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Zu diesem Buch

Menschen fliehen nach Europa, nach Deutschland. Das ist kein neues Phänomen. Und doch hat die enorm hohe Anzahl von neu ankommenden Flüchtlingen im Jahr 2015 unsere Gesellschaft, ja ganz Europa durchgerüttelt wie schon lange nicht mehr. Auch wenn im darauffolgenden Jahr der Flüchtlingszustrom durch harte Maßnahmen erheblich eingedämmt wurde, besteht kein Zweifel, dass dieses Thema uns auch weiterhin intensiv beschäftigen wird. Neue Flüchtlinge werden Wege finden. Wir werden auch weiterhin herausgefordert sein, damit umzugehen, möglichst konstruktiv. Und Christen sehen sich dabei besonders in der Verantwortung – vor Gott und den Menschen.

In diesem Buch möchten wir Geschichten aus der Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission erzählen. Sehr unterschiedliche Geschichten oder auch Geschichten mit sehr unterschiedlichen Facetten, schönen und schweren, traurigen und fröhlichen. So wie die von Alex. Wir erzählen von Menschen, von dem, was sie erlebt haben und was sie bewegt. Dabei spielt es keine so große Rolle, aus welchem Land sie stammen. Auch Deutsche brauchen manchmal eine Zuflucht, sehnen sich nach Gemeinschaft und suchen nach Erneuerung. Jeder Mensch will ankommen.

Wir wollen berühren, inspirieren und informieren. Im besten Fall führt das dazu, dass Sie, unsere Leser, sich durch die Lektüre ermutigt und ein Stück weit befähigt fühlen, selbst etwas dazu beizutragen, dass sich die Schatten, die Kälte nicht weiter ausbreiten, sondern mitten in allen Schwierigkeiten Rettungsflöße gebaut werden, damit Menschen nicht untergehen. Dass Sie die Scheu, die Unsicherheit vor dem Fremden verlieren und Lust bekommen, mit anderen zusammen etwas zu gestalten. So viel Gutes ist möglich! Mit Gottes Hilfe, mit der Kraft seines Geistes erst recht. Und gerade in unserer Zeit, in der die See auch in unserem Land rauer wird, braucht es Christen, die nicht von der Furcht zu versinken getrieben werden, sondern vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – mitten in der Welt.

Wir erzählen die Geschichten auf unterschiedliche Weise. Zum Teil liegen Interviews zugrunde, die wir in kurze Ich-Erzählungen umgearbeitet haben. Zum Teil berichten wir von Erfahrungen, die Mitarbeitende in verschiedenen Flüchtlingseinrichtungen oder Gemeinden der Berliner Stadtmission gemacht haben. Oder wir beschreiben Personen, die wir in ihrer Einzigartigkeit stellvertretend für viele andere in den Blick rücken.

Die Geschichten sind verschiedenen Themenräumen zugeordnet. Wir beiden Autoren, Sven und Gerold, diskutieren jeweils, welche grundsätzlichen Erkenntnisse sich aus den Geschichten gewinnen lassen. Bevor wir einen Themenraum verlassen, geben wir noch einige zusätzliche Informationen oder auch biblisch-theologische Hintergründe. Die verschiedenen Textarten sind auch grafisch unterschieden, sodass Sie jeweils klar erkennen, ob Sie eine Geschichte vor Augen haben, einem Gespräch „zuhören“ oder weitere Informationen erhalten.

Nachdem wir sozusagen im Foyer unkommentiert auf uns haben wirken lassen, was Alex erzählt hat, befinden wir uns jetzt bildlich im Informationszentrum. Hier skizzieren wir zunächst die Projekte und Einrichtungen der Berliner Stadtmission in der Flüchtlings­arbeit. So lassen sich später die kurzen Geschichten ohne weitere Erklärungen zuordnen.

