Читать книгу Welche Rolle spielst du? - Sylvi S. - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеLeon erschrak über sich selbst. So eine Bösartigkeit war er von sich gar nicht gewohnt. Normalerweise war er die Gutmütigkeit in Person. Wenn, dann steckte er eher mal zurück und verzichtete darauf, sich selbst etwas Gutes zu tun, nur um andere nicht zu verletzen. Doch irgendwie löste die Kleine eine Menge unbekannter Gefühle in ihm aus. Auch wenn er sie weder einordnen noch leiden konnte, war ihm auf einmal klar, dass es schäbig war, Janine dafür büßen zu lassen.
Gut, die Göre war nicht gerade seine Lieblingspartnerin und nervte ihn gewaltig. Umgekehrt schien es Janine allerdings genauso zu sehen. Trotzdem war das kein Grund, sich gegenseitig die Hölle heiß zu machen. Sie waren doch beide erwachsen – auch wenn die Kleine ausschaute, als hätte sie gerade die Realschule hinter sich gelassen. Es musste irgendwie möglich sein, dass sie sich arrangierten und ihre Rolle glaubhaft spielen konnten, ohne sich zu zerfleischen.
*****
Janine war ihr kleines Problem schnell und unauffällig losgeworden. Niemand hatte gemerkt, dass sie ihren Slip wechseln musste. Das beruhigte sie jedoch keineswegs, da sie wusste, dass sie sich ein noch Größeres vom Hals schaffen sollte. Sie musste sehen, dass sie Leon irgendwie vergraulen konnte, bevor sie die erste Bettszene drehen und ein Hauch von Nichts tragen würden. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen wegen ihrer bösen Gedanken, aber die Angst vor einer Totalblamage und als lächerliche Versagerin dazustehen, war stärker.
Es war zudem die einzige Möglichkeit, noch einmal eine riesige Dummheit zu vermeiden. Nach dieser furchtbaren Erfahrung mit Steffen hatte sie sich geschworen, sich nicht wieder das Herz herausreißen zu lassen. Davon hatte sie sich immer noch nicht ganz erholt, auch wenn sie sich auf dem Weg der Besserung befand. Doch Leon war nahe daran, ihre Pläne zu durchkreuzen. Dieser Mann hatte etwas an sich, dem man sich schwer entziehen konnte. Es war so leicht, sich in ihn zu verlieben. Aber wo sollte das hinführen? Ein zerbrochenes Herz war schon vorprogrammiert. Dabei hatte Leon auf den ersten Eindruck noch nicht einmal wie ein Draufgänger gewirkt. Er schien eher schüchtern zu sein. Die vorgeführte Hemmungslosigkeit bei ihrem Kuss ließ allerdings etwas anderes vermuten. Für sie lief es nun eher darauf hinaus, dass es bloß eine Masche war, um bei den Frauen zu landen. Doch sie würde nicht mit sich spielen lassen. So was würde ihr bestimmt nicht noch einmal passieren.
Janine dachte wehmütig an Steffen zurück. Es hatte alles so toll zwischen ihnen begonnen. Nach einer Reihe von flüchtigen Abenteuern war ihr der schwarzhaarige junge Mann zufällig in einer Karaoke-Bar über den Weg gelaufen. Die Liebe zur Musik hatte sie sofort miteinander verbunden. Sie hatten viel geredet und gelacht, als ob sie sich schon seit Ewigkeiten kennen würden. Nachdem der Abend mit einem gemeinsamen Duett auf der Bühne geendet hatte, hatte sie geglaubt, endlich jemand gefunden zu haben, mit dem sie eine feste Beziehung eingehen konnte.
Tatsächlich lief es in den ersten Wochen blendend. Janine hatte sich bald hoffnungslos verliebt und war überzeugt, dass Steffen der Mann ihres Lebens war. Auch er hatte immer beteuert, dass er mit ihr alt werden wollte. Das glaubte sie solange, bis sie einmal früher von der Arbeit nach Hause gekommen war und Steffen mit einer anderen erwischt hatte. Die beiden hatten nackt auf der Couch gesessen, sich gegenseitig mit Schokolade gefüttert und alberne Liebesschwüre zugeflüstert.
