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Der Ursprung allen Übels

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Wie in jedem Sommer verbrachten wir unsere Ferien wieder einmal in Frankreich. Ich persönlich habe nie verstanden, warum es ausgerechnet ein Land sein musste, indem man aufgrund seiner Nationalität von einem Großteil der Bevölkerung demonstrativ gemieden wurde. In den Restaurants wurden wir, bis auf ein paar kaum erwähnenswerte Ausnahmen, grundsätzlich als Letzter bedient. Bereits im Kleinkindalter bekamen wir diese Abneigung überaus deutlich zu spüren. Manchmal hatten wir ganze Spielplätze für uns alleine, weil die Franzosen ihren Nachwuchs sofort in Sicherheit brachten, wenn sich die deutsche Windelfraktion ganz unverfroren näherte. Auch auf den Campingplätzen wurden die Schotten meist umgehend und rigoros abgedichtet, um jeglichen Kontakt zu vermeiden. Ich für meinen Teil wäre sowieso viel lieber nach Spanien oder Griechenland gefahren. Doch der Rest der Familie stand nun mal auf diese verträumten, weichgezeichneten Landschaften, den herrlich duftenden Lavendel, diese nervige nasale Artikulation und das furchtbar geschmacklose Essen. Außerdem hatte meine Meinung keinerlei Relevanz, denn ich war bloß ein zufälliges Nebenprodukt, das bei der Zeugung der gewünschten Tochter dummerweise mit entstanden ist. Im gewissen Sinne war ich aber auch ganz praktisch. Schließlich brauchte man einen Sündenbock, wenn das unschuldige Julchen mal wieder etwas ausgefressen hatte. Sie nutzte meine Existenz schamlos aus, um ihre eigenen Schandtaten, mit einer regelmäßigen Selbstverständlichkeit, auf mich abzuwälzen. Da wurde dann auch nicht lange gefackelt oder hinterfragt, die Strafe für ihr Handeln war mir grundsätzlich gewiss. Ob ich eine glückliche Kindheit hatte, … hm, … ich glaube schon. Es gab und gibt bestimmt viel schlimmere Kinderstuben, als die Meinige. Außerdem liebte ich meine Familie trotz aller Widrigkeiten wirklich sehr. Meine Mutter war eine sehr sanfte, zerbrechliche, aber relativ gerechte Frau. Wohingegen mich mein heroischer Vater ständig um seine Anerkennung buhlen ließ, … natürlich ohne jegliche Chance, sie irgendwann einmal zu bekommen. Möglicherweise lag es an seinem Beruf. Inzwischen weiß ich ja selber, dass einen die ständige Konfrontation mit dem Tod irgendwann erstarren lässt. Dennoch hätte er mir eine Chance geben müssen, wenigstens eine klitzekleine. Für mich war er wie der Mount Everest, ein mächtiger Berg, den ich unmöglich erklimmen konnte. Trotzdem liebte, verehrte und bewunderte ich ihn über alle Maßen. Wie ein hungriger Kater vorm Mauseloch lag ich ununterbrochen auf der Lauer. Geduldig wartete ich auf eine Gelegenheit, um mich endlich einmal beweisen zu können. Ich sollte meine Gelegenheit tatsächlich bekommen. Allerdings entpuppte sich das Mäuschen schon bald als ausgewachsene Bisamratte.

***

Anstatt diesen glühend heißen Dienstag ganz entspannt irgendwo am Strand zu verbringen, zog es der Rest der Familie vor, einen Ausflug in die Berge zu machen. Auf dem Rückweg wurden wir von einem heftigen Gewitter überrascht. Während mein Vater gegen gewaltige Wassermassen und unbarmherzige Sturmböen ankämpfte, hatte meine Schwester nichts Besseres zu tun, als in einer Tour zu stänkern. Ihre Geburtstagsgeschenke mussten unbedingt größer sein als die Meinigen und genau diese Banalität brachte den Unglücksstein ins Rollen. Eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass eine solche Lächerlichkeit für das Schicksal einer ganzen Familie verantwortlich sein sollte, aber die Dinge nahmen unaufhaltsam ihren Lauf. Nach einer sehr intensiven Diskussion zwischen uns beiden löste sie plötzlich ihren Sicherheitsgurt und fiel unserem Vater von hinten um den Hals. Sie erwischte ihn dabei derart unglücklich, dass er laut stöhnend das Lenkrad verriss. Unser Wagen geriet ins Schleudern, ehe er schließlich über den unbefestigten Straßenrand hinausschoss. Im selben Moment umschloss mich eine Dunkelheit, aus der ich, im Nachhinein betrachtet, besser nie mehr erwacht wäre.

