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Der Leuchtturmwärter
ОглавлениеValentin Fröhlich gehörte, trotz seines vielversprechenden Namens, zu der Sorte Menschen, die vom Leben mit einer kontinuierlichen Regelmäßigkeit gefickt wurden. Sein Vater war Pfarrer in einer ländlichen Gegend. Für ihn gehörte die körperliche und seelische Züchtigung seines Sohnes zum täglichen Brot. Im Hause Fröhlich herrschten strenge Regeln und jeder Verstoß wurde umgehend und hart bestraft. Wenn Valentin etwas ausgefressen hatte, schickte sein Vater ihn in den Garten, um eine dünne Weidenrute vom Baum zu schneiden. Diese schlug er ihm dann mehrfach auf sein entblößtes Hinterteil. Manchmal steckte er seinen Sohn in eine enge Holzkiste, in der Valentin zumeist viele Stunden verweilen musste. Seine Mutter hatte nicht die Kraft sich gegen ihren herrischen Mann zu wehren. Sie ließ die Dinge einfach nur weinend geschehen. Ein einziges Mal hatte Valentin tatsächlich versucht, sich zu wehren. Allerdings gewann sein Vater bei dem Gerangel recht schnell die Oberhand, schlug und trat ihn zusammen und ritzte ihm am Ende noch ein Kreuz in die Brust. Von da an versuchte Valentin, jegliche Fehler zu vermeiden.
Kurz nach Beendigung seiner Lehre zum Bankkaufmann lernte er die wunderschöne Patrizia Kroll kennen und lieben. Die beiden bezogen eine sonnige Wohnung am Stadtrand und bereits ein Jahr später wurden ihre Zwillinge Flora und Lydia geboren. Valentin liebte Kinder über alles und dankte dem Herrgott für dieses wundervolle Geschenk. Seit jeher hatte er sich eine große Familie mit mindestens fünf Kindern gewünscht. Kinder, die Kinder sein durften, wirklich fröhlich waren und niemals irgendeine Form von Züchtigung erfahren sollten. Valentin selbst war der glücklichste Mensch auf Erden und hoffte, dass es auf ewig so bleiben würde. Doch das Schicksal hatte andere Pläne.
Die Geburt seines ersten Sohnes kündigte sich an einem verregneten Novembermorgen an. Er schnallte die Zwillinge in ihren Kindersitzen fest, half seiner Frau beim Einsteigen und machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Um Zeit zu sparen, fuhr er auf die Autobahn. Es goss in Strömen, die Scheibenwischer konnten die Wassermassen kaum bewältigen. Valentin war stets ein sehr besonnener Fahrer, ganz besonders dann, wenn er seine wertvollste Fracht an Bord hatte. Aber an diesem verhängnisvollen Tag trieb ihn das Wimmern seiner Frau zur Eile an. Er wechselte auf die Überholspur, um an einer Reihe Lastwagen vorbeizuziehen. Plötzlich scherte einer von ihnen aus. Valentin trat auf die Bremse. Der Kombi geriet ins Schlingern, überschlug sich und krachte mit ziemlicher Wucht in den Lkw. Valentin verspürte einen stechenden Schmerz, dann wurde es auf einen Schlag still.
Als er wieder zu sich kam, blickte er in die verweinten Augen seiner Schwiegermutter. „Magda, … was, … was ist passiert?“
Sie schluchzte in ihr Taschentuch, „Sie sind tot, … alle sind tot.“
Valentin war zu keiner Regung fähig. Sein Leben hatte innerhalb einer Sekunde jeglichen Sinn verloren.