Der ertappte Sünder hatte nicht einmal versucht, sich zu rechtfertigen und den dummen Spruch „Es ist nicht so, wie es aussieht” heraus zu posaunen. Stattdessen bestätigte er, das es genauso war, wie aussah. So musste Janine auf die harte Tour erfahren, dass sie nur als Notnagel hatte herhalten müssen. In Wahrheit hatte Steffen schon seit langem eine feste Freundin, die er wirklich liebte. Nur leider waren sie beide arme Studenten und brauchten Janines Geld, um gut leben zu können.
Dass ihre erste große Liebe in so einem Desaster endete, hatte die junge Schauspielerin bis heute nicht richtig verdaut. Doch sie hatte sich geschworen, dass sie von nun an vorsichtiger sein und ihr Herz nicht mehr leichtfertig verschenken würde. Nur brachte Leons Anblick eben dieses Organ noch mehr in Aufruhr, als es bei ihrer ersten Begegnung mit Steffen der Fall gewesen war.
Der beste Weg, sich gegen diese aussichtslosen Gefühle zu wehren, war es, sich den Braunhaarigen zum Feind zu machen. Entweder würde sie es schaffen, dass dieser seine Rolle hinwarf oder dass er ihr zumindest, soweit es möglich war, aus dem Weg ging. Ja, es würde ihr auch genügen, sich ständig mit dem Mann zu streiten, bis die Fetzen flogen. Das würde ebenfalls jedes zärtliche Gefühl schon im Keim ersticken. Zum Glück dachte Leon bereits, dass sie ihn widerlich fand. An diesem Punkt musste sie ansetzen.
Als sie zum Set zurückkehrte, warf sie ihrem Kollegen deshalb den mörderischsten Blick zu, den sie zustande bringen konnte.
Der junge Mann ging instinktiv einen Schritt zurück. Womit hatte er diese finstere Miene nun wieder verdient? Er war sich keiner Schuld bewusst. Aber vielleicht war die Kleine auch nur wütend auf sich selbst, weil sie eingesehen hatte, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. So unkontrolliert vom Set zu stürmen, war schon sehr unprofessionell. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn man Janine auf der Stelle kündigen würde.
Tatsächlich waren weder Daniel noch der Regisseur besonders gut auf die Blondine zu sprechen, aber sie rauszuwerfen, war das Letzte, was ihnen in den Sinn kam.
„Du kannst froh sein, dass das kein offizieller Dreh war”, nahm sich Daniel die Schauspielerin zur Brust. „Und du kannst ebenfalls von Glück sagen, dass die Chemie zwischen dir und Leon so auffallend stimmt. Ich habe noch nie ein Pärchen vor der Kamera gehabt, bei dem es auf Anhieb so geknistert hat und das so glaubhaft rübergekommen ist. Ihr seid ein echtes Traumpaar. Umso weniger verstehe ich deinen unrühmlichen Abgang. Das war doch nun wirklich nicht nötig! Aber ich will heute noch einmal darüber hinwegsehen. Morgen werde ich jedoch nicht mehr so großzügig sein. Wir haben ein straffes Programm und müssen mehrere Szenen, auch zwischen Sofia und Roman, drehen. Da erwarte ich Konzentration und vor allem Disziplin! Also, Janine, welche Laus dir auch über die Leber gelaufen ist, sorge dafür, dass sie morgen verschwunden ist. So was wie heute werde ich nicht noch einmal dulden. Verstanden?”
Janine nickte betreten. Sie wusste ja selber, dass es ein Fehler gewesen war, sich so gehen zu lassen. Unbeabsichtigterweise hatte sie dadurch Leon einen Vorteil verschafft. Sie musste sich unbedingt etwas einfallen lassen, damit er beim nächsten Dreh die schlechteren Karten in der Hand hatte.
Sie beide ein Traumpaar? Das war doch lächerlich! Nein, auf keinen Fall würde es dazu kommen, dass Leon morgen überzeugend ihren Liebhaber mimen konnte.
Gut, dass sie noch die starken Abführmittel in ihrem Medizinköfferchen hatte, die sie vor einigen Monaten durch ihre damaligen Magenprobleme verschrieben bekommen hatte. Die Tropfen waren so hochwirksam, dass sie sie schon auspacken wollte, weil sie sie ohnehin nicht noch einmal brauchen würde. So hatte sie jedenfalls gedacht. Sie musste wohl so etwas wie den siebten Sinn gehabt haben, dass sie es letztendlich doch nicht getan hatte.
