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OKTOBER

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Freitag, 13. Oktober

Liebes Tagebuch,

die Schultage sind purer Horror. Die Schüler machen sich über mich lustig. Respekt ist ein Fremdwort für sie. Sie demütigen mich in aller Öffentlichkeit. Ihre Blicke durchbohren meinen Rücken wie Giftpfeile. Schon am Montagmorgen sehne ich den Freitagabend herbei. Nur in meinen eigenen vier Wänden, fühle ich mich halbwegs sicher.

Am Ende unserer gestrigen Sitzung habe ich dem Doc mein Herz ausgeschüttet und ihn um medikamentöse Unterstützung gebeten. Die Gespräche sind mir eine Stütze, aber ich brauche etwas, dass mir hilft, durch den Tag zu kommen.

Er betrachtete mich auf die halb neugierige, halb nachdenkliche Art, die Ärzten angeboren ist und zwirbelte seine Bartspitze. Es gäbe da ein neues Medikament, sagte er, noch nicht marktreif, aber in der finalen Erprobungsphase. Ob ich bereit wäre, an einer Studie teilzunehmen? Mein Krankheitsprofil sei wie geschaffen, ich entspräche in allen Punkten den Anforderungen an potentielle Testkandidaten (eine Tatsache, die mich beinahe mit Stolz erfüllte).

Als ich Interesse signalisierte, erging er sich in einen langatmigen Monolog über die Chancen und Risiken. Schon nach wenigen Sekunden blendete ich seine sonore Stimme aus. Ich wollte meine Ängste besiegen, egal womit. Erst nachdem ich ein kleingedrucktes Protokoll unterschrieben hatte, in dem bestätigt wurde, dass er mich über sämtliche Pros und Contras aufgeklärt hatte, drückte sich Loomis aus seinem Drehstuhl. Er entriegelte seinen wie einen Tresor gesicherten Medikamentenschrank, wühlte eine Weile darin herum, und schob mir eine unscheinbare weiße Schachtel über den Tisch. Mit dem Versprechen, ihn wöchentlich über meine Fortschritte auf den Laufenden zu halten, stecke ich sie ein.

Heute morgen, noch vor dem Aufstehen, habe ich die erste Pille aus der Blisterpackung gedrückt. Sie ist rund und knallgelb, wie eines dieser Smiley-Gesichter, nur ohne Smile. Ich saß auf der Bettkante und lutschte auf der Tablette herum, während ich den Beipackzettel durchlas. Ein Smiley täglich, einzunehmen mit etwas Flüssigkeit. Die folgende Liste der Nebenwirkungen passte auf keine Klorolle. Sie erstreckte sich von Erbrechen, Schwindel, Durchfall und Müdigkeit über Wahnvorstellungen, Paranoia, Halluzination und Suizidgedanken. Schon das Lesen des Zettels verursachte einige davon. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und spülte das gelbe Ding runter.

Jetzt sitze ich im Unterricht, und während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich tatsächlich eine Veränderung. Die Schüler sind plötzlich weniger Bedrohung als am Lernen interessierte junge Menschen. Vielleicht ist es Einbildung, aber ich glaube - hoffe -, dass der dunkle Vorhang, der bisher mein ständiger Begleiter war, sich einen Spalt geöffnet hat. Was dahinter liegt, werde ich dir in Kürze berichten.

-

Paul schaute aus dem Fenster des Physiklabors. Der Sommer war zu einem Indian Summer geworden, doch von buntgefärbten Laub war um diese Tageszeit nichts zu sehen. Er sah sein Spiegelbild vor einem Hintergrund undurchdringbarer Dunkelheit, als hätte jemand eine schwarze Samthülle über die Apollo geworfen. Seine Mitschüler dämmerten im Halbschlaf eines zu frühen Freitagmorgens. Der einzig Lebendige im Raum war sein Lehrer. Als hätte man ihm eine Koffeininfusion gelegt, rannte er gestikulierend von einer Seite des Raums zur anderen und predigte gegen leere Blicke und Augenlider auf Halbmast. Mit der Leidenschaft des Besessenen schwadronierte er über das Unschärfegesetz.

Paul ertappte sich dabei, wie er einmal mehr den Umschlag seines Physikheftes tätowierte. Der Heftrücken verschwand bereits unter einem Wust typografischer Variationen der immer gleichen sechs Buchstaben. JOANNE. Joanne in dreidimensionalen Lettern, Joanne mit rührenden Ornamenten verziert, im dreidimensionalen Blocksatz, in Tinte und Grafit. Pauls Physiklehrer war definitiv nicht der einzige Besessene im Raum.

Endlich ertönte der ersehnte Gong. Paul blieben fünf Minuten zwischen Theoremen und Theorien. Er zog das Skateboard aus seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Das Physiklabor lag im Erdgeschoss. Verließ man es nach links, gelangte man mit wenigen Schritten zu Spind 113 - Joannes Spind. Paul bog rechts ab und nahm den Umweg ums Karree. Es war besser, sich von der anderen Seite zu nähern, denn so hatte er sein Ziel frühzeitig im Blick und konnte die Lage aus der Ferne einschätzen.

Seit dem Ende der Ferien hatte er so manches unternommen, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen. Morgens im Bus hütete sein Rucksack so lange den Platz neben ihm, bis Joanne zustieg. Erst dann gab er die Sitzbank frei, in der vagen Hoffnung, Joanne würde sich einmal neben ihn setzen. Doch statt für Paul entschied sie sich regelmäßig dafür, die Busfahrt mit einer der Crostons zu verbringen - falls sie überhaupt den Schulbus benutzte und nicht von der ältesten Croston-Schwester mitgenommen wurde.

Paul erreichte die letzte Ecke und blickte den Gang hinab. Sein Herz machte einen Hüpfer. Dort stand sie und drehte an ihrem Zahlenschloss.

Auch wiederholtes Gassigehen vor Joannes Haus hatte nicht zum Erfolg geführt. Ein einziges Mal meinte Paul, ihre Stimme gehört zu haben, wie sie ihren jüngeren Bruder zurecht wies. Doch selbst darüber war er sich nicht sicher gewesen. Ebenso gut hätte es ihre Mutter sein können.

In den seltenen Momenten, in denen das Schicksal auf dem Schulflur ihre Wege kreuzte, versuchte er, ihren Blick aufzufangen. Vergeblich. Joanne sah durch ihn hindurch. Mark hatte recht. Sie hatte keine Ahnung, dass er existierte - bis jetzt.

Wenigstens wusste er ihre Spindnummer. Schritt für Schritt pirschte er sich an wie ein Wilddieb.

Die Pause zwischen der Doppelstunde Physik bot die beste Chance auf einen Erstkontakt. Sie bot eine kontrollierte Umgebung, wie sein Physiklehrer es in den Beschreibungen zu seinen Experimenten nannte. Eine Art Anti-Unschärfegesetz - er wusste mit ziemlicher Sicherheit, wann sich Joanne wo aufhalten würde.

Dann stand Paul hinter ihr und stierte auf die perfekteste Halsbeuge der Welt. Überdeutlich registrierte er jedes Detail Wie sie sich mädchenhaft auf die Zehenspitzen stellte, um ihr Buch auf das oberste Regal zu schieben. Die Wadenmuskeln, die durch diese Bewegung hervortraten. Der fünfzackige Stern auf der Seite ihrer Converse-Schuhe. Die hellen Nackenhärchen im Kontrast zum goldbraunen Hautton, ein kalifornisches Goldbraun von einschüchternder Makellosigkeit, so deplatziert warm vor der trüben Kulisse aus Kacheln und Linoleum.

Während zwischen ihnen der Schülerstrom zurück in die Klassenräume floss, labte sich Paul am süßlich-künstlichen Erdbeeraroma von Joannes Kaugummi und träumte Paul davon, wie Joanne und er das Erdbeerkaugummi teilten. Auf einer tieferen Ebene, die er so gut er konnte ignorierte, war ihm bewusst, dass das Konzept Joanne und er abstrakter war als die Relativitätstheorie. Jedes Mal, wenn Paul in Joannes Nähe kam, lähmte ihn ein unsichtbares Kraftfeld, raubte ihm die Stimme und diktierte ihm, einfach weiterzugehen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Als ob es jemals eine bessere Gelegenheit geben würde.

Er stellte sich vor, er wäre Terra. Wenn seine Hündin jemandem das Gesicht ableckte und ihre Schnauze ungeniert zwischen fremde Beinpaare schob, fand man das bestenfalls putzig, schlimmstenfalls Pfui.

Paul kratzte seinen sämtlichen Mut zusammen. Er musste Joanne ansprechen, hier und jetzt. Der Tag war gekommen, das Kraftfeld zu durchbrechen! Ein gigantischer Kloß wuchs in seinem Hals. Das Skateboard wog plötzlich zwanzig Kilo. Er atmete tief ein und trat einen Schritt vor. Im selben Moment schlug Joanne ihre Spindtür zu und ging davon. Paul sah ihr noch hinterher, als sie schon längst verschwunden war.

-

Die harte Trainingseinheit im Kraftraum tat Brian gut. Seine Muskeln brannten. Er fuhr mit dem Finger bewundernd die ausgeprägte Kante seines Trizeps ab, als jemand ihn mit einem Handtuchzipfel attackierte.

Der Angreifer war Tyrone "Ty" Jackson, ihr Linebacker und im Team der Starfighters einer von zwei vorwitzigen Niggern, von denen es glücklicherweise nur eine Handvoll an der Apollo gab. Jeder andere, der sich eine derartige Attacke erlaubt hätte, wäre in den Genuss von Brians aktiver Sterbehilfe gekommen. Ein Nigger gleich zweimal. Aber Tyrone war genau wie Brian einer der Leistungsträger in ihrer Mannschaft und stand damit unter dem besonderem Schutz des Coaches.

"Was geht ab an Halloween?", fragte Ty. Er machte eine Handbewegung, die man nur als exzessiven Alkoholkonsum interpretieren konnte. Am 31. Oktober fand traditionsgemäß ihr jährliches Mannschaftsgelage statt, ein bodenloses Fass Budweiser und hemmungslose Cheerleader inklusive. "Bist du dabei, Wolfi?"

Wolfi. Ty benutzte den verhasste Spitznamen, weil er genau wusste, dass kein anderes Wort Brian zuverlässiger in den Wahnsinn trieb. Angefangen hatte dieser Wolfi-Quatsch harmlos, mit einem Artikel auf den Sportseiten der Schülerzeitung, dem Apollo Observer. Nach einem erniedrigenden Sieg gegen die Arcadia Cardinals. In seinem Spielbericht erwähnte der Schreiberling Brian mit der Bemerkung, dieser habe sich durch die gegnerische Mannschaft gefressen wie ein hungriger Wolf. Der holprigen Analogie zum Trotz etablierte sich der neue Spitzname an der gesamten Schule. Brian fühlte sich geschmeichelt. Doch schneller als ihm lieb war, wurde dem Wolf ein i angehängt, und das Raubtier zum putzigen Welpen verniedlicht. Der Name blieb hängen, auch wenn niemand wagte, ihn in Brians Anwesenheit zu benutzen. Die einzige, die Brian ungestraft Wolfi nennen durfte, war Rachel, und auch nur dann, wenn niemand in der Nähe war.

Tyrone tanzte vor ihm auf und ab, die Arme fragend ausgebreitet. Brian dachte an sein Stipendium. Er schluckte den Zorn runter und begnügte sich mit einem drohenden Blick.

"Keine Chance, Mann", sagte er zu seinem Trizeps. "Bin schon gebucht."

"Von deiner Alten?"

"Yep."

Rachel hatte ihn gebeten, das diesjährige Halloween mit ihr zu verbringen. Gebeten auf die Art, wie die Mafia einen Kneipenwirt um Schutzgeld bittet. Natürlich würde auch das Buschmädchen wieder dabei sein. Sie sollte unbedingt ihr erstes Halloween im Kreis der neuen Familie erleben, von wegen amerikanische Kultur und so.

"Stehst ganz schön unterm Pantoffel", sagte Tyrone.

Brian biss sich auf die Lippe.

"Verzieh dich besser, Ty."

"Na dann viel Spaß beim Kürbisschnitzen."

Feixend verschwand Tyrone im Nebel des Duschraums.