Er wurde depressiv, schmiss seinen Job und verfiel dem Alkohol. Von da an wurde sein jämmerliches Dasein ausschließlich von Aggressionen, Wut und literweise Whisky bestimmt. Wenn ihm etwas nicht passte, dann schlug er eben einfach zu. In drei seiner Stammkneipen hatte er bereits Hausverbot, aber glücklicherweise gab es ja noch genügend andere Spelunken. In einem dieser verwahrlosten Etablissements lernte er Paula kennen. Sie war eine ziemliche Schlampe, die für einen doppelten Whisky auch gern mal die Beine breitmachte. Er nahm sie hart und heftig auf dem Männerklo, woraufhin sie ihm ewige Treue schwor. Schließlich war Valentin kein hässlicher Kerl. Groß, schlank, braune Augen, braunes lockiges Haar und ein, zu diesem Zeitpunkt, etwas ungepflegter Vollbart. Er empfand keine Liebe für Paula, aber als Saufkumpanin war sie ganz okay. Außerdem eignete sie sich hervorragend zur gelegentlichen Befriedigung seiner männlichen Bedürfnisse. Dann wurde Paula schwanger und sie versuchten, ihr Leben wieder halbwegs in den Griff zu bekommen. Auch wenn er sie nicht wirklich liebte, freute er sich dennoch auf das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Während Paula dem Alkohol vollkommen entsagte, ließ Valentin es ab und zu doch noch mal richtig krachen. Mit dem Baby in ihrem Bauch wuchs auch Paulas Bedürfnis nach einem normalen Familienleben. Sie hasste es, wenn er betrunken aus der Kneipe kam, und stellte ihn schon bald vor die Wahl. Anstelle einer Antwort bekam sie eine schallende Ohrfeige. Als er drei Tage später von seiner Kneipentour nach Hause kam, hatte sie sich klammheimlich aus dem Staub gemacht. Valentin drohte durchzudrehen. Er zertrümmerte das gesamte Mobiliar, soff drei Tage und Nächte durch und fand sich schließlich in einer Ausnüchterungszelle wieder. So konnte es definitiv nicht weitergehen. Irgendwo da draußen gab es eine Frau, die ein Kind von ihm erwartete und er war nicht bereit, auf dieses Kind zu verzichten. Er beschloss sie zu suchen, um seine Rechte einzufordern. Nach einer geradezu mörderischen Entziehungskur und einem Jahr erfolgloser Suche gab er völlig frustriert auf. Er hatte keine Lust mehr einem Glück hinterher zu rennen, das augenscheinlich nicht für ihn bestimmt war. In ihm wuchs ein Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Er wollte ein Leben ohne Frauen, ohne Kinder, ohne Verlustängste und ohne den damit verbundenen Schmerz. Vielleicht würde er sich einen Hund anschaffen, um sich mit ihm ein Plätzchen irgendwo im Nirgendwo zu teilen.
Kommissar Zufall kam ihm zu Hilfe und ließ ihn einen vielversprechenden Artikel in einer renommierten Tageszeitung entdecken. Dort war die Rede von einer kleinen malerischen Insel vor der Atlantikküste, für die man händeringend einen neuen Leuchtturmwärter suchte. Geboten wurden ein kleines Gehalt sowie freie Kost und Logis. Mangelnde Sprachkenntnisse würden keinerlei Problem darstellen. Valentin machte sich sofort auf den Weg. Dieses Mal meinte das Schicksal es offensichtlich gut mit ihm, denn er bekam den Job tatsächlich. Als er die kleine Felseninsel betrat, durchfuhr ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Er war sich sicher, endlich angekommen zu sein.
Direkt neben dem Leuchtturm stand ein kleines Häuschen mit angrenzendem Garten. Dort fand er alles, was sein bescheidenes Herz begehrte. Eine gut ausgestattete Wohnküche, ein Schlafzimmer und ein winziges Bad mit Dusche. Bis auf ein altes Fernseh- und ein noch älteres Funkgerät gab es keinerlei Luxus, aber alles wirkte sehr sauber und gepflegt. Einmal in der Woche kam das Postschiff vorbei, um ihn mit allem Notwendigen zu versorgen. Und wenn er doch mal das Bedürfnis nach Gesellschaft verspüren sollte, konnte er, mit der am Steg befestigten Nussschale, ans Festland tuckern. Da die Pflege und Instandhaltung des Leuchtturms nicht übermäßig viel Zeit in Anspruch nehmen würde, durfte er das süße Nichtstun also in vollen Zügen genießen.