In Leons Frühstückskaffee würden sie ihr von großem Nutzen sein. Oh ja, der Mann würde morgen keine Freude bei der Arbeit haben. Er würde die ganze Crew nerven und womöglich als unzuverlässig gelten, weil er seinen Hintern nicht von der Klobrille bekam.
Janine grinste. Ja, sie war diejenige, die morgen viel Spaß haben würde.
*****
Der Tag begann schon 5 Uhr morgens. Im Halbschlaf taumelte Leon in den kleinen Speiseraum, wo die Crew gemeinsam frühstücken sollte. Der Braunhaarige hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Er war weiß Gott kein Morgenmensch und brauchte erst mal einen anständigen Kaffee, um überhaupt irgendwie in die Gänge zu kommen.
Diese unchristlichen Arbeitszeiten waren der einzige Nachteil in seinem sonst so geliebten Beruf. Viel Ausschlafen konnte er nicht. Na, zum Glück brachte ihn eine ausreichende Portion Koffein normalerweise auf Hochtouren.
Janine hatte das Fläschchen mit den Abführtropfen sicher in der tiefen Tasche ihres Morgenmantels verstaut. In Gegensatz zu Leon war sie bereits putzmunter. Trotzdem hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich vollständig anzukleiden, sondern nur einen Umhang um ihren Pyjama geschlungen. Sie wollte unbedingt vor ihrem Kollegen am Frühstückstisch sitzen. So hätte sie länger Zeit und mehr Chancen, seinen Kaffee mit dem Mittelchen unauffällig zu würzen. Außerdem hoffte sie, dass Leon nicht allzu spät erscheinen würde und noch nicht viele „Zeugen” anwesend waren.
Tatsächlich schien das Glück heute auf ihrer Seite zu stehen, da lediglich Hanna, Tobias und Birte bislang den Weg zum Frühstücksbüfett gefunden hatten. Von ihnen war offenbar noch niemand richtig wach und aufmerksam.
Leon hatte ebenfalls Schlitzaugen wie ein Chinese und ließ sich idealerweise auf den Stuhl neben sie plumpsen. Seine anschließende Ansprache über ein Friedensangebot war dagegen nur schwer verständlich, da sie durch ständiges Gähnen unterbrochen und in die Länge gezogen wurde.
„Meine Güte, das ist ja furchtbar. Ich werde dir erst mal einen Kaffee einschenken”, seufzte Janine, erhob sich und schlenderte grinsend zum Kaffeeautomaten. Das klappte doch wie am Schnürchen. Besser hätte es gar nicht laufen können.
Sie platzierte sich so vor dem dampfenden Gerät, dass niemand vom Tisch aus ihre Hände beobachten konnte. Unauffällig angelte sie das Fläschchen aus ihrer Manteltasche und schüttete ein paar Tropfen davon in die Tasse, während diese mit Kaffee gefüllt wurde.
„Kannst du für mich auch gleich auf den Knopf drücken? Ich brauche noch mehr von dem Zeug, jetzt mitten in der Nacht.”
Hannas’ Stimme hinter ihr erschreckte sie so sehr, dass ihr aus Versehen ein großer Schluck Medizin in die Tasse schwappte. Na hoffentlich war das nicht zu viel des Guten!
Geschickt ließ Janine die kleine Flasche in ihrer Handfläche und anschließend wieder in der Manteltasche verschwinden. Jetzt konnte sie nur noch beten, dass die ältere Frau nichts gemerkt hatte. Deren rätselhaftem Blick konnte man nichts entnehmen. Da sie aber nichts sagte, atmete die Blondine tief durch. Der erste Teil ihres Planes ging offenbar gut. Nun musste sie noch hoffen, dass nicht zu viele Abführtropfen im Kaffee schwammen. Dabei machte sie sich nicht einmal so sehr Sorgen, dass Leon seinen gesamten Darminhalt verlieren könnte, sondern vielmehr darum, dass er die leicht bittere Medizin herausschmecken würde. Dann würde sie sofort auffliegen.
Janines Hand zitterte deshalb etwas, als sie für Hanna auf den Automatenknopf drückte. Als sie schließlich zum Frühstückstisch zurückkehrte, hatte sie immer noch Mühe, den Inhalt in der Tasse zu behalten.