Die Aussicht, sich am Halloween gepflegt mit seinem Team volllaufen zu lassen anstatt wie ein Vorschüler in einem peinlichen Kostüm um die Häuser zu ziehen, war verlockend. Natürlich stand er nicht unter Rachels Pantoffel. Er konnte ihr Gelaber getrost ignorieren. Stundenlange Telefonate hatten ihn zu einem Meister des Weghörens werden lassen. Allerdings müsste er dann die Konsequenzen in Form einer wochenlang beleidigten Rachel ertragen. Er sah ihre schmollende Fluppe schon vor sich, wenn er ihr beichtete, dass er keinen Bock auf die Halloween-Kinderkacke hatte. Nicht dass er sich eh schon jedes Mal den Mund fusselig reden musste, damit sie die Beine breit machte. Vielleicht war es an der Zeit, einen Ersatz zu suchen. Auf der Party würde es keinen Mangel an Mädchen geben, die nur allzu bereit wären, sich vom Quarterback der Starfighters nageln zu lassen. Andererseits - jemanden zu finden, der es optisch mit Rachel aufnehmen konnte, würde keine leichte Aufgabe sein. Was ihr Aussehen betraf, war Rachel ein wahrgewordener Jungstraum. Und darauf wollte er nicht verzichten.

Ihm blieb die Wahl zwischen Pest und Cholera. Keine Saufparty oder keine Rachel. Brian entschied sich für die Pest. Dieses Jahr würde er klein beigeben. Er hatte keine Lust auf Stress. Wenn einer Stress verursachte, dann war es der Wolf.

-

In Pauls Ecke tagte der Klub der Unsichtbaren. Mark diskutierte mit Ale, während Special Ed neben den beiden stand, grinste und beobachtete. Sobald Paul in Griffweite kam, packte Mark ihn am Arm und schaute ihm tief in die Augen.

"Der Tod ist in ihre Stadt gekommen, Sheriff. Sie können ihn ignorieren, oder mir helfen, ihn zu stoppen."

Ale verfolgte die Szene mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. "Ist das irgendein amerikanisches Ritual, von dem ich wissen müsste?"

"Mark zitiert aus Halloween", sagte Paul.

"Ist das ein Film?"

"Ist das ein Film??", echote Mark empört. "Halloween ist der Film. Die Mutter aller Slasherfilme."

Er nahm die Hand von Pauls Schulter, zog Ed heran und rammte ihm ein unsichtbares Messer in den Bauch, nur für den Fall, dass das Wort Slasherfilm nicht zu Ales Wortschatz gehörte. Special Ed krümmte sich lachend, ein Hakenkreuz aus Gliedmaßen.

"Wer ist nun ignorant?", fragte Mark. "Hat das Girl aus Ipanema etwa noch nie von Michael Myers gehört, dem original Bogeyman?"

"Was ist Boogie Man? Ein Tanz?"

Mark seufzte. "Bo-gey-man! Der schwarze Mann. So wie in –" Er zog einen Marker aus seiner Tasche und schrieb Der Bogeyman wird dich holen! auf die Kacheln neben seinen Spind. "Der Bogeyman ist das personifizierte Böse."

Ale zuckte mit den Schultern. Bogeyman - schon das Wort hörte sich dämlich an. Es musste so eine Art Homem do Saco sein, der Sackmann, dessen Geschichten in ihrer Heimat die Kinder erschreckten.

"Gibt's in Brasilien kein Halloween?", fragte Paul.

"So was Ähnliches. Aber wir machen da nicht so einen Kult drum."

"Wir schon", sagte Mark. "Der 31. Oktober ist uns heiliger als Weihnachten. Seit wir zwölf sind, sehen wir an jedem Halloween Halloween I. Und dieses Jahr kommt der fünfte Teil raus - Die Rache des Michael Myers. Paul jobbt im Kino, da können wir endlos Filme sehen."

"Im Kino? Cool. Das macht bestimmt Spaß", sagte Ale.

Paul rümpfte die Nase. "Wenn man darauf steht, Popcorn aus den Polstern zu klauben."

"Paul steht darauf", sagte Mark. Und zu Ale: "Hey, warum ziehst du dieses Jahr nicht mit uns los? Erst gucken wir Halloween 5, dann Halloween 1, dann ziehen wir um die Häuser. Mit uns bekommst du eine Überdosis authentische amerikanische Kultur."

"Ich würde ja gern, aber ich fürchte, meine Gastschwester hat den Abend schon verplant. Sie meinte, ich sollte mir an Halloween nichts vornehmen."

"Dein Pech. Vielleicht läuft man sich ja beim Trick or Treat über den Weg."

"Ja, vielleicht. Bis später!" Ale machte sich davon.

"Also, was ist der Plan dieses Jahr?", fragte Mark. "Wann geht's los?"

"Bis 15 Uhr muss ich arbeiten", sagte Paul.

"Okay, ich komm dann im Cine vorbei." Marks Kugelschreiber tippte auf die Rückseite von Pauls Physikheft, deren Originalfarbe unter der Flut von Joanne-Graffitis verschwand.

"Gut, dass du nicht von ihr besessen bist oder so."

"Was soll man sonst machen, um zwei Stunden Physik rumzubekommen?"

"Und wie läuft's mit der Braut? Erste Erfolge?"

"Mehr oder weniger. Mehr weniger."

"Immer noch nicht mit ihr geredet?"

"Beinahe."

"Warum rufst du sie nicht einfach mal an? Oder gehst zu ihr rüber? Wo sie schon in deiner Straße wohnt.

"Vielleicht mach ich das ja."

Ed, der die ganze Zeit regungslos an der Wand gelehnt hatte, starrte fasziniert auf Pauls Physikheft. Er fuhr mit dem Finger über die Buchstaben wie ein Archäologe, der eine altägyptische Keilschrift entziffert.

"J-O-A-N-N-E", buchstabierte er.

"Whoa", rief Mark. "Es spricht."

"Du hättest fester zustechen sollen."

"Deine Leseklasse trägt Früchte, Ed", sagte Mark. "Kannst stolz auf dich sein." Ed grinste.

Paul ging zu seinem Spind und verstaute das Skateboard. Genützt hatte es ihm heute - wieder einmal - nichts.

"Sag mal", rief Mark "hatte ich nicht gestern den Bremsenreiniger hier abgestellt?" Er tastete die Untiefen seines Spinds ab.

"Ist er das nicht?" Paul zeigte auf eine blau-gelbe Dose.

"Natürlich nicht. Das ist WD-40. Bremsenreiniger ist in einer weißen Spraydose mit roter Kappe."

"Keine Ahnung. Heute ist Freitag der 13., da verschwindet einiges. Warum lässt du den Kram nicht im Auto?"

"Weißt du, wie heiß es darin werden kann? Soll der Pussy Magnet explodieren, oder was?"

Paul seufzte. Kaum ein Tag verging, an dem Mark nicht irgendwelche Öle und Sprays aus der Werkstatt in die Schule schleppte, um sie in Freistunden am Pussy Magnet auszutesten. An manchen Tagen glich sein Spind dem Kofferraum eines Pannendienstes.

"Scheiß drauf", sagte Mark. "Das Zeug bringt eh nicht viel."

Paul hörte nur mit halbem Ohr hin. In seinem Kopf tanzten die Buchstaben. J-O-A-N-N-E. Was konnte er nur anstellen, damit sie von ihm Notiz nahm?

In diesem Moment sah Paul X das erste Mal.

Man konnte ihn gar nicht übersehen, denn er überragte alle anderen Schüler. Sein Kopf war kahlrasiert, bis auf einen Streifen in der Mitte, der in harte, an die Decke zeigende Stacheln unterteilt war. Ein Irokesenhaarschnitt, wie Paul ihn nur von den Downtown-Kids kannte, die auf der Monroe Avenue rumlungerten. So auffällig wie der Haarschnitt war auch die Kleidung des Jungen. Über einem zerlöcherten, von Sicherheitsnadeln zusammengehaltenen T-Shirt trug er eine schwere Lederjacke mit abgewetzten Ärmeln. Der Schulterbereich war gespickt mit Nieten, das Revers durchstochen von einer Sammlung greller Buttons mit mysteriösen Akronymen. DK, PIL, SxE, GBH. Darunter trug der Fremde ein kariertes Holzfällerhemd, um den Bund seiner Cargohose geknotet wie ein Schottenrock. Mit versteinerter Miene marschierte er auf Army-Stiefeln an Paul vorbei.

Paul konnte seine Augen nicht von dem ungewohnten Anblick losreißen. Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment meinte Paul, in den graublauen Augen des Jungen eine immense Abneigung zu lesen. Nicht so sehr gegen ihn persönlich, eher spürte er eine Art allumfassende Verneinung, als verabscheute der seltsame Neuankömmling alles und jeden um sich herum.

Dann sah der Junge wieder geradeaus und ging vorbei. Paul rammte Mark einen Ellbogen in den Hüftspeck.

"Was ist?" Mark hatte die Suche nach dem Bremsenreiniger noch immer nicht eingestellt. Unbeirrt wühlte er im Spind, als gäbe es irgendwo im hintersten Winkel ein unentdecktes Geheimfach.

"Hast du gesehen?"

"Was denn??"

"Der Typ eben. Mit dem Irokesenschnitt."

"Nein. Wer an der Apollo trägt einen Irokesenschnitt?"

"Eben."

Mark reckte seinen Hals, aber der Junge war bereits verschwunden.

"Ich seh' nichts."

"Vergiss es."

Paul durchlebte eine Sekunde des Zweifels. Mark hatte recht – wer an der Apollo High traute sich, so rumzulaufen? Der Junge sah aus wie ein finsterer Paradiesvogel und passte besser in eine der Punkbands, deren Videos spät abends auf MTV liefen. Schon zu Beginn der nächsten Schulstunde hatte Paul die Begegnung vergessen.

Dienstag, 31. Oktober

Liebes Tagebuch,

dies wird ein besonders langer Eintrag, denn heute ist ein besonderer Tag. Der schlimmste Tag des Jahres - Halloween.

Es ist der Tag, an dem sie die Grenze zu meinem Privatleben überschreiten und bis an meine Haustür vordringen. Nicht einmal vor meiner letzten Zuflucht schrecken sie an diesem Abend zurück. Und wenn man ihnen keine Geschenke macht, wird man sie nie wieder los.

Den Unterricht lasse ich heute ausfallen. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Heute morgen bin ich noch vor dem Frühstück zur Tankstelle am Ende der Straße und habe zwei große Plastiktüten voll Süßigkeiten gekauft. Keine der billigen Mischpackungen, die größtenteils farbstoffgeschwängerte Zuckerkegel enthalten. Nein, dieses Jahr gibt es nur feinste Markenware. Reese's Peanut Butter Cups. Hershey Kisses. Und die unverschämt teuren Mini-Schokoladenriegel. Mars, Snickers, Milky Way.

Neben die Haustür habe ich einen beleuchteten Plastikkürbis gestellt. Er wird sie milde stimmen. Wenn man ihnen gibt, wonach sie verlangen, wird man sie schnell wieder los. Tür auf, eine Handvoll Süßigkeiten in die Beutel, Tür zu. Meine Medikamentendosis habe ich verdoppelt, zwei Smiley-Pillen statt einer. Ich bin perfekt vorbereitet.

Liebes Tagebuch, draußen sind dunkle Wolken aufgezogen, als wolle die Natur meine Gedankenwelt parodieren. Das lange Warten hat begonnen. Meine Gedanken beginnen zu kreisen. Gerade musste ich an die Botschaft denken, die in der Schule an der Wand gegenüber des Trinkbrunnens geschrieben stand.

Der Bogeyman wird dich holen.

War es Drohung oder Warnung? Nein, ich will es gar nicht wissen. Wie es der Doc bei Grübelattacken empfiehlt, versuche ich, mich mit Ersatzhandlungen abzulenken. Irgend etwas, nur nicht Nichts tun. Es erfordert große Anstrengung, auf etwas zu fokussieren, wenn im Hinterkopf der Abend lauert.

Eine Weile habe ich mit Pasteur geredet, dann wurde es ihm langweilig und er verließ das Haus. Wer weiß, was er da draußen treibt. Seit wir hier eingezogen sind, hat er sich verändert. Alles scheint ihm zuviel. Unser Verhältnis verschlechtert sich von Tag zu Tag

Danach habe ich in der Formelsammlung rumgeblättert, bis die Symbole anfingen, vor meinen Augen zu tanzen.