Nachdem er sich häuslich eingerichtet hatte, machte er sich daran die Insel zu erkunden. Aber bis auf ein Miniwäldchen, auf der gegenüberliegenden Seite, gab es nichts außer Felsen und Steine. Direkt neben dem Wäldchen entdeckte er einen Steinhaufen mit einem verwitterten Holzkreuz. Vermutlich hatte hier irgendein Vorgänger sein Haustier zur letzten Ruhe gebettet. Valentin setzte sich auf einen der größeren Felsen, blickte nachdenklich auf das im Sonnenlicht glitzernde Meer und fasste einen Entschluss. Ein Haustier kam für ihn nicht mehr infrage, er hatte keine Lust sich sein herrliches Paradies von irgendeinem Vieh vollscheißen zu lassen. Da blieb er doch lieber alleine. Kurz vor Sonnenuntergang machte er sich auf den Rückweg. Sein Magen verlangte lautstark nach etwas Essbarem und sein Kühlschrank war gut gefüllt. Er haute sich ein paar Eier in die Pfanne, schnitt etwas Weißbrot ab und genehmigte sich ein halbes Glas von dem roten Wein. Seit dem Entzug trank er keine harten Sachen mehr, nur hin und wieder mal ein Gläschen Wein. Erstaunlicherweise hatte er seinen Alkoholgenuss gut unter Kontrolle und so sollte es zukünftig auch bleiben. Er stellte das Fernsehgerät an und machte es sich auf dem Sofa bequem. Irgend so ein alter schwarz-weiß Schinken flimmerte über den Bildschirm. Er lag einfach so da und freute sich auf sein neues, unbeschwertes Leben. Und falls er doch mal einen Hauch von Langeweile verspüren sollte, konnte er sich ja auch spontan als Autor oder Maler versuchen. Einen Titel hatte er schon: Das Leben des Valentin F., Autobiografie eines großartigen Leuchtturmwärters. Er kicherte, „Das wird garantiert ein Bestseller.“ Da er das Gebrabbel im Fernsehen sowieso nicht verstand, beschloss er zu Bett zu gehen. Die Anreise hatte ihn schon ein wenig geschlaucht, außerdem wollte er seinem ersten offiziellen Arbeitstag fit und ausgeschlafen entgegentreten. Also tat er, was getan werden musste. Er schlug das Bett auf, legte sich hinein und fiel schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
***
Inzwischen kannte er jeden verfluchten Stein auf dieser Insel und die Einsamkeit setzte alles daran, ihn langsam aber sicher aufzufressen. Nach über sechs Jahren selbst auferlegter Verbannung beschloss er, seinem Martyrium ein Ende zu bereiten und sich endlich mal wieder unter Menschen zu begeben. Er ließ die frisch gestrichene Rosine zu Wasser und steuerte sehnsüchtig und erwartungsvoll das Festland an. Einen ganzen Tag lang genoss er das Treiben in der kleinen Hafenstadt. Er schaute sich ein paar Sehenswürdigkeiten an, besuchte den mit Touristen überschwemmten Wochenmarkt, aß in einer gemütlichen Taverne zu Mittag und kaufte ein paar nützliche Dinge ein. Auf dem Rückweg gab der Motor seinen Geist auf. Obwohl seine Arme vom anstrengenden Rudern furchtbar schmerzten, wollte er möglichst bald in das hübsche kleine Hafenstädtchen zurückkehren. Doch die ständig vorherrschende Lethargie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Höchstens einmal im halben Jahr schaffte er es, seiner Unlust Paroli zu bieten und seinen Plan auch tatsächlich in die Tat umzusetzen.