Als ich die Augen aufschlug, brauchte ich einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war. Ein widerlicher, warmer Geruch beherrschte die Luft und mir wurde schlagartig übel. Heute weiß ich, dass es an dem vielen Blut und den Exkrementen lag. Damals jedoch kam ich nicht umhin der Geruchssituation noch die Krone aufzusetzen, indem ich mich erst einmal heftig übergab. Dann hörte ich die Stimme meines Vaters oder vielmehr sein röchelndes Flüstern, „Bist du verletzt, Junge?“

Ich schnallte mich ab. Dem Augenschein nach hatte ich keinerlei ernsthafte Verletzungen davongetragen. Lediglich Nacken und Brust schmerzten ein wenig. „Ich glaube, ich bin soweit in Ordnung. Was ist mit euch?“

Meine Frage blieb unbeantwortet. „Hör zu, Leonhard, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich will, dass du mir etwas versprichst.“ Er musste husten und stöhnte vor Schmerz. Ich beugte mich vor und wurde mit einem Anblick konfrontiert, der mir komplett den Atem verschlug. Alles war voller Blut. Meine Mutter lag regungslos auf dem Beifahrersitz. Beine und Unterleib schienen vollkommen zerquetscht zu sein und ihr ehemals strahlend weißes Sommerkleid leuchtete wie ein Klatschmohnfeld im Sonnenschein. Meinen Vater hatte ein ähnliches Schicksal ereilt, nur dass er zudem auch noch die Last meiner Schwester tragen musste. Sie saß auf seinem Schoß, hatte sich fest an ihn gekuschelt und erschwerte ihm sichtlich das Atmen.

Ich war entsetzt, „Bist du irre, Jule, komm da sofort runter!“

Aber was redete ich überhaupt? Sie hatte bis dato immer ihren Willen bekommen und daran sollte sich selbst im Angesicht des Todes nichts ändern. „Lass das Julchen in Ruhe, Junge, und hör mir endlich zu“, er hustete erneut. „Versprich mir, dass du dich um deine Schwester kümmern wirst, egal was passiert. Du musst es mir bei deinem Leben schwören, … willst du das tun?“

In meiner kindlichen Naivität verkannte ich die Ernsthaftigkeit dieser Situation und glaubte nach wie vor fest an unser aller Rettung. Ich hielt das Ganze für eine Art Spiel und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf ich mich einlassen würde. Außerdem ließ der Stolz meine Brust schon ein wenig anschwellen, weil mein übermächtiger Vater mich zum allerersten Mal um etwas bat. Endlich betraute er mich mit einer Aufgabe, endlich traute er mir mal etwas zu. Da lag es doch auf der Hand, dass ich wirklich alles daran setzen wollte, um seinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden. „Du kannst dich auf mich verlassen, Papa. Ich werde mich gut um Jule kümmern.“

Es reichte ihm nicht, „Schwöre es bei deinem Leben.“ Er spuckte Blut.

Zwar fand ich es dann doch etwas übertrieben, ging aber dennoch auf seinen Wunsch ein, „Ich schwöre es bei meinem Leben.“

„So ist es gut.“ Er spuckte ein weiteres Mal Blut und starb.

Ich packte ihn bei der Schulter, „Papa? Bitte, Papa, wach auf.“ Wieder und wieder versuchte ich ihn zu wecken, ehe ich mich mutlos zurückfallen ließ. Nach einem endlosen Moment des Schweigens besann ich mich meiner Aufgabe. Meine Schwester schwamm im Blut ihres Vaters und ich wollte nicht, dass sie darin ertrank. „Komm her, Jule, wir müssen versuchen hier rauszukommen und Hilfe holen.“

„Lass mich in Ruhe.“

Ich packte sie am Handgelenk, „Du kannst da nicht sitzen bleiben, … jetzt komm endlich her.“ Sie fing derart laut an zu schreien, dass ich nicht umhin kam, sie sofort wieder loszulassen. In diesem Augenblick wurde ich zum ersten Mal mit der Unmöglichkeit meines Erbes konfrontiert und fühlte mich ziemlich überfordert. „Jetzt lass doch den Quatsch und komm bitte her.“

„Lass mich in Ruhe.“

Die Monotonie ihrer Stimme machte mir Angst. Mein Instinkt sagte mir, dass jede Sekunde, die sie auf dem Schoße unseres toten Vaters verbringen würde, ein großes Stück ihrer kleinen Seele verschlang. Ich musste handeln und das sofort. Doch ich geriet ein weiteres Mal an meine Grenzen, denn mein Vater hatte den Wagen äußerst ungünstig positioniert. Die umliegenden Felsen und die vorherrschende Gesamtsituation ließen einen Ausstieg einfach nicht zu. Also blieb uns nichts anderes übrig, als der Dinge zu harren und auf Rettung zu warten.

