Читать книгу Die kleine Insel unserer Fantasie - Susanne Zeitz - Страница 7

Die Mainaukönigin

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Eine kleine Insel im blauen See lässt jedes Mal, wenn ich an sie denke, mein Herz höher schlagen. Im Geheimen nenne ich sie meine Insel, obwohl ich weiß, dass sie ihre Türen für viele Menschen offen hält und alle willkommen heißt, die sie besuchen. Doch trotzdem ist es meine Insel, da sie mir in schweren Zeiten Trost gespendet hat, mich jedes Mal zu kreativem, schöpferischem Tun inspiriert und viel Freude schenkt, wenn ich sie besuche. Es ist mir, als sei sie eine alte Freundin, die mir vertrauensvoll ihre Schätze zeigt, sich mir voller Freude zuneigt und somit meine Seele berührt und meine Herzenstüren öffnet.

Sie, lieber Leser, fragen sich nun sicher schon gespannt, um welche Insel es sich denn handelt, welch ein Paradies sich wohl im See verborgen hält?

So möchte ich Sie einladen, mich auf meinem Spaziergang über die Insel Mainau zu begleiten. Ich sage absichtlich mein Spaziergang, denn jeder Besucher erlebt die Insel auf seine eigene Weise, sieht dies oder das, was andere nicht sehen, fühlt oder ahnt seiner eigenen Wahrnehmung und Empfindung entsprechend.

Wie jedes lebendige Wesen hat auch die Mainau mit ihren unzähligen Blumen, Bäumen und Tieren viele Gesichter, die sich je nach Wetter, Tageszeit und den jeweiligen Jahreszeiten sehr verändern können. Sie offenbart sich jedem Besucher auf ihre ganz eigene Weise. Mal gibt sie mehr, mal gibt sie weniger von sich preis, ganz wie wir auf sie zugehen, wie wir ihr unser Herz öffnen, Probleme, Handys und andere Alltagsablenkungen zu Hause lassen können.

Wenn ich die Mainau besuche, befinde ich mich immer in Begleitung meiner kleinen, spanischen Hündin Luca, die jedes Mal begeistert den langen Steg entlang schnüffelnd nach Eis- oder sonstigen gutschmeckenden Proviantresten sucht, während ich zwar durchaus den weiten Blick über den See zu den Alpen genieße, aber schnellen Schrittes versuche, den Steg hinter mir zu lassen, da der oft so kalte Seewind tüchtig an den Ohren zieht. Kaum auf der Insel angekommen, lässt der Wind nach und es wird deutlich wärmer.

Eine große, freundlich blickende Blumengestalt grüßt und lädt zum Fotografieren ein. Manchmal ruft mich hier schon die erste Tasse Kaffee, die ich dann mit Blick auf den See, in der Sonne sitzend, genieße.

Die Zeit scheint hier auf der Insel stillzustehen, über mich keine Macht zu besitzen. Sie schenkt sich mir zum Verweilen, Genießen, Staunen und zum Träumen.

Mein Weg führt mich an den Weinstöcken vorbei zum Rapunzelturm. So nenne ich ihn, da ich mir in meiner Fantasie gut vorstellen kann, wie Rapunzel von oben herabsieht und ihr schönes, langes Haar herunter lässt. Nun komme ich zur großen Baumallee, die im Frühjahr umsäumt ist von gelben und weißen Narzissen und von tausenden Tulpen, deren roten, gelben und weißen Blütenkelche in der Sonne wie kleine Laternen leuchten. Sie schenkt meiner Seele mit ihren Farben wieder neue Energie und Freude nach der langen, farblosen Winterzeit. Wenn ich die unzähligen Blumen, diese zarten Wunderwerke, in ihrer Vielfalt, Farbenpracht und Schönheit betrachte, frage ich mich jedes Mal, wer hegt und umsorgt sie wohl noch, außer den Gärtnern? Vielleicht Wesen, die wir nicht sehen, aber doch erahnen und vielleicht auch spüren können? Wenn ich durch den großen Park mit seinen alten Bäumen spaziere, kann ich mir gut vorstellen, wie sich nachts im Mondschein Elfen und Feen in farbigen, seidenen Gewändern auf den Wiesen versammeln und ihre bunten Reigen tanzen. Die alten Baumriesen könnten uns sicher vieles aus lang vergangener Zeit erzählen. Sie könnten uns von den vielen Menschen, die sie gesehen, von Gesprächen, die sie belauscht, von Freud und Leid, das sie erlebt haben, berichten. Möglicherweise müssen wir nur stiller werden und mit unserem Herzen hören, dann können wir vielleicht ihre Stimmen wieder vernehmen. Dieser alte Baumgarten lässt mich in jeder Jahreszeit seinen Zauber deutlich spüren. Sei es im Frühjahr, wenn er sich langsam mit zartem Blättergrün und Blüten bekleidet, im satten Sommerlaub, das kühlen Schatten spendet oder auch, wenn er sich in seinem gelben und roten Herbstgewand oder im kahlen Wintergeäst zeigt.