Eine Karriere als Kriminelle kam für sie sicher nicht in Frage. Dafür war sie einfach nicht abgebrüht genug. Ja, sie musste sogar zweimal ansetzen, um „Bitte schön, dein Kaffee” ohne verdächtiges Krächzen oder Stocken herauszubekommen. Als Leon sie freudestrahlend anschaute, hatte sie Mühe, das aufkeimende schlechte Gewissen abzuschütteln.
Der arglose Mann verspürte ein warmes Gefühl in seinem Bauch, noch bevor er überhaupt den ersten Schluck der heißen Flüssigkeit zu sich genommen hatte. Er betrachtete Janines Geste als Friedensangebot, und die Glückshormone begannen in ihm zu tanzen. Warum hatte er sich eigentlich solche Sorgen gemacht und die halbe Nacht wachgelegen? Es bestand kein Grund dafür. Das würde bestimmt ein ganz toller Tag werden.
Janine fühlte sich für einen Moment richtig mies, als sie das Leuchten in Leons Augen bemerkte. Es war fast eine Erleichterung, dass sie ein Stromschlag durchfuhr, als sie seine Fingerspitzen berührten. Denn sie hätte beinahe die Tasse fallengelassen, was ihr wieder einmal deutlich machte, dass es besser war, es nicht zu intimen Szenen zwischen ihnen kommen zu lassen.
Aus Wut auf ihre eigene Reaktion war Janines Gewissen tatsächlich etwas beruhigt, und sie beobachtete geradezu schadenfroh, wie Leon einen Teil des Kaffees hinunterschluckte.
Brrrr. Leon schüttelte sich. Das Gebräu schmeckte ja widerlich. Wahrscheinlich hätte eine einfache Kaffeemaschine bessere Arbeit geliefert als dieser riesige Automat, der bestimmt schon halb verkalkt war und kein ordentliches Aroma herbeizaubern konnte. Wenn er nicht dermaßen auf sein morgendliches Koffein angewiesen wäre, hätte er den Rest in den Ausguss geschüttet. So aber würgte er sich den gesamten Inhalt der Tasse hinunter und wunderte sich nur, dass die anderen ihren Kaffee ohne angewiderte Miene tranken.
Schnell schmierte er sich ein Brötchen, um den ekligen Geschmack aus seinen Mund zu bekommen. Obwohl er normalerweise noch mehr Kaffee brauchte, konnte er sich nicht überwinden, dieses „Geschmackserlebnis” noch einmal durchzustehen und zog stattdessen Orangensaft vor. Gott sei Dank war dieser keine Beleidigung für den Gaumen.
Janine war mit dem Ablauf des Frühstücks rundum zufrieden. Offenbar hatte Leon keinen Verdacht geschöpft. Dass sich der Braunhaarige keinen Kaffee nachgeschenkt hatte, war eine glückliche Fügung. So hatte er keinen Unterschied feststellen können und glaubte tatsächlich, dass der Automat auf den Müll gehörte. Janine musste aufpassen, dass sie nicht anfing zu lachen und sich verriet, als ihr Leon später sein Leid klagte.
„So ein Koffeinjunkie wie ich ist eigentlich hart im Nehmen. Aber was wir heute Morgen geboten bekommen haben, ist eine Zumutung gewesen. Irgendwie ist mir immer noch schlecht davon. Sag bloß, dir ist dieses widerliche Gesöff nicht auf den Magen geschlagen?” Leon schaute ihr fragend ins Gesicht, aber sie tat nur überrascht und schüttelte den Kopf.
Da zuerst einige Szenen mit den Charakteren Natascha und Frank auf dem Programm standen, hatten sie noch ein wenig Zeit bis zu ihrem Auftritt. Leon glaubte, dass sie nur als gute Freunde auf dem Bildschirm überzeugend wirken könnten. Deshalb wich er Janine nicht mehr von der Seite und versuchte, ihre Aufmerksamkeit mit Smalltalk auf sich zu ziehen.
Der Blondine war das ganz recht. So konnte sie wenigstens ein Auge darauf haben, wie oft er auf die Toilette verschwinden würde. Allerdings ließ die Wirkung der Tropfen auf sich warten, und sie befürchtete schon, dass er immun dagegen wäre.