Es dauerte ganze drei Tage, bis man uns schließlich fand und noch mal unzählige Stunden, bis man uns endlich aus dem stinkenden Wrack befreien konnte. Meine Schwester klammerte sich an den Leichnam unseres Erzeugers und schrie wie am Spieß. Aber warum sollte es den Feuerwehrleuten auch besser ergehen als mir? Es brauchte zwei gestandene Männer, um diese ungesunde Verbindung zu lösen. Doch so schnell gab das Julchen nicht auf. Sie schlug um sich, kratzte und biss einem der Männer kräftig in den Arm. Jetzt schrien die beiden um die Wette und mir wollte jeden Moment der Schädel platzen. Schließlich setzte einer der Sanitäter dem Spektakel ein Ende, indem er meiner Schwester eine Spritze ins Hinterteil rammte. Kurz darauf verstummten ihre Schreie und ich konnte endlich entspannt das Bewusstsein verlieren.

***

Nach einigen wenigen Tagen im Krankenhaus durften wir wieder nach Hause. Man entließ uns in die Obhut unserer Großeltern, mit denen wir sowieso schon seit jeher unter einem Dach lebten. Das großzügige und wirklich wunderschöne Herrenhaus, das wir gemeinsam bewohnten, lag in einer kleinen parkähnlichen Anlage. Weitab vom tobenden Leben irgendwelcher Großstädte. Während meine kleine Schwester unablässig ihre Langeweile pflegte, genoss ich die Stille und den malerischen Frieden, den diese Umgebung zu jeder Jahreszeit ausstrahlte. Ich liebte mein Zuhause über alles, auch wenn gleich nebenan der Tod residierte. Nur wenige Schritte vom Wohnhaus entfernt befand sich ein weiteres, wesentlich kleineres Gebäude. Dort hatten mein Vater und mein Großvater in trauter Zweisamkeit für den Lebensunterhalt unserer Familie gesorgt, indem sie überteuerte Särge verkauften und möglichen Hinterbliebenen ein Quäntchen Trost spendeten. Und was hätte wohl besser in die unmittelbare Nachbarschaft eines Beerdigungsinstitutes gepasst, als ein nettes, kleines Krematorium mit Friedhofsanschluss. Hierfür war der ältere Bruder meines Vaters, mein etwas kauzig wirkender Onkel Hendrik zuständig. Sein Stiefsohn Ludwig unterstützte ihn dabei. Somit bescherte Gevatter Tod der gesamten Großfamilie Brot und Spiele. Im Gegenzug dafür räumte die Familie stets fleißig hinter ihm auf. Doch dieses Mal hatte unser aller Brötchengeber die Falschen in seine Arena geschickt und das nahm ich ihm wirklich übel.

Die Trauerfeier fand an einem verregneten Donnerstag statt. Meine Schwester hatte seit ihrer unfreiwilligen Rettung aus dem Todeswrack, kein einziges Wort mehr gesprochen. Natürlich wurden wir psychologisch betreut. Irgend so ein karrieregeiler Psychiater namens Ottokar Feinstein hatte unser Schicksal in den Medien verfolgt und ganz uneigennützig seine Hilfe angeboten. In vielen nervigen Einzelsitzungen versuchte er sich an unseren Hirnwindungen entlangzuschlängeln, um endlich auf des Pudels Kern zu stoßen. Und weil das nicht wirklich funktionierte, wurden wir zusätzlich noch mit einer Vielzahl an Medikamenten vollgestopft. Ich für meinen Teil versuchte wenigstens halbwegs kooperativ zu sein, doch bei meiner Schwester rannte er immer wieder gegen die berühmte Mauer des Schweigens.

