Читать книгу Die Britannien-Saga. Band 1 und 2: Hengist und Horsa / Brand und Mord. Die komplette Saga in einem Bundle - Sven R. Kantelhardt - Страница 12

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VI. Abrechnung und Aufbruch

Beufleet, Juni 441

Swæn

Am Ufer warteten Witiko und Swæn angespannt auf den Ausgang des Kampfes. Endlich tauchte im Nebel die Silhouette eines Bootes auf.

„Das ist das Boot des Britanniers“, rief Swæn aufgeregt und dann sah er zwei lebende Gestalten. „Er hat es geschafft!“ Damit war Ordulf gerettet. Begeistert umarmte er den verdutzten Witiko. Er rannte dem Sieger aufgeregt entgegen und half, das Boot an Land zu ziehen.

„Das ist doch Kjeld, der junge Ebbingemanne, der Hoger zum Holmgang rudern sollte!“, wunderte sich Swæn, als er die Leiche gewahrte. „Wie kommt der denn hierher?“

„Hat er sich nach Hogers Tod etwa auf euch gestürzt?“, mutmaßte Witiko.

Ceretic unterrichtete sie in aller Kürze über das Vorgefallene und Hogers Flucht.

„Dieser Feigling hat seinen Knecht vorgeschickt und ist selbst getürmt! Ich muss sofort nach Dithmarschen zurückkehren, der Schuft sinnt sicher auf Rache und wird sich noch an unserem Hof vergreifen!“, rief Swæn erschrocken.

„Erst einmal muss er den Verlust von dreien seiner Krieger verschmerzen“, bemerkte Witiko beruhigend. „Da wird er nicht so schnell wieder zu einem Überfall bereit sein. Und jetzt lasst uns Horsa berichten.“

„Und Ordulf befreien!“, stimmte ihm Swæn zu.

„Lauft ihr schon vor, der Kerl hat mich am Knöchel erwischt und ich komme lieber etwas langsamer hinterher, damit die Wunde nicht wieder zu bluten beginnt“, wies Ceretic sie an.

Als die beiden Sachsen in Hengists Halle stürmten, warteten Horsa und weitere Krieger und Hofbewohner bereits voll Spannung auf den Ausgang des Kampfes. Schlagartig verstummte das aufgeregte Gemurmel. Alle Augen richteten sich gespannt auf die Neuankömmlinge.

„Hoger, der Schuft, hat überlebt und ist geflohen!“, rief Witiko atemlos in die Stille hinein.

Ein erstickter Schrei, gefolgt von einem dumpfen Poltern antwortete ihm aus dem hinteren Teil der Halle. In dem sich daraufhin ergebenden Durcheinander dauerte es einen Augenblick bis Swæn einen Überblick gewann. Eine der Frauen war ohnmächtig geworden.

„Was ist mit Rowena los?“, rief Horsa besorgt und drängte zu seiner am Boden liegenden Nichte. „Bringt sie sofort an die frische Luft. Gero und Worad, ihr fasst mit an.“

War das nicht dasselbe Mädchen, welches am Vortag die Schale mit der Milch hatte fallen lassen?, fragte sich Swæn.

Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, trat Ceretic in die Halle und sorgte für neue Verwirrung.

„Hoger lebt, aber unser guter Ceretic steht dort ganz lebendig in der Tür“, rief Horsa erstaunt über den Tumult hinweg. „Was hat das alles zu bedeuten?“

Beufleet, Juni 441

Ordulf

Kurz nach Sonnenaufgang öffnete eine kleine rothaarige Magd die Tür zu Ordulfs Gefängnis.

„Weißt du, wie es ausgegangen ist?“, bestürmte er sie sogleich.

Das Mädchen grinste frech. Das Grinsen kannte er irgendwoher. Wo nur hatte er sie schon gesehen? Doch das war jetzt zweitrangig.

„Wie ist was ausgegangen?“, fragte sie zurück.

„Ach, komm schon, du dummes Ding. Der Holmgang natürlich! Wer hat überlebt? Hoger oder der Britannier?“

„Ich glaube beide“, antwortete sie nach kurzem Nachdenken und grinste schon wieder.

„Es geht um mein Leben du, du …“ Ihm fehlten die Worte.

Sie setzte eine strenge Miene auf. „Komm jetzt mit zu Horsa, dann wirst du alles erfahren, du Raufbold.“

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und gab die Tür frei. Erstaunt, doch bereits ziemlich erleichtert, folgte Ordulf ihr. Wenn man nur eine Magd schickte, um ihn zu holen, dann gab es offenbar keinen Grund mehr seine Flucht zu befürchten, oder? Warme Dankbarkeit zu dem Mädchen wallte in ihm auf, obwohl sie ja gar nichts zu seiner Rettung beigetragen hatte.

Als sie kurz darauf in die Morgensonne hinaustraten, warteten Horsa und mehrere Krieger bereits unter der alten Linde im Zentrum der kleinen Siedlung. Beim Nähertreten entdeckte Ordulf den riesigen roten Schnurrbart des Britanniers. Uuoden hatte also seine Unschuld bestätigt!

Gleich daneben standen sein Bruder Swæn und Horsa. Vor Horsa auf dem Boden lag … Ordulf sah genauer hin. Es handelte sich zwar um einen Toten, aber etwas stimmte nicht. Das war gar nicht Hoger. Es war einer der jungen Ebbingemannen, die versucht hatten, ihn zu ersäufen. Der einzige außer Hoger, der das bisher nicht mit seinem Blut bezahlt hatte. In der Ecke stand der einäugige Halvor.

„Die Götter haben entschieden“, begann Horsa. „Ceretic, unser nun doppelt geachteter Freund aus Britannien, hat die Wahrheit bewiesen, während Hoger nicht nur ein Lügner, sondern auch ein Feigling ist.“ Horsa blickte ernst zu der Leiche, die zu seinen Füßen lag. „Er hat einen Knecht an seiner statt in den Kampf geschickt und ist selbst geflohen, als der Britannier ihn erschlug. Damit hat er nicht nur unseren Frieden gebrochen, sondern auch den heiligen Holmgang entweiht und Uuoden beleidigt. Vorerst ist er seiner gerechten Strafe entkommen. Vorerst.“ Dann wandte er sich an Ordulf. „Du bist frei, der Britannier hat deine Unschuld bewiesen.“ Schließlich drehte er sich mit finsterer Miene in Halvors Richtung. Das Gesicht des verwundeten Ebbingemannen war bleich wie ein Laken. Ordulf fragte sich, ob aus Angst oder in Folge der Verletzung und des Blutverlustes.