Erst, als sie in die Maske mussten, wurde es Leon richtig übel und das angestellte Mädchen hatte Mühe, seine unnatürliche Gesichtsfarbe zu überschminken.
„Herr Schneider, Sie sehen wirklich nicht gut aus. Vielleicht sollten Sie kurz an die frische Luft...” Susis Ratschlag endete mit einem kleinen spitzen Schrei, als er sich plötzlich heftig über ihre neuen Schuhe erbrach.
Leon lief bis zu den Ohrenspitzen tiefrot an. Gott, war das peinlich. Er war den Tränen nahe, doch er hielt sich eisern zurück. Diese Blöße wollte er sich nicht auch noch geben.
Susi war nun selbst ganz grün im Gesicht. Ihr Magen verkrampfte sich regelrecht vor Ekel, während sie Putzlappen und einen Wischeimer holte. Sie schaffte es jedoch nur, ihre Schuhe zu säubern. Um den Boden musste sich Leon selber kümmern. Der junge Schauspieler rutschte auf den Knien entlang und versuchte tapfer, das Malheur zu beseitigen, bevor noch mehr Leute davon erfuhren.
*****
Janine fand, dass ihr Serienpartner viel zu lange in der Maske verbrachte. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Sie selbst war schon seit geraumer Zeit fertig geschminkt. Dabei war es trotz ihres jugendlichen Aussehens bestimmt schwieriger, sie wie ein Schulmädchen erscheinen zu lassen als Leon auf einen unwiderstehlichen Frauenhelden zu trimmen. Dass er einfach nicht in der Kleiderkammer erschien, um sich das passende Outfit für Roman aushändigen zu lassen, musste wohl bedeuten, dass sich ihr Kollege auf dem Klo eingeschlossen hatte.
Um sich mit eigenen Augen zu überzeugen und die kribbelnde Neugier in ihr zu stillen, wanderte Janine zu dem kleinen Schminkraum, in dem Leon vor einer halben Ewigkeit verschwunden war. Sie hatte nicht einmal wirklich erwartet, ihn hier anzutreffen und ganz sicher nicht, ihn vor ihr auf den Knien hockend zu sehen. Von der Maskenbildnerin war weit und breit keine Spur, und er schaute so aus, als wäre er für einen Auftritt als „Reinigungsfachmann” zurechtgemacht worden.
Janine blieb vor Verwirrung der Mund offen stehen. Als ihr jedoch der üble Geruch von Erbrochenem in die Nase stieg, hatte sie eine Ahnung, was hier los war. Offenbar hatten die Abführtropfen endlich gewirkt, sich aber einen anderen Ausgang gesucht.
Dass der Schauspieler seine Schweinerei selber vom Boden wischen musste, war schon ein starkes Stück. Janine hatte vermutet, dass sie dafür eine gute Fee hatten. Trotzdem kroch ihr das Lachen in den Hals. Sie war sich nur nicht sicher, ob es pure Schadenfreude war oder weil „Leon von der Putztruppe” einfach zum Schreien aussah. Dazu hatte er sich wahrscheinlich bei der Maskenbildnerin unbeliebt gemacht und sie in die Flucht geschlagen. Es lief also alles wie am Schnürchen. Dass sie sich strafbar gemacht hatte, kam Janine im Moment gar nicht in den Sinn.
„Verdammt, Mädel! Was gibt es da zu lachen? Mir geht’s echt scheiße. Hoffentlich gefährde ich heute unseren Dreh nicht.” Leon verstand nicht, was seine Kollegin so amüsant fand. Es war doch deutlich zu erkennen, dass er sich gerade die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Aber anstatt ihm zu helfen, trug sie ein geradezu fieses Grinsen spazieren. Ja, anders konnte man es tatsächlich nicht bezeichnen. Konnte es sein, dass sich Janine immer noch darüber freute, dass sie sich vorerst vielleicht nicht mehr küssen oder streicheln brauchten? Dabei war er so sicher gewesen, dass sie sich im Laufe des Morgens etwas näher gekommen waren und das Kriegsbeil begraben hatten. Sollte er sich so getäuscht und Janines Verhalten völlig falsch interpretiert haben? Es hatte doch ganz den Anschein gehabt, dass sie ihre Feindseligkeiten ihm gegenüber eingestellt hatte, aber danach sah es nun gar nicht mehr aus.