Ich glaube, das Bad könnte mal wieder eine Reinigung vertragen. Nicht, dass es schmutzig wäre, aber man weiß nie, welche Keime sich in den Ecken und Kanten einnisten. Die Angst wegschrubben - vielleicht funktioniert das?

Ich werde noch eine Pille nehmen und versuchen, ein wenig zu schlafen.

Das Kreischen der Türklingel riss mich aus einem traumlosen Schlaf. Ich lag auf der Couch, umgeben von Dunkelheit. Mein Gott, wie viel Zeit war vergangen? Benommen stolperte ich zum Fenster, eine Hand bereits am Korb mit den Süßigkeiten, in Erwartung singender Kinder vor der Haustür.

Liebes Tagebuch, du wirst nicht glauben, was dort draußen im Schein der Kürbislampe stand. Zwei Meter groß und mit breiten Schultern wie ein Footballspieler in Schutzkleidung – das war alles andere als ein Kind. Nicht einmal ein Mensch. Es war der Bogeyman höchstpersönlich, gekleidet in einem Overall, so schwarz, dass das narbige, kreidige Gesicht darüber zu schweben schien. In der Hand hielt er ein Fleischermesser, die Klinge lang wie ein Lineal. Die Prophezeiung auf den Schulkacheln hatte sich erfüllt.

Hinter der Jalousie lauschte ich meinem hämmernden Herzen und erwartete das nächste Klingeln. Doch der Bogeyman stand nur da, regungslos. Die Messerklinge reflektierte oranges Licht. Dann drehte er sich auf seinen schweren Stiefeln um und ging betont langsam die Auffahrt. Kurz bevor er die Straße erreichte, sah er über seine Schulter, mir direkt in die Augen. Die Klinge funkelte. Ich verstand die Nachricht: dies war nicht sein letzter Besuch.

Dann bemerkte ich etwas seltsames. Meine Angst, mein dunkler Begleiter, der mich nie allein ließ, verschwand. Und mit ihr auch die Angst vor der Angst. Noch nie hatte ich mich so wach gefühlt.

Voll Tatendrang ging ins Badezimmer. Auf dem Boden standen Flaschen mit Reinigungsmitteln. Schmutzige Wischtücher hingen zum Trocknen über dem Rand der Badewanne. Die Wanne selbst strahlte weißer als Weiß – offenbar hatte ich den Großteil des Nachmittags damit verbracht, sie zu putzen. Ich machte mich ans Aufräumen. Als ich die Plastikflasche mit dem Rohrreiniger zurück ins Regal stellte, fiel mir auf der Rückseite das Warnsymbol ins Auge, ein Totenschädel in leuchtoranger Raute. Einen Impuls folgend nahm ich die Flasche mit ins Wohnzimmer, stellte sie vor mich auf den Tisch Der Schädel bewegte sich. Zuerst hielt ich es für ein willkürliches Zucken der Augenhöhle, aber dann verstand ich. Er zwinkerte mir zu. Ein Signal der Ermutigung. Der Schädel wurde zum Verbündeten im Kampf gegen den Bogeyman.

Ruckartig wanderten die Augenhöhlen nach oben, Richtung Schraubverschluss. Ich legte einen fragenden Finger auf den Plastikdeckel. Der Schädel nickte Bestätigung. Tu es!

Ich drehte den kindergesicherten Deckel vom Rohreiniger. Die Flasche war bis zur Hälfte mit einem Granulat gefüllt, funkelnde Perlen, die aussahen wie versilbertes Halloween Candy.

Der Totenkopf nickte ein weiteres Mal, diesmal drängender. Ich befand mich auf dem richtigen Weg. Ich schüttete eine esslöffelgroße Menge des Granulats in meine Handfläche, unsicher, was ich damit anfangen sollte.

Selbst ohne Augen gelang es dem Schädel, genervt auszusehen Er drehte den Kopf Richtung Haustür. Ich folgte seinem leeren Blick zu dem Bastkorb mit den Schokoriegeln, die verteilbereit auf der Kommode warteten. Endlich begriff ich meine Aufgabe.

Ich schüttete ein paar der Silberkügelchen vor mich auf den Glastisch, schob sie zu einer Kette zusammen und holte aus dem Bad mein Maniküreset. Auf dem Rückweg stoppte ich beim Candy-Körbchen. Ich entschied mich für einen Mars-Riegel.

Mit der Nagelschere war es ein Leichtes, die schwarze Verpackung an ihrer Naht aufzutrennen. Feierlich platzierte ich den freigelegten Schokoriegel vor mir wie einen Laborfrosch auf dem Seziertisch. Der Schädel schaute mir von seiner Flasche aus zu und grinste - tot, aber zufrieden.

Mit der Spitze der Schere ritzte ich auf die Oberseite des Riegels vier Linien, die einen Bereich von der Größe meines kleinen Fingernagels markierten. Vorsichtig hebelte ich das so entstandene Vollmilchquadrat heraus. Darunter kam Karamellmasse zum Vorschein. Ich schabte sie mit der Nagelfeile aus, bis eine kleine Mulde entstanden war, tief genug für einige Perlen Rohrreiniger. Perle für Perle versenkte ich mit der Pinzette in die Grube, eine meditative Aufgabe, die höchste Konzentration verlangte. Ich musste lachen (und wann hatte ich zuletzt gelacht?). Die perfekte Ersatzhandlung – ich hatte sie gefunden. Der Doc wäre stolz auf mich. Pasteur kehrte heim und beobachtete mein Treiben mit Missbilligung. Zum Teufel mit Pasteur. Ich wusste, dass ich das Richtige tat.

Als die Mulde gefüllt war, hatte ich zwölf Perlen gezählt. Ich verschloss die Öffnung mit dem Schokodeckel. Er passte perfekt, wie das letzte Teil eines Puzzles. Bis auf einen feinen Haarriss war von meinem Werk nichts zu erkennen. Der Schädel grinste.

Mit spitzen Fingern rangierte ich den Riegel zurück in seine Hülle und verschloss das Papier mit einem Tropfen Alleskleber. Der Mars-Riegel sah aus, als wäre er nie berührt worden.

Jetzt sitze ich auf der Couch, mit dir, liebes Tagebuch, auf meinem Schoß. Draußen flackert der Plastikkürbis. Sein Leuchtfeuer wird sie zu mir locken. Voll kribbelnder Vorfreude sehne ich den nächsten Besuch herbei, denn dieses Jahr hat Halloween eine neue Bedeutung. Dieses Jahr bin ich unartig. Dieses Jahr ist meine Antwort auf Trick or Treat: Trick. Und das fühlt sich richtig gut an.

Ich muss Schluss machen. Es hat an der Tür geklingelt.

-

Paul legte den Kopf in den Nacken und klopfte die letzten Tropfen aus dem Milchkarton, um damit den Rest des matschigen Rechtecks hinunterzuspülen, dass der Schulspeiseplan unverfroren als Pizza Mexicana bezeichnete und zwei Tage später mit Ananas statt Maiskörnern unter dem Namen Pizza Hawaii servieren würde.

Den in müden Gelb- und Brauntönen gemusterten Tisch, den er sonst mit Mark und Ale teilte, hatte er für sich allein. Chemie war ausgefallen, so dass Paul sich eine Stunde vor seiner gewohnten Mittagspause in der Cafeteria befand. Mark schwitzte beim Schweißkurs. Ale war früh nach Hause gegangen, weil ihre Schwester auf Zeit irgendwelche kulturell inspirierten Pläne mit ihr hatte. Und Special Ed tauchte nie in der Cafeteria auf, was Pauls Vermutung bestätigte, dass Ed von einem anderen Planeten stammte und auf menschliche Nahrung nicht angewiesen war.

Wenigstens hatte Paul auf diese Weise Muße, sich intensiv mit mit dem Welle-Teilchen Dualismus auseinanderzusetzen. Wenn er den Physikkurs nicht versieben wollte, war das auch bitter nötig. Er breitete zwei Kilogramm Physikliteratur vor sich aus und versuchte, zu verstehen. Doch je länger er auf die Seiten starrte, desto weniger sah er. Seine Augen fokussierten durch die Buchstaben hindurch, auf die Tischoberfläche. Die Beschichtung hatte unter dem täglichen Kontakt mit Schülerellenbogen und Essensresten kapituliert und war zu einem feinen Narbengeflecht ziseliert. Pauls Gedanken kreisten wie aus der Bahn geratene Satelliten. Joanne. Halloween. College. Joanne. Das Skateboard. Der Prom. Joanne.

Gerade, als er einen zweiten Konzentrationsanlauf unternehmen wollte, filterten seine Ohren ein vertrautes Lachen aus dem mittäglichen Besteckgeklapper. Ein Lachen, dass er überall herausgefiltert hätte.

Joanne. Sie war in der Nähe. Hatte sie um diese Zeit Freistunde? Paul machte sich eine mentale Notiz, später eine reale Notiz zu machen. Er stellte das Physikbuch aufrecht, ging dahinter in Deckung und suchte den Raum ab.

Die Cafeteria besaß die Ausmaße einer halben Turnhalle. Eine ihrer Wände war der Kunst vorbehalten und wurde jedes Jahr von kreativen Schülern mit einem neuen Wandgemälde verziert. Zur Zeit zeigte es eine Ansammlung Hochhäuser, welche vermutlich die Skyline von Plainsville darstellen sollten (obwohl Paul auch einige Gebäude entdeckte, die er eher in Europe vermutete). An manchen aufgemalten Fenstern klebten getrocknete braune Hubbel, die verdächtig nach Tomatensoße Mexicana aussahen. Joanne saß direkt unter der etwas unrund geratenen Weltkugel des gepinselten Meteor Buildings, Plainsvilles einziges architektonisches Wahrzeichen. Natürlich war sie nicht allein, sondern wurde flankiert von

zwei der Crostons, Leah und Amy (oder Holly?).

Und ihnen gegenüber saß – der Neue! Der Junge mit dem Irokesenschnitt, den er heute nicht hochgestellt, sondern über sein linkes Auge geklappt trug. Diesmal waren die Haare kobaltblau gefärbt.

Die Mädchen redeten ausgelassen durcheinander und kippelten mit den Stühlen, während der Junge ihrem Gequassel mit unbewegter Miene folgte und nur hin und wieder nickte.

Paul spürte einen Doppelstich Neid und Eifersucht. Auf den Jungen, weil er neben Joanne saß. Aber auch auf Joanne, weil sie mit dem Jungen sprach. Auf die verdammten Crostons sowieso, auf ihre Unbefangenheit, ihre permanent gute Laune.

Er duckte sich tiefer hinter sein Buch und spähte über die Kante.

Viel geschah nicht. Die Crostons redeten auf Joanne ein. Joanne auf den Jungen. Der Junge nickte. Joanne pulte ein Maiskorn von der Pizza und warf es auf Leah oder Amy, die affektiert aufschrie. Der Irokese spielte mit den Metallketten, die er um sein Handgelenk trug. Es sah nicht aus, als ob er sich besonders wohl fühlte. Aber auch nicht, als ob er es nicht tat. Eher, als gehöre er überhaupt nicht dazu.

Irgendwann schabten Stuhlbeine übers Linoleum. Joanne stand auf, die Crostons folgten wie das Eisen dem Magnet. Der Irokese blieb allein am Tisch. Er zog einen Walkman aus seinem Armee-Rucksack, legte in einer flüssigen Bewegung eine Kassette ein und setzte die Kopfhörer auf. Mit vor der Brust verschränkten Armen rutschte er tief in den Stuhl und starrte konzentriert auf die Tischplatte, als gäbe es dort mehr zu sehen als Essensreste.

Paul spielte kurz mit dem Gedanken, Joanne zu folgen. Dann kam ihm eine bessere Idee. Eine viel bessere. Wie in der Physikpause würde er den indirekten Weg gehen, über den Neuen. Wenn er es geschickt anstellte, konnte der Irokesenjunge seine Brücke zu Joanne werden. Vielleicht würde es Paul sogar gelingen, ihn in den Klub der Unsichtbaren zu integrieren, raus aus dem Einflussbereich der Crostons.

Er ahnte, dass sein Vorhaben nicht leicht sein würde. Ihre erste Begegnung hatte aus nicht viel mehr als einem feindseligen Blick bestanden. Aber verglichen mit der Überwindung, die es kostete, Joanne direkt anzusprechen, würde es ein Waldspaziergang werden. Paul schob die Physik zurück in seinen Rucksack und machte sich auf den kurzen Weg zum Unbekannten.