„Was habt ihr getan?“, grollte Horsa. „Ihr habt vorsätzlich meinen Frieden gebrochen und mir eine Lügengeschichte aufgetischt!“

„Der Häuptling Hoger hat es so befohlen“, jammerte der Angesprochene und wand sich ängstlich unter Horsas vernichtendem Blick.

„Lass ihn leben, er hat seine Strafe schon erhalten“, riet da der Britannier.

Swæn stimmte ihm sofort zu: „Es ist heute genug Blut geflossen und wir wollen die Fehde mit den Ebbingemannen nicht unnötig anheizen.“

Horsa sah ihn erstaunt an, dann richtete sich sein Blick auf Ordulf. „Und was sagst du?“

Ordulf zuckte mit den Schultern. „Wenn er es schon mit zwei Gefährten nicht schafft mich zu ersäufen, dann wird er es alleine bestimmt nicht wieder wagen. Nun sieht er ja, wohin das führt“, bemerkte er spöttisch grinsend.

Horsa verzog den Mund zu etwas, von dem Ordulf sich nicht sicher war, ob es ein saures Grinsen oder eine missbilligende Grimasse darstellte. „Du hörst, dass deine Gegner dir das Leben schenken wollen. Dann will ich dir die Möglichkeit zur Bewährung geben – im Kampf gegen die Pikten. Aber ich warne dich. Ich werde ein Auge auf dich haben, also pass gut auf, dass du dich nicht noch einmal an deinen neuen Gefährten vergehst. Beim geringsten Anlass werde ich es mir anders überlegen.“ Er blickte den Ebbingemannen noch einen Augenblick lang fest an. Dann nickte er. „Das Gericht ist beendet.“

Beufleet, Juni 441

Ceretic

Während Horsa sein Urteil fällte, suchten Ceretics Blicke nach Rowena. Strafte sie ihn nun mit aufgesetztem Desinteresse? Oder hatte er am Ende tatsächlich ihre Zuneigung verspielt? Aber nach dem Abend am Fleet – das konnte doch nicht sein! Der bloße Gedanke schmerzte ihn stärker als die Wunde am Fuß. Panik keimte in ihm auf.

Endlich, nach einer schieren Ewigkeit, beendete Horsa das Gericht. Ceretic ließ die dankbaren Brüder stehen und lief los, um Rowena zu suchen. Da tauchte Gutha zwischen den Gebäuden des Hofes auf. „Gutha“, rief er, der Verzweiflung nahe. Die rothaarige Magd drehte sich um und lief auf ihn zu.

„Komm sofort mit. Vielleicht lässt sich ja doch noch einrenken, was du kaputt gemacht hast!“, fauchte sie und zog ihn am Ärmel mit sich fort. Ceretic wusste nicht, wie ihm geschah, doch die resolute Magd zerrte ihn zielstrebig auf eine der einfachen Katen zu. „Da siehst du, dass ich recht habe“, rief sie triumphierend, als sie die Tür aufriss und Ceretic hineinschubste. Drinnen saß Rowena mit rot geweinten Augen auf einem Schemel. Als sie zu ihm aufblickte, zeichnete sich zuerst ungläubiges Staunen und dann das strahlendste Lächeln, welches Ceretic je erblickt hatte, auf ihren Zügen ab.

„Du lebst tatsächlich“, jauchzte sie und warf sich an seinen Hals.

Beufleet, Juni 441

Ordulf

Frei! Der Albtraum war vorüber. Ordulf fühlte sich wie neu geboren. Er fiel Swæn in die Arme. Jener berichtete all das, was sich in den letzten zwei Tagen zugetragen und was er selbst bisher über den Verlauf des Holmgangs in Erfahrung gebracht hatte. „Doch wo ist der Held, wo ist Ceretic?“, endete er.

Beide schauten sich suchend um. Ordulf griff nach dem kleinen Bronzekreuz, welches er nun selbst um den Hals trug. „Er lief hinter der kleinen rothaarigen Magd her, das habe ich noch gesehen“, bemerkte er. Beide Brüder machten sich auf die Suche und bald entdeckten sie die junge rothaarige Magd hinter einer Scheune.

„Hallo du“, sprach Ordulf sie an. „Weißt du, wo der Britannier, mein Retter, ist? Er ist dir doch gerade hinterhergelaufen?“

Das Mädchen wurde rot. „Dein Retter steht vor dir“, behauptete sie.

Ordulf verstand nicht richtig. „Ja, ja, du hast mich heute Morgen aus der Kammer gelassen, aber das hatte ja wohl keine Bedeutung. Wenn Ceretic nicht beobachtet hätte, wie die Ebbingemannen mir auflauerten, befände ich mich nun am Grunde des Moores! Also, wo ist er, du kleiner Naseweis?“

Das Mädchen schürzte beleidigt die Lippen und Ordulf fiel bei diesem Anblick wieder ein, wo er sie zuerst gesehen hatte. Sie war es gewesen, die ihn an ihrem Ankunftstage draußen auf der Weide geneckt hatte. Das Mädchen mit dem blauen Blumenkranz. Doch im selben Augenblick öffnete sich eine Tür der kleineren Hütten und Ceretic erschien. Beim Anblick der Brüder seufzte er enttäuscht, aber sogleich strafften sich seine Züge wieder.

„Ich gratuliere dir zu deiner Freiheit“, sprach er Ordulf freundlich an.

„Und ich danke dir von ganzem Herzen! Du allein hast mich gerettet!“

Hier schnaufte das Mädchen schon wieder verärgert, aber Ordulf beachtete sie nicht weiter. Wer konnte schon erraten, warum Mädchen sich manchmal so aufführten? Ceretic trat vollends vor die Hütte und verschloss sorgfältig die Türe hinter sich.

