Читать книгу Marijke - Honiglippen - Swantje van Leeuwen - Страница 7
ОглавлениеKapitel 4
Das Zimmer war eines von denen, die Marijke, seit sie im ›Birdcage‹ arbeitete, noch nie gesehen hatte. Es lag im obersten Stock über Rikkerts Büro. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es noch eine weitere Etage gab, bis Rikkert ihr erklärte, dass die Suite ausschließlich ganz ›außergewöhnlichen‹ Kunden vorbehalten war. Die Suite war ein sehr speziell eingerichteter ›Dungeon‹[14], der für entsprechende Aktivitäten explizit hergerichtet worden war, tagelang an ›High Roller‹ vermietet werden konnte und mit einem schieren Harem aus Subs gefüllt war, die ausschließlich einer Herrin oder einem Herrn dienten. Es war offensichtlich, dass seine mannigfaltige Ausstattung darauf abzielte, dem Mieter ein Ambiente zu bieten, in dem er auch die wildesten Fantasien und Wünsche weitreichend umsetzen konnte. Die riesige Räumlichkeit wies eine aufwändig gestaltete, kerkerartige Charakteristik auf. Wer immer es entworfen hatte, musste sich an der Ästhetik alter Ritterfilme orientiert haben, ging es Marijke durch den Kopf, nach einem schnellen Rundumblick. Sie hatte Streckbänke, Käfige, Ketten, Andreaskreuze, Flaschenzüge und Böcke ausgemacht, neben unzähligen stählernen Befestigungsringen an Decken, Wänden und sogar im Boden. An einer Wand und auf einer breiten Anrichte fand sich eine umfangreiche Sammlung an Sexspielzeug, deren Schwerpunkt eindeutig im Bereich sadomasochistischer Accessoires lag, wie Peitschen, Gerten, Seile, Handschellen, Klammern und Dildos. Von Rikkert wusste sie, dass der neue Kunde vorgeschlagen hatte, diese bemerkenswerte, kostbare Suite dauerhaft und zu einem wahrlich unanständigen Preis zu mieten.
»Du kannst auf der Couch warten, mijn meisje«, sagte Rikkert und zeigte auf ein bequem aussehendes Ledersofa in der Ecke. »Der Kunde wird in Kürze kommen. Denk' dran, Marijke, dass du ihm nur eine Weile etwas vormachen musst, ja? Nenn' ihn ›Sir‹, ›Mijnheer‹ oder was auch immer. Lass' dich von ihm ein wenig fesseln und schlagen. Du hast ja gesehen, wie die anderen Mädchen das machen. Denk' einfach nur ans Geld und bring' es hinter dich.« Er sprach schnell und seine Stimme schwankte, so als würde er versuchen, einen tollwütigen Hund zu besänftigen. Ihm war klar, dass Marijke völlig verunsichert war – ein falsches Wort im falschen Moment und sie lief ihm für immer auf und davon. Er wandte sich zum Gehen, schaute sie dann aber doch noch einmal an, ehe er sie sich im Zimmer allein überließ. »Doe alsjeblieft wat de klant van je vraagt, Marijke[15]«, bat er sie. In seiner Stimme klang eine gewisse Verzweiflung mit.
Marijke drängte ihn hinaus. Sie war zu nervös, um seine kratzende Stimme auch nur noch eine Sekunde länger zu ertragen. Kaum war er fort, nahm sie sich die Zeit, sich genauer umzusehen.
Ihr war im ersten Augenblick gar nicht aufgefallen, dass die Suite aus mehreren Räumen bestand, die anscheinend für bestimmte Aktivitäten konzipiert waren. In einem Raum war der Boden mit einer Art wasserdichtem Material ausgekleidet, während ein anderer einen bedrohlich wirkenden Stahlrahmen mit Haken enthielt, die alle an einer verwirrenden Reihe von Seilen und einem komplizierten Rollensystem befestigt waren. Beklommen zog sie sich schnell aus den Räumen zurück und wünschte, entgegen jeder Hoffnung, dass Rikkerts Kunde diese Gerätschaften auf keinen Fall benutzen würde, ganz gleich, für was auch immer sie gemacht worden waren.