Als er am Tisch des Jungen ankam, saß dieser immer noch versteinert da, Arme vor der Brust, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Seine blaue Haarsträhne pendelte im Takt der Walkman-Musik. Einzelne Gesangsfetzen drangen durch den Schaumstoff der Ohrpolster.

Paul kramte seinen gesamten Mut zusammen und setzte sich dem Jungen direkt gegenüber, auf denselben Stuhl, der kurz zuvor Joanne getragen hatte. Restpartikel ihres Erdbeeraromas hingen immer noch in der Luft.

Der Junge sah kurz auf, nur mit den Augen. Dann fiel er zurück in seine Abwehrhaltung. Eine Minute verstrich.

"Hi", sagte Paul, weil ihm kein besserer Einstieg einfiel.

"Verpiss dich", sagte der Unbekannte und machte den Waldspaziergang zum Triathlon.

"Ich wollte mich entschuldigen", versuchte Paul.

Sichtlich genervt richtete der Junge sich ein wenig auf, drückte die Stop-Taste seines Walkmans und zog die Ohrhörer vom Kopf. Seine Lederjacke knirschte.

"Hä?"

"Ich wollte mich entschuldigen. Wegen neulich."

"Neulich?"

"Vor zwei Wochen, auf dem Gang. Ich wollte dich nicht so anstarren."

"Was immer du sagst."

"Bist du neu an der Schule?"

"Hast du mich letztes Jahr schon mal gesehen?"

"Nein."

"Na also."

Eine Weile saßen sie sich in gespannter Stille gegenüber. Dann machte der Junge Anstalten, sich die Kopfhörer wieder aufzusetzen.

"Was hörst du?", fragte Paul, gerade noch rechtzeitig vor der nächsten Lärmattacke. Er musste das Gespräch irgendwie am Laufen halten.

Der Junge stöhnte auf, als koste ihn jede Bewegung größte Anstrengung. Er nahm die Kassettenhülle und schleuderte sie quer über den Tisch. Sie landete in Pauls Schoß.

"Misfits - Legacy of Brutality", las Paul die Beschriftung. Ebenso gut hätte ein Satz in Sanskrit draufstehen können. Von der Hülle glotzte ein stilisierter Totenkopf. "Cool."

"Was immer du sagst." Der Junge verschränkte wieder die Arme vor der Brust. "Was willst du von mir? Ist dir langweilig?"

Ich will etwas über Joanne wissen. Nicht nur etwas, eigentlich alles, dachte Paul. Sonst würde ich bestimmt nicht mit dir reden.

Er zuckte mit den Schultern. "Ich dachte, du würdest vielleicht gern ein paar Leute kennen lernen."

"Falsch gedacht."

"Ist bestimmt nicht einfach, wenn man neu an die Schule kommt. Da kann man immer Freunde gebrauchen."

"Freunde?" Er spuckte das Wort aus wie ein altes Kaugummi. "Und ausgerechnet du willst mein Freund sein?"

"Ist das so abwegig?"

Als Antwort kam ein Schnauben. "Leute wie du hängen gewöhnlich nicht mit Leuten wie mir rum."

"Was soll das heißen, Leute wie du?"

Der Junge zuckte mit den Schultern. "So Mittelklasse-Typen eben."

"Mit den Mädchen eben hast du doch auch geredet. Mit Joanne und den Croston-Schwestern." Paul erschrak über den Klang seiner eigenen Stimme, wie jämmerlich beleidigt er sich anhörte. Aber die Überleitung war geschafft

"Die nervigen Puten? Kleine Möchtegernpunks. Die haben mehr mit mir geredet, als ich mit ihnen."

Der Neue gewann einen Sympathiepunkt. Jemand, der die Crostons als nervige Puten bezeichnete, konnte nicht völlig schlecht sein. Gleichzeitig schrumpfte Pauls Hoffnung, dem renitenten Jungen Informationen über Joanne zu entlocken. Anscheinend gefiel er sich in der Rolle des wortkargen Einzelkämpfers. Paul unternahm einen weiteren Anlauf.

"Bist du bei einer von denen im Jahrgang?"

"Hör zu. Ich habe keinen großen Bedarf an Smalltalk. Oder an neuen Freunden. Weißt du, wie viele High Schools ich in den letzten zwei Jahren besucht habe?"

Paul wusste es nicht.

"Die Apollo ist Nummer Vier. Da verliert so ein Begriff wie Freundschaft seine Bedeutung."

Paul dachte an Mark, wie unendlich lange sie sich kannten.

"Ist es nicht besser, wenigstens für kurze Zeit Freunde zu haben als überhaupt nicht?"

"Ich komm ganz gut allein klar. Aber wenn es dich glücklich macht, nenn dich mein Freund. Gibt vermutlich Schlimmere als dich."

Paul nahm es als Kompliment und streckte dem Jungen die Hand entgegen.

"Also dann... Ich bin Paul."

Der Neue fixierte die Hand mit dem Misstrauen eines Hundes, der öfter geschlagen als gestreichelt wurde.

"Kannst mich X nennen", sagte er schließlich, als Paul seine Hand ungeschüttelt zurückzog.

"X", wiederholte Paul. Hatte er X gesagt?

"Mein Straßenname. Wie die Band."

Paul kannte eine Band namens X so wenig wie die Misfits. Er hatte höchstens von Malcolm X gehört, den sie letztes Jahr kurz in der Geschichtsstunde abgehandelt hatten. Jemanden mit einem Buchstaben anzusprechen, fühlte sich seltsam an. Er hielt dem Jungen – X – die Kassettenhülle hin. X ließ den Walkmandeckel aufschnappen, legte die Kassette in die Hülle und gab sie Paul zurück.

"Kannst dir ausleihen. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft."

Paul nahm die Kassette, unsicher, ob der Junge es ernst meinte.

"Okay. Dann...danke...X."

"Nicht der Rede wert, Paul. War nett mit dir zu reden."

Bevor Paul sein Interview fortsetzen konnte, hatte X eine andere Kassette eingelegt. Unter dem Gewicht von 90 Dezibel Punkrock rutschte er tief in den Stuhl. Paul sah ihm kurz zu und ließ ihn dann allein. Das Gespräch war beendet, und Paul allein mit der Frage, ob er soeben einen neuen Freund gewonnen hatte.

-

Rachels Cabrio, ein gebrauchter Pontiac Sunbird, den ihre Eltern ihr zum 16. Geburtstag in die Auffahrt gestellt hatten, kurvte durch den dichten Mittagsverkehr. Ale beneidete Rachel um diesen Wagen und die Freiheit, die er repräsentierte. Ohne Führerschein galt man in diesem Land, in dem alles fünf Meilen entfernt lag, nicht als vollwertiger Mensch.

Mit der Begründung, sie müsse ihren Gast an die amerikanische Kultur heranführen, war es Rachel gelungen, Ale frühzeitig aus dem Unterricht zu nehmen. Vermutlich wollte sie sich nur selbst einen verkürzten Schultag gönnen, hatte sie ihrer Gastschwester doch bisher soviel Aufmerksamkeit geschenkt wie einer Seifenoper beim Bügeln.

"Wohin fahren wir?", fragte Ale.

"Überraaaschung", krähte Rachel und ignorierte das empörte Hupen des Lieferwagens, den sie gerade geschnitten hatte.

Fünfzehn Minuten später bogen sie auf den gigantischen Parkplatz des Long Ridge Einkaufszentrums.

Die Mall – natürlich.

Wenn Rachel nicht gerade in der Schule oder mit den Apollo Rockettes trainierte, hing sie mit ihren Freunden (und Rachel schien einen unerschöpflichen Vorrat an Freunden zu haben) in der Mall rum. Im Teenagerrudel zogen sie von Shop zu Shop, legten ihr Taschengeld in Textilien an, besetzten die Holzbänke neben den Springbrunnen, und lästerten über weniger privilegierte Mädchen, deren Outfits nicht ihren strengen Kriterien entsprachen.

Ein einziges, quälendes Mal hatten sie Ale mitgenommen. Stundenlang war sie der lärmenden Gruppe hinterher gezuckelt, ohne dass jemand auch nur den Versuch gemacht hatte, sie in das Geschnatter zu integrieren. Lediglich Rachels Boyfriend hatte hin und wieder eine anzügliche Bemerkung fallen lassen, auf die Ale gerne verzichtet hätte.

Um nicht völlig als Spielverderber dazustehen, hatte sie die ganze Zeit tapfer gelächelt, bis ihr abends die Mundwinkel schmerzten. Seit jenem Nachmittag verursachte schon der Gedanke an die Mall ein Würgegefühl. In der Hoffnung, dass sie diesmal nicht lange bleiben würden, folgte sie Rachel durch die klimatisierte Konsumwelt.

"Hey, Dirty Darren kauft auch hier", sagte Rachel, und zeigte in einen Elektronikladen, wo ein graubärtiger Mann in ein Verkaufsgespräch vertieft war. Ale erkannte den Hausmeister der Apollo.

Rachel blieb kurz an einem Schuhgeschäft kleben, bevor sie auf einen Laden mit farbenfroh verkleideten Schaufensterpuppen zusteuerte. Arlene's Kostümverleih, konnte Ale gerade noch lesen, bevor sie sich in einem Gruselkabinett wiederfand.

Der Laden war vollgestopft mit Kostümen. Vom bleichen Pappgesicht, das vermutlich Casper das freundliche Gespenst darstellen sollte und nicht einmal einen Dreijährigen täuschen könnte, bis zu hollywoodtauglichen Horrorköpfen aus Latex für dreistellige Beträge wurde jeder Geschmack und Geldbeutel bedient.

An einem karussellartigen Kleiderständer entdeckte Ale die Outfits bekannter Filmstars – Indiana Jones, Batman, Freddy Krueger. Ein anderer bot haarigen Ganzkörperanzügen für Sportmaskottchen. Auf dem Boden standen Drahtkörbe mit Sonderangeboten - Clownsnasen, Tüten mit Kunstblut und eingeschweißte Komplettsets zum großfamilienfreundlichen Preis. Das Teufelsset zu $14.99 – eine Art roter Taucheranzug inklusive Hörnern, Dreizack und Schwanz! – schien ein Bestseller zu sein und näherte sich dem Ausverkauf.

Zwischen den Verkleidungen drückten sich aufgeregte Grundschüler herum, im Schlepptau ihre Mütter, denen die Ungeduld fleckig-rot im Gesicht stand.

Rachel schlängelte sich zur Kasse, wo eine dunkelhaarige Ausgabe ihrer selbst kaugummikauend ihre Nägel bewunderte. Ale erkannte in ihr eine der Freundinnen von dem Tag, an dem sie die Mall hassen gelernt hatte. Nervös beobachtete Ale aus dem Abseits, wie sich die beiden unter überdrehten Begrüßungsfloskeln umarmten, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen.

Rachel sagte etwas und zeigte auf Ale. Die andere nickte, verschwand im Hinterzimmer und kehrte kurz darauf mit einem Laken zurück. Es besaß die grünliche Farbe angelaufenen Kupfers. Rachel winkte Ale zu sich. Ale gehorchte. Das Kassenmädchen händigte ihr wortlos den grünen Stoffhaufen, ihr Blick schon wieder auf ihre Fingernägel gerichtet.

"Na?", fragte Rachel und sah Ale erwartungsfroh an.

Ale faltete das Stoffzelt auseinander. Heraus fielen eine fand sie eine Zackenkrone aus Schaumstoff und eine Buchattrappe, beides in der selben unappetitlichen Farbe.

"Was ist das?" Ale hob die Zackenkrone auf und drehte sie wie ein außerirdisches Werkzeug.

"Das ist dein Kostüm für heute Abend. Ich weiß doch, wie gerne ihr da unten Karneval feiert. Und heute ist Halloween, das ist unser Karneval. Das habe ich extra für dich bestellen lassen."

"Aber...was stellt es dar?"

"Na, die Freiheitsstatue!"

"Oh."

"Die Freiheitsstatue steht in New York", belehrte sie die Kassiererin und tauschte einen mitleidigen Blick mit Rachel aus.