Im Zentrum steht aber das sicher ungewöhnlichste Projekt: das Refugio, von dem Alex schon erzählt hat. Deshalb sollen die Leit­gedanken, die Struktur der Arbeit und die biblische Vision des Refugios ausführlich vorgestellt werden.

Flüchtlingsarbeit der Berliner Stadtmission

Zunächst aber wollen wir einen kurzen Überblick über den in dieser Form jüngsten, aber inzwischen sehr breit aufgestellten Arbeitszweig der Berliner Stadtmission geben: Aus den gesammelten Erfahrungen als Trägerin von unterschiedlichen, staatlich geförderten Einrichtungen der Flüchtlingshilfe, als Erfinderin des Refugios, als Netzwerk für Ehrenamtliche und als für Geflüchtete engagierte Gemeinden entsteht ein Gesamtbild. Und die verschiedenen Perspektiven bieten hoffentlich ausreichend Anknüpfungspunkte zu den Erfahrungen und Fragen einer breiten Leserschaft.

Mit „Haus Leo“ wurde dieser Arbeitszweig 2010 begonnen. Das Haus Leo ist eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlingsfamilien aus der ganzen Welt. Anders als bei vielen anderen Flüchtlingswohnheimen gibt es hier in den Zwei-Zimmer-Wohnungen mit eigener Küche und Nasszelle eine geschützte Privatsphäre. Eine stabile Umgebung sowie das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen (Senioren, Studenten, Freiwillige) auf dem Campus der Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofes fördert die Integration. Die Bewohner werden beraten und bei ihren ersten Schritten im Alltag begleitet. Die Sozialarbeiter sind behilflich in der Kommunikation mit Behörden, anderen öffentlichen Institutionen (Schulen, Kitas, Ärzten …) und bei der Suche nach Wohnungen oder Praktikums- und Ausbildungsplätzen. Darüber hinaus stehen sie für Seelsorge und Gespräche zur Verfügung. Und es werden Freizeitaktivitäten für Kinder und Erwachsene angeboten.

Im Herbst 2014 kam mit „Haus Leo II“ ein zweiter Gebäudetrakt mit etwas kleineren Wohnungen, aber gleichem Programm hinzu. Insgesamt gibt es in beiden Häusern zusammen etwa 140 Wohnplätze vor allem für Familien.

Der Name Leo kommt vom österreichischen Markgrafen Leopold VI., um 1200 n. Chr., der jedem, der einen bestimmten Eisenring am Stefansdom in Wien ergriff, Asyl, das heißt Schutz vor Verfolgung zusicherte. Markgraf Leopold VI. bestimmte in seiner Zeit auch mehrere Klöster zu Asylklöstern. Der Ausdruck „im Leo sein …“ erinnert daher an seinen Namen und bezeichnet einen Ort der Zuflucht und des Schutzes.

Als im Spätherbst 2015 in Deutschland die sogenannte Flüchtlingswelle einen ersten Höhepunkt erlebte, wurde die Stadtmission vom Berliner Senat angefragt, ob sie eine Notunterkunft für neu ankommende Flüchtlinge erstellen und betreiben könne. Geplant war eine Traglufthalle, so wie sie im Winter vorher schon für Obdachlose als Notübernachtung erprobt worden war.

Schon einen Monat nach der Anfrage standen auf einem beschlagnahmten Kunstrasenplatz einer umfangreichen Sportanlage (am Poststadion) in Moabit die beiden unterschiedlich großen Traglufthallen mit 6-Bett-Kabinen (Raum in Raum), einem großen Aufenthalts- und Essensbereich, einem Indoorspielplatz und insgesamt 294 Plätzen. Anfänglich betrug die Bleibedauer nur wenige Nächte, bald aber kam das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) weder mit der Registrierung noch mit der Weitervermittlung hinterher. So stieg die Bleibedauer kontinuierlich bis auf über ein halbes Jahr an. Gelegenheit, intensiv mit den Geflüchteten zu arbeiten: vom Sprachelernen ab der ersten Woche über kulturelle Freizeitveranstaltungen, Praktikumsvermittlungen bis zu ersten Begegnungen mit dem Grundgesetz (vgl. „In Sicherheit!“). Ende 2015 erhielt die Willkommens- und Integrationsarbeit in diesen beiden auch „balloon“ genannten Hallen den Integrationspreis von Berlin-Mitte.