„Tja, da hast du wohl ein Problem. Vielleicht ist das hier alles zu stressig für dich? Was hast du denn vorher gemacht?”
Leon war sich nicht sicher, was Janines Frage zu bedeuten hatte. Sorgte sie sich doch ein wenig um ihn? Oder wollte sie ihm weismachen, dass er ein Weichei war und für so eine lange Fernsehproduktion nicht geeignet war? War ihr Interesse daran, was er früher gemacht hatte, echt? Oder sollte es bloß eine Anspielung sein, dass es nichts Gescheites gewesen sein konnte, wenn er schon bei den ersten anstrengenden Vorbereitungen für die Dreharbeiten zusammenklappte? Er wurde im Moment wirklich nicht schlau aus Janine. Aber leider konnte er auch nicht weiter nachhaken, da in diesem Augenblick die Tür aufgestoßen wurde und ein atemloser Produzent hereingestürzt kam.
„Leon, was ist passiert? Susi hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.”
Na toll! Nun hatte sich das also auch schon herumgesprochen. Gott, er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Leon senkte beschämt den Kopf, versteckte seine tiefroten Wangen hinter dem Wischeimer. Jetzt fehlte bloß noch, dass man auf die Idee kam, er wäre im Bett besser aufgehoben als bei den Dreharbeiten. Tatsächlich schien Richard genau das zu denken.
„Brauchst du einen Arzt, Leon?”
Diese Bemerkung ließ auch Janine aufhorchen, der schlagartig das Grinsen von den Lippen fiel. Zum Glück waren alle viel zu aufgeregt und hatten sie nicht beachtet. Wie hätte sie denn erklären sollen, dass sie einen Grund zum Lachen fand, während Leon mit gequälter Miene auf dem Boden herumkroch? Allerdings war sie noch nicht aus dem Schneider. Ganz im Gegenteil. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Serienpartner einen Arzt benötigen könnte. Sie hatte ihn auf keinen Fall vergiften wollen. Er sollte doch nur die Dreharbeiten durch ständige Toilettengänge unterbrechen und die Crew damit nerven. Das hätte ihm einen dicken fetten Minuspunkt eingehandelt.
Wenn es jetzt aber wirklich zu einer Untersuchung kommen sollte, würde man leicht feststellen, dass er etwas eingenommen hatte. Er würde sich daran erinnern, dass der Kaffee scheußlich geschmeckt hatte. Vielleicht würde Leon auch einfallen, dass die anderen ihre Tassen mit mehr Genuss geleert hatten und niemanden sonst schlecht geworden war. Falls dann Hanna noch ins Grübeln geriet und ihr Verhalten am Kaffeeautomaten doch als verdächtig einstufte, würde man schnell eins und eins zusammenzählen.
Janine schüttelte sich innerlich, als sie daran dachte, welch ein Ärger auf sie zukommen würde. Verdammt! Sie hätte besser mal ihr Gehirn eingeschaltet, bevor sie diese dumme Aktion startete. Wenn Leon nun wirklich einen Arzt benötigen sollte, konnte man ihr Verhalten nicht einmal mehr als Kavaliersdelikt durchgehen lassen. Man würde sie mit Sicherheit rauswerfen. Wenn publik wurde, was sie getan hatte, konnte sie ihre Schauspielkarriere an den Nagel hängen. Bestimmt würde sie niemand mehr einstellen wollen, weil sie eine Gefahr für ihre Kollegen darstellte.
Janine hätte sich jedes Haar einzeln ausreißen können, weil ihr jetzt erst klar wurde, in welches Schlamassel sie sich reingeritten hatte. Um da wieder rauszukommen, brauchte sie auch noch Leons Mithilfe. Wenn es nicht so ärgerlich wäre, hätte sie darüber lachen können, mit welcher Ironie das Schicksal zurückschlug.
Auf keinen Fall durfte ihr Serienpartner jetzt wegen Krankheit ausfallen. Sie konnte nur hoffen, dass es diesem nach seiner Magenentleerung wieder gut ging. Und auch Leon musste überzeugt werden, dass ein Arztbesuch unnötig war.