Oh mein Gott, dachte Ale, und zwang sich gleichzeitig ein höfliches Grinsen aufs Gesicht. Machte es Sinn, Rachel und ihrer debilen Freundin zu erklären, dass dort unten der Karneval nicht für jeden denselben Stellenwert besaß? Am populärsten war er in Rio, und selbst dort gab es reichlich Menschen, die sich den bunten Exzessen verweigerten. Ale hasste den Karneval und den ganzen Rummel, der damit einherging, aber sie beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. Sicher wollte Rachel nur ihr Bestes.

"Toll. Danke", knurrte sie und krallte ihre Finger in den Stoff.

"Probieren wir es gleich mal an. Falls es nicht passt, können wir es noch ändern lassen."

"Jetzt? Hier??"

"Ja, sicher." Rachel nahm ihr das Tuch aus der Hand, bauschte es auf bis sie die Öffnung für den Kopf fand und stülpte es Ale über wie einen überdimensionierten Poncho. Mit wenigen Handgriffen befestigte sie die Krone auf Ales Kopf, drückte ihr das falsche Buch in die linke Hand und dirigierte sie in eine Pose, die sie für die der Miss Liberty hielt.

"Halte mal den rechten Arm hoch. Leider gab es keine Fackel, aber Zuhause basteln wir dir eine."

Ale tastete unter ihrem Umhang nach dem Loch für den rechten Arm und streckte ihn in die Höhe. Der grüne Poncho hing formlos an ihren schmalen Schultern wie der stoffgewordene Zuckerhut. Einige der Mütter warfen ihr verstohlene Blicke zu, ihre Kinder kicherten weniger verstohlen.

Rachel trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

"Yay, sieht super aus! Amerikanischer geht's nicht."

"Und was ist mit deinem Kostüm?"

"Alles schon zu Hause, das von Brian auch."

Brian, dachte Ale, und schauderte bei dem Gedanken, den ganzen Abend das fünfte Rad am Wagen der beiden Turteltauben zu sein. Sie verfluchte sich, Marks Vorschlag, ihn und Paul zu begleiten, vorschnell abgelehnt zu haben. Eines stand fest – ihr erstes Halloween würde unvergesslich werden.

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Der Besuch der Mall bot eine willkommene Abwechslung vom Schulalltag. An machen Tagen nervte Darren sein Job ganz besonders, und heute war so ein Tag.

Erst kurz vor Feierabend hatte er entdeckte, dass irgendein Schwachkopf die Wand gegenüber des Trinkbrunnens beschmiert hatte. Der Bogeyman wird dich holen stand dort, geschrieben in schwarzem Marker. Buh, wie furchteinflößend. Natürlich war der Stift wasserfest und die Farbe erwies sich als immun gegen normale Reinigungsmittel, so dass Darren erst wieder in den Keller gehen musste, um aus seinem Arsenal an hochaggressiven Chemikalien die geeignete Waffe auszusuchen. Fluchend hatte er danach eine halbe Stunde an dem Graffiti herumgerubbelt, und trotzdem waren am Ende immer noch ein paar Buchstabenfragmente übrig geblieben. Er verdrängte die Gedanken an den Misserfolg. Es war an der Zeit, etwas Spaß zu haben.

Darren betrat das Radio Shack-Geschäft und schlenderte von einem Regal zum nächsten, fasziniert und eingeschüchtert zugleich von dem technischen Spielzeug und den Möglichkeiten, die darin schlummerten. Er stoppte vor einem der ausgestellten Tandy Rechner und stierte auf den pulsierenden Cursor. Diese sogenannten Heimcomputer breiteten sich aus wie ein Virus, besonders jetzt, wo das Weihnachtsgeschäft vor der Tür stand. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen die seelenlosen Kästen. Sie verbargen ihr Innenleben, und mussten mit kryptischen Befehlen gefüttert werden. Kinderspielzeug, das niemand wirklich brauchte.

Darren wusste, wie man Löcher bohrte und spürte das korrekte Drehmoment einer Schraube im Handgelenk. Er konnte einen Benzinmotor in seine Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen, und ja, wenn es sein musste, hatte er noch jede verstopfte Toilette wieder frei bekommen. Er war ein Handwerker, durch und durch. Darrens Welt war das Greifbare, nicht dieses elektronische Kinderspielzeug, das niemand wirklich brauchte. Jede Wette, dass die Dinger in ein paar Monaten wieder verschwinden würden.

Darren drückte die Leertaste. Der Tandy quittierte es mit einem gereizten Warnton, als Bestätigung gegenseitiger Abneigung.

Ein geschniegelter Verkäufer trat neben Darren und knipste sein Radio Shack Lächeln an.

"Was kann ich heute für sie tun, Sir? Möchten sie eine Softwaredemo?"

"Ich interessiere mich eher für Kameras. So kleine, die nicht auffallen. Haben sie so was?"

"Videoüberwachung? Selbstverständlich, Sir. Folgen sie mir."

Der Mann geleitete Darren zu einem Regal, dass mit Überwachungselektronik beschriftet war.

"Alles, was sie zu ihrer Sicherheit jemals brauchen werden. Für den Innen- oder Außenbereich?"

"Innen."

Der Verkäufer ging in die Hocke und raschelte eine Weile im unteren Regal. Er öffnete einen der Kartons und drückte Darren einen schwarzen Kasten in die Hand, nicht viel größer als eine Stange Marlboro.

"Für drinnen empfehle ich dieses Modell. 15 mm Weitwinkel, die erfasst den ganzen Raum."

"Nimmt die in Farbe auf?"

"Selbstverständlich."

Darren besah sich die Kamera als ob er etwas davon verstand.

"Passend dazu" - der Verkäufer tauchte erneut ab und zog einen größeren Karton hervor - "verkaufen wir diesen Videorekorder vom selben Hersteller. Der zeichnet zehn Stunden auf, ohne dass sie das Band wechseln müssen."

"Okay", sagte Darren, um etwas Bedenkzeit zu gewinnen. Eine derartige Anschaffung würde ein deutliches Loch in Darrens schmales Hausmeisterbudget reißen. Die nächste Zeit müsste er auf sein geliebtes Guinness verzichten. Andererseits würde das, was er vor hatte, ihm weitaus mehr Vergnügen bereiten.

Besorgt über Darrens Zögern bückte sich der Verkäufer erneut, diesmal nach einem Zehnerpack Videokassetten.

"Die lege ich ihnen gratis oben drauf."

"Perfekt", sagte Darren. "Packen sie es ein."

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Auch am späten Halloween-Nachmittag verirrten sich kaum noch Filmfreunde ins Cine-8. Bedrängt von den überall aus dem Boden sprießenden Multiplexen, die mit Leinwänden in Footballfeldgröße und Surround-Sound Zuschauer anlockten, geriet das in den späten 60ern gebaute Kino jeden Tag etwas mehr in Vergessenheit.

Für Paul gab es nicht viel zu tun. Er fegte ein paar Alibi-Krümel vom vormals roten Teppichflor in seine Klappschaufel und hielt gleichzeitig ein Auge auf die Kasse, sollte sich doch noch der eine oder andere Besucher hierher verirren.

Einmal mehr stellte er sich vor, wie Joanne eines Abends durch die Doppeltüren kam. Wie er sie vorbei an der Warteschlange winkte, ihr eine Tüte Popcorn spendierte und einen Film empfahl.

Es blieb bei der Vorstellung. Selbst die Wahrscheinlichkeit, dass sich Joanne im Schulbus neben Paul setzte, schien höher. Und Warteschlangen hatte Paul im Cine noch nie überlebt. Wenn überhaupt noch jemand den Weg in dieses Kino fand, dann war es die ältere Generation, die hier bereits Filme gesehen hatte, als eine Joanne noch gar nicht existierte.

Eine Tür ging auf. Aus dem dunklen Loch dahinter trat Jack, der schnauzbärtige Projektionist und allererster Angestellte des Cine, der wahrscheinlich schon Ben Hur vorgeführt hatte.

"In den goldenen Jahren, da war das Filmvorführen noch echte Männerarbeit", pflegte er zu sagen und erzeugte damit bei Paul zuverlässig Bilder eines schweißgebadeten Jacks, der wie ein Tellerjongleur zwischen den acht Projektionsräumen rumwuselte und wagenradgroße Filmrollen auf die Abspielteller wuchtete. Seit jenen goldenen Jahren hatte das Cine-8 mehrfach den Besitzer gewechselt. Eine Kinokette kaufte den ehemaligen Familienbetrieb, nur um ihn einige Jahre später an eine größere Kinokette weiter zu verkaufen. Das Kino wurde herumgereicht wie eine heiße Kartoffel, bis es schließlich als kleinster Teil eines Pakets von einem japanischen Medienkonglomerat geschluckt wurde, dem der Zustand des Cine-8 so egal sein konnte, wie es von Tokio weit entfernt war.

Das originale Inventar blieb erhalten, obwohl es mit jedem Jahr eine neue Schicht Patina angesetzt hatte und dringend ersetzt werden musste. Dafür schrumpfte die Zahl der Projektionsräume von acht auf sechs, "aus Kostengründen", wie die Japaner in einem knappen Rundschreiben wissen ließen. Aus denselben Kostengründen wurde das Cine-8 nicht in Cine-6 umbenannt und Pauls Gehaltserhöhung entfiel mit jährlicher Regelmäßigkeit. Dafür wurde sein Aufgabenbereich vom reinen Kehrmeister über Kassierer auf Mädchen für alles ausgedehnt.

Jack nickte Paul zu und lehnte sich neben ihn an den Tresen.

Dank des geringen Arbeitsvolumens traute er sich immer öfter aus dem Dunkel der Projektionistenwelt in die grell erleuchtete Lobby. Eine Weile lauschten sie dem erschöpften Summen der Popcornmaschine und starrten im wortlosen Einklang durch die Lücke zwischen Batman und Back to the Future II-Plakat auf den leeren Parkplatz. Am Himmel lauerte eine kurz-vor-Regenschauer Atmosphäre. Trockenes Laub strudelte in einem Mini-Wirbelsturm über schillernde Ölpfützen. Es war noch keine 16 Uhr, doch hinter den getönten Scheiben der Lobby lag die Außenwelt in gefühlter Mitternacht.

Paul fokussierte auf die Verglasung und betrachtete sein Spiegelbild. Wie alle Angestellten (mit Ausnahme von Jack, der keinen Besucherkontakt hatte) trug er die offizielle Cine-Uniform: schwarze Chinos, weißes Hemd mit schwarzer Fliege und rote Weste mit Namensschild, in der er aussah, als würde er jeden Moment Sätze wie "Rien ne va plus" sagen. Oder, wie Mark es unverblümter ausdrückte, oberpeinlich.

Draußen fing es an, zu tröpfeln.

"Drecksregen, murmelte Jack.

Paul witterte eine der Cine- oder Vietnamgeschichten, die für gewöhnlich Jacks Wetterbericht folgten und mit einem nostalgischen Seufzer und Worten wie "Damals" oder "Früher" eingeleitet wurden. Er kannte sie alle, und lenkte das Thema vorzeitig in eine andere Richtung.

"Was hältst du von Teil 5, Jack?" Paul nickte dem Pappaufsteller zu, der neben der Eingangstür aufgebaut war und für die neuste Fortsetzung der Halloween-Saga warb. Ein überlebensgroßer Michael Myers hielt sein Schlachtermesser bereit zum sinnlosen Töten.

Jack war ein wandelnder Filmalmanach, der Horrorfilme ähnlich ernst nahm wie Mark. Er stieß ein verächtliches Geräusch aus und warf in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft.

"Was will man erwarten von der fünften Fortsetzung, wenn das Original ein Klassiker ist? Aber diese hier ist mit der ganz heißen Nadel gestrickt, wenn du mich fragst. Michael nimmt die Maske ab und – weint. Stell dir das mal vor. Michael. Weint."

"Tsk..." machte Paul.

Jack nickte.

Aus Kino Zwei – Harry & Sally – kamen zwei Pärchen und eine ältere Frau, sich die Dunkelheit aus den Augen reibend. Sie sahen ihnen nach, wie sie die letzten Autos vom Parkplatz fuhren.

"Damals, als Halloween 1 hier anlief -", begann Jack.

Scheinwerfer streiften Jacks Gesicht. Für einen Moment reflektierten seine Brillengläser das Licht so, dass es aussah, als schossen Strahlen aus seinen Augen. Paul registrierte das altvertraute Bremsenquietschen, das mit dem Pussy Magnet so untrennbar verbunden war wie Jack mit dem Cine-8.