„Lass uns sehen, ob wir irgendwo etwas zu trinken finden“, schlug er vor. „Ich könnte nach der ganzen Aufregung eine Stärkung gebrauchen.“ Dabei zog er den verdutzten Ordulf am Ellenbogen in Richtung des Langhauses. Swæn beeilte sich, auf die andere Seite des Helden zu kommen und so zogen die drei ab und ließen eine kleine rothaarige Magd schmollend zurück.

In der Halle gesellte sich Horsa zu ihnen. „Hat jemand von euch meine Nichte gesehen?“, fragte er besorgt. „Ihr hat die ganze Sache erstaunlich zugesetzt. Erkenhilde hat sie bei den Frauen gesucht, aber nirgends finden können.“

„Sie wird schon wieder auftauchen, trink doch einen mit uns. Auf die Gerechtigkeit, der du heute zum Siege verholfen hast“, entgegnete Ceretic hastig und Ordulf wunderte sich, wie der Britannier vor lauter Durst ganz rot anlief.

Als sie endlich ihren Durst gelöscht hatten, griff Ordulf nach dem kleinen Bronzekreuz an seinem Hals. Doch Ceretic hob abwehrend die Hände. „Denk an dein Versprechen“, ermahnte er Ordulf eindringlich. Horsa schaute erstaunt vom einen zum anderen, aber Ceretic begann unvermittelt, seinen Holmgang in aller Ausführlichkeit zu schildern.

„Ich bin froh, dass Uuoden so entschieden hat“, nickte Horsa als er endete. „Ordulf, nun erzähl uns auch von deinem Kampf!“

Der Angesprochene tat wie ihm geheißen, obwohl sich seine Erinnerungen im Wesentlichen auf das Stechen in seinen Lungen und das Hämmern in den Schläfen beschränkten.

„Und der Donnerer hat dir tatsächlich einen Dolch geschickt“, bestätige Horsa und zog das rostige Eisen, welches er zwei Tage zuvor an sich genommen hatte, aus seinem Gewand. Ordulf nahm es entgegen und zeigte es in der Runde herum. Ceretic fuhr vor der Waffe zurück, als sei sie vergiftet, doch Swæn betastete sie ehrfürchtig.

Unvermittelt wandte er sich dann an Horsa: „Ich bin dir sehr dankbar für deinen weisen Richterspruch. Thunær, der Ordulf dies hier in der höchsten Not geschickt hat, blickt zweifellos wohlwollend auf deine Gerechtigkeit. Er wird deine Fahrt übers Meer umso reichlicher segnen!“ Hier machte er eine Pause und Horsa blickte ihn fragend an. „Aber wir Swænen werden nicht mit dir ziehen können.“

„Wieso denn das?“, begehrte Horsa auf und auch Ceretics Brauen schossen überrascht in die Höhe. Ordulf dagegen klappte die Kinnlade herab. „Ihr seht doch selbst, dass ich ein gerechter Anführer bin – ich habe nicht auf Hoger gehört, obwohl er mir mehr Männer gebracht hat als ihr“, fuhr Horsa fort.

„Es ist nicht, dass wir unzufrieden mit deinem Urteil wären oder dass uns der Mut zur Fahrt entfallen ist“, antwortete Swæn beschwichtigend, „aber Hoger ist entkommen. Er wird nach Dithmarschen heimkehren und auf Rache sinnen. Wir müssen unseren Vater warnen und der Familie beistehen, denn die Ebbingemannen haben in den Rodbellingern mächtige Verbündete.“

Horsa kaute auf seiner Unterlippe und blickte nachdenklich auf die beiden Brüder. „Das soll Hengist entscheiden, sobald er zurückkehrt. Hoger wird eine Weile brauchen, um diese Rodbellinger auf seine Seite zu ziehen. Immerhin hat er gerade erst drei Krieger verloren und nichts als sein nacktes Leben gerettet.“ Dabei blieb es vorerst.

Bereits am Abend dieses ereignisreichen Tages kehrte Hengist aus Keydingen zurück und es dauerte nicht lange, bis einer seiner Knechte zu Ordulf und Swæn gelaufen kam. „Folgt mir“, forderte er knapp. „Hengist will euch sehen.“

Im Eingang zur Halle trafen die Brüder auf Ceretic. Eilig traten sie ein und verbeugten sich tief vor dem Hochsitz. Der Held hatte sich keine Pause gegönnt. Der Staub der Straßen klebte ihm noch in Bart und Rüstung.

„Wie konntest du unsere Fahrt gefährden und dich mit diesem Verbrecher schlagen?“, richtete er seine erste tadelnde Frage an Ceretic. „Aber es ist gut zu wissen, dass man dem Boten König Vortigerns trauen kann“, fügte er in versöhnlichem Ton hinzu, bevor der Angesprochene antworten konnte. Dann wandte er sich an Ordulf. „Du also bist der Mann, der allein und mit dem Kopf im Dreck zwei Männer erschlagen hat?“, fragte er halb amüsiert. „Dein Glück, dass der Britannier alles bezeugen konnte. Dass du nach Dithmarschen zurückkehrst, ist völlig ausgeschlossen. Männer wie dich brauche ich in Britannien. Wenn ihr meint, eure Familie kommt nicht ohne Hilfe aus, dann kann dein Bruder von mir aus heimkehren.“ Seinen Blick auf Swæn richtend fuhr er fort: „Du kannst jedem dieser sturen dithmarscher Dickschädel sagen, dass eure Sippe unter meinem Schutz steht. Wer sich an euch vergeht, der beleidigt Hengist Witgissunu! Das sollte reichen, um diese Ebbingemannen zur Besinnung zu bringen.“

So kam es, dass Swæn seine Sachen packte, Ordulf aber blieb. Früh am Morgen des folgenden Tages sattelte Ordulf ein letztes Mal die treue Hilda. Dann umarmten sich die Brüder kurz und Swæn stieg in den Sattel. Er verließ den Hof auf demselben Wege, auf dem sie nicht ganz eine Woche zuvor voll Hoffnung angekommen waren. Ordulf schaute ihm noch lange nach. Er ahnte nicht, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass er den Bruder sah. Nun würde er als einziger Swæn mit Hengist nach Britannien ziehen, obwohl seine Mutter doch gerade das Gegenteil beschlossen hatte. Das Wurd eines Mannes ließ sich wahrhaftig nicht vorhersehen! Hatte damals nicht gerade ein Gewitter getobt? Und dann die Sache mit dem Opferdolch im Schlick. Thunær hielt seit seinem Kampf mit dem Leitwidder unverkennbar die Hand über ihn.