Weil der Zustrom von Flüchtlingen bis zur Schließung der Balkanroute im Frühjahr 2016 anhielt, wurden immer neue Notunterkünfte gebraucht. Und natürlich Träger, die für die immer schwieriger zu organisierende Arbeit Verantwortung übernahmen.

So kam im Oktober 2015 eine weitere Notunterkunft in Spandau hinzu, und zwar in einer ehemaligen Zigarettenfabrik, mit zunächst bis zu 1000 Plätzen. Dort allerdings fehlten über Monate die notwendigen baulichen und hygienischen Voraussetzungen, die zwar von den zuständigen Behörden in Aussicht gestellt, aber nicht verwirklicht wurden. Unversehens und ungewollt war die Stadtmission verantwortlich für eine Einrichtung, die von den Bedingungen her über ein halbes Jahr lang im Grunde katastrophal war. Wie in solchen Umständen Gewalt zu vermeiden, wenigstens einzudämmen, und Frieden aufzubauen oder zu bewahren war – das war die extreme Herausforderung für ein Team, das erst während der laufenden Arbeit langsam zusammengestellt werden konnte. (Mehr dazu in Kapitel 2 und 3.)

Im Sommer 2015 wurde in einem traditionsreichen fünfstöckigen Gebäude der Stadtmission in Nord-Neukölln eine ganz neue Form von Integrationsarbeit eröffnet: Das Sharehaus Refugio (kurz: Refugio), gemeinsames Leben von Geflüchteten und Einheimischen als „Heimat auf Zeit“. Hier kommt fast brennglasartig zusammen, was in anderen Einrichtungen und Initiativen oft unverbunden ist. Zugleich ist es die Einrichtung, in der christliches Leben und Zeugnis am ausdrücklichsten gelebt werden kann, auch deshalb, weil es nicht von staatlicher Förderung abhängig ist.

Aber auch die allermeisten Stadtmissionsgemeinden waren ab Sommer 2015 im wahrsten Sinne des Wortes herausgefordert: entweder bei den Einrichtungen in eigener Trägerschaft oder aber – und das am häufigsten – in Flüchtlingsunterkünften und -heimen anderer Träger in unmittelbarer Nachbarschaft zur Gemeinde. Schön ist dabei zum Beispiel die Geschichte der Jungen Kirche Berlin-­Treptow (JKB), die zwei Monate lang in Gottesdiensten und Gebetszeiten danach fragte, welche Aufgabe Gott ihr wohl zugedacht habe. Genau am Montag nach dem Ende dieser Predigtreihe kam die Information, dass unmittelbar gegenüber eine neue Erstaufnahme eingerichtet würde – verbunden mit der Anfrage, ob die JKB zunächst mal die Kleiderkammer organisieren könne. Und schon am nächsten Wochenende ging es los.

Aber hier wie auch in den anderen Gemeinden und Unterkünften waren und sind die Erfahrungen nicht nur positiv. Immer gab und gibt es Konflikte, Enttäuschungen – und die immer neue Anforderung, sich nüchtern und aufmerksam der aktuellen Situation zu stellen. Einfach nur nett zu sein, ist nirgendwo die Lösung, sondern verschärft oft die Probleme. Genauso wie umgekehrt jede ideologische Antwort, jede Scharfmacherei, von welcher Seite auch immer.