„Na, ich denke, Leon wird die Dreharbeiten nicht gefährden und tagelang das Bett hüten wollen. Die Ärzte übertreiben doch immer so. Wahrscheinlich verdienen sie noch eine Menge daran, wenn sie den Patienten einen Haufen unnötiger Behandlungen und Medikamente verschreiben. Oder Leon, geht es dir wirklich so miserabel, dass wir Tage oder gar Wochen auf dich verzichten müssten?”
So, nun hatte sie den Köder hingeworfen und konnte nur hoffen, dass der Braunhaarige danach schnappte.
Richard sah erst Janine und anschließend Leon fragend an, der sich endlich traute, über seinem Wischeimer aufzuschauen.
Der junge Mann fühlte sich mindestens genauso ratlos, wie er von allen angestarrt wurde. Auf seinem Magen lastete immer noch so ein Druck, als würde ihm jemand die Faust hineinstemmen. Dazu kamen plötzlich leichte Schwindelgefühle und hämmernde Kopfschmerzen. Ein Arzt wäre sicherlich keine schlechte Idee, wenn da nicht Janines Worte gewesen wären. Hatte die Blondine recht oder war es reine Provokation von ihr gewesen?
Wenn er nur wüsste, was Janine von ihm wollte. Im Moment konnte er wirklich nicht sagen, ob seine Kollegin Freund oder Feind war.
Er hasste dieses Gefühl von Unwissen und Nervosität. Es verstärkte seine ohnehin schon angeborene Schüchternheit. Kalte Schauer rannen durch seinen Körper, die alle in seinem Herzen zu enden schienen, als ihm klar wurde, dass er nun langsam eine Antwort geben musste.
Seine großen grünbraunen Augen schweiften unruhig hin und her und blieben letztendlich wieder an Janine hängen. In deren Blick glaubte er auf einmal so etwas wie ein stummes Flehen zu erkennen. Sollte das etwa heißen, dass sie sich tatsächlich wünschte, er würde behaupten, keinen Arzt zu brauchen und arbeiten zu können? Aber das war doch absurd. Warum sollte sie plötzlich unbedingt mit ihm drehen wollen? Bislang hatte sie ihm nicht den Eindruck vermittelt, dass er ihr „Traumpartner” für die Rolle des Romans wäre. Oder war er einfach zu sensibel und nahm sich Janines teilweise sehr plumpe Art zu sehr an? Vielleicht meinte die gar nicht alles so böse, wie es manchmal klang? War er ihr eventuell doch sympathisch?
Leon war sich nun fast sicher, dass ihn Janines Augen regelrecht anbettelten, seinen Part nicht durch einen wochenlangen Krankheitsausfall zu riskieren. Eine unerklärliche Freude nahm von ihm Besitz, und er wusste plötzlich, wie seine Antwort lauten würde.
Diese blöde Magenverstimmung würde er auch noch überstehen. Er war doch ein Mann, verdammt, und kein Warmduscher. Er würde den Dreh schon irgendwie durchziehen und sich dabei nichts anmerken lassen. Notfalls musste er eben ein paar Pillen gegen die Übelkeit schlucken.
Als er verkündete, dass es ihm gut ging, war nicht mehr zu übersehen, wie erleichtert die Blondine wirkte. Leon hätte die ganze Welt umarmen können: Janine lag wohl doch was an ihm.
„Bist du sicher, dass du dich nicht untersuchen lassen willst?” Richard war nicht überzeugt, und Leon bemerkte, wie blass Janine um die Nasenspitze wurde. Wie sollte er da noch Zweifel haben, dass sie sich tatsächlich Sorgen um ihn machte? Vielleicht hatte sie ihm wirklich ihre Freundschaft anbieten wollen, als sie ihm heute Morgen den Kaffee gebracht hatte.
Leon wollte ihr etwas zurückgeben und zwang sich zu einem Lächeln.
„Na, es ist wirklich nicht so schlimm. Irgendwie ist mir wohl das Frühstück nicht bekommen. Nicht, dass es schlecht war. Aber ich habe bestimmt zu viel hinuntergeschlungen. Aber jetzt, wo alles draußen ist, geht es mir wieder blendend.”
Das war eine gepfefferte Lüge, doch man schien sie ihm abzukaufen. Niemand löcherte ihn weiter. Stattdessen ließ man ihn eine Weile in Ruhe, um sich für den anstehenden Dreh zu stärken.