Von hinten legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erstaunt fuhr Ordulf herum, er war doch allein? Voll Freude erkannte er den breiten Schnurrbart seines britannischen Lebensretters.

„Lieber Freund, ich muss dir noch etwas sagen – wenn du schweigen kannst?“

Ordulf zog die Augenbrauen überrascht in die Höhe. „Wenn du es willst, werde ich schweigen wie ein Grab. Ganz egal, worum es geht. Ich verdanke dir schließlich, dass ich nicht tatsächlich im Grabe liege.“

„Darum eben geht es. Ich habe dir zwar das Leben gerettet, indem ich für dich gesprochen und gekämpft habe, aber der eigentliche Verdienst gebührt nicht mir. Ich habe den Hinterhalt, den dir die Ebbingemannen gestellt haben, in Wahrheit nämlich gar nicht selbst beobachtet.“

„Aber du konntest doch in allen Einzelheiten berichten, was vorgefallen ist. Oder hast du es durch Zauberei erfahren?“ Ordulf trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Nein, ich folge einem mächtigen Gott, der mir den Umgang mit Zauberern verbietet.“ Ceretic bekreuzigte sich rasch. „Er hat mich dazu gebracht, trotz aller Gefahren für dich einzutreten, denn er liebt die Wahrheit und Unrecht ist ihm ein Gräuel. Aber das meine ich nicht. Ich will auch Gutha Gerechtigkeit geschehen lassen. Sie hat alles beobachtet und mir davon erzählt.“

„Wer ist denn Gutha?“, fragte Ordulf erstaunt. „Eine britannische Hexe?“ Wieder zog er kritisch die Stirn in Falten.

„Nein, nein“, lachte Ceretic. Ordulfs Aberglaube schien tief verwurzelt. „Gutha ist lediglich die Magd von Hengists Tochter“, erklärte er amüsiert. „Wie eine Hexe kommt sie mir jedenfalls nicht vor.“

„Das …“, setzte Ordulf zu einer Erwiderung an, brach aber mitten im Satz ab. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie unendlich peinlich. Das Mädchen hatte ihn tatsächlich gerettet, wie sie stets behauptete, und er hatte sie ausgelacht wie eine dumme Gans. Wie sollte er das je wiedergutmachen? Eine Weile blieb er ratlos stehen, dann begab er sich auf die Suche nach dem Mädchen.

Erst am Abend, als er gerade aufgeben und zum Lager zurückkehren wollte, erblickte er ihren roten Schopf.

„Ich muss noch etwas erledigen“, rief er dem alten Witiko zu, der neben ihm in Richtung Lager trottete. Unvermittelt machte er auf dem Absatz kehrt und lief zurück auf die Wurt. Atemlos erreichte er das Tor. Und tatsächlich entdeckte er sie wieder. Gutha sah ihn nun auch. Doch sie verzog schmollend das Gesicht, drehte um und verschwand zwischen zwei Wirtschaftsgebäuden.

„Gutha!“, rief er, als er die Stelle erreichte, an der sie gerade noch gestanden hatte. Wieder sah er sie kurz, doch schon war sie um die nächste Ecke verschwunden. Offenbar zürnte sie ihm noch immer. Ordulf verfiel wieder in den Laufschritt und folgte ihr ins Halbdunkel zwischen den Gebäuden. Als er um die Ecke bog, musste er scharf bremsen. Die Gesuchte stand direkt vor ihm an die Wand einer Scheune gelehnt. Er spürte ihren heißen Atem auf seiner Wange. Diesmal schmollte sie nicht, sie hatte den Mund leicht geöffnet und schien völlig außer Atem. Das musste vom Rennen kommen.

„Entschuldige, ich habe nicht gewusst, was du für mich getan hast“, stammelte er. „Es tut mir leid!“

„Du verstehst wohl noch gar nichts von Mädchen, was?“, antwortete sie.

„Wie meinst du das?“, fragte Ordulf empört und verwirrt zugleich.

Da schlang sie die Arme um seinen Hals, zog ihn mit einer raschen Bewegung an sich und küsste ihn auf die Lippen. Ordulf war völlig überrumpelt. Alles hatte er erwartet, schimpfen, zetern, heulen, am ehesten das ihm schon bekannte Schmollen, aber nicht das!

„Es wäre wirklich zu schade gewesen, wenn sie dein süßes Gesicht im Moor versenkt hätten. Das konnte ich ja wohl nicht zulassen, oder?“, fragte sie schelmisch. „Was stehst du eigentlich so starr? Hast du etwa noch nie ein Mädchen geküsst? Nun zeig mir mal deine Dankbarkeit“, forderte sie und küsste ihn schon wieder, diesmal noch hungriger und er fühlte, wie sich ihre Zunge zwischen seine Lippen schob. Noch ganz benommen antwortete er. Nach einer Weile lösten sie sich, um Luft zu holen.

„Schon besser. Vielleicht vergebe ich dir doch noch mal.“ Bei diesen Worten ergriff sie seine Hand und schob sie unter ihr Gewand. Für seinen Verstand ging alles ein bisschen zu schnell, aber seine Hand wusste instinktiv, wonach sie suchen sollte.

„Dort in der Scheune liegt frisches Heu“, flüsterte sie ihm ins Ohr, als sie ihn durch eine Seitentür zog.

Beufleet, Juni 441

Ceretic

Hengist trainierte seine Truppe nun jeden Tag. Sie kämpften Mann gegen Mann, im Schildwall, in der „Eberkopf“ genannten Keilformation, zu Pferde und zu Fuß. Ceretic staunte, wie behände diese primitiven Heiden mit ihren Schilden und den kurzen einschneidigen Schwertern umgingen.