Trotzdem sind wir überzeugt – und das zeigen unsere vielfältigen Geschichten –, dass in diesem Ringen um Menschenwürde und Integration eine biblische Kernaussage verwirklicht wird: „Der Fremde soll unter euch wohnen wie ein Einheimischer. Denn auch ihr wart Fremde in Ägypten“ (Hesekiel 47,22). Und bei allem Engagement für die Geflüchteten dürfen auch die nicht vergessen werden, die sich schon länger fremd fühlen – im eigenen Land.

Es geht immer um Menschen! Um Gottes willen.

Sharehaus Refugio

Anfang 2014 war das Schriftstellerehepaar Elke Naters und Sven Lager nach einem zehnjährigen Südafrika-Aufenthalt mit ihren Kindern nach Berlin zurückgekommen. In Südafrika waren die beiden – Elke kirchenfern und esoterisch interessiert und Sven als überzeugter Atheist – Christen geworden. Und von dort brachten sie das Sharehaus mit, ein im Grunde ganz schlichtes, aber wirkungsvolles Konzept, das sie entwickelt und auch schon umgesetzt hatten, um der sozialen Kälte entgegenzuwirken: eine Alternative zu Beziehungslosigkeit und Parallelgesellschaften einerseits und zu Hilfsprogrammen andererseits, die die Bedürftigen abhängig halten oder machen. Stattdessen das Motto: „Teilen macht reich.“ Es ging also darum, eine Form der Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen, wo jeder Ideen und Gaben einbringen kann, aber auch mit seinen Bedürfnissen ernst genommen wird, sodass im Teilen eine offene, kreative und solidarische Gemeinschaft entsteht, in der jeder Gebender und Nehmender ist.

Das war ein Gedanke, der bei leitenden Mitarbeitern der Berliner Stadtmission sofort zündete. Denn gerade in einer Organisation mit einem so breit aufgestellten Hilfsprogramm merkt man deutlich, dass erst dann wirklich geholfen ist, wenn die Klienten, Gäste und Bewohner verschiedener Einrichtungen Zugang zu ihren eigenen Ressourcen bekommen, Selbstvertrauen entwickeln und aktiviert werden. Und das nicht nur, um ihre eigenen Probleme zu lösen, sondern um etwas beizutragen zum biblischen Leitwort: „Suchet das Beste der Stadt und betet für sie zum Herrn“ (aus Jeremia 29,7).

Die Berliner Stadtmission beauftragte also die beiden Schriftsteller, in Kreuzberg ein Pilotprojekt dieser Art zu starten, als offenes Nachbarschaftshaus mit einfachen Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dieses kleine Sharehaus in Kreuzberg wurde aber nicht nur eine Art Versuchsballon, in dem wichtige Erfahrungen für den Berliner Kontext gesammelt werden konnten. Hier wuchs zugleich ein Teil des Kernteams für das Neue, Größere heran: Einheimische, die aktiv mitgestalten wollten, und Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern.

Nach etwa achtmonatiger Planungszeit konnte dann im Sommer 2015 das Sharehaus Refugio seine Türen öffnen, ein fünfstöckiges Jugendstilgebäude mit großem Saal, Büroräumen und Zimmern auf drei Etagen, in denen früher einmal ein Seniorenheim war.

Hier wohnen inzwischen etwa zwanzig Einheimische und zwanzig Geflüchtete1 in drei WGs mit jeweils gemeinsamer Küche. Das bedeutet: Leben teilen, Sprache und Kultur lernen, Freundschaften schließen, über Glauben reden, Grundlagen für die berufliche Entwicklung legen. Zuflucht auf Zeit und auf Augenhöhe untereinander. Dazu ein gemeinsam eingerichtetes Café (mit Barista-Kaffee) und ein großer Saal für Veranstaltungen, Sprachtandems (eine Lernmethode, bei der zwei Partner mit unterschiedlicher Muttersprache sich gegenseitig die jeweils fremde Sprache beibringen) und Gottesdienste.

1 Wir nennen die Menschen, die hierher geflohen sind, zum besseren Verständnis „Flüchtlinge“ oder lieber „Geflüchtete“ (engl. refugees); sie selbst bevorzugen die Bezeichnung „Ankommer“ (engl. newcomer).

