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Fliegende Schuhe

Tränen am Beginn und am Ende

"Über den weißen weichen geschwollenen Bauch einer schwangeren Frau streift der Schriftzug einer Neon-Werbung. Wie auf einem Bild von Picasso hält sie ihren Kopf etwas schief."

ZUNKUNFT

Dinge, die in Zukunft möglich sein könnten:

Die Einstellung aller Kriege und Schluß mit Töten ...

Weniger weinende Kinder ...

Die Abschaffung von Besitzrechten an anderen Mitlebewesen, weder an Tieren, an Pflanzen, noch an Menschen ...

Die Heilung unheilbarer Krankheiten ...

Das Fliegen mit fliegenden Schuhen ...

Das Lernen von Sprachen Außerirdischer ...

Solch eine Zukunft, das wäre doch grandios. ... Noch liest sich die Liste wie ein Wunschzettel, wie die unrealistische, naiv hoffende Fantasie paradiesträumender Nerds. Doch keiner behauptet heute, dass all dies unmöglich sei.

Obgleich wir durchaus in solch eine Zukunft unterwegs sind, kann ich nur schwer abschätzen, wie weit wir damit schon gekommen sind.

Denn anscheinend wird die Zukunft für uns erst dann konkret und präsent, wenn wir uns mit dem eigenen Tod beschäftigen. Dann wird die Zukunft hautnah spürbar: das unangenehme Gefühl des kommenden Endes beschleicht uns. Die Angst vor dem eigenen Tod spiegelt sich ... ein Abschied, wie durch ein Messer getrennt ... das Gefühl des Fallens in eine bodenlose Schlucht ...

Obwohl wir alle wissen, dass wir sterben werden, kommen uns bei dem Gedanken an den Tod die Tränen. – Doch denke ich in solchen Momenten an die Schuhe, mit denen man fliegen kann (auch wenn das jetzt noch nicht möglich ist), dann verspüre ich weniger Traurigkeit und Angst vor der bodenlosen Schlucht und dem Abschied. Denn alles ist ein fließender Prozess.

Der Tod gehört nicht nur in die Zukunft.

Es ist doch so, dass wir jeden Tag ein klein wenig sterben.

Und die „Wellen des Lebens“, die wir schlagen, bewegen sich weiter, auf und ab und verschwinden wieder.

Wahrlich, diese Gedanken geben mir Trost – glücklicherweise ....

Ich hoffe jedoch sehr, dass der Moment des Verschwindens nicht so etwas Besonderes wird.

olche Gedanken bewegen mich, als ich eine zweite Chance zu leben bekomme.

Doch ich beende vorerst meinen Blick in die Zukunft. Ich habe ein wenig Frieden gefunden. Guten Mutes denke ich über die ersten Tränen nach.

GEBURT

Ein gerade neu geborenes Kind, dem nach dem Verlassen des Mutterbauches die Nabelschnur durchgeschnitten wird, erlebt Panik und einen Schock. Wir alle haben diese Erfahrung gemacht. Das ist eigentlich unser erster Abschied, so denke ich. Ja, denn ab diesem Moment haben wir zu weinen begonnen. Ich stelle mir die Welt im warmen Mutterbauch vor. Und so taucht in meinem Kopf geheimnisvoll eine erstaunliche Wirklichkeit auf; Bilder, die sich zu einer Liste von Gedanken formieren:

Über den weißen weichen geschwollenen Bauch einer schwangeren Frau streift der Schriftzug einer Neon-Werbung. Wie auf einem Bild von Picasso hält sie ihren Kopf etwas schief. Sie liegt auf einem roten Sofa, die Augen geschlossen und ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht.

„... Ein Heim und Paradies, das nie wiederkehren kann! Ewiger Frieden und Zufriedenheit ... Ein immerwährendes Gefühl von Schutz und Sicherheit.“

„... In jedem Moment steigt krabbelnd Freude auf ...“

„... Zeit spielt keine Rolle. Nur dort ist es sorglos, wo es friedlich blubbert ... “

„... Bedingungslos fließt die Liebe mit der warmen Muttermilch ...“

Wegen des hübschen Lächelns der reizenden Frau verliere ich kurz meine Gedanken. Erst als die Texte im Neonlicht über die Frau streifen, eilen meine Gedanken weiter. Plötzlich! – Ein Einfall jagt mir durch den Kopf. – Blitzschnell: „Alles kommt mir doch sehr bekannt vor. Nicht wahr? Die ideale Welt, der Perfektionismus, die Ewigkeit, das Glück, usw. Vielleicht haben Menschen schon immer für solche Dinge geglüht?“

Könnte es sein, dass der Mensch solch ein komisches Wesen ist, dass er wieder zurück in den Bauch der Mutter strebt? Weder Instinkt, weder Religion, weder Philosophie – wenn man nicht geboren wird, hat alles keine Bedeutung. Deshalb möchte ich den Prozess der Geburt etwas genauer betrachten.