Und Hengist ließ den Männern keine Ruhe. Wenn die Kampfübungen beendet waren, mussten sie Rudern. Die beiden Schiffe lagen nun auf dem Ælfstrand und sie ruderten immer wieder auf den Fluss hinaus, um in der stärksten Strömung alle möglichen Manöver einzuüben. Ceretic wunderte sich ein ums andere Mal, wie rasch die Sachsen, die aus allen Teilen ihres Landes stammten, zu einem gemeinsamen Rhythmus fanden. Anfangs gab es zwar Geschrei und böse Worte, wenn etwa ein Riemen dem Vordermann in die Flanke stieß, oder ein ungeschickt gesetztes Ruderblatt Wasser ins Schiff spritzte, doch Hengist duldete nichts außer eiserner Disziplin. Und schon bald hoben und senkten sich die Ruder im perfekten Gleichtakt.

So sehr sich Ceretic auch sträubte, der Tag ihrer Abreise rückte unaufhaltbar näher. Am Abend zuvor rüsteten sich die Sachsen wie zur Schlacht. Mit den Keydingern, deren Schiff tags zuvor in Beufleet eingetroffen war, verfügte Hengist nun über fast hundertfünfzig Mann. Kampfesmutig und aufeinander eingespielt, war es eine ernst zu nehmende Streitmacht, die er Vortigern geworben hatte. Wäre Rowena nicht gewesen, Ceretic hätte sich stolz und zufrieden zurückgelehnt. Aber er konnte Rowena weder vergessen, noch konnte er ihre Abreise hinauszögern. Wenn es Gott gefiel, so tröstete er sich, würde er schon im folgenden Jahr wiederkehren und sie zur Braut nehmen.

Derweil zogen die sächsischen Krieger in Keilen hinter ihrem jeweiligen Steuermann geschart an ihm vorbei. Hengists Keil vornan, gefolgt von Horsa und Willerich mit seinen Keydingern. Ceretic folgte dem Zug in Richtung des Opfermoors. Voll Schaudern dachte er an den Abend, an dem er Ordulf vor dem Tod im Sumpf gerettet hatte. Was mochte der wohl auf diesem Weg empfinden? Der einzige seiner Gegner von damals, der sich noch in Hengists Heer befand, der einäugige Halvor, marschierte in Horsas Abteilung. Ceretic und auch Halvor selbst waren Zeugen geworden, wie Hengist seinem Bruder wegen dessen Milde schwere Vorhaltungen machte. Aber Horsa hatte sein Wort gegeben und auch sein älterer Bruder musste das respektieren.

Vor ihnen führte der Weg zwischen den düsteren, bemoosten Eichen entlang zu dem eigentlichen Sumpf. Die Männer aller Keile bildeten einen Halbkreis um die grob geschnitzten Götzenbilder, die schlaff im Wind wehenden Häute der geopferten Tiere in ihrem Rücken. Ceretic schauderte unter dem Mantel und schlug ein Kreuz. Tavish und Malo standen dicht hinter ihm, sprachen aber kein Wort. Hengist trat zusammen mit Horsa in die Mitte, genau vor die Götzen. Willerich stand etwas hinter den beiden. Auch die beiden Jungen Oisc und Ebissa durften ihre Väter diesmal begleiten, doch insbesondere Ebissa schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. Sein Gesicht wirkte sonderbar bleich, doch vielleicht lag das auch nur an dem blassen Mondlicht.

Nun führte Witiko eines von Hengists Reitpferden in die Mitte. Der Haduloher ging ihm mit einer Streitaxt entgegen, er streichelte kurz die Nüstern des nervös tänzelnden Hengstes, klopfte ihm noch einmal auf den Hals. Dann hieb er dem Tier unvermittelt die Klinge vor den Kopf. Der Hengst brach betäubt in den Vorderläufen ein. Hengist sprang einige Schritte zurück, doch sofort kam Witiko heran und zog ein breites Messer über den Hals des Tieres. Ein dicker Strahl dunklen Blutes rann aus der zerschnittenen Drosselvene. Das Tier fiel zur Seite, blutiger Schaum vor dem Maul. Ein weiterer Knecht reichte Witiko einen großen Kessel, in dem der das Blut des Opfertieres auffing. Die Beine des Hengstes zuckten noch einmal wild und Witiko musste ausweichen, um nicht getroffen zu werden. Geschickt hielt er den Kessel in den Strahl des Lebenssaftes, bis dieser versiegte. Dennoch war er, als sich der große Kadaver endlich nicht mehr rührte, über und über mit dem Blut besudelt. Ceretic hörte Tavish hinter sich aufatmen.

„Thunær!“, rief Hengist laut.

„Thunær!“, antworteten die Sachsen dumpf und schlugen ihre Speere im Takt gegen die Schilde.

„Schenke uns eine glückliche Überfahrt und guten Wind!“, intonierte Hengist. „Männer aus Sachsen, wollt ihr mit mir nach Britannien fahren, um Gold und Ruhm zu gewinnen?“, wandte er sich dann an die versammelten Sachsen. „So schwört mir nun bei Thunær, Uuoden und Saxnot eure Treue.“

Daraufhin trat Horsa vor. „Tretet vor und taucht eure Rechte als Zeichen unseres Bundes in das Opferblut“, forderte er die Männer auf.

Ceretic bemerkte, dass er das „unseres“ besonders nachdrücklich betonte, wobei ihn Hengist stirnrunzelnd ansah.

Als erstes trat Willerich vor, streckte die Rechte ins Blut und erhob die geballte Faust. „Für Hengist!“, rief er.

Horsa schaute resigniert auf ihn. Nun traten, einer nach dem anderen, die Sachsen an den Kessel und tauchten ihre Rechte ins Opferblut. Glücklicherweise forderte niemand die Britannier auf, an diesem gräulichen Götzenzauber teilzunehmen. Ceretic bekreuzigte sich abermals. Am Ende wurde das tote Tier gehäutet und zerlegt, oder eher zerstückelt, befand Ceretic. Währenddessen half Witiko der einzigen anwesenden Frau, einer Greisin, die man extra für diese Opferzeremonie aus ihrer einsamen Hütte im Moor herbei geholt hatte, auf die Lichtung. Sie blickte eine Weile starr auf das tote Tier. Dann stieß sie ihren Gehstock energisch zwischen die am Boden verteilten Eingeweide des Hengstes. Murmelnd schob sie die dampfenden Gedärme herum, als suche sie etwas Bestimmtes. Schließlich nuschelte sie in einem zahnlosen Sächsisch, wovon Ceretic nur die Worte „Dreihundert Jahre“ und „Beute“ verstand. Hengist und die übrigen Sachsen wirkten äußerst erleichtert über den günstigen Orakelspruch. Als die Alte wieder verschwunden war, versenkte Hengist einige Teile des getöteten Tieres unter neuerlicher Anrufung der Götzen im Sumpf. Dann zog er zusammen mit Horsa und dem alten Witiko die blutige Haut des Tieres auf ein neues Holzgestell, das am Rande der Lichtung aufgerichtet worden war.