Das Refugio-Leitbild fasst die Grundgedanken so zusammen:

Mission

Unsere Mission ist es, den Mitbewohnern ein „Refugio“ zu bieten, das heißt einen Ort, an dem sie

Zuflucht finden,

Gemeinschaft leben,

Erneuerung erfahren und selbst zur Erneuerung (der Gesellschaft) beitragen können.

Dabei setzen sich die Mitbewohner zusammen aus Einheimischen und Neuangekommenen (insbesondere Flüchtlingen) in Deutschland.

Konkretionen

Zuflucht verstehen wir als einen Ort, der Schutz bietet – einerseits vor Diskriminierung, Hass und Gewalt, andererseits vor Einsamkeit und Haltlosigkeit.

Zuflucht bedeutet für uns auch Heimat, in der die Bewohner dazugehören, zur Ruhe kommen und Annahme erfahren.

Gemeinschaft leben bedeutet für uns, dem Wohl der Gemeinschaft eine hohe Priorität zu geben. In ihr üben wir bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung jedes Mitglieds. Wir vereinen tragende Gemeinschaft und geschützte Privatsphäre. Gegenseitige Stärkung und Vertrauen zueinander ergeben sich nicht von selbst, sondern müssen beharrlich gefördert und aufrechterhalten werden.

Erneuerung heißt für uns, belastende Erfahrungen der Vergangenheit zu überwinden und hoffnungsvoll neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen. Im Refugio als „Werkstatt für Himmlische Gesellschaft“ fördern wir die Versöhnung mit der eigenen Biografie durch gegenseitige Gespräche und Ermutigung auf Augenhöhe, auf Wunsch auch durch Seelsorge und Gebet. Zugleich unterstützen und ermutigen wir einander, aktiver Teil einer gesellschaftlichen Erneuerung zu sein und „das Beste der Stadt“ zu suchen.

Vision

Unsere Vision ist eine Gesellschaft, die in versöhnter Vielfalt lebt:

versöhnt untereinander,

mit Gott

und mit der eigenen Biografie.

Ethik und Werte

Uns vereint eine gemeinsame Ethik, nach der jeder Mensch Wertschätzung verdient, der Glaube der anderen geachtet und der eigene ins Gespräch gebracht wird für einen neugierigen und reichen Austausch im Zuhören und Lernen.

Im Sharehaus Refugio soll jeder Mensch aufblühen dürfen und gefördert werden in seinen von Gott gegebenen Talenten und Fähigkeiten. Mit ihnen dient er auch der Gemeinschaft, die ebenso wichtig ist wie die persönliche Entfaltung. Hier sind alle gleich wertvoll und gleich wichtig, egal welche Aufgabe jemand hat. Denn nur gemeinsam sind wir reich.

Keiner wird nach seiner Leistung bemessen, denn jeder Mensch ist und bleibt von Geburt an kostbar, nichts und niemand kann ihm das nehmen.

Gleichzeitig ist jeder Mensch selbst verantwortlich für das, was er tut. Scheitern ist erlaubt. Aber daraus zu lernen und es besser zu machen ist die wesentliche Aufgabe. In aller respektierten und wertgeschätzten Vielfalt zählt die Einheit der Gemeinschaft.

Wir dienen einander, damit darin die Zuwendung Gottes zu jedem einzelnen Menschen deutlich wird. Ethik und Werte werden im Refugio mit den Bewohnern in regelmäßigen Workshops besprochen und vertieft.