Mein Spaziergang führt mich weiter in den Rosengarten, wo mich im Sommer tausende dieser feinen, edlen Blumen mit ihren mannigfaltigen Farben und Düften, ich kann fast sagen, in ein zeitloses, träumerisches Sein entführen. Plätschernde Springbrunnen, ehrwürdig aussehende Steinfiguren, die stolz, fast unnahbar zwischen den Rosen stehen, vermitteln das Flair einer längst vergangenen romantischen Zeit.

Ob es hier wohl eine Rosen- oder Blumenkönigin gibt?

In diesem Garten kann ich mir sehr gut vorstellen, wie eine anmutige, zarte Gestalt in einem bunten Seidenkleid, die langen Haare mit Blüten geschmückt, zwischen den Rosenstöcken leicht schwebend dahinschreitet, einzelne Blüten liebkost oder hängende Rosenköpfchen wieder aufrichtet.

Weiter geht es in das Palmenhaus, wo sich unzählige Orchideen in ihrer großen Vielfalt und Schönheit in der Frühjahrsausstellung präsentieren. Im Schlosscafé bietet sich eine kleine kulinarische Pause an. Ein bisschen scheint auch hier die Zeit stehengeblieben zu sein, dafür sorgen der große Kristalllüster mit seinem üppigen Gefunkel und die strengblickenden Schlossahnen, die aus schweren Silberrahmen das Cafégeschehen betrachten. Ob sie auch gerne die wohlschmeckenden Torten probieren würden, die verführerisch in der Vitrine auf die Gäste warten? Ich genieße hier meistens einen Cappuccino und einen warmen Apfelstrudel mit Vanilleeis, bevor ich mir die Ausstellung im Schloss anschaue, die je nach Thema und Jahreszeit immer sehenswert ist und auch des Öfteren kleine Mitbringsel zum Kauf anbietet.

Doch zu lange mag ich im Schloss nicht verweilen. Es zieht mich wieder hinaus ins Freie, in die Blumen- und Pflanzenwelt, die ich nun mit Kaffee und Kuchen gestärkt, weiter erkunden und genießen möchte.

Die liebste Zeit auf der Mainau ist für mich der späte Nachmittag, wenn die großen Reisebusse abgefahren sind und viele Besucher mit sich genommen haben. Wenn sich die Insel mehr und mehr leert, Ruhe und Stille sich langsam ausbreiten, dann zieht es mich an den Schwanenbrunnen, wo ich mich auf den noch warmen Steinbänken niederlasse und die letzten Sonnenstrahlen, die zwischen den Blättern der großen Bäume hindurch blinzeln, genieße. Lange Zeit kann ich hier verweilen und den Brunnen betrachten, in dem die Wasserfontänen wie kleine Gespenster aussehen, die um das Schwanenpaar ihren plätschernden Reigen tanzen.