„Für Thunær!“, rief Hengist einmal mehr und die Sachsen wiederholten seinen Ruf und schlugen die Waffen an ihre Schilde.

Als nächstes traten zwei von Hengists Knechten vor. Sie trugen die erbeuteten Waffen der getöteten oder entflohenen Ebbingemannen. Hengist ergriff eines der Schwerter am Heft und am Ort der Klinge. Ein staunendes Raunen ging durch die versammelten Reihen, als er die Waffe mit der bloßen Kraft seiner Arme zu einem U verbog. Sie sollte keinem Sterblichen mehr dienen.

„Saxnot, nimm unser Opfer!“, rief er und warf die zerstörte Waffe im weiten Bogen in den Sumpf. Die Knechte folgten seinem Beispiel und übergaben die übrigen Waffen unter wiederholter Anrufung des Götzen dem schwarzen Morast. Schließlich hatte das dunkle Moor das letzte Stück Eisen verschlungen.

Ceretic atmete tief durch. Erst jetzt merkte er, dass sich die Muskeln seiner Schultern völlig verkrampft hatten. Er versuchte sich zu entspannen, doch da schrak er schon wieder zusammen. Zwei sächsische Krieger zerrten einen gebundenen Mann auf den freien Platz vor Hengist.

„Oh, nein“, raunte Tavish von hinten, als er erkannte was sich dort anbahnte. „Nicht auch das noch.“

Ceretic hatte den Gefangenen noch nie gesehen, offenbar handelte es sich um irgendeinen unglückseligen Sklaven, der sich wer weiß welchen Vergehens schuldig gemacht hatte. Der Mann zitterte am gesamten Körper wie Espenlaub.

Hengist blickte ihn finster an und befahl dumpf: „Gebt ihn dem Uuoden!“

„Nein, mein Gott, nicht das!“, schrie der verzweifelte Sklave.

War das etwa ein christlicher Bruder?, durchzuckte es Ceretic. Wenn er selbst nicht zweimal gesprochen hätte, würden nun Ordulf oder der einäugige Ebbingemanne an der Stelle des armen Kerls stehen! Hatte er am Ende zwei Heiden gerettet und einen weiteren eigenhändig erschlagen, nur um einen christlichen Bruder zu verdammen? Ceretic bekreuzigte sich wild.

Derweil zerrten die Sachsen den Fremden in Richtung der Götzenfiguren am Ufer und weiter auf den modrigen Steg hinaus. Einmal noch bäumte er sich auf, dann ließ er sich ergeben führen. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, dachte Ceretic und schluckte hart. Diesmal würde er nichts daran ändern können.

Die Sachsen zogen dem Unglücklichen eine geflochtene Schnur um den Hals, ganz wie auch Ordulf sie getragen hatte, als er damals im letzten Moment dazwischen trat. Vielleicht war es sogar dieselbe Schnur. Ein kräftiger Kerl zog die Schlinge zu und der Sklave brach röchelnd zusammen. Aber er war noch nicht tot, als sie ihn in den Sumpf warfen. Kaum im Morast, begann er wild zu strampeln, bis ihn seine Peiniger schließlich mit den Speerschäften unter die Oberfläche drückten. Es dauerte eine schrecklich lange Zeit, dann stiegen nochmals Luftblasen auf und der Körper wurde schlaff. Langsam versank der Fremde im Sumpf.

Endlich war die grausige Szene vorüber und nur die blutigen rechten Hände der Krieger erinnerten an die schaurige Zeremonie an der Opferstätte.

Ceretic zog seinen Mantel enger um die Schultern. Er fröstelte immer noch. Was für Verbündete hatte Vortigern da gerufen? Trieben sie nicht den Teufel mit dem Beelzebub aus, wie es sein frommer Freund Tallanus ausdrücken würde?

Beufleet, Juni 441

Ordulf

Der Abschied von Gutha, die Ordulf in der letzten Woche noch mehrmals in der Scheune getroffen hatte, fiel ihm schwerer als erwartet; auch wenn er mehr ihre körperliche Nähe, als ihre unberechenbare und freche Art vermissen würde. Doch lange verweilten seine Gedanken nicht bei ihr, zu sehr lockten die bevorstehenden Abenteuer. Die letzten Tage vor dem Aufbruch hatte er fast ausschließlich auf der Ruderbank in der Gesellschaft seiner Schiffsgenossen verbracht.

Hengists älteres und kleineres Langschiff, die Heldir, steuerte nun sein Bruder Horsa. Ordulf blickte ehrfurchtsvoll an dem geschwungenen Steven empor. Diesen Bug hatten die Flammen von Finns brennender Halle beschienen. Inzwischen besaß Hengist noch ein größeres Schiff. Heritog wurde es genannt, was Herzog oder Heerführer bedeutete, und womit Hengist sich ganz offensichtlich selbst meinte. Sie fasste mehr als fünfzig Krieger und Hengist selbst würde sie steuern. Ordulf war stolz darauf, zur Mannschaft der Heritog zu zählen. Nachdem er sein weniges Gepäck zwischen den Ballaststeinen unter seiner Ruderbank verstaut hatte, sprang er wieder an den Strand. Dieses Schiff war nun für die nächsten Tage, und hoffentlich noch viele weitere Fahrten, sein Zuhause. Zweiundzwanzig Querspanten, durch Bastschnüre flexibel und fest zugleich mit den zwölf Plankengängen der Außenhaut verbunden, stützten den schlanken Rumpf. Die schweren Eichenplanken überlappten einander und wurden von eisernen Nieten zusammengehalten. Dennoch entstanden, besonders wenn der Rumpf im Winter austrocknete, immer wieder Ritzen und Spalten zwischen den einzelnen Planken. Ordulf und seine Gefährten hatten einen guten Teil der letzten Tage auf den Knien hockend damit zugebracht, sie mit Moos, Birkenpech und Harz abzudichten.