***
An diesem Donnerstag war es unangenehm schwül. Valentin schlenderte gelangweilt über den wie immer gut besuchten Marktplatz. Ihm fiel ein blondes Mädchen auf, welches sich suchend durch die Menschenmassen schob. Ihre verweinten Augen ließen vermuten, dass sie den Anschluss zu ihrer Familie verloren hatte. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er. Sie hielt kurz inne und Valentin verspürte ein großes Verlangen, sich ihrer anzunehmen. Möglicherweise verstand sie ihn ja gar nicht, aber das würde er schnell herausfinden. „Hey, hallo.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken quer durchs Gesicht, „Hallo.“
„Warum weinst du, … was ist denn passiert?“
„Ich habe meine Eltern und meine Geschwister verloren und kann sie nicht mehr wiederfinden.“
Er gab sich betont nachdenklich, „Moment mal, bist du nicht die kleine, … die kleine …“
„Maja, mein Name ist Maja.“
Er wusste nicht genau, welcher Teufel ihn gerade ritt, ließ ihn aber dennoch gewähren, „Man, da bin ich aber froh, dass ich dich gefunden habe. Deine Eltern suchen dich bereits.“
In ihren großen braunen Augen spiegelte sich eine gewaltige Portion Hoffnung wieder, „Weißt du, wo sie sind?“
„Aber sicher doch. Komm mit, ich bringe dich zu ihnen.“
Vertrauensvoll legte sie ihre kleine Hand in die Seine und die beiden machten sich auf den Weg zum Hafen. Dort angekommen wurde sie etwas stutzig und schaute sich suchend um, „Wo sind denn meine Eltern?“
Er deutete aufs Meer, „Wir müssen rüber zur Leuchtturminsel. Deine Eltern haben befürchtet, dass du ins Wasser gefallen sein könntest, und suchen dich deshalb mit einem Boot. Wenn du lieber hier auf sie warten willst, ist das auch in Ordnung, aber …“
„Nein, ich will nicht alleine bleiben, ich komme lieber mit.“
Frei von jeglichen Skrupeln nutzte Valentin ihre kindliche Naivität und ihre Verzweiflung für seine niederen Zwecke. Obwohl er eigentlich gar nicht wirklich wusste, was er mit ihr anfangen sollte, spielte er sein übles Spiel. Wenn sie erst mal auf der Insel waren, würde ihm schon irgendetwas einfallen. Zumindest musste er zukünftig nicht mehr unter dieser zerstörerischen Einsamkeit leiden und diese Tatsache rechtfertigte sein Handeln allemal.
Die Kleine wurde unruhig, „Wo ist denn das andere Boot?“
Valentin hob sie auf den Steg, „Das liegt auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, aber deine Eltern warten oben im Leuchtturm auf dich.“ Er befestigte die Haken des kleinen Krans, um die Rosine aus dem Wasser zu holen.
„Warum machst du das?“
„Weil ein Sturm aufzieht und ich nicht will, dass meiner Rosine etwas passiert.“
Die Antwort schien das Mädchen nicht wirklich zu interessieren, „Können wir jetzt endlich zum Leuchtturm gehen, ich möchte zu meiner Mama und meinem Papa.“
„Aber sicher können wir das“, er streckte ihr die Hand entgegen, „na komm, lass uns gehen.“
Sie schüttelte ihren Kopf, „Ich möchte lieber allein gehen.“
„Ganz wie du willst, aber pass auf, dass du nicht stolperst.“
Am Leuchtturm angekommen, öffnete er zunächst die schwere Tür und gleich anschließend eine hölzerne Klappe im Boden, „Hallo da unten, ihre Tochter ist da und wird jetzt zu ihnen runter kommen.“ Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln, „Na los, Kindchen, du wirst schon sehnsüchtig erwartet. Und sei bitte vorsichtig auf der Leiter.“
Die Kleine schaute skeptisch in die dunkle Öffnung, „Mama, Papa, seid ihr da unten?“ Als die erhoffte Antwort ausblieb, schossen ihr sofort die Tränen in die Augen, „Du hast mich angelogen, meine Eltern sind gar nicht hier.“
Er reagierte mit einem gleichgültigen Schulterzucken, „Stimmt genau, aber du wirst jetzt trotzdem da runterklettern.“
Sie schluchzte laut, „Nein, ich will da nicht runter, ich will zu meiner Mama. Bitte, … bitte lass mich zu meiner Mama.“
Valentin packte sie bei ihren langen Haaren, „Hör auf zu flennen, Mädchen, das hilft dir nämlich auch nicht weiter. Sieh zu, dass du da runter kommst, sonst werde ich nämlich ernsthaft böse.“
Bitterlich weinend ergab sie sich ihrem Schicksal und kletterte in die Dunkelheit. Valentin zog die Leiter hoch, schloss die Klappe und nickte zufrieden. Hier sollte sie erst einmal bleiben, bis sich der zwangsläufig entstehende Rummel um ihre Person etwas gelegt hatte. Außerdem würde sie die Dunkelhaft bestimmt auch ein wenig gefügiger machen. Mit einem unbeschreiblichen Kribbeln im Bauch ging er rüber ins Haus. Er musste sie noch mit ein paar Notwendigkeiten versorgen, schließlich wollte er länger etwas von ihr haben. Als Valentin alles erledigt hatte, tobte der Sturm bereits in vollem Ausmaß über die Insel. Heute würde garantiert niemand mehr hier vorbeikommen, er konnte sich also getrost zur Ruhe begeben.