Wenn Sie, lieber Leser, nun mit mir dort sitzen, die Wärme spüren, den sanften Blumenduft wahrnehmen, das Wassergeplätscher und der Gesang der Vögel Sie in eine wohlige, entspannende Ruhe versetzt haben, dann stellen Sie sich vor, wie ich letztes Jahr nach meinem Spaziergang ebenso hier saß, als plötzlich eine zarte Stimme an mein Ohr drang und mich fragte, ob es gestattet sei, sich neben mich zu setzen. Ein wenig unwillig, das muss ich gestehen, kehrte ich aus meiner Tagträumerei zurück und öffnete die Augen. Vor mir stand eine kleine, ein wenig gebückte, alte Dame. Weiße Löckchen umspielten ein freundlich blickendes Gesicht, darinnen lebhafte, blaue Augen blitzten. Ein langer, weißer Rock, dazu eine mit großen, violetten Blumen gemusterte Bluse rundeten das Bild fast zu einer Fantasiegestalt ab. Ich verstand nicht ganz, warum sie sich ausgerechnet so nah neben mich setzen wollte, da ringsherum reichlich Platz zur Verfügung stand. Doch da ich gerne mit anderen Menschen in Kontakt trete und sie mir auf Anhieb sympathisch war, lud ich sie ein, sich neben mich zu setzen. Schnell entspann sich ein Gespräch zwischen uns über den vollerblühten Rosengarten, die Schönheit der bunten Blumenrabatten, die uns umgaben, und über den Park mit seinen alten, majestätischen Bäumen. Schon seit vielen Jahren käme sie, so erzählte sie mir, im Sommer fast täglich um diese Uhrzeit auf die Insel Mainau. Viel Zeit würde sie im Rosengarten verbringen, denn das sei ihr Lieblingsplatz. Für sie hätte er eine geheimnisvolle Ausstrahlung, vor allem, wenn die Abendsonne mit ihrem sanften, weichen Licht die Rosen beleuchtete. Auch habe sie dort schon des Öfteren feine Präsenzen wahrnehmen dürfen: Ein feiner Lufthauch in ihrem Haar oder ein zartes Stimmchen, dessen Ursprung für sie nicht sichtbar war. Einmal jedoch habe sie sie sehen dürfen, die Mainaukönigin!

Die Mainaukönigin? Ich wusste, dass die gräfliche Familie oben im Schloss wohnte, aber dass es hier eine Königin gab, davon hatte ich noch nie etwas gehört. Wohnte sie auch hier im Schloss? Nein, nein, meinte die alte Dame lächelnd. Ich dürfe jetzt etwas nicht verwechseln. Diese Königin wäre mit unseren irdischen Augen nicht erkennbar. Man könne sie nur mit den geistigen Augen sehen, auch würde sie in keinem Schloss aus Stein wohnen. Ihr Zuhause wäre in der Natur zu finden. Ob sie auf Bäumen, im buschigen Blättergeäst oder in den Blütenkelchen wohnen würde, das wüsste sie nicht zu sagen. Nun verstand ich, was sie meinte. Es bestätigte mir, was ich schon lange vermutete, was ich immer meinte, auf der Mainau zu spüren und zu empfinden. Sie sprach von einer Blumenfee, einer Blumenkönigin! Wo genau sie sie denn gesehen habe, fragte ich. Im Rosengarten habe sie dieses wunderschöne Wesen sehen dürfen, aber es sei nur für einen kurzen, flüchtigen Moment gewesen: Eine anmutige, zarte Erscheinung mit langen Haaren und seidigen, bunten Gewändern, nicht greifbar und doch eine sichtbare Gestalt. Es gäbe auch eine Geschichte dazu, ob ich sie hören wolle? Aber ein wenig Zeit müsse ich mitbringen, denn es gäbe einiges zu berichten. Gerne wollte ich hören und so begann sie zu erzählen:

"Einst lebte in einem fernen Land ein schon älteres Königspaar, dem nach langem Sehnen und Hoffen endlich ein Kindlein geschenkt wurde. Als die glückliche Mutter ihr Baby aus der Wiege nahm, stellte sie mit Entsetzen fest, dass auf dem Rücken des Kindes kleine, zarte Flügel gewachsen waren. Aufgeregt ließ sie sofort nach dem Leibarzt des Königs schicken. Erstaunt blickte er auf das Kind. Viele kleine Kinder, so meinte er, besäßen am Anfang noch ihre geistigen Flügel, natürlich unsichtbar, da sie mit der geistigen Welt noch verbunden waren. Echte materielle Flügel aber habe er bei einem Menschenkind noch nie gesehen. Was dagegen zu tun sei, wisse er nicht, auch kenne er keine Medizin, die die Flügel zum Verschwinden brächte.

Vielleicht sei ihnen ja auch eine kleine Fee geschenkt worden. Wer weiß, wer weiß? Da wurde die Königin ärgerlich und schickte den Arzt mit dem Befehl weg, ja nichts von den Flügeln verlauten zu lassen. Von solchem Unsinn wollte sie nichts hören. Sie würde schon dafür sorgen, dass mit dem Kinde alles seinen normalen Lauf nehmen würde. Dass ihr Kind anders war, dass es vielleicht für ein anderes Leben bestimmt war, wollte sie nicht sehen und nicht wahrhaben. Die Flügel würde sie durch fest anliegende Leibbinden bedecken, so wären sie nach außen hin nicht sichtbar und könnten auch nicht weiter wachsen und größer werden. Vielleicht würden sie auch schrumpfen und wären irgendwann einfach nicht mehr vorhanden! Das wäre ja noch schöner! Diesen Schönheitsfehler würde sie aus der Welt räumen. Schließlich war sie die Königin!