„Lasst sie ins Wasser, Männer!“, brüllte Hengist da. Gehorsam ergriffen Ordulf und die anderen Ruderer der Heritog nach dem verstärkten Dollbord des Schiffes.

„Und eins …“, gab Hengist den Takt vor, während sie sich mit aller Kraft gegen den schweren Rumpf stemmten. Erst langsam, dann immer schneller rutschte die Heritog in die Fluten. Ein gedehntes Quietschen erklang, als sie über den groben Sand glitt.

„Sie ruft nach der See!“, behauptete der alte Witiko. „Ein gutes Omen.“

Als Ordulf bis an die Hüfte im Wasser stand, merkte er, wie der Auftrieb das schwere Fahrzeug endlich vom Grund hob. Die Männer vor ihm waren bis zur Brust durchnässt, aber in der warmen Sommersonne sorgte das nur für ausgelassene Heiterkeit und einige Männer begannen, sich übermütig im Wasser zu balgen. Auch Ordulf befand sich in einem Stadium höchster Aufregung. Das war der Beginn seiner ersten Fahrt und die alte Priesterin hatte prophezeit, dass man sich noch in dreihundert Jahren daran erinnern würde. Und er, Ordulf Swænsunu, jüngster Spross eines unbedeutenden dithmarscher Geschlechts, wäre ein Teil davon. Der Gedanke ließ ihn schwindeln. Was würde wohl Gutha sagen, wenn er mit Ruhm beladen wieder vor ihr stand?

Aber da riss ihn Hengists nächster Befehl aus den Tagträumen: „Ins Boot, Männer, und legt die Riemen ein!“

Die Heritog schwankte bedenklich, als ihre vierundfünfzig Krieger über die Seiten kletterten. Ordulf nahm seinen Platz auf der Ruderbank in Steuerbord ein. Hengist hatte die Ruderer sorgfältig nach Gewicht und Kraft verteilt. Ein junger Haduloher namens Thiadmar würde sich mit Ordulf beim Rudern alle zwei Stunden abwechseln. Des Nachts, wenn die Umstände es einmal verlangten, dass sie auf dem Schiff blieben, müssten sie sich auch den engen Raum zwischen ihrer und der nächsten Ruderbank teilen.

Eigentlich besaß die Heritog auch ein Segel, aber das konnte man nur einsetzen, wenn der Wind direkt von achtern kam. Daher lagen Mast, Rah und Segel meist sorgfältig verstaut mittschiffs in der Bilge.

Ordulf ergriff seinen Riemen, führte ihn durch die Bastschlaufe an der Keipe, einer Art hölzernem Dorn, der mit Lederriemen fest an der verstärkten Dollbordkante der obersten Planke verzurrt war. Er diente als Hebelpunkt, wenn die Riemen durchs Wasser gezogen wurden.

„Immer schön im Takt. Wenn ein oder zwei Luftzüge dabei sind, ist das nicht so schlimm“, hatte Gerolf, einer der beiden erfahrenen Krieger auf der Bank vor ihnen, ihm und Thiadmur eingeschärft. „Ihr zieht einfach beim nächsten Schlag wieder voll durch. Wenn ihr dagegen aus dem Takt kommt oder zu tief eintaucht, könnt ihr das ganze Schiff stoppen.“

„Wollen doch mal sehen, ob die anderen mit uns mithalten können“, feuerte Hengist seine Mannschaft an. Er hielt das Steuerruder mit beiden Händen schräg nach achtern, damit es im flachen Wasser nicht den Grund berührte. Ein erwartungsfrohes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und die blonden Strähnen flatterten frei im milden Westwind.

„Auslage“, brüllte er dann.

Ordulf rutschte auf seiner Ruderbank mit ausgestreckten Armen vor und tauchte die Riemen ins Wasser.

„Und los“, gab Hengist das Kommando zum Anrudern.

Die Heritog schien sich unter dem plötzlichen Druck der Ruder geradezu aufzubäumen.

„Merkt ihr, wie sie nach der See hin drängt?“, rief Hengist wieder mit einem Grinsen im Gesicht.

„Wie ein junges Pferd, dem man die Zügel hingibt“, kommentierte Gerolf. „Aber sie kommt auch von der Schwinge aus Stood. Dort werden die besten Schiffe gebaut.“

Ordulf hörte nur halb hin, er konzentrierte sich lieber auf den Takt des Schlagmanns. Und auch Luftschläge wollte er sich nur fünf Bänke vor Hengist auf keinen Fall erlauben.

Anfangs machten ihm die Wellen dennoch sehr zu schaffen. Einmal tauchte sein Ruderblatt zu tief ein, dann schnellte es in einer Gischtwolke aus dem Wasser, sodass er fast hinterrücks von der Ruderbank gefallen wäre, als die Wasserlast, gegen die er sich stemmte, plötzlich nachgab. Doch bald fanden seine Arme den Rhythmus und die rechte Tiefe und sein Blick begann zu den beiden anderen Schiffen zu schweifen. Sie lagen tatsächlich ein ganzes Stück hinter der Heritog zurück und es schien Ordulf, als wachse ihr Vorsprung noch weiter.

„Schlagzahl reduzieren“, befahl der Häuptling dann auch bald darauf. „Sonst kommt mein lieber Bruder nie hinterher und die Keydinger schon gar nicht.“ Er lächelte immer noch selig.

Ordulf konnte sich nicht erinnern, den grimmigen Krieger in den letzten Wochen je in so anhaltend guter Laune erlebt zu haben. Achtern neben ihm stand Ceretic und schaute mit zusammengekniffenen Augen über die See. Ordulf überkam einmal mehr ein warmes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Britannier.

Oceanus Germanicus, Juni 441

Ceretic

Am Vorabend hatten sie auf einer großen Sandbank vor der friesischen Küste gelagert, während ein voller Mond das trocken gefallene Watt mit einem silbernen Schimmer überzog. Auch Hengist schien keine Lust zu haben, seinen Zwist mit den streitbaren Bewohnern dieses Landstrichs zu erneuern.