***
Als er das Schnellboot in der Ferne erblickte, ging er runter zum Steg. Valentin kannte die beiden deutsch sprechenden Polizisten bereits, denn sie hatten ihn in der Anfangszeit mal besucht. „Nanu, was verschafft mir denn die Ehre ihres Besuchs?“
Die Hüter des Gesetzes verzogen keine Miene. „Guten Tag, Herr Fröhlich. Ich habe ein paar Fragen an sie, … können wir bitte ins Haus gehen? Mein Kollege schaut sich in der Zwischenzeit ein bisschen auf der Insel um.“
Valentin spielte den Überraschten, „Aber natürlich können wir ins Haus gehen, … ist, … ist irgendetwas passiert? Sie wirken so furchtbar ernst.“
Er blieb ihm die Antwort schuldig und stapfte los. Oben angekommen schaute er sich zunächst einmal um. Während er Bad und Schlafzimmer kontrollierte, versuchte Valentin es erneut, „Wollen sie mir nicht endlich verraten, worum es geht?“
„Wann waren sie das letzte Mal auf dem Festland, Herr Fröhlich?“
„Hm, … das ist schon ein Weilchen her. Genau kann ich es nicht sagen, ich schätze so vor vier oder fünf Monaten. Warum fragen sie mich danach?“
„Seit vorgestern wird ein zehnjähriges Mädchen aus Deutschland vermisst. Die Kleine wurde zuletzt auf dem Wochenmarkt in der Altstadt gesehen.“
„Mein Gott, das ist ja schrecklich. Hoffentlich ist sie nicht ertrunken.“
Der Polizist zog die Stirn kraus, „Wie kommen sie denn da drauf?“
„Na ja, der Markt ist schließlich nicht allzu weit vom Wasser entfernt und Kinder spielen doch bekanntlich gerne am Wasser.“
„Da wir bis jetzt noch nichts gefunden haben, gehen wir davon aus, dass das Kind noch lebt. Haben sie vielleicht ein verdächtiges Boot bemerkt oder war irgendjemand hier auf der Insel?“
„Nein, ich habe nichts und niemanden gesehen.“
„Falls hier doch noch jemand auftaucht oder sie etwas Ungewöhnliches sehen, dann geben sie bitte über Funk bescheid.“
„Das werde ich selbstverständlich tun.“
„Dann auf Wiedersehen und noch einen schönen Tag“, der groß gewachsene Mann kehrte ihm den Rücken und war gerade im Begriff zu gehen, doch plötzlich hielt er inne. „Dürfte ich wohl noch einen kurzen Blick in den Leuchtturm werfen?“
Genau das hatte Valentin befürchtet, „Äh, … ich weiß zwar nicht, was sie dort zu finden hoffen, aber bitte, tun sie sich keinen Zwang an. Sie glauben doch nicht etwa, dass ich dieses Mädchen entführt habe, … oder?“
Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, „Ich glaube gar nichts, ich möchte einfach nur einmal in diesen Leuchtturm schauen.“
„Ganz wie sie meinen“, Valentin ging voran und hielt ihm die Tür auf. Der Polizist trat ein und richtete seinen Blick zunächst nach oben. „Wenn sie mögen, dürfen sie gerne hinaufsteigen. Von da aus haben sie eine ausgezeichnete Aussicht auf die ganze Insel.“
„Das ist nicht nötig, vielen Dank.“ Erst jetzt bemerkte er die hölzerne Klappe am Boden, „Was ist dort unten?“
„Nur Kisten und ein paar überflüssige Möbel.“
Er kam nicht umhin sie zu öffnen, „Gibt es dort unten kein Licht?“
„Natürlich gibt es dort Licht“, Valentin betätigte einen der Schalter neben der Tür und der Polizist verschwand in der Tiefe. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er wieder nach oben. „Und, … ist alles zu ihrer Zufriedenheit?“