Kurz darauf polterte Mark in die Lobby, gefolgt von Pauls Ablösung, einem Collegestudenten, der das große Los gezogen hatte, für den Rest des Abends Jacks Geschichten lauschen zu dürfen.

"Was geht, Jack?", rief Mark.

Die beiden begrüßten sich schulterklopfend mit der Seelenverwandschaft zweier Cineasten. Jack sah auf die Uhr.

"Ich lass dann mal laufen. Viel Spaß, Jungs." Er verschwand über die schmale Wendeltreppe in seine Welt der Finsternis.

Mark schob Paul zu Kino Drei.

"Auf geht's, Alter, wir haben noch 'ne Menge vor."

Er sank neben Paul in einen Sitz in der letzten Reihe. Die durchgesessenen Polster knarzten unter Marks Pfunden.

"Alter", flüsterte Mark, als wären sie nicht die einzigen im Saal, "rat mal, was ich uns für heute Abend organisiert habe."

"Videos?"

"Besser!"

"Bier?"

"Quatsch."

"Passe."

"Weiber."

"Weiber?"

Mark zog eine konspirative Augenbraue hoch.

"Scotts Cousinen sind diese Woche in der Stadt. Und die sind sehr single."

Scott arbeitete als Mechaniker für Mark Sr. Er spielte in Marks Leben eine bedeutende Rolle, weil er das Privileg des fortgeschrittenen Alters besaß, und so in der Lage war, alles besorgen zu können, was einem unter-21-jährigen nicht vergönnt war. Inklusive Mädchenkontakten, wie es schien.

"Hier ist der Plan", sagte Mark. "Scott hat gesagt, die rufen uns so gegen 19 Uhr an. Dann nehmen wir sie mit auf unsere Halloween-Tour und zeigen ihnen die Nachbarschaft. Dann gehen wir zurück zu mir. Und dann..."

Marks Augenbraue hob sich fast bis an den Haaransatz. Den Rest überließ er Pauls Fantasie.

"Okay. Cool." Paul war sich nicht sicher, ob ihm dieser Plan gefiel. Er stellte sich vor, wie die beiden Cousinen (die im übrigen beide aussahen wie Joanne - Mädchen in Pauls Fantasie sahen grundsätzlich aus wie Joanne) zwischen ihnen auf Marks Sofa saßen, aber das Bild blieb unscharf. Der Gedanke, er oder Mark könnten tatsächlich in Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht kommen, war zu abstrakt. Außerdem kannte er Mark gut genug, um zu wissen, dass dessen "Pläne" für gewöhnlich ins Leere liefen. Im Saal wurde es dunkel.

"Cool", sagte Mark und rutschte mit einem selbstzufriedenen Grinsen in den Sitz.

Der Projektor surrte und schickte einen Staubkegel Richtung Leinwand. Sechsundneunzig Minuten und zweiundzwanzig Opfer später rollte der Abspann.

"Michael weint. Soll ja wohl ein Witz sein." Empört über den Schwächemoment seines Helden stapfte Mark aus dem Kinosaal. Ein paar Besucher hatten tatsächlich noch den Weg ins Cine gefunden und wanderten durch die Lobby. Paul winkte seinem ticketverkaufenden Kollegen ein knappes Wir verschwinden zu, dass dieser nicht sah. Draußen war das Getröpfel zu einem Wolkenbruch geworden.

Zehn Minuten später parkte Mark den Firebird vor einem Rolltor. Mark's Auto Repair bestand aus zwei Zapfsäulen vor einer Werkstatt mit angrenzendem Laden, dessen Angebot sich von Wischerblättern über Süßigkeiten bis zu Katzenfutter erstreckte. Paul folgte Mark durch den Regen, an der Kasse vorbei, die Betontreppe hinauf in das ehemalige Reifenlager, dessen eine Hälfte Mark Sr. seinem Sohn zu einem bescheidenen Apartment ausgebaut hatte.

Eine nackte Glühbirne erhellte Marks übersichtliches Reich, das mit seinem wuchtigen Kunstledersofa an der einen, und einer Fernseher-Videorekorder-Kombination an der anderen Wand einem Minikino glich. Zwei mannshohen Stereoboxen, die aussahen, als kannten sie nur die Einstellung Hörsturz, standen wie Wachposten links und rechts daneben. Da der Senior selten zu Hause war, musste Mark in puncto Musik- und Fernsehlautstärke keine Rücksicht nehmen.

Es roch nach Michelin und Goodyear. Vielleicht war es auch das Latex der Horrormasken, ausgehöhlte Schrumpfköpfe die mit aufgerissenen Mündern von Marks Bücherregal glotzten. Was Marks Stolz auf seine Besitztümer betraf, rangierte die Maskensammlung gleich hinter dem Pussy Magnet an zweiter Stelle. Im Laufe eines Jahrzehnts hatte er sich Zombies, Ghouls, Totenschädel, Brandopfer, und prominente Horrorhelden wie den Hellraiser und natürlich Michael Myers zusammengekauft und dafür wahrscheinlich ein kleines Vermögen ausgegeben. An jedem Halloween kam eine der Masken zum Einsatz, aber präsentiert wurden sie Marks Besuchern (die in der Regel aus Paul bestanden) ganzjährig.

Paul stakste zwischen den kunstvoll aufgetürmten Papierwolkenkratzern aus Fangoria und Hot Rod Magazinen hindurch zur Couch. Der Dreisitzer hatte ihm schon in mancher späten Nacht als Bett gedient (und Scotts Pressluftmeißel am nächsten Morgen als ungnädiger Wecker).

"Und während wir auf den Anruf der Mädels warten", sagte Mark und zog zielsicher eine VHS-Kassette unter dem Fernseher hervor, "vertreiben wir uns die Zeit mit dem Original. Falls sie vorher anrufen, müssen sie sich eben gedulden." Er schob Halloween I in den Rekorder. In einer Hand die Fernbedienung, in der anderen eine Tüte Kartoffelchips, plumpste er neben Paul ins Leder. Einundneunzig Minuten und fünf Opfer später war die Tüte leer, und niemand hatte angerufen.

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Durch die Augenhöhlen der eng anliegenden Michael Myers Maske nahm Brian die Nacht wahr wie mit Scheuklappen. Er hoffte, hinter dem Gesicht des Serienkillers so gefährlich auszusehen, wie er sich fühlte - trotz des peinlichen Brotmessers, das in keiner Weise dem filmischen Original glich, und dessen Wellenschliff-Klinge garantiert verbiegen würde, wenn man sie jemanden in den Bauch rammte.

Er folgte den Hinterteilen der beiden Mädchen wie ein Esel der Karotte. Sein Blick schweifte über Rachels Rundungen, von denen dank ihres Kostüms nicht viel übrig geblieben war. Aber sie wollte ja unbedingt so auszusehen wie die Hauptdarstellerin dieser dämlichen Rettungsschwimmer-Fernsehserie, die sie so verehrte. Deshalb hatte sie sich einen identischen roten Badeanzug besorgt, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, dass Ende Oktober in diesem Staat nicht die ideale Zeit war, um in Schwimmzeug durch die Nachbarschaft zu laufen. Als ihr endlich ein Licht aufging, gab sie den Plan nicht etwa auf, sondern kaufte eine Art hautfarbene Ganzkörperstrumpfhose, die sie unter dem Badeanzug trug. Von weitem funktionierte die Illusion, doch gegen den beißenden Herbst konnte das Nylon wenig ausrichten. Nachdem sie an zwei Haustüren geklingelt hatten, war Rachel wieder nach Hause geeilt, hatte sich den knielangen Wollmantel ihrer Mutter übergezogen und damit Sexappeal und Glaubwürdigkeit des Badenixenkostüms zerstört. Da half auch das zitronenfarbene Stück Hartplastik nicht mehr, dass einst die Hülle ihres Warndreiecks gewesen war, und nun, mit einer Kordel an ihrem Knöchel befestigt, als Rettungsboje durchgehen sollte.

Auch der Hintern dieser "Elli" blieb unter ihrer lächerlichen Stola verborgen. Brian musste ihn gar nicht sehen, um zu wissen, dass er keinen Vergleich mit Rachels durchtrainiertem Sitzfleisch standhalten können.

"Lass es uns dort mal probieren. Das mit der Kürbislampe."

Rachel zeigte auf ein Einfamilienhaus, das aussah, wie alle anderen in dieser Straße. Unsanft aus seinen Gedanken gerissen, trat Brian auf den viel zu langen Umhang der Möchtegern-Freiheitsstatue. Die Ausländerin raffte ihr Kostüm und funkelte ihn an. Ihre Schaumstoffzacken zitterten. Im Zwielicht des Mag-Lites, das Rachel ihr in Ermangelung einer echten Fackel zugedacht hatte, sah sie gar nicht mal so unattraktiv aus. Vielleicht lag ein flotter Dreier doch im Rahmen des Möglichen, wenn auch nur um damit anzugeben - wer konnte schon behaupten, Miss Liberty gevögelt zu haben?

Rachel drückte ihm den Sammelbeutel in die Hand.

"Honey, du bist dran."

Honey schlurfte lustlos zur Haustür, drückte die Klingel und wartete. Nichts geschah. Das Kürbislicht flackerte. Unter der Maske wurde es warm. Brian nahm sie ab und trocknete das schwitzige Gesicht in der Armbeuge seines Overalls. Ein Rascheln. Aus dem Gebüsch neben der Tür kam eine Katze und liebkoste seinen Knöchel. Brian verscheuchte sie mit einem Tritt.

"Macht keiner auf", verkündete er das Offensichtliche und zog die Maske wieder über. Rachel zuckte mit den Schultern, als hätte sie nichts anderes erwartet. Während Brian zurück zur Straße ging, wo johlende Kindergruppen ihre Beutezüge planten, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er sah über seine Schulter. War da ein Schatten hinter der Jalousie? Der Regen machte es unmöglich, Genaueres zu erkennen. Welche Rolle spielte es auch? Er wollte endlich nach Hause.

"Letzter Versuch", verkündete Rachel, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Ale, dein Einsatz." Sie zeigte auf das Haus ihrer Wahl und schob ihre Teilzeitschwester auf den erleuchteten Eingang zu. Eine erschöpft aussehende Frau öffnete ihrem Klingeln.

"Trick or Treat", sagte Ale mit einem Akzent, dem Brian eine gewisse Erotik nicht absprechen konnte. Ihr Tonfall hingegen klang, als spräche sie Beileid aus.

Die Frau nahm von irgendwoher eine Handvoll Naschkram, hielt dann aber inne. Sie beäugte das Trio mit dem misstrauischen Ausdruck, der für Staubsaugervertreter und Jehovas Zeugen reserviert ist. Brian hielt dem Blick stand, sein echtes Gesicht genauso ausdruckslos wie seine Maske.

"Seid ihr nicht schon ein wenig alt für Halloween?"

"Gib das Zeug her und halt die Klappe, du alte Schachtel." Der Satz lag Brian auf der Zunge, aber er beherrschte sich und schwieg. Er drehte das Brotmesser in der Hand. Vielleicht war es an der Zeit, zu testen, wie stabil die Klinge wirklich war.

Gerade als Rachel zu einer langatmigen Erklärung über kulturelle Unterschiede zwischen Nord- und Südamerika ausholte, stieg Rauch aus dem Kopf der Frau.

"Mom!", krähte eine Stimme im Hintergrund. Brian begriff, dass der Rauch aus dem Zimmer hinter der Frau kam.

"Oh, mein Gott", rief die als Mom titulierte, ließ Bonbons und Schokoriegel auf die Türschwelle regnen und stürmte zurück ins Haus. Für ein paar Sekunden sagte niemand ein Wort. Dann polterte es, und etwas huschte an ihnen vorbei, eine schlanke Gestalt, die etwas trug, das entfernt Rachels Badeanzug ähnelte. Flink wie ein scheues Tier verschwand es in der Dunkelheit.

"Was zum Teufel war das?", fragte Brian.

Rachel seufzte, gleichermaßen frustriert über ihren durchnässten Mantel, Ales mangelnde Halloweenbegeisterung und den immer noch leeren Sammelbeutel.

"Keine Ahnung. Lass uns nach Hause gehen."

-

Der Tag war gekommen. Letzte Woche hatte Mom ihn erwähnt, im Gespräch mit der Nachbarin, einen tiefen Seufzer vorangestellt: Schon wieder! Das Jahr geht so schnell rum.