Verwirklicht werden diese Grundlagen in folgenden Gestaltungsformen und Arbeitszweigen:

1 Refugio: Das Refugio ist ein Gemeinschaftshaus, in dem vor allem mit Geflüchteten gelebt und gearbeitet wird. Hier finden sie Zuflucht in gemieteten Zimmern und berufliche wie persönliche Förderung, um anschließend ohne Hilfsmaßnahmen integriert in Deutschland leben zu können oder auch wiederhergestellt in ihre alte Heimat zurückzukehren. Im Rahmen des Refugios werden Partner einbezogen, die die berufliche Förderung durch konkrete Maßnahmen unterstützen. Außerdem wird ein Netzwerk von ehrenamtlichen „Mentoren“ der Geflüchteten aufgebaut.

2 Inkubator: Durch das Zusammenkommen von Menschen verschiedenster Kulturen, Fähigkeiten und einem durch die Flüchtlingsgeschichte bewiesenen Zielstrebigkeits- und Problemlösungswillen können Deutsche und Flüchtlinge Teams mit breitem Innovations- und starkem Umsetzungspotenzial gründen. Für die Umsetzung von Ideen werden unternehmerisches Denken und Handeln gefördert. Hierfür werden verschiedene Coachingangebote gemacht, Ausbildung und Tools zur Unternehmensgründung bereitgestellt sowie ein starkes externes Netzwerk aufgebaut.

3 Kiez- und Bewohnercafé sowie öffentliche Veranstaltungen als Begegnungsort: Das Sprachcafé für Geflüchtete und Einheimische aus dem Kiez (Berliner Bezeichnung für Nachbarschaft oder Quartier) findet wöchentlich statt. Dazu Kulturveranstaltungen, Essens- und Tanzabende jeden Monat. Café und Saal werden langfristig zu einem Veranstaltungs- und Konferenzort aufgebaut, der einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung bringen soll.

4 Stadtkloster: Als Stadtkloster wird die geistliche Einrichtung im Sharehaus verstanden, die überall präsent ist und das Heilige in jedem Menschen ehrt. Verschiedene Angebote wie Meditation, Exerzitien, Seelsorge und Seminare sind geplant und finden schon teilweise statt. Im Refugio gibt es auch Pilgerzimmer, die öfters von Menschen genutzt werden, die für kurze Zeit Zuflucht, Gemeinschaft und Erneuerung suchen.

5 Sharehaus: Der Sharehaus-Gedanke der Wertschätzung, Anerkennung und Potenzialförderung in Gemeinschaft, gleich welcher Herkunft, Religion oder sozialen Stellung, ist Basis aller Arbeitsformen im Refugio. Diese Sharehausgemeinschaft ist etwas, das unter Anleitung täglich geübt wird und gemeinsam entwickelt werden soll. Ziel ist, auch andere Sharehäuser bzw. Refugios anzustoßen, zu inspirieren und zu beraten.

Im Refugio arbeiten vier Angestellte verschiedener Berufsrichtungen ergänzt durch Praktikanten, und etwa zwanzig bis dreißig Ehrenamt­liche, die nicht im Haus wohnen. Die Bewohner haben sich vor Einzug verpflichtet, an der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens teilzunehmen und auch ehrenamtlich einzelne Aufgaben zu übernehmen wie im Café mitzuarbeiten.

Die Hauskosten werden durch die Mieten von Bewohnern und sonstigen Nutzern getragen. Die Personalkosten müssen durch wirtschaftliche Aktivitäten (Café, Catering), Zuschüsse und Spenden aufgebracht werden. Das Defizit der Anfangsjahre und das finanzielle Risiko trägt die Berliner Stadtmission.

Als Kooperationspartner im Haus trägt die Gemeinde „Kreuzberg­projekt“ (eine Gemeindegründung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden) mit der Gestaltung der Gottesdienste und der Beteiligung an Gebetszeiten und Glaubenskursen einen wesentlichen Teil zur geistlichen Arbeit bei. Geistliche Kernzelle ist die Refugio-Weggemeinschaft aus Mitarbeitenden, Mitbewohnern, Ehrenamtlichen und weiteren Stadtmissionaren.