An diesem Donnerstagmorgen suchte ich sie. Sämtliche Familienmitglieder waren mit den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten beschäftigt und keiner von ihnen hatte Jule gesehen. Irgendwann landete ich im verwinkelten Keller des Instituts und im Kühlraum wurde ich dann auch tatsächlich fündig. Sie lag regungslos auf dem geschlossenen Sarg unseres Vaters und starrte an die weiß geflieste Decke. Ich konnte nicht verstehen, warum sie solche merkwürdigen Dinge tat. „Verdammt noch mal, Jule, … was tust du denn da? Komm gefälligst runter.“

Ich packte sie am Arm und erschrak, sie fühlte sich an wie ein tiefgefrorenes Schnitzel. Erstaunlicherweise kam sie meiner Bitte sofort nach, rutschte vom Sarg und nahm meine Hand, „Du musst mir unbedingt helfen, Leon, … willst du?“

In diesem Moment überkam mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, denn sie schien sich auf dem Wege der Besserung zu befinden. „Natürlich will ich dir helfen, Jule. Wenn du mir verrätst wie und wobei.“

„Lass uns den Sarg öffnen. Ich will unseren Vater ein letztes Mal sehen und mich vernünftig von ihm verabschieden.“

„Was? Nein! Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, … der Sarg bleibt zu!“ Die Familie hatte sich schließlich nicht ohne Grund für einen geschlossenen Sarg entschieden. Der Verwesungsprozess war inzwischen ziemlich weit fortgeschritten, und da meine Eltern sowieso eingeäschert werden wollten, bestand kein Grund für eine aufwendige Restauration ihrer sterblichen Überreste.

Doch meine Schwester sah das offensichtlich anders. Sie war sehr darum bemüht dem Ruf einer kleinen Rotzgöre gerecht zu werden, indem sie trotzig mit dem Fuß auf den Boden stampfte, „Aber das ist nicht fair, … ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit mich richtig von Papa zu verabschieden.“

„Was erzählst du denn da, … du hast doch drei Tage und zwei Nächte lang nichts anderes getan.“ Verständlicherweise wurde mir langsam kalt. Außerdem hatte ich die Schnauze gestrichen voll, von dem überaus merkwürdigen Gebaren meiner kleinen Schwester, „Lass uns bitte draußen weiter reden, sonst bekommen wir am Ende beide noch einen Schnupfen.“

Sie schüttelte energisch ihren Kopf, „Ich werde hier aber nicht eher weggehen, ehe ich nicht …“

„Ach hier steckt ihr zwei Hübschen also“, ausgerechnet mein Onkel Hendrik entpuppte sich als Retter in der Not und avancierte sofort zu meinem persönlichen Helden. Er löste die Bremse des kleinen Transportwagens und schob das Objekt ihrer Begierde Richtung Ausgang, „Na dann folgt mir mal unauffällig. Die Feier soll in wenigen Minuten beginnen und außerdem werdet ihr schon vermisst.“ Da mir gerade ganze Zentnerlasten vom Herzen gefallen waren, konnte ich mir ein winziges Grinsen nicht verkneifen. Dem Julchen war das natürlich nicht entgangen. Sie bedachte mich mit einem kurzen verachtenden Blick, der ziemlich laut nach Vergeltung schrie. „Wenn es euch nichts ausmacht, dann könntet ihr den Sarg von eurer Mutter ja gleich mitbringen.“ Onkel Hendrik dachte sich nichts dabei und mir machte es komischerweise tatsächlich nichts aus.

„Kein Problem, Onkel Hendrik, wir bringen ihn mit.“ Ich schnappte mir den zweiten Rollwagen und versuchte ihn, mehr schlecht als recht, in eine günstigere Position zu bringen. Da mir das nicht wirklich gelingen wollte, wandte ich mich kurzerhand an meine Schwester, „Möchtest du vielleicht mal mit anfassen? Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

Doch Juliette ließ mich ihre Wut deutlich spüren und zischte mich an, „Du Arschloch hast mir ja auch nicht geholfen, also mach es gefälligst alleine. Wirst schon sehen, was du davon hast.“ Dann rauschte sie davon.