Nun rauschte der Bug der Heritog wieder durch die Wellen. Jetzt, wo er Rowena hinter sich gelassen hatte, zog es Ceretic mit aller Macht in die Heimat. Würden sie rechtzeitig kommen, um Britannien vor den Pikten zu beschützen? Die britannische Küste war nun in greifbarer Nähe. Wenn die Männer heute und morgen noch genauso kräftig ruderten, wie in den letzten zwei Tagen, würde schon am morgigen Nachmittag Ruohims Strand unter ihrem Kiel knirschen. Ceretic beging einmal mehr den Fehler eines jeden Seemanns und suchte viel zu früh am fernen Horizont nach Land. Noch konnte man seine Heimat unmöglich erkennen. Das einzige, was Ceretics Augen in der wogenden See Halt bot, waren die friesischen Inseln in Backbord und zwei Schatten am achterlichen Horizont, die wohl die Heldir und Selah darstellten. Hengists Schiff hatte sich einmal mehr vom Rest der kleinen Flotte abgesetzt.

Gegen Mittag schien sie das Glück zu verlassen. Plötzlich lösten sich zwei flache Schatten von der Inselkette in Backbord.

„Die verdammten Friesen“, entfuhr es Ceretic.

Hengist hatte sie auch bemerkt. Verärgert runzelte er die Stirn. „Die wollen uns doch nicht etwa angreifen? Die haben wohl keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben!“

„Lass uns lieber auf die anderen beiden Schiffe warten“, schlug Ceretic vor.

Doch Hengist wollte davon nichts wissen. „Ich soll warten, dass mein Brüderchen mir zu Hilfe eilt?“, brauste er auf. „Wenn du kein Fremdling wärst, der unsere Sitten nicht kennt, würde ich dich dafür über Bord werfen!“

Ceretic fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Hatte der Sachse nicht gesehen, dass er durchaus Manns genug war sich zu wehren?, fragte er sich zornig. Aber dann dachte er an seinen Auftrag und die heimliche Geliebte und schluckte seinen Stolz herunter. Der Sachse würde sich nie ändern.

„Jetzt werde ich dir etwas zeigen, was du König Vortigern erzählen kannst“, rief Hengist verächtlich und lenkte die Heritog direkt auf die beiden friesischen Schiffe zu. Diese waren offensichtlich von dem Manöver irritiert. Ceretic sah, wie die Riemen des vorderen Schiffes inne hielten, offenbar um das hintere aufschließen zu lassen, wie es jeder Seemann, der bei klarem Verstand war, täte.

„Klar zum Entern, Männer“, brüllte Hengist seiner Freiwache zu.

Die Sachsen antworteten mit einem erwartungsvollen Johlen.

„Ihr sollt eure Waffen nehmen, aber nicht gleich über Bord fallen“, schrie Hengist über den Lärm hinweg, als die Freiwache auf dem engen Raum in mittschiffs ihre Waffen anlegte. Die Heldir schlingerte einen Augenblick bedenklich hin und her, doch dann stabilisierte sich der schlanke Rumpf wieder.

„Du nimmst jetzt mal das Ruder“, wies Hengist Witiko an. Dann stülpte er seinen Helm mit dem vergoldeten Kamm über die wehenden Strähnen blonden Haares, doch er legte kein Kettenhemd an. Bei einem Gefecht auf See konnte man nur zu leicht ins Wasser fallen und die schweren Eisenringe zögen ihren Träger unweigerlich in die Tiefe. Dann nahm Hengist seinen Schild und lief über die Mittelplanke in den Bug.

„Rudert weiter, aber reduziert die Schlagzahl auf mittleres Tempo“, rief er von vorne seinen Männern zu. „So ist’s recht. Die Friesen sollen bloß nicht glauben, wir hätten Angst vor ihnen!“

Die beiden vermeintlichen Gegner näherten sich nun rasch. Ceretic konnte inzwischen die Details ihrer Bauweise gut erkennen. Flach, mit rundem Bug und Heck. Genauso wie das Schiff, welches sie auf der Reise von Britannien angegriffen hatte. Plötzlich scherte einer der Friesen nach Steuerbord aus.

„Sie wollen uns in die Zange nehmen!“, rief er warnend, doch Hengist blinzelte nicht einmal. Starr ruhten seine eisigen Augen auf dem Feind. Dann waren die Friesen fast auf Rufweite heran. Erstaunt beobachtete Ceretic, wie Hengist seinen Schild als Schallverstärker an die Lippen hob. Er brüllte mit ohrenbetäubender Lautstärke: „HENGIST!“

Offenbar hatten die Friesen ihn trotz der Entfernung verstanden und Ceretic traute kaum seinen Augen. Die beiden flachen Schiffe mit dem merkwürdig runden Heck und Bug drehten unvermittelt ab und nahmen Reißaus.

„Seht, wie schnell die Friesen rudern können!“, lachte Hengist grimmig.

Ceretic verschlug es die Sprache. Was für einen schrecklichen Ruf musste der Sachse bei den Friesen erworben haben!

Dann drehte er sich um und entdeckte Horsa und Willerich. Sie hatten inzwischen wieder dichter aufgeschlossen und pullten schnell und hart. Die See schäumte unter ihren Riemen. Ob auch die Friesen sie gerade bemerkt hatten? Oder schlug allein die Furcht vor Hengists Namen diese harten Männer in die Flucht? Ceretic konnte es sich kaum vorstellen. Aber mit welcher Gerissenheit und wie viel Geschick hatte Hengist dann den richtigen Zeitpunkt abgepasst, um ihn und seine Mannschaft zu beeindrucken. Jedenfalls ließ sich Hengist nicht auf eine Verfolgung der flüchtigen Friesen ein. Bald verschwanden sie, ebenso rasch wie sie erschienen waren, in der Sicherheit ihres Wattenmeeres mit seinem Gewirr an Inseln und Sandbänken.

Die Britannien-Saga. Band 1 und 2: Hengist und Horsa / Brand und Mord. Die komplette Saga in einem Bundle

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