Sie empfand es als sicherer, auf der Couch im Hauptraum zu sitzen und dort zu warten, einem der wenigen Möbelstücke in der Suite, das nicht direkt so aussah, als sei es zum Foltern gedacht. Ihre Augen richteten sich auf den Boden. Sie vermied es geflissentlich, die an Halterungen angebrachten Paddel, Peitschen, Dildos und Kostüme auf den Gestellen anzuschauen, die jede Wand säumten. Denn wann immer sie ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte, verspürte sie den tief in ihr nagenden Zweifel, ein entsetzliches Gefühl in ihrer Magengrube – ein Gefühl, das ihr deutlich ins Bewusstsein rief, dass sie das Alles besser nicht durchmachen sollte. Von ihren Haarspitzen bis hin zu den Zehen, begehrte jede Nervenzelle mittels elektrischer Impulse angespannt auf, doch bloß noch rechtzeitig von dem Vorhaben zurückzutreten, augenblicklich aus dem Club zu stürmen und in eine für sie sichere, deutlich gesündere Welt zu fliehen. Ihr Herz klopfte derart rasend in ihrer Brust, als wolle es all ihr Augenmerk auf sich ziehen und schrie ihr zu: »Je bent helemaal gek geworden! Vergeet het geld! Dat ben jij niet, Marijke! Jij niet ...! Jij niet ...![16]« Sie war nur einen Moment davon entfernt, ihrem Impuls zu folgen und zu verschwinden, als sich die Tür öffnete und der Kunde eintrat. Seine Erscheinung ließ jedes Molekül ihres Körpers auf der Stelle einfrieren.
Der Mann war groß, deutlich über einsneunzig. Sein Haarschopf war dick und dunkel und gerade lang genug, um ihm ein wenig in die Stirn zu fallen.
Marijke wurde sofort klar, dass sie sein Alter falsch eingeschätzt hatte.
Sein sanftes, ruhiges Lächeln ließ Grübchen auf seinen Wangen auftauchen, die ihn attraktiv jugendlich aussehen ließen – es war eines von jenen Lächeln, die sie schon als Teeny immer geliebt und ihr junges Mädchenherz mächtig hatte klopfen lassen. Und da war ein Hauch von Grau an seinen Schläfen und die kleinen feinen Lachfältchen, die sich tief neben seinen Augen in seine Schläfen eingegraben hatten – und die sie ihn auf seine späten Dreißiger oder vielleicht ganz frühen Vierziger schätzen ließ. Ein kurzer intensiver Blick machte ihr klar, dass sich unter seinem exquisit geschnittenen Anzug ein Körper von ausgezeichneter Verfassung verbarg. Der Schnitt seines Jacketts war eng genug, um ihr bereits etwas von seinen starken, muskulösen Armen zu verraten und sein Oberkörper verengte sich in anziehender Weise zur Taille hin.
Mit einem Anflug von Verlegenheit wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie ihn nicht nur kurz betrachtet, sondern förmlich angestarrt hatte – und als er näherkam, senkte sie ihren Blick zurück zum Boden. Wees onderdanig, Marijke[17], dachte sie bei sich. Gedraag je als een slaaf ... Moet ik voor hem knielen? In einem plötzlichen Anfall von Unsicherheit, erkannte sie, dass sie überhaupt keine Ahnung davon hatte, wie man sich unterwürfig verhielt. Sicher, sie hatte die Mädchen im Club immerzu mit gesenkten Köpfen gesehen, aber mehr auch nicht. Das eigentliche Protokoll, das dem zugrunde lag, vorschrieb zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Reihenfolge welches Verhalten erwartet wurde, Rangfolgen, Abläufe, Kleidervorschriften und allgemeines Verhalten, war ihr fremd.
»Het is goed, meisje. Je kunt gewoon je hoofd opheffen en naar me kijken. Het is niet nodig om elke knoop van het tapijt te bestuderen.[18]«
Sie schaute zu ihm auf und sah ihn breit lächeln. Er benimmt sich ganz normal, dachte sie und lachte fast über sich selbst, als sie sich ihrer Ängste und Vorstellungen erinnerte. Und warum sollte er nicht auch normal aussehen? Sehen hier nicht die meisten Kunden so aus, als hätten sie erst wenige Minuten zuvor das Büro verlassen? Nur die wenigsten von ihnen verkleiden sich zum Spielen. »Marijke«, murmelte sie leise.