Der einzige Lichtblick an diesem rabenschwarzen Tag erschien in Form meines Lieblingsonkels Quentin. Es handelte sich um den jüngeren Bruder meiner Mutter, der vor einigen Jahren die Rolle des schwarzen Schafes regelrecht an sich gerissen hatte. Ausgerechnet auf der Geburtstagsfeier seines Vaters krakelte er heraus, dass er schwul sei und ausschließlich Männer begehren würde. Als sein Vater dann ein halbes Jahr später das Zeitliche segnete, hieß es, Quentin hätte ihn mit seiner Offenbarung zugrunde gerichtet und er sei an gebrochenem Herzen gestorben. Das war natürlich völliger Quatsch. Denn als wahrer Schuldiger für sein bedauerliches Dahinscheiden kam tatsächlich nur einer infrage, nämlich der faustgroße Tumor in seiner Brust. Nach dem Tod der Mutter stellte sich heraus, dass sie ihn noch auf den letzten Metern enterbt hatte. Doch meine Mutter teilte das nicht unerhebliche Erbe in zwei gleichgroße Hälften und zahlte ihn aus. Onkel Quentin legte das Geld vernünftig an und wurde quasi über Nacht zu einem steinreichen Mann. Seit dem tingelte er durch die Weltgeschichte und genoss sein Leben in vollen Zügen. Ab und zu tauchte er mal bei uns auf, blieb eine kleine Weile, um dann wieder sang- und klanglos in der Versenkung zu verschwinden. Wir wussten nie, wo er gerade steckte. Ich mochte ihn wirklich sehr. Seine weltoffene Art, seinen Humor, seinen eleganten Charme und seine unglaubliche Leichtigkeit des Seins. Er legte genauso großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, wie auf besonders gepflegte Umgangsformen. Dazu verfügte er noch über ein schlichtweg beeindruckendes Allgemeinwissen und außerdem war er seit jeher der einzige Mensch, der mir auch mal zuhörte.

Am frühen Nachmittag war mein Kraftpotenzial vollkommen ausgeschöpft. Unzählige Hände hatten meinen Kopf getätschelt und unzählige Münder Bedauern geheuchelt. Ich konnte einfach kein Mitleid mehr ertragen, deshalb zog ich mich in unseren etwas abgelegenen Gartenpavillon zurück. Er ließ nicht lange auf sich warten. Wie immer bestach er durch schlichte Eleganz. Schwarzer Anzug mit Weste, weißes Hemd, schwarze Fliege und Einstecktuch. Ein schwarzer Schirm bot ihm Schutz vor dem anhaltenden Regen. Seine kurzen schwarzen Haare pflegte er mit Pomade zu bändigen, deshalb erinnerte er mich immer ein bisschen an die Zeiten von Al Capone. Er lächelte, „Darf ich mich zu dir setzen, mein Freund?“

Ich rutschte ein Stück beiseite, „Klar doch.“

So saßen wir ein ganzes Weilchen schweigend nebeneinander und starrten in den Regen. „Möchtest du vielleicht darüber reden?“

Ich zuckte mit den Schultern, „Was gibt es da zu reden? Meine Eltern sind gestorben und ich hatte die besondere Ehre, diesem einmaligen Ereignis beiwohnen zu dürfen.“

„Das tut mir aufrichtig leid, … ich habe deine Mutter wirklich sehr geliebt.“

„Ich auch.“ Der Kloß in meinem Hals wuchs zu einer unangenehmen Größe heran, „Glaubst du an Gott?“

„Wenn du einen alten Mann mit Rauschebart meinst, der von seinem Wolkenthron über unser aller Schicksal wacht, dann lautet die Antwort nein. Ich glaube an die Kraft der Natur, an bedingungslose Liebe, an all die herrlichen Geschöpfe, die diesen wundervollen Planeten bewohnen und ich glaube an mich selbst. Was ist mit dir, … glaubst du an Gott?“

Ich lachte bitter, „Meinst du möglicherweise den Gott, der bereits kleinen Babys Krankheiten schenkt, der manche seiner Schäfchen einfach verhungern lässt und mir ohne jegliche Vorwarnung die Eltern genommen hat? Oh nein, ganz sicher nicht.“ Ich senkte den Kopf und schluckte.

„Schau mich an.“

„Nein.“

„Bitte, Leon, schau mich an.“ Ich schluckte erneut, hob langsam den Kopf und wagte einen Blick in seine wasserblauen Augen. Im selben Moment brach es aus mir heraus. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich noch kein einziges Mal geweint und dieser stetige Kampf gegen die Tränen hatte mich unendlich viel Kraft gekostet. Deshalb genoss ich es sehr, mich einfach nur an Quentins Brust zu schmiegen und ihnen endlich freien Lauf zu lassen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in seinen Armen gelegen und seinen Trost genossen habe, aber ich weiß, dass es mir danach um einiges besser ging. Er drückte mir sein mit Initialen besticktes Taschentuch in die Hand, „Hier mein Freund, schnaub dir erst mal die Nase.“

„Danke, Onkel Quentin. Wie hast du überhaupt davon erfahren? Die Familie hat’s dir doch bestimmt nicht gesagt.“