Die Geburt bedeutet einen erzwungenen Abschied von der Welt im Mutterbauch. ‚Sorge’ oder ‚Angst’, solche Worte tauchen erst nach der Geburt auf. Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft drängt sich zwischen die Zeit. Endlosigkeit wird zu Endlichkeit. Ein ungeahntes Hungergefühl nimmt mir die Luft.

In dem Moment, in dem ich die Welt mit Emotionen und Sinnen nach und nach lese und akzeptiere, versinkt der ursprüngliche Ort der ruhigen friedlichen blubbernden schwebenden Zeit in der tiefsten Ecke meines Unterbewusstseins, tiefer und tiefer.

Dazwischen: „Ich muss atmen! Ich möchte Luft holen! Schnell! Schnell!“. Die Luft des Neugeborenen füllt die nassen Lungen. HAAACH!. Das mit der Zeit tanzende Geräusch des Herzschlags schockiert. Panik. Dann, ganz außer Atem und mit Herzklopfen: „Wo bin ich hier bloß gelandet?“ ...

Die warme Muttermilch fließt die Kehle herunter und wärmt den Körper. Das panische Atemgeräusch beruhigt sich. Das durch den Schock ausgeschüttete Adrenalin verringert sich. AAAAH, etwas Bekanntes um mich herum umhüllt mich und gibt mir ein wenig Trost.

Gleichwohl, dieser panische Moment wird wohl nie vergessen. Diese furchtbare Erfahrung des Abschieds brennt sich in mein Gedächtnis ein. Jedes Mal, wenn das Emotions-Elektron dieses panisch-furchtbaren Moments aktiviert wird, fließen die Tränen – wie bestellt.


TOD

Wie die Geburt, so ist auch der Tod ein erzwungener Abschied von dieser Welt. Er passiert ohne Rücksicht auf den Wert des Lebens desjenigen, der gezwungen wird zu gehen.

Im letzten Moment des Lebens, beim Übergang irgendwohin in eine andere Welt, wird auch der Atem gestoppt. Wieder diese Panik und der Schock. Ich stelle mir dann vor, dass man in eine mehrdimensionale Welt transformiert wird. Womöglich stiller und leichter als das „Nichts“?!

Möglicherweise entspricht dieser Moment der folgenden von mir erlebten Szenerie:

Vor der Operation und nachdem die Betäubung wirkt, entfernt sich eine Stimme immer weiter weg: „Keine Sorge. Schlafen Sie tief. Alles wird gut“. ...

Dann bricht meine Wahrnehmung ab.

Ich falle ins Unbewusste.

Nur noch Nichts, weder Zeit noch Raum, einfach nichts.

Mein Körper ist nur noch eine Hülle.

Vielleicht wird auch diese Hülle irgendwann verschwinden; bedeutungslos, sinnlos ...

Es ist kein Schlaf, es gibt keinen Traum, kein Bewusstsein, ... keinen Schmerz, keine Liebe ...

Das Bild in meinem Kopf schaltet sich auf einmal ab, es wird schwarz ....

ZZZ!

Ich glaube, im Moment des Todes – am Übergang in eine womöglich mehrdimensionale Welt, hinein in ein Leichter und Stiller als das Nichts, ganz ohne Zeit und Raum, hinein in ein bedeutungsloses Irgendwas, in diesem Moment, der wie ein Abschied ist – da fließen die letzten Tränen.

Irgendwie fange ich an, über die Bedeutung dieser Tränen nachzudenken. Über das erste Tränentröpfchen bei der Geburt bis hin zum letzten Tränentröpfchen beim Tod.

Zum Drucken mit dem 3D-Drucker wird das ganze Leben eingescannt ... SCAAANN.

Plötzlich spüre ich, dass ich träume, erlange wieder das Bewusstsein, spüre die Schmerzen, habe Durst nach Liebe, .... das Bild im Kopf wird wieder belichtet, .... ZZZ!

Wo befindet sich das Paradies? ... Davor? Oder danach?

Während solcher Gedanken scanne ich möglichst realistisch vorstellbare Bilder ein ... SCAAANN.

Anschließend stelle ich mir wieder die Zukunft vor. Es wird mir bewusst: die Zukunft wird auch nach dem Tod noch da sein. Die Zukunft ist klar durch das Fensterglas zu sehen. Der Tod ist im Raum, auf unserer Seite des Fensters. Er schaut ständig durch das Glas hindurch zur Zukunft. Das Paradies bewegt sich zwischen beiden Seiten hin und her.

ZZZ!

Hörtipp zum Schluss des Kapitels: Track 5 – Jenseits des Fensters


Tränen

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