So wuchs die Prinzessin heran. Behütet, geliebt und mit den schönsten Gewändern aus Samt und Seide bekleidet. Doch unter ihrem Rock sorgten die engen Leibbinden dafür, dass die Flügel unsichtbar blieben. Schwer trug das Mädchen an dieser Bürde. Zwar hatte sie ihre Flügel nie gesehen, doch spürte sie, dass sie anders war als ihre Spielkameraden und ihre Eltern. Sie fühlte sich fremd, als gehöre sie nicht in den Palast und auf diese Erde. Am liebsten hielt sie sich im Schlossgarten auf, wo sie täglich die alten Bäume besuchte oder stundenlang im königlichen Rosengarten verweilte. Hier fühlte sie sich frei und glücklich, vor allem, wenn ihr die Bäume mit ihren tiefen Stimmen Märchen aus längst vergangener Zeit erzählten, oder wenn ihr die Rosen mit zartem Wispern von ihren kleinen und großen Sorgen und Nöten berichteten. Dann wurde es ihr leichter um das kleine Herz, die schweren Gewänder waren nicht mehr ganz so schwer und das Palastleben mit seiner Strenge und Etikette rückte in weite Ferne. Ihren Eltern konnte sie ihre Nöte nicht anvertrauen, zu sehr waren sie mit irdischem Tand und höfischem Zeremoniell beschäftigt. Sie waren sehr stolz auf ihre schöne Tochter und planten für die Zukunft eine große Hochzeit mit einem reichen, stattlichen Prinzen."

Hier machte die alte Dame eine Pause und schwieg.

Aufgeschreckt durch die plötzliche Stille, die sich nun zwischen uns gesetzt hatte, erwachte ich aus dieser Märchenwelt. Wie ging es weiter? Ich wollte mehr hören! Hoffentlich hatte meine Erzählerin nicht den Faden verloren oder gar den weiteren Verlauf der Geschichte vergessen!

Sie müsse nur ein wenig Atem holen, eine kurze Pause machen, meinte sie. Gleich würde sie mit der Erzählung fortfahren. Ob ich noch weiter hören wollte?

Natürlich wollte ich und so fuhr sie fort zu berichten:

"Eines Tages, es war am Vorabend ihres achtzehnten Geburtstages, war die Prinzessin traurig in den Park zu ihren geliebten Bäumen geflohen, denn im Schloss war ein emsiges Tun und Treiben ausgebrochen: Der Koch, der Schneider, der Sekretär des Königs, der Hofnarr, kurzum der gesamte Hofstaat lief aufgeregt treppauf und treppab, um Vorbereitungen für den großen Ball zu treffen, der ihr zu Ehren stattfinden sollte. An diesem Abend würde ihre Verlobung mit dem Prinzen des Nachbarreiches verkündet werden. Voller Stolz und Freude erwartete das alte Königspaar dieses Fest, voller Verzweiflung klagte die Prinzessin ihrer Freundin, einer uralten Eiche, ihr Leid. Sie könne für den künftigen Gemahl keine Liebe empfinden, sie wolle nicht mehr im steinernen Palast leben. Sie könne all den Reichtum und die schweren Brokatgewänder nicht mehr ertragen!