„Ich habe es in der Zeitung gelesen.“

Ich nickte, „Das ist gut. Ich bin echt froh, dass du da bist.“

Er klopfte mir auf die Schulter, „Ich auch, Leon, … ich auch.“

„Wie lange wirst du bleiben?“

„Solange du mich brauchst.“

„Danke, Onkel Quentin, ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.“

„Jetzt hör endlich damit auf, dich für alles zu bedanken. Sag mir lieber, was mit deiner Schwester los ist. Sie wirkt, als sei sie nicht von dieser Welt. Stimmt es tatsächlich, dass sie die ganze Zeit auf dem Schoß eures toten Vaters gesessen hat?“

Meine Miene wurde bitterernst, „Ja, das stimmt. Und heute Morgen hat sie doch tatsächlich von mir verlangt, dass ich ihr helfe seinen Sarg zu öffnen. Manchmal macht sie mir richtig Angst.“

Sein Gesichtsausdruck verriet ehrliche Besorgnis, „Das kann ich gut verstehen. Aber ihr beide hattet ein höchst traumatisches Erlebnis und das will erst einmal verarbeitet werden. Jeder tut das auf eine andere, ganz eigene Weise. Trotzdem solltest du sie ein bisschen im Auge behalten, und wenn du Hilfe brauchst, dann sag mir bescheid.“

„Werd ich machen.“ Wieder starrten wir ein Weilchen schweigend in den Regen. „Ich musste es ihm bei meinem Leben schwören.“

„Was?“

„Dass ich immer auf Juliette aufpassen werde.“

Quentin zog die Augenbrauen hoch, „Du musstest es ihm tatsächlich schwören?“

Ich nickte, „Bei meinem Leben. Und weißt du, was ich echt merkwürdig fand?“

„Nein, … erzähle es mir.“

„Nach dem Unfall war ich wohl eine ganze Weile bewusstlos. Mir kam es so vor, als hätte er mit dem Sterben nur solange gewartet, damit er mir dieses Versprechen abnehmen kann.“

„Hm, … denkst du das wirklich?“

Ich seufzte, lehnte mich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Der aufkommende Wind trieb mir vereinzelte Tropfen ins Gesicht. „Ach ich weiß es doch auch nicht, … vielleicht habe ich mir das ja auch nur eingebildet.“

„Du hast Angst vor der Verantwortung, Angst, dass du dein Versprechen möglicherweise nicht einhalten kannst.“

„Kann sein.“

Jetzt lehnte auch er sich zurück und legte seinen Kopf in den Nacken, „Du bist ein Junge und sie ist ein Mädchen. Es ist vollkommen normal, dass man in einer solchen Situation den Stärkeren darum bittet, auf den vermeintlich Schwächeren achtzugeben. Aber du bist selbst noch ein Kind und ein Kind kann unmöglich die Verantwortung für ein anderes übernehmen. Das ist jetzt die Aufgabe deiner Großeltern. Du kannst ihnen dabei helfen und du solltest natürlich für deine Schwester da sein, wenn sie dich braucht, aber das war’s dann auch schon. Die wirkliche Verantwortung liegt nicht bei dir.“

In diesem Moment fühlte ich mich ziemlich erleichtert. Onkel Quentins Worte hatten mich tatsächlich von einer wahren Zentnerlast befreit. „Auch wenn du es nicht hören willst, … trotzdem danke.“

„Nicht dafür, mein Junge, … nicht dafür.“ Das immer heftiger werdende Zusammenspiel von Wind und Regen nahm mittlerweile unangenehme Züge an. Der kleine Pavillon war mit der nun vorherrschenden Wetterlage absolut überfordert und bot nicht mehr den nötigen Schutz. „Hier wird es mir langsam ein bisschen zu feucht. Was hältst du von einer besonders großen Cola und einer anständigen Partie Schach?“

Ein wenig Ablenkung konnte sicherlich nicht schaden, deshalb stimmte ich umgehend zu, „Einverstanden, … ich dachte schon, du würdest nie fragen.“

Er stand auf, öffnete den Schirm, bot mir seinen Arm an und lächelte, „Na dann, … auf in den stürmischen Ozean des Lebens.“

Ich hakte mich ein und nickte, „Auf in den stürmischen Ozean des Lebens.“ Wie stürmisch insbesondere mein Ozean werden sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Aber das war wohl auch besser so, denn sonst hätte ich mein Boot vermutlich niemals zu Wasser gelassen.

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