Ein paar Tage später begegnete Greg ihm im Supermarkt in Form einer Kette orangefarbiger Pappbuchstaben (würde es kein Rot geben, hätte Greg genau dieses Orange zu seiner Lieblingsfarbe erkoren), die über gigantischen Kürbissen inmitten einer Dekoration aus Herbstlaub und Ährenbündeln hing. Und vorhin hatte er ihn sogar in der Schule aufgeschnappt, als Gesprächsthema seiner besten Freunde. Selbst wenn Greg nie viel zu ihren Diskussionen beisteuern konnte, so wusste er doch immer, worum es ging.

Heute ging es um Halloween.

Das erkannte Greg auch daran, dass auf dem Frühstückstisch die Papiertischdecke mit der Endlosreihe tanzender Skelette, und der kleine Porzellankürbis aufgetaucht waren, in dessen Bauch man drei Teelichter versenken konnte. Greg liebte das warme Flackern, dass aus den dreieckigen Augenhöhlen strahlte und wildes Schattentheater auf seiner morgendlichen Portion Count Chocula aufführte.

Halloween bedeutete, dass er mehr Süßigkeiten essen durfte als sonst. Von diesem Privileg machte er schon vor dem Frühstück Gebrauch und bediente sich mehrfach aus der gut gefüllten Tupperschüssel im Flur bedient, bis diese nicht mehr gut gefüllt war und Mom Mäßigung anmahnte.

Kürbiskerzen und Süßigkeiten waren eine feine Sache. Was Greg jedoch am meisten faszinierte, war, dass man an diesem Feiertag völlig verrückte Kleidung tragen durfte.

Er konnte sich noch gut an das letzte Halloween erinnern. Eine Gruppe Kinder hatte an ihrer Haustür geklingelt, was an keinem anderen Tag des Jahres geschah. Sie trugen spitze Hüte, Umhänge und seltsame Masken, unter denen man ihr wahres Gesicht nur erahnen konnte. Der Anblick der verkleideten Kinder erinnerte Greg an seinen Helm, und auf einmal fühlte er sich nicht mehr so sehr als Außenseiter. Wie schön musste es sein, ein Kostüm zu tragen, unter dem einen niemand erkannte. Greg wäre unsichtbar!

Mom hatte den Kindern mit einer Hand Bonbons und Schokoriegel in die Stoffbeutel geworfen, und mit der anderen einen zappelnden Greg davon abgehalten, an ihr vorbei zu schlüpfen und sich der Gruppe anzuschließen. Als die Haustür wieder ins Schloss fiel, rannte Greg ins Wohnzimmer und drückte sich die Nase am Fenster platt. Alles was er sah war die schwarze Oktobernacht, aber er wusste, in ihrem Schutz passierten dort draußen in den Straßen aufregende Dinge.

Seit jenem Tag lief Greg in seinen Träumen verkleidet über die Bürgersteige der Nachbarschaft. Niemand wich ihn aus oder rempelte ihn an, denn niemand wusste, wer er war. Jedes Mal, wenn er diesen Traum durchlebte, reifte sein Entschluss, ihn wahr werden zu lassen, ein Stück mehr.

Heute war der Tag gekommen. Er würde einer von ihnen sein, einer der Glücklichen, die dort draußen unerkannt umherliefen und Spaß hatten. Greg war bestens vorbereitet, immerhin hatte er ein ganzes Jahr Zeit gehabt.

Mit einem Rucken kam der Schulbus zum Stillstand. Ein letztes Mal murmelte Greg das entscheidende Wort - ein Bandwurm von einem Wort, mit so vielen Silben, dass Greg die Aussprache tausendmal hatte üben müssen, bevor es ohne Stottern über seine Lippen rutschte. Er stürmte auf die Straße und war mit drei Sätzen auf der Veranda in Moms Armen. Er wartete gar nicht erst ab, bis sie ihre Umarmung beendet hatte.

"Halloweenkostüm!", platzte er heraus, direkt in Moms linkes Ohr. Sie schob ihn mit ausgestreckten Armen auf Abstand. Ihr Mund stand weit offen, als konnte sie es nicht glauben, dass es wirklich ihr Sohn war, den sie festhielt.

"Halloweenkostüm!", wiederholte Greg, noch etwas lauter, für den Fall dass Mom vorhatte, seine Forderung mit einem Lächeln abzutun.

Er erntete nur ein ungläubiges Lachen. Manchmal war Mom etwas schwer von Begriff. Greg ließ nicht locker. Sie musste begreifen, dass es ihm ernst war. "Kostüm! Kostüm! Kostüm!", quengelte er, noch lange nachdem ihm Mom ins Haus gezogen und aus der Jacke geholfen hatte. Er hörte erst wieder damit auf, als Mom realisierte, dass sich hinter dem neu gelernten Begriff mehr verbarg als die Erweiterung von Gregs Wortschatz.

"Du willst ein Halloweenkostüm?"

Greg nickte und grinste. Erstaunen und Freude im Gesicht seiner Mutter wurden abgelöst von Sorgenfalten. Greg spürte, dass er kurz vorm Ziel war. Er stieß seine speziellen Schmerzenslaute aus, reserviert für besondere Situationen wie diese. Am Ende gelang es ihm sogar noch, eine Träne zu verdrücken.

Der Laden, den sie besuchten, war nicht derselbe wie der, in dem Mom Gregs Helme kaufte, sondern ein viel schönerer, bunterer, in dem es unglaubliche Dinge gab. Ein Verkleidungsladen, vollgestopft mit prachtvollen Gewändern, Masken, Spielzeug. Greg konnte sich nicht satt sehen. Wie eine Flipperkugel lief er im Zick-Zack Kurs zwischen den Regalen und Kleiderständern umher, streichelte die unterschiedlichsten Stoffe, scheiterte am Versuch, eine der Gummimasken über seinen Helm zu ziehen und untersuchte eine Flasche Original Hollywood FX Filmblut, die Mom ihm weg nahm, bevor er es schaffte, den Verschluss zu knacken.

Such dir etwas aus, hatte sie gesagt. Etwas? Er wollte alles!. Doch dann fiel sein Blick auf ein Stück Stoff, feuerrot wie sein Helm, und die Entscheidung war gefallen.

"Mom!" Er zeigte auf das flache Päckchen. Mom musste es sofort kaufen, es lag nur noch ein einziges Exemplar im Korb.

"Warum nicht", murmelte Mom, nahm das in Folie eingeschweißte Paket und legte es vor die Kassiererin, die es begleitet vom Platzen ihrer Kaugummiblase über den Scanner zog. Es piepte. Im Display der Kasse leuchteten die Worte Kostümset Teufel, $14.99.

Es war Greg strengstens verboten, auch nur in die Nähe von spitzen oder scharfkantigen Gegenständen zu kommen, und so musste er es Mom überlassen, das Kostüm von der engen Zellophanhülle zu befreien. Greg stand daneben und klatschte in die Hände, als wollte er die Schere auf ihrem Weg durch die Verpackung anfeuern. Irgendwo im Hinterkopf registrierte er, dass diese ungewohnte Aufregung garantiert eine frische Unterhose nötig machen würde, doch das war ihm egal. Der große Moment stand kurz bevor. Sein Halloweenkostüm war drauf und dran, freigelegt zu werden.

Mom faltete das glitzernde Stück Polyester auseinander. Sie nahm Greg den Helm ab, half ihm beim Ausziehen von Pulli und Jeans (beim Anblick des dunklen Flecks auf Gregs Unterhose hielt sie kurz inne, um ihre Augen gen Zimmerdecke zu drehen) und dirigierte seine knochigen Gliedmaßen vorsichtig in die dafür bestimmten Öffnungen des Ganzkörperanzugs. Der Reißverschluss am Rücken deckte die ganze Länge von Gregs krummer Wirbelsäule ab. Nachdem sie ihn geschlossen hatte, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

Im Gegensatz zu dem selig lächelnden Jungen auf der Verpackung, dem das Kostüm hauteng wie ein Taucheranzug passte, war es für Gregs Statur etwas groß geraten. Die Kapuze hing schlapp über seinen Augen wie bei einem geheimnisvollen Mönch. Mom löste das Problem, indem sie Greg den Helm wieder aufsetzte und überflüssigen Stoff unter den Rand stopfte. Den Schwanz mit der herzförmigen Spitze befestigte sie per Druckknopf an der dafür vorgesehenen Lasche über Gregs Steiß, zwei Plättchen doppelseitiges Klebeband verbanden Plastikhörner mit Helm.

Als die Ankleideprozedur überstanden war, stürmte Greg ins Badezimmer und drehte sich verzückt vorm Spiegel. Sein Grinsen wurde breiter und breiter, denn was ihm entgegenblickte war nicht mehr der Greg den er kannte. Er war ein anderer geworden, sein Traum stand an der Schwelle zur Wirklichkeit. Eine selten erlebte Euphorie erfüllte ihn, gleichermaßen ausgelöst durch das Kostüm und die Vorfreude auf den Abend. Mit dem Plastikdreizack bewaffnet rannte Greg den Rest des Tages durchs Haus und spießte imaginäre Seelen auf, bis es endlich an der Tür klingelte.

Mit einem Seufzer stemmte sich Mom aus ihrem Fernsehsessel, nahm die Schale von der Flurkommode und öffnete. Über ihre Schultern hinweg erkannte Greg im Zwielicht der Aussenlampe drei Personen. Sie sahen völlig anders aus als die Gruppe vom letzten Jahr, viel größer. Eine von ihnen trug ein graugrünes Gewand, faltig wie ein Theatervorhang, und eine Art Krone. Die zweite eine weiße, bedrohlich ausdruckslose Maske und einen pechschwarzen Overall. Das blonde Mädchen war überhaupt nicht verkleidet. Sie trug ein gelbes Stück Plastik unter dem Arm geklemmt, das wie ein geschrumpftes Ruderboot aussah.

"Trick or Treat", sagte eine schüchterne Stimme, die Greg bekannt vorkam. Doch jetzt blieb keine Zeit, sich über bekannte Stimmen oder fehlende Verkleidungen zu wundern. Er schlich ins Wohnzimmer, wo sein Schulrucksack gepackt für den nächsten Tag unter dem Tisch deponiert lag. Seine Hand schlängelte sich in das versteckte Innenfach und fand die Spraydose, die er sich vor ein paar Wochen von seinem dicken Freund geborgt hatte. Greg zog die rote Plastikkappe ab und hob den Deckel von der Kürbiskerze. Mit zwei Fingern fischte er eines der brennenden Teelichter heraus und hielt es zwischen Tischdecke und Spraydose, so wie er es vom Night Rider gelernt hatte.

"Seid ihr nicht schon ein wenig alt für Halloween?", hörte er Mom im Hintergrund sagen. Dann drückte er auf den Sprühknopf.

Die schüchterne Kerzenflamme wurde zum Atem eines Feuerschluckers. Die Papiertischdecke stand sofort in Flammen. Gebannt starrte Greg auf die aufgedruckten Skelette, von denen sich das erste bereits unter der Hitze kräuselte und kurz sah es aus, als würde es tatsächlich tanzen. Greg setzte seine hysterischste Miene auf, rannte zu Mom, die immer noch mit den Trick-or-Treaters diskutierte, und riss an ihrer Bluse.

"Mom!", jaulte Greg und deutete Richtung Wohnzimmer, aus dem bereits Rauchwolken trat.

"Oh mein Gott!", rief Mom, und Greg fühle einen kurzen Stich Schuldbewusstsein. Sie lies die Süßigkeiten fallen und stürmte Richtung Qualm. Wie ein Zauberer dem erstaunten Publikum seine verschwundene Assistentin enthüllt, riss sie das brennende Papier vom Tisch und schmiss es auf den Boden.

Das Letzte, was Greg sah, bevor er an der Freiheitsstatue vorbei in die Freiheit schlüpfte, war seine Mom, die einen ungestümen Regentanz auf den Flammen vollführte, den (inzwischen komplett verbrannten) Skeletten auf der Tischdecke nicht unähnlich.

-

"Keine Ahnung was mit denen los ist. Scott hat gesagt, die rufen auf jeden Fall an." Mark hob die Hände in die Luft, als gäbe es dort oben eine Macht, welche die Cousinen doch noch zu ihnen schicken würde.

"Hast du nicht deren Nummer?"

"Nee. Aber ich kann bei Scott anrufen."