Da erzählte ihr der alte Baum von einer Insel in einem großen See, weit weg von hier. Ein kleines Paradies, voller Pflanzen, Blumen, alter Bäume und vieler Tiere. Menschen aus allen Ländern dieser Erde kämen jeden Tag zu Besuch, spazierten im alten Park, lustwandelten im Rosengarten und erfreuten sich an ihrer Pracht. Dort wäre ihre neue, seit jeher bestimmte Heimat, ihr kleines Königreich. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Blumen, Bäume und Pflanzen zu hegen und zu pflegen. Unterstützung und Hilfe bekäme sie von den Elfen und Blumenfeen. Die Inselbewohner würden sie schon sehnlichst erwarten. Wenn sie dazu bereit wäre, müsste sie ihre irdischen Gewänder ablegen, ihre Eltern, das Schloss und ihre Freunde, kurzum ihr ganzes bisheriges Leben verlassen und sich auf eine weite Reise begeben. Voller Freude hatte die Prinzessin der alten Eiche zugehört. Tief in ihrem Herzen spürte sie, dass diese Insel der Ort ihrer Seele, ihre wahre Heimat war. Traurig, weil sie sich von ihren Eltern und Freunden trennen musste, stimmte sie trotzdem der Reise zu. Da schickte sie der Baum in den Rosengarten. Dort wurde sie schon erwartet. Aufgeregte Stimmchen hier und dort. Alle Rosen wollten sich von ihr verabschieden, denn die Schmetterlinge hatten ihnen schon die Kunde ihres Weggehens gebracht. Als sie sich zu den einzelnen Blütenköpfchen niederbeugte, blieb sie mit ihren Gewand plötzlich an den spitzen Dornen einer großen, stattlichen Buschrose hängen. Es gab einen unsanften Ruck. Das Kleid und mit ihm die Leibbinde rissen mitten entzwei und glitten an ihren Beinen entlang zu Boden. Erschrocken bückte sich die Prinzessin nach ihrem Kleid, um es aufzuheben. Da spürte sie an ihrem Rücken eine zarte Bewegung. Ihre kleinen Flügel begannen nun, frei von jeglichem Druck, zu wachsen. Auf einmal hob sie sanft vom Boden ab. Höher und höher trugen sie ihre Flügel in die Unendlichkeit des blauen Himmels. Sie sah unter sich den Park mit den alten Bäumen, ihre geliebten Rosen, das Schloss ihrer Eltern immer kleiner und kleiner werden. Schließlich verschwand ihr altes Leben in den Wolken. Sie aber flog der Sonne entgegen. Je weiter sie sich von der Erde entfernte, desto leichter und glücklicher fühlte sie sich. Voller Vertrauen gab sie sich ihrem Flug hin. Mal boten ihr die Wolken einen Ruheplatz, mal wurde sie von den Sturmgeistern im wilden Spiel und Übermut mitgerissen, dann wieder wurde sie von großen Wandervögeln im warmen, weichen Gefieder mitgetragen. Es war einfach herrlich! Wie lange die Reise dauerte, wusste die Prinzessin nicht zu sagen. Sie hatte alle Zeitbegriffe verloren. In ihrem neuen Dasein gab es keine Stunden, keine Minuten mehr. Dann, irgendwann sah sie unter sich schneebedeckte Berge und einen großen See. Auf seiner blauen Wasseroberfläche tanzten tausende kleine Lichtgeister in der funkelnden Sonne. Angezogen von seiner Schönheit flog die Prinzessin tiefer und sah in seiner Mitte eine kleine Insel liegen. Sofort wusste sie, dass hier ihre Reise beendet war. Sie hatte ihr Ziel, ihre neue Heimat erreicht! Sanft landete sie und fand sich mitten im Rosengarten der Insel Mainau wieder. Sofort war sie umringt von Feen, Elfen und Blumengeistern. Sogar die etwas älteren, behäbigen Baumgeister waren aus dem Park gekommen. Sie alle hatten sie schon sehnlichst erwartet. Sie schwangen bunte Fähnchen und schmückten sie mit Blumengirlanden. Endlich konnten sie ihre langersehnte Königin begrüßen. Am Abend wurde ein großes Mondscheinfest im Park der alten Bäume gefeiert. Es wurde musiziert, gesungen und getanzt, bis der Mond, von all der Festlichkeit müde geworden, sich in sein Schlafgemach zurückgezogen hatte.

Seitdem lebt und regiert die Mainaukönigin auf der Insel, kümmert sich um Bäume, Pflanzen und um die vielen, vielen Blumen. Natürlich ist ihr Lieblingsort der Rosengarten, wo ihr täglich viele zarte Stimmchen die Inselneuigkeiten berichten. Vielleicht dürfen manche Menschen sie sehen oder als einen feinen Hauch spüren. Wir alle aber können sie in unserer Fantasie wahrnehmen."

Die alte Dame schwieg. Die Geschichte war zu Ende. Eine kleine Weile sprachen wir nicht, gaben der Stille Raum und ließen das Gehörte in uns nachwirken. Die Sonne war inzwischen hinter den großen Bäumen verschwunden und hatte den farbigen Blumen ihren Lichtglanz genommen. Die alte Dame stand auf und verabschiedete sich. Es sei jetzt Zeit, nach Hause zu gehen, meinte sie. Ich erhob mich ebenfalls, gab ihr die Hand und bedankte mich für die Geschichte. Kurz beugte ich mich zu meiner Luca hinunter, die zu meinen Füssen lag, geschlafen hatte, aufgewacht war und mich nun erwartungsvoll ansah. Ich streichelte sie und als ich mich wieder aufsetzte, um der lieben Frau noch einmal nachzuwinken, war sie verschwunden, nirgends mehr zu sehen. Das war merkwürdig, denn so schnell konnte sich ein alter Mensch nicht fortbewegen. War sie überhaupt da gewesen? Hatte ich sie mir nur erträumt? Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher. Doch ich kann mir gut vorstellen, dass es hier eine Blumenkönigin gibt. Ihre Geschichte könnte sich so ereignet haben oder vielleicht auch anders. Das, lieber Leser, möchte ich Ihrer Fantasie überlassen.