»Wie bitte?«
»Es tut mir leid, Mijnheer, aber ich möchte nicht ›Meisje‹, sondern Marijke genannt werden. Und schon gar nicht, möchte ich wie die anderen Mädchen herabwürdigend betitelt werden.«
Der Mann setzte sich neben sie auf die Couch, wandte sich ihr zu und legte dabei ein Bein entspannt auf seinen Oberschenkel. »Natürlich, Marijke.« Er bemerkte ihr Unbehagen. »Es ist vollkommen in Ordnung, dass du mit mir sprichst. Ich weiß, dass du nicht wie die anderen Mädchen hier bist ... Genau deshalb wollte ich dich treffen. Ich will die anderen Mädels nicht.«
Als Marijke spürte, wie ihre Nervosität etwas nachließ, war sie überrascht, wie angespannt sie doch zuvor noch gewesen war. Ein Blick sagte ihr, dass er bemerkt haben musste, mit welchem Ausdruck der Angst in den Augen sie ihn angesehen hatte. Jetzt fühlte sie sich ein wenig sicherer – nicht gerade entspannt, aber auf jeden Fall um einiges wohler. Ungeachtet dessen, dass sie wusste, was er ihr anzutun gedachte, strahlte er etwas aus, was ihr ein gutes Gefühl vermittelte – Sicherheit.
Er lächelte wieder dieses charmante, knabenhafte Lächeln, das warm und weich über sie hinwegfloss. »Mijn naam is Maarten, Marijke. Während wir zusammen sind, erwarte ich, dass du mich mit Mijnheer ansprichst.« Seine Stimme war sanft, als er fragend hinzufügte: »Verstehst du, warum das so sein muss?«
Marijke schüttelte den Kopf. »Nein, Maar ... Mijnheer. Ich weiß wirklich nichts von all diesen Dingen.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es tut mir leid.«
Maarten gluckste. »Das ist in Ordnung, Marijke. Ich bin mir sicher, dass dir sehr vieles ungewöhnlich erscheinen muss, ja, ... vielleicht sogar beängstigend.«
Sie nickte.
»Ich wünsche nicht mit Vornamen angesprochen zu werden, weil du verstehen sollst, dass du mir gehörst«, erklärte er ihr. »Das Mijnheer, wenn du mich ansprichst, ist ein Zeichen deiner Unterwürfigkeit und zu deinem Vorteil ...«
»Vorteil?«, kam es ihr leise über die Lippen.
Nun war er es wieder, der nickte. »Oh, ja, ... denn es erinnert dich jedes Mal aufs Neue daran, was du bist, wo du in der Hierarchie stehst und wem du gehörst.«
Marijke spürte, wie ihr eine Welle aufkommenden trotzigen Zorns eine Erwiderung über die Lippen schieben wollte. Ich gehöre niemand, nur mit selbst. Wie kannst du es nur wagen, mich so zu sehen? Sie biss sich auf die Lippen, um ihre Worte zurückzuhalten, und brachte sich wieder das Geld in Erinnerung.
Er betrachtete sie von oben bis unten und hielt unverhohlen an ihren vollen Brüsten inne, die von ihrem Lederkorsett auf eine Weise angehoben wurden, dass man den Blick unwillkürlich auf sie richten musste. »Gut. Du bist also eine blutige Anfängerin ... Warum erzählst du mir nicht, was du von den Dingen hältst, die hier im Club so vor sich gehen?«
Sie schaute ihn erschrocken an.
»Bitte, Marijke«, bat er sie. »Ich erwarte absolute Ehrlichkeit von dir, ... zumal«, er lächelte wissend, »du mir nichts sagen könntest, das mich noch überraschen würde.«
Den Kopf senkend, starrte sie auf eine Stelle des Teppichs zwischen ihren Beinen, bis Maarten ihr sanft das Kinn mit einem Finger anhob. »Bitte, Marijke, sprich mit mir, wie mit jedem anderen.«
»Nein, Mijnheer«, begann sie, besorgt, dass sie ihn beleidigen würde, mit was auch immer sie nun sagte, »einen großen Teil, von dem, was ich mir allabendlich anschauen muss, mag ich ganz und gar nicht. Täglich sehe ich viele der Mädchen, die sich von den Kunden auspeitschen lassen. Eine Menge von ihnen kommen mit übelsten, blutroten Striemen aus den Suiten, oder sie sind mit blauen Flecken am ganzen Körper übersät. Ich fühle mich schlecht, wenn ich das ansehen muss. Ich kann einfach nicht verstehen, warum sie das mit sich machen, warum sie sich derart von jemandem schlagen lassen.«
Maarten nickte während sie sprach. »Du magst Schmerzen nicht?«
Entschlossen den Kopf schüttelnd, starrte sie ihn an. »Das kann niemand mögen! Nein, tue ich nicht. Schon allein der Gedanke daran macht mir Angst!«
»Hmm, ich verstehe, Marijke«, erwiderte er mit seiner sanften, beruhigenden und sonoren Stimme.
