, dachte Ingrun verächtlich. Gemessen umrundete sie die Feuerstelle und baute sich mit verschränkten Armen für alle sichtbar vor dem Feuer auf. Der Häuptling stand an der Ecke seine Hauses, brüllte jetzt nach Ivo, was ihr ein weiteres verächtliches Lächeln entlockte.

Die Sklaven zögerten tatsächlich, schauten fragend zu ihrem Herrn, warfen scheue Blicke auf die Frau. Zu oft hatte ihr Herr sie eine gefährliche Zauberin genannt. Ingrun spuckte vor ihnen aus, bückte sich zu dem Kräuterbündel zu ihren Füßen, wendete sich um und warf mit erhobenen Händen die Kräuter in die immer höher schlagenden Flammen. Die Sklaven wichen angstvoll, bis die Peitsche ihres Herrn sie schmerzhaft zurück zum Feuer trieb. Hastig schleuderten sie das Wasser aus ihren Eimern hinein, rannten durch die entstehende Menschenmenge wieder zum Brunnen, wo sie erneut schöpften. Ingrun lachte kreischend. Die Sklaven stolperten in einem weiten Bogen um sie herum, die Glut zischte, kämpfte mit dem Wasser um ihr Leben.

Die Menge der Schaulustigen teilte sich, um Ivo, Ingruns Ehemann, Platz zu machen. Dazwischen hetzten die Sklaven mit ihren Eimern umher. Sie hatte ein Inferno entfesselt. Bei Ivos Anblick schwankte ihr Mut für einen Atemzug lang, dann richtete sie sich umso stolzer auf. Ihre Augen trafen sich. Sie sah die Traurigkeit in seinem Blick, erkannte sein Verständnis für ihr Handeln und etwas, was ihr Herz, von dem sie glaubte, dass kein Schmerz ihm mehr etwas anhaben könnte, ein weiteres Mal zerbrechen ließ. Intuitiv legte sie ihre Hände unter der Brust zusammen, ihre Gesichtszüge verkrampften sich. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Nie. Ivo hatte erkannt, dass sich ihre Wege nun trennen mussten. In diesem Moment war Ingrun den Göttern dankbar, dass ihr Leib leer geblieben war, trotzdem sie seit Langem mit Ivo das Lager teilte.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schüttelte Ivo die Hand des Häuptlings von seiner Schulter.

„Dein Weib hat wieder die Regeln gebrochen, Ivo!“, brüllte der Häuptling. „Die Alamannen werden uns finden. Sie ist schuld!“

Mit einer flüchtigen Bewegung wischte sich Ivo den zunehmenden Regen aus dem Gesicht. „Es sind keine Alamannen in der Nähe, Arne“, erwiderte er emotionslos, „keiner kann das Feuer zwischen den hohen Bäumen und den tief hängenden Wolken sehen. Aber du hast recht, Arne“, zum ersten Mal wendete er den Blick von Ingrun, um Arne anzuschauen, „wir hatten anders entschieden. Und Ingrun hat unserer aller Entscheidung zuwidergehandelt.“

Langsam trat er auf Ingrun zu. Sie erstarrte. Vor allen Leuten hatte Ivo zugegeben, dass sie Unrecht getan hatte. Seltsam klar bemerkte sie die verschiedenen Regungen der anderen Frauen und Männer des Dorfes, die da im Regen um sie und ihr Feuer herumstanden. Sie sah Mitleid, Häme, Überraschung, aber keine Zustimmung.

„Tritt zur Seite, Ingrun“, forderte Ivo sie unüberhörbar auf, „und lass uns das Feuer löschen. Dieses Jahr wird es an Samhain kein Feuer für die Ahnen geben. Mögen die Götter uns vergeben.“

Freundlich, aber auch entschieden fasste er sie am Arm, um sie zur Seite zu ziehen. Sie folgte, fühlte sich mit einem Mal wie die Holzpuppe, die sie Ivos Nichte Belana vor Jahren geschenkt hatte. Ungelenk machte sie einen Schritt vom Feuer weg, während Ivo einem der Sklaven einen Eimer abnahm und ihn in das ersterbende Feuer schüttete.

„Wie gedenkst du dein Weib zu bestrafen, Ivo?“, brüllte der Häuptling erneut, schaute dabei Zustimmung heischend in den Kreis der Dorfbewohner. So oft hatte er gehadert, warum Ivo, diesem keltischen Bastard, von allen Ehre erwiesen wurde, während er, Arne, ein echter römischer Bürger aus einer alten Familie, mit Klugheit ihre Geschicke leitete. Seit Jahren fühlte er sich von Ivos Überlegenheit erniedrigt. Und sein Weib ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um ihn zu verhöhnen.

Auch jetzt verzog Ingrun nur verächtlich den Mund. Niemand würde es wagen, Hand an sie zu legen. Und das war auch nicht mehr nötig. Mit allem Stolz, den sie noch in sich trug, schritt sie auf die Dorfbewohner zu und blieb vor dem Häuptling stehen. Ihr Blick verwandelte ihn vor ihrem inneren Auge für einen erhebenden Moment lang in eine hässliche Made. Leise flüsterte sie einen Fluch, sah ihm dabei genau in die Augen, sah die Angst und den Hass, sah ihn erbleichen. Dann eilte sie, ohne sich umzuschauen, zu den Pferchen der Pferde am anderen Ende der Wallanlage, wo sie ihre schwarze Stute sattelte. Noch immer schweigend, führte sie das Pferd zum Tor.

Letzte Rauchfäden stiegen von ihrem Feuer auf, aus den Augenwinkeln sah sie Ivo herüberrennen. Es dämmerte und eine weitere Anordnung der Dorfältesten besagte, dass sich niemand nach Einbruch der Dunkelheit aus der Fluchtburg entfernen durfte. Oswin, ihr Schwager, sollte das Tor verschließen. Und sie würde ihn nicht in Verlegenheit bringen, diese Order zu missachten, denn sie hatte nicht vor zurückzukehren.

Mit einer harten Handbewegung wies sie Oswin zurück, schob harsch den Riegel des Tores zur Seite und verließ mit ihrer Stute am Zügel die Wallanlage. Hinter ihr rumpelte das Tor. In diesem Leben gab es nur noch einen Weg für sie.

Langsam ritt sie zwischen den Wällen hindurch den schwach erkennbaren Pfad hügelabwärts, umrundete die Anlage, bis sie sich wieder am Rand der kleinen Schlucht befand. Unbewusst hielt sie ihr Pferd unter der alten Eiche an. Es hätte der Regen sein können, der ihr über das Gesicht lief. Mit einer unwirschen Bewegung wischte sie sich über die Wangen. Unter dieser Eiche hatte Ivo sie so oft geküsst. Es sollte Glück bringen, unter Eichen zu küssen, sagte man. Vielleicht hatte ich aber gar kein Glück haben wollen, dachte Ingrun, vielleicht war es schon lange zu spät für Glück gewesen. Und was war schon Glück? Ein wohlwollendes Zwinkern der Götter, mehr nicht. Flüchtig und umso nutzloser, je fester man es halten wollte.

Aus den Augenwinkeln vermeinte sie einen Schatten zu sehen, ihre Stute tänzelte kurz, dann raste ein gleißender Schmerz von hinten durch ihren Körper. Sie spürte noch, wie sie stürzte, und sah dieses wunderschöne Licht durch die fast kahlen Zweige der Eiche strahlen.

Die Zeitenwandlerin

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