Zwei Tage später ging es allerdings schon ans Eingemachte. Leon seufzte. Er würde nicht geschont werden. Laut Plan würden sie gleich den „Morgen danach” drehen, als Roman und Sofia nach ihrer ersten gemeinsamen Liebesnacht zusammen aufwachten.
Während er in den Spiegel schaute, übte er bereits sein zerknittertes Katergesicht, was ihm erstaunlich leicht fiel, da er sich tatsächlich fühlte, wie von einem Zug überrollt. Trotzdem konnte sich der Schauspieler zu einem Schmunzeln hinreißen lassen, als er daran dachte, dass anschließend eine heiße Duschszene auf dem Programm stand. Sie würden praktisch ihr „Zweites Mal” vor dem „Ersten Mal” spielen. Doch sein Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war, denn ihm fiel siedend heiß ein, dass es auch das erste Mal war, wo er seine komplett nackte Kehrseite in die Kamera halten durfte. Man hatte ihm zwar zugesichert, dass das Publikum nichts von seiner vorderen Pracht zu sehen bekam. Dennoch konnte man ihm nicht versprechen, dass alle „privaten Teile” auch zu 100% privat bleiben würden.
Leons Wangen fingen an zu brennen, als er sich vorstellte, wer nun alles seinen Körper sehen und ihn bewerten konnte. Himmel, auf was hatte er sich da nur eingelassen?
„Herr Schneider, Sie werden doch nicht wieder irgendwelche Dummheiten machen, oder?” Susi, die gerade Leons Haare professionell zerwurschtelt hatte, beobachtete mit Argwohn, wie der Schauspieler vor dem Spiegel Grimassen schnitt. „Ich möchte meine neuen Schuhe noch öfter tragen.”
„Mir ist nicht schlecht. Wirklich nicht”, versuchte Leon sie – und wohl auch sich selbst – zu beruhigen. Dabei rumorte es in seinem Bauch, als würde eine Schlacht darin stattfinden. Vielleicht kämpfte tatsächlich gerade das Essen gegen die Magensäure? Oder war es doch dieser scheußliche Kaffee? Mit dem hatte schließlich alles angefangen. Obwohl er gestehen musste, dass das Gebräu heute Morgen wesentlich besser als Abwaschwasser geschmeckt hatte. Vielleicht hätte er trotzdem die Finger davon lassen sollen?
Erneut spürte Leon eine Woge der Übelkeit in sich aufsteigen. Er war so damit beschäftigt, diese unauffällig hinunterzuschlucken, dass er sich nicht einmal aufregen konnte, als Susi begann, seine blassen Lippen mit knallrotem Lippenstift auszumalen. Normalerweise mochte er so was gar nicht, weil es oft unnatürlich und feminin wirkte. Aber jetzt hatte er mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, als ein Wort darüber zu verlieren.
Als er wenige Minuten später auf dem Weg zur Kleiderkammer war, hatte ihn wieder dieses seltsame Schwindelgefühl erfasst, und er musste aufpassen, dass er nicht wie ein Volltrunkener hin- und herwankte.
In den ersten Szenen des heutigen Tages musste er nicht viel anhaben. Genaugenommen gar nichts, bis auf diesen albernen schwarzen String, um nicht ganz entblößt agieren zu müssen. Danach standen allerdings noch etliche Parts an, in denen Roman ausnahmsweise Kleidung am Leib trug. Heute sollte soviel wie möglich in dessen Wohnung gedreht werden, damit man sich morgen um die Außenaufnahmen kümmern konnte. Da es schnell gehen musste, sollten seine Klamotten schon griffbereit in der Nähe liegen. Da man sich jedoch nicht sicher war, welche Jeans seine Figur am besten zur Geltung brachte, musste Leon erst noch eine Anprobe über sich ergehen lassen, bevor er zum Set hetzen konnte.
Das alles klang super stressig, und zum ersten Mal machte er sich ernsthafte Sorgen darüber, dass er dieses enorme Arbeitspensum in seinem jetzigen Zustand nicht bewältigen konnte.
Er hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende unterhalten, da wurde es ihm plötzlich so schwindelig, dass er der Länge nach auf den Boden plumpste.