Werkstatt für Himmlische Gesellschaft – Biblische Perspektiven

Geistliche Grundlage für die Entwicklung des Sharehaus Refugio ist das Vertrauen auf den lebendigen Gott. Sein Herz schlägt dafür, dass es Versöhnung gibt und nicht Hass, Frieden und nicht Krieg, Vertrauen und nicht Misstrauen, Gastfreundschaft und nicht Vertreibung, Heilung und nicht Verletzung. Wie sehr er daran interessiert ist, hat er in Jesus von Nazareth gezeigt, der mit seinem Leben genau dafür eingetreten ist und seinen Kopf hingehalten hat.

Und Jesus hat sehr deutlich gemacht, dass das Reich Gottes oder „Himmelreich“ nicht erst in der Zukunft liegt, sondern hier und jetzt beginnt, mitten unter uns und in uns (Lukas 17,21). Das bedeutet nicht, dass wir das Reich Gottes erschaffen könnten, aber doch, das wir ihm bewusst und aktiv Raum geben können – bzw. dass der Heilige Geist durch Menschen jetzt schon beispielhaft und punktuell Reich Gottes geschehen lässt. Nämlich da, wo Gottes Wille geschieht, seine Interessen Raum bekommen, jetzt schon etwas vom Himmel sichtbar wird.

Deshalb verstehen wir unsere Arbeit als „Werkstatt für Himm­lische Gesellschaft.“

Wie sich die Bibel solch eine himmlische Gesellschaft vorstellt, können wir zum Beispiel im Epheserbrief (Kap. 2) und in der Johannesoffenbarung (Kap. 21) lesen.

Daraus ergeben sich vier Kennzeichen der Werkstatt für Himm­lische Gesellschaft.

1. Hier wohnt Gott in einer bunten WG

Die Johannesoffenbarung zeigt sehr klar, dass Gott offenbar überhaupt kein Interesse hat an einem Himmel, der mit der Erde nichts mehr zu tun hat, einem Himmel, der nur als ewige Belohnung auf die Gerechten wartet. Da will Gott überhaupt nicht wohnen. Sondern er zieht um, höchstpersönlich: vom Himmel auf die Erde. „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, schön wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat. Und vom Thron her hörte ich eine mächtige Stimme rufen: ,Seht, die Wohnung Gottes ist jetzt bei den Menschen! Gott wird in ihrer Mitte wohnen; sie werden sein Volk sein – ein Volk aus vielen Völkern, und er selbst, ihr Gott, wird immer bei ihnen sein‘“ (Offenbarung 21,2-3 Neue Genfer Übersetzung).

Genau durch diesen Umzug Gottes wird die Erde rundum erneuert. Am Ende der Zeiten. Und zwar endgültig. Aber damit bringt er ja nur zu Ende, was er längst schon angefangen hat. Einer der Berichte über Jesus, das Johannesevangelium, sagt: In Jesus ist Gottes Wort schon in die Welt gekommen und „wohnte unter uns“. Wir merken: Himmlische Gesellschaft hat eine Menge damit zu tun, wo Gott wohnt. Er liebt Wohngemeinschaften (statt getrennter Unterbringung). Wir dürfen seine Hausgenossen sein (Epheser 2,19). Aber wer wohnt da noch? Beide Bibelabschnitte machen unmissverständlich klar, dass die himmlische Gesellschaft multikulti sein wird. Weil Jesus die Zäune abgerissen und die Feindschaft überwunden hat.

2. Ein Raum der Heilung

„Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein“ (Offenbarung 21,4).

Was die Werkstatt für Himmlische Gesellschaft vor allen anderen auszeichnet, ist Folgendes: Hier werden Traumata geheilt. Hier werden Geschichten erzählt und angehört, egal wie erschütternd sie sind. Familientragödien und Fluchtgeschichten. Geschichten von Chancenlosigkeit und Verzweiflung. Von Verfolgung und Gewalt. Von Perspektivlosigkeit und Einsamkeit. Da dürfen Tränen fließen und werden dann behutsam abgewischt. Und die Angst weicht – langsam aber sicher.