Trotz des Zorns, der in ihr aufstieg, fühlte sie sich von diesem weichen, besänftigen Ton wie eingelullt.
»Es erschreckt eine Menge Leute«, fuhr er fort. »Nicht viele verstehen die Anziehungskraft, die eine Bestrafung bedeutet ... und deshalb können sie es auch nicht akzeptieren. Die wenigsten verstehen, dass Schmerz bei richtiger Darreichung und in genauer Dosierung wie ein positiv stimulierendes Medikament sein kann.« Er schaute sie an und strich ihr mit einem Finger sanft über die Wange. »Für dich muss das sehr grausam aussehen, ... und ja, ich muss zugeben, dass einige Leute dabei viel zu weit gehen. Ich selbst mag es nicht besonders, meinen Subs Schmerzen zuzufügen ... Hast du das verstanden, Marijke?« Er drehte ihren Kopf mittels des Fingers unter ihrem Kinn, sodass sie ihn unmittelbar anblicken musste. Dann strich er zärtlich die Konturen ihrer sinnlich geschwungenen rubinroten Lippen nach. »Welch' süße Honiglippen du hast«, bemerkte er, und seine Lachfältchen traten etwas hervor.
»Tust du nicht?« Marijke war verwirrt, auch wegen des Kompliments, zugleich aber seltsam berührt, wegen der Wortwahl, von der er nicht wissen konnte, dass sie für sie eine ganz besondere, eine sehr intime Bedeutung hatte. Eine leichte Röte huschte über ihr Gesicht. »Ich dachte alle Dominas und Doms erregt es, wenn sie ihre Subs verletzen und zutiefst erniedrigen können.«
»Oh, überhaupt nicht«, lachte Maarten. »Dieser Lebensstil zieht ein breites Spektrum von Menschen an, von denen jeder seinen eigenen Geschmack hat. Manche mögen Seile, andere mögen es geschlagen zu werden. Manche lieben es gedemütigt und zum Objekt degradiert zu werden. Manche mögen es sogar, wenn man sie mit Nadeln oder Klingen verletzt .... Ich habe vor langer Zeit herausgefunden, was mir gefällt, und für mich geht es normalerweise nicht darum, Schmerzen zu verursachen.« Er rutschte auf seinem Platz herum und ergriff Marijkes Hand. »Es ist wichtig, dass du mir vertraust, Marijke, bevor wir diesen Weg beschreiten. Die Beziehung zwischen Top und Bottom, Dom und Sub, kann kompliziert und schwer zu verstehen sein, beruht aber immer auf gegenseitiges Vertrauen. Es wäre natürlich dumm von dir, mir einfach auf meine Worte zu vertrauen, Marijke, aber ich kann dir versprechen, dass ich dir niemals unverdiente Schmerzen zufügen werde. Niemals werde ich dich nur zu meinem eigenen Vergnügen verletzen und du wirst Schmerzen nur dann verspüren, wenn du meine Anweisungen missachtest.« Er sah ihr tief in die Augen. »Glaubst du mir das?«
Marijke blickte in seine tiefen, funkelnden grünen Augen – die nichts als eine abgrundtiefe Ehrlichkeit ausstrahlten. Dennoch verspürte sie immer noch den Knoten der Angst in ihrem Bauch – auch wenn sich der von Minute zu Minute lockerte. Es schien ihr fast so, als wäre er ein freundlicher Lehrer, der sie sanft erzog und all ihre Ängste zu zerstreuen verstand. »Ja, Mijnheer«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ich vertraue dir.«
»Ausgezeichnet, Marijke«, antwortete er. »Dann lass' uns anfangen.«
***