Es war so still, dass Paul das Klingeln am anderen Ende der Leitung hören konnte. Mit jedem Ton wurde Marks Gesicht länger. Nach dem elften Läuten gab er auf.

"Tja", sagte er.

"Was machen wir jetzt?"

"Na, was schon? Wir ziehen los. Von den Tussen lass ich mir nicht Halloween verderben. Als was willst du gehen?"

Mark präsentierte seine Maskensammlung wie ein Quizmaster die Preise.

"Wie wär's mit Michael?" Paul zeigte auf die Michael Myers Maske ganz links, eine von Marks frühesten Erwerbungen, und wusste genau, wie sehr er damit Marks Horrorexpertenehre beleidigte.

"Geht's noch unkreativer? Nur die letzten Loser verkleiden sich an Halloween wie Michael Myers. Hier, probier die mal." Mark drückte Paul ein faltiges Gummigesicht in die Hand. Die Maske war zu groß, so dass ihre Augenlöcher auf Höhe von Pauls Wangenknochen lagen und er nur noch Marks abgetretenen Teppich sah.

"Perfekt", befand Mark. "Jetzt noch die Haare." Er holte eine wasserstoffblonde Langhaarperücke und zwängte sie auf die Maske. Paul zupfte sein neues Gesicht zurecht. Er sah in den Spiegel und erblickte einen verhärmten Hippie.

"Wer soll das sein?"

"Na, Zelda, die Todkranke aus Pet Semetary. Damit läuft garantiert niemand rum. Und dazu..." Mark durchsuchte seinen Kleiderschrank und kam mit einem hellblauen Bademantel zurück. Paul zog ihn über. Der Saum reichte ihm bis Oberkante Kniescheibe. Nun sah der Hippie im Spiegel aus, als sei er gerade aufgestanden.

"Ich soll als Frau gehen?"

"Nicht als Frau. Als Zelda. Zelda ist ein anerkannter Horrorcharacter. Gespielt übrigens von einem Mann."

Mark zog die Schuhe aus und stieg in den einstmals blauen und inzwischen völlig ölverschmierten Overall, den Paul sonst nur an ihm sah, wenn er unter dem Pussy Magnet lag.

"Ich gehe als psychopathischer Mechaniker", beantwortete Mark Pauls ungestellte Frage. Er nahm eine Maske von seinem Regal, die wie eine Kreuzung aus Werwolf und Frankensteins Monster aussah. Dann verteilte er einige Tropfen Kunstblut auf einen Schraubenschlüssel und verstaute ihn in seiner Brusttasche.

"Psychopathischer Mechaniker? Aus welchem Film?"

"Meinem eigenen." Mark griff eine knallgelbe Plastiktüte mit Pennzoil-Aufdruck. "Auf geht's."

Der Regen war zu einem Nieseln verkümmert. Eine dünne Nebelschicht waberte über dem Asphalt und vermischte sich mit den Dampfschwaden, die aus den Gullis drangen. Der Abend war voll von Kinderstimmen und roch nach feuchtem Rasen. Flackernde Kürbisaugen beobachteten von allen Seiten, wie Paul hinter Mark durch das Wohngebiet stolperte und versuchte, seine Maske auf Augenhöhe zu halten.

Ein älterer Mann öffnete die erste Tür, an der sie klingelten. Sein mildes Lächeln erstarb beim Anblick von Zelda und ihrem psychopathischen Mechaniker.

"Trick or Treat", bellte Mark den Mann an und streckte ihm die Pennzoil-Tüte entgegen. Der Alte sah nicht so aus, als würde er sie in nächster Zeit mit Süßigkeiten füllen.

"Wie alt seid ihr denn?"

"15", log Mark.

"Hart an der Grenze für Halloween, oder?"

"Für Halloween ist man nie zu alt", belehrte Mark, während seine Latexmaske ungerührt die Zähne fletschte.

"Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, ich hebe meine Treats lieber für echte Kinder auf."

Die Tür fiel zu. Mark war außer sich.

"Was zur Hölle ist los mit den Leuten? Wissen die nicht, das Halloween für alle da ist? Wir sollten seinen ganzen Briefkasten mit Kürbismus vollstopfen."

Sie gingen zum Nachbarhaus. Diesmal stand die Tür bereits offen. Aus dem Inneren kamen trampelnde Geräusche.

"Hallo?", rief Paul in die Leere.

Mark schnüffelte. "Riecht irgendwie angebrannt. Hey, schau mal." Er zeigte nach unten. Auf der Türschwelle verteilt lag ein Häufchen Naschkram. "Nehmen wir die mit?"

"Die liegen auf dem Boden, Mark."

"Aber die meisten sind eingepackt."

Noch bevor Mark sich bücken konnte, tauchte plötzlich eine Frau vor ihnen auf. Ihre Augen sahen aus, als würde sie jeden Augenblick zu weinen anfangen.

"Tut mir leid, Leute, ist gerade etwas unpassend." Sie fegte die Süßigkeiten mit dem Fuß zur Seite und machte ihnen die Tür vor der Nase zu.

"Greg? Greg!?!" hörten sie die Frau im Haus rufen, und es klang, als würde sie nun tatsächlich weinen.

"Spinnen die heute alle?" Mark zerknüllte die immer noch leere Sammeltüte und stopfte sie in eine der hundert Taschen seines Overalls.

"Hoffen wir, dass sie ihren Greg findet."

"Wahrscheinlich ihr Lover, der sie hat sitzen lassen."

Drei Versuche später war die Pennzoil-Tüte immer noch leer. Eine Gruppe Grundschüler lief an ihnen vorbei. Ihr aufgeregtes Gegacker und die prall gefüllten Beutel zeugten von größerem Erfolg. Paul gähnte.

"Wir hätten uns in deinem Laden eindecken sollen. Ihr verkauft doch den ganzen Kram."

"Meinst du, ich kann mich da einfach selbst bedienen? Außerdem sind die guten Sachen alle schon ausverkauft."

"Vielleicht werden wir tatsächlich zu alt für so was", sagte Paul.

"Unsinn. Nächster Vers–"

Irgend etwas kam aus der Dunkelheit angeschossen und prallte gegen Paul, der fast das Gleichgewicht verlor. Instinktiv klammerte er sich an Mark fest, und für einen surrealen Moment hielten sich die todkranke Zelda und der psychopathische Mechaniker in inniger Umarmung. Vor ihnen stand eine geschrumpfte Version des Leibhaftigen.

"Alter, mach die Augen auf", tadelte Mark den kleinen Teufel. "Was ist los mit dir?"

"Halloweenkostüm", sagte der Junge und reckte seinen Dreizack triumphierend in die Höhe. Dann erkannten sie den Helm mit dem gelben Blitz.

"Alter, ich fass es nicht. Das ist Special Ed!" Mark klopfte auf den Helm, als könnte er damit Eds Echtheit überprüfen.

"Wie hat der uns gefunden?", fragte Paul.

"Das ist Ed, Mann, der findet uns überall. Nicht wahr, Ed?"

Ed nickte.

"Weiß deine Mutter, dass du hier bist?"

Ed behielt sein Nicken bei.

"Na, ich weiß nicht. Bringen wir ihn besser nach Hause", sagte Paul.

"Ja. Nein!" Marks Augen funkelten und fokussierten einen Punkt in weiter Ferne, ein klares Indiz dass in diesem Moment eine weitere seiner halb garen Ideen das Licht der Welt erblickte.

"Überleg mal. Ed ist unsere Chance. Wenn einer als Mitleid erregendes Kind durchgeht, dann er."

"Du willst ihn für uns sammeln lassen?"

"Na klar. Der wird richtig abkassieren. Willst du uns helfen, Ed? Du magst doch Schokolade, oder?"

Eds Dauernicken wurde noch eine Spur begeisterter. Er richtete seinen Dreizack auf ein Haus, auf dessen Veranda einer dieser billigen Plastikkürbisse leuchtete, die sich Leute kauften, die keine Lust hatten, das Original auszuhöhlen.

"Das da? Cool, dann los. Das Haus ist fällig."

Mark griff Eds knotigen Ellbogen, drückte ihm die Plastiktüte in die Hand und führte ihn bis vor die Haustür.

"Wenn jemand öffnet, sagst du nur Trick or Treat, nichts weiter, okay?"

Ed nickte. Mark drückte auf den Klingelknopf und sprintete zurück zu Paul. Gemeinsam duckten sie sich hinter der Hecke, die die Grundstücksgrenze markierte und scheuchten eine dort jagende Katze in die Flucht. Durch die Lücken des Buchsbaums sahen sie Ed von einem Bein aufs andere treten und mit dem Dreizack in der Luft stochern. Dann wurde geöffnet und ein Lichtschein brachte den Teufelsanzug zum Glänzen.

"Halloweenkostüm", hörten sie Ed krähen. Schlanke Finger nahmen Ed die Tüte aus der Hand. Ein Moment verging, dann war die Tüte wieder da, diesmal prall gefüllt.

Mark rammte Paul den Ellbogen in die Rippen, was so viel heißen sollte, dass sein Plan funktionierte.

Die Finger winkten einen Abschiedsgruß und der Lichtschein verschwand. Ed stand wie erstarrt auf der Fußmatte.

"Hoffentlich haut er jetzt nicht ab", sagte Paul

"Ed, hierher." Mark pfiff wie nach einem unartigen Hund. Endlich setzte sich Ed in Bewegung und kam, seine Beute schwenkend, auf sie zu getrottet. Ungläubig starrte Mark in die Plastiktüte.

"Wow. Ich glaub's ja nicht." Er ging unter die nächste Laterne, schüttete den Inhalt auf die Motorhaube eines parkenden Autos und rührte darin herum. "Alles Markensachen! Hershey Kisses. Reese's Pieces! Und Mars! Gute Arbeit, Ed!"

Ed machte ein Geräusch, irgendwo zwischen Lachen und Niesen.

"Jetzt wird gerecht geteilt." Mark schob die Beute in drei gleich große Teile.

Paul verstaute seinen Anteil in den Taschen des Bademantels, Ed stopfte es in seinen Anzug und sah danach aus wie ein Teufel mit Beulenpest.

"Ich würde sagen, das reicht für heute Abend." Pauls Perücke war von der feuchten Luft schwer geworden. "Was machen wir mit Ed?"

"Keine Ahnung", sagte Mark. "Er sieht nicht so aus, als würde er es uns verraten."

"Wir können ihn aber schlecht allein hier rumlaufen lassen. Was, wenn ihm etwas zustößt?"

"So haben wir ihn doch auch gefunden. Findest du zurück nach Hause, Ed?"

Ed nickte.

"Siehst du", sagte Mark.

"Als ob Ed jemals eine Frage verneinen würde."

"Ich glaube, du unterschätzt ihn. Ed, willst du uns zeigen, wo du wohnst? Ed?"

Mark sah sich um, doch Ed war bereits verschwunden.

"Manche Probleme lösen sich ganz von selbst."

Sie machten sich auf den Heimweg. Die Straßen leerten sich. Drei Nachzügler kamen ihnen entgegen, ihrer Größe nach ebenfalls dem Halloweenalter entwachsen. Eine von ihnen, eine attraktive Blonde, war unverkleidet, es sei denn, das signalgelbe Plastikteil unter ihrem Arm sollte als Kostüm durchgehen. Neben ihr ging Michael Myers, ausgerechnet, und hinter den beiden schwenkte die Freiheitsstatue einen Leinenbeutel, dessen schlaffer Zustand davon kündete, dass das Trio so erfolglos gewesen war, wie Paul und Mark es ohne Eds Hilfe gewesen wären.

Als sie aneinander vorbei gingen, machte der Möchtegern-Michael keine Anstalten, auszuweichen. Er rempelte hart gegen Marks Schulter, so dass diesem fast der blutige Schraubenschlüssel aus der Brusttasche sprang.

"Hey du Arsch!", rief Mark.

Der Bogeyman blieb stehen, drehte sich wie in Zeitlupe um und hob das Messer in seiner Hand. Mark hielt dem Blick der unsichtbaren Augen stand. Paul zog ihn weiter. Wer immer hinter der Michael Myers Maske steckte, war gebaut wie ein Bodybuilder. Selbst der psychopathischste Mechaniker würde keine Chance gegen ihn haben. Mark fügte sich. In gespielter Resignation schüttelte Mark den Kopf.

"Was habe ich gesagt? Ein Idiot ist jedes Jahr dabei."

Marsjahr

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