Das wird nicht erst im Himmel geschehen, sondern wird jetzt möglich, wo Menschen durch den Heiligen Geist direkten „Zugang zum Vater“ (Epheser 2,18) bekommen und die überschwängliche Kraft Gottes in sich spüren (Epheser 3,20; vgl. die Erzählungen von Alex sowie die Geschichte von Meriem in Kapitel 5).

3. Die Überwindung der Religionen

„Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Der Herr selbst, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (V. 22).

Das ist eine hochinteressante Aussage. Der Tempel ist das Symbol für Religionen. Bei dem Stichwort denken viele direkt an Religionskriege. Leider zu Recht. Religionen können grausamen Unfrieden säen. Wenn jede darauf beharrt, allein recht zu haben. Auch in Epheser 2 beruht die Feindschaft ja auf der Rechthaberei von Religionen, die Christus in seiner Person überwindet, aber nicht, um eine neue rechthaberische Religionsgemeinschaft zu gründen.

Nach der Vorstellung der Bibel werden am Ende die Religionen abgeschafft und zwar alle. Denn Religionen sind ja irdische Formen der Verehrung von Göttlichem und zugleich menschliche Gebilde mit Organisationsformen und Machtstrukturen. Auch die christliche „Religion“. Insofern hat auch das „Christentum“ in Gottes Neuer Welt keinen Platz mehr.

An die Stelle tritt eine unmittelbare Beziehung zum lebendigen Gott. Wir Christen können dabei nicht anders als an Jesus denken, das Lamm Gottes, der mit seinem Leben und Sterben die grenzen­lose Hingabe Gottes gezeigt hat. Das bedeutet: In einer Werkstatt für Himmlische Gesellschaft kann es nicht darum gehen, dass die einen versuchen, den anderen ihre Religion überzustülpen. Sondern dass es Raum gibt, in dem Menschen jetzt schon dem lebendigen Gott selbst begegnen können. In diesem Raum bezeugen Christen fröhlich, wovon sie bewegt werden und überzeugt sind, und treten so „den Beweis des Geistes und der Kraft“ an (Lessing). Indem sie sich aber zugleich für die Glaubenszeugnisse anderer interessieren und sie ernst nehmen, schaffen sie einen Raum, der von Vertrauen statt von Rechthaberei geprägt ist.

4. Die Wertschätzung kultureller Vielfalt

„Die Völker werden in dem Licht leben, das von der Stadt ausgeht, und von überall auf der Erde werden die Könige kommen und ihren Reichtum in die Stadt bringen. Die herrlichsten Schätze und Kostbarkeiten der Völker werden in die Stadt gebracht. Aber etwas Unreines wird dort niemals Einlass finden“ (Offenbarung 21,24.26+27).

Alle Völker haben etwas einzubringen. Kochkünste und Musik. Tänze und Gedichte. Sprachen und Kunstwerke. Geschichten und Weisheiten. Da wird auch nicht mehr in Hilfsbedürftige und Helfer eingeteilt, sondern jeder hat etwas beizusteuern in die himmlische Gesellschaft.

Aber: Nicht alles hat dort Platz. Was die Gemeinschaft untereinander und mit Gott stört, bekommt keinen Raum zur Entfaltung mehr. Das gehört da nicht hin, darf nichts mehr kaputt machen. Dort wird immer wieder neu sortiert, was das Leben fördert und was nicht (hinter kultischen Begriffen wie „Unreines“ steckt in der Bibel in aller Regel die Abwehr von lebensbedrohlichen Einflüssen). Dieses Sortieren geschieht „im Licht des Lammes“ (V. 23). Das bedeutet: nicht nach dem Recht des Stärkeren, sondern nach dem Kriterium der Hingabe.

Jeder Mensch will ankommen

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