Für mich wird es nun ebenfalls Zeit, meinen Spaziergang über die Insel fortzusetzen und noch einige meiner Lieblingsplätze zu besuchen. Ich werde über den Hortensienweg gehen und mir den Dachgarten ansehen, der einen beeindruckenden Blick über den Bodensee mit den österreichischen und schweizerischen Alpen bietet. Vielleicht kam die Prinzessin aus dieser Richtung geflogen? Ich spaziere weiter, etwas schneller nun, denn im unteren Bereich der Insel in der Nähe der Schiffanlegestellen gibt es seit diesem Jahr einen italienischen Eisstand. Das macht die Insel für mich noch paradiesischer. Mit zwei Kugeln Erdbeereis in der Tüte gehe ich nun weiter zur großen Wassertreppe. Sanftes Plätschern des herabströmenden Wassers, dazu die blühenden Blumen erfüllen auch hier meine Seele mit Freude. In diesem Frühjahr wuchsen hier unzählige rote, weiße, gelbe Tulpen, dazwischen blaues und weißes Vergissmeinnicht. Es war wunderschön anzusehen. Um die nun schon tiefstehende Sonne mit ihren letzten Strahlen noch zu genießen, setze ich mich immer wieder gerne in die kleinen Staudengärten. Die mittlerweile geringe Besucherzahl und die sich nun ausbreitende Ruhe und Stille geben mir oft das Gefühl, in meinem eigenen kleinen Garten zu sitzen. Ich lausche den Vögeln, die in den hohen Bäumen ihre Abendlieder singen, höre das Geraschel der Eidechsen, die von den warmen Steinen in die kleinen Blumenbeete huschen, um ihre Schlafplätze aufzusuchen und gebe mich dem beginnenden Abendfrieden der Insel hin. In diesen kleinen Gärtchen meinte ich auch schon des Öfteren kleine, feine Präsenzen zu spüren, vor allem um diese Zeit. Vielleicht gehen nun die Blumenfeen durch die Reihen und verschenken den Pflanzen neue Energie und Kraft, so dass die Insel mit ihrer Blumenpracht die vielen Besucher am nächsten Tag wieder gereinigt und voller Strahlkraft empfangen kann.

So lasse ich meistens meinen Mainauspaziergang ausklingen. Vorbei an den üppig wachsenden Buschrosen, ein letzter Blick auf müde blickende Esel und Ziegen, die Kaninchen sind zu dieser Zeit schon in ihrem Schlafhäuschen, gehe ich nun am großen Spielplatz vorbei, dem Ausgang zu.

So darf ich mich nun von Ihnen verabschieden, denn ich kann mir gut vorstellen, dass Sie jetzt Ihren eigenen Weg über die Mainau gehen möchten. Vielleicht zieht es Sie noch einmal in den Park zu den alten Bäumen oder in den Rosengarten. Wohin auch immer Ihr Weg Sie führen wird, die Insel hat so viele Schätze anzubieten. Sie müssen sich nur auf die Suche begeben und dabei Ihr Herz und Ihre Fantasie zur Hilfe nehmen.

Wenn Ihr Besuch hier einmalig war, die Möglichkeit eines Wiederkommens für Sie nicht gegeben ist, dann kommen Sie doch einfach in Ihren Gedanken und Erinnerungen hierher zurück. Wir alle können uns im Geiste unsere eigene Insel, unser eigenes kleines Paradies schaffen, in das wir uns von Zeit zu Zeit zurückziehen können, wenn uns die Welt zu laut und zu umtriebig wird. Wir sollten nur wieder lernen, stille zu werden und bewusst ab und zu dem Lärm und der Hektik des Alltages zu entfliehen. Dann werden wir staunen, wie viel Schönes es in unserer unmittelbaren Nähe zu entdecken gibt.

Öffnen Sie Ihre Augen und Ihr Herz und gehen Sie auf die Suche.

Es lohnt sich!

Die kleine Insel unserer Fantasie

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