Er klopfte sich den Staub von der Uniform, „Alles ist bestens. Bitte entschuldigen sie die Störung, aber wir dürfen nun mal keine Möglichkeit außer Acht lassen. Nochmals einen schönen Tag, Herr Fröhlich, und nichts für ungut.“
Als das kleine Boot endlich ablegte, spürte er, wie die Spannung von ihm abfiel. Doch er wollte sichergehen, dass sie nicht wieder kehrt machten, deshalb schaute er ihnen noch ein ganzes Weilchen nach. Erst als das Boot auf Punktgröße geschrumpft war, ging er zum Grab des unbekannten Haustieres und räumte die Steine beiseite. Vor knapp einem halben Jahr hatte ihn die Langeweile dazu überredet, die Ruhestätte einmal genauer zu untersuchen. Damals stieß er auf eine lackierte Holzkiste und hoffte zunächst auf einen wertvollen Schatz. Bedauerlicherweise fand er lediglich die in Tücher eingewickelten Gebeine eines größeren Hundes, die er anschließend im Meer entsorgte. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, wozu er sie mal gebrauchen könnte, reinigte er das gute Stück, beließ es an Ort und Stelle und versetzte alles wieder in seinen Urzustand. So brauchte er jetzt nur noch ein paar Löcher in den Deckel zu bohren, das Kind ein wenig zu verschnüren und mit einem Knebel zu versehen. Er öffnete den Deckel, hob sie heraus und befreite sie vom Klebeband. Zwar wirkte sie ein bisschen mitgenommen, schien aber sonst in Ordnung zu sein. „Na los, ab zum Haus. Du kannst noch eine Kleinigkeit essen, danach ist es an der Zeit, dass du dich endlich nützlich machst.“
Sie stemmte ihre kleinen Hände in die Hüften und kniff die Augen zusammen, „Du bist ein ganz gemeiner, blöder Mann und ich hasse dich total.“
Valentin kam nicht umhin laut loszulachen, „Na und, … weißt du, wie egal mir das ist? Wenn man liebt, wird man eh nur beschissen. Und jetzt lauf zu, wir haben schließlich nicht ewig Zeit.“
Während sie sich über das Spiegelei hermachte, wollte Valentin ein paar Regeln aufstellen, „Hör zu, Mädchen, …“
Sie schnaufte vor Wut, „Ich heiße Maja, verstehst du, … Maajaa.“
„Es ist mir völlig wurscht, wie du heißt. Halt gefälligst die Klappe, iss dein verdammtes Ei und hör mir zu. Wenn du mich noch einmal unterbrichst oder mir nicht absolut gehorchst, dann sperre ich dich nämlich sofort wieder in diese Kiste. Hast du das verstanden?“
Die Kleine nickte eingeschüchtert, „Ja.“
„Also gut, du wirst dich ab sofort um das Haus und den Garten kümmern. Putzen, waschen, kochen, Unkraut jäten. Ich will, dass hier alles picobello ist. Wenn du etwas nicht kannst, dann werde ich dir eben zeigen, wie es geht. Kannst du schwimmen?“
Sie nickte erneut, „Ich habe erst kurz vor dem Urlaub meinen Freischwimmer gemacht.“
„Schön für dich. Falls du auf die glorreiche Idee kommen solltest, von der Insel abzuhauen, dann kann ich dir jetzt schon verraten, dass es nicht funktionieren wird. Das Wasser ist eiskalt, die Strömungen sind unberechenbar und außerdem gibt es hier unzählige Haie, deren Leibspeise kleine Kinder sind. Du würdest es also garantiert niemals bis ans Festland schaffen. Ist das soweit angekommen?“
Maja verdrehte die Augen, „Ich bin zwar ein Kind, aber deshalb noch lange nicht blöd.“
„Zügel dein Mundwerk, Mädchen, sonst liegst du schneller wieder in der Kiste, als du gucken kannst.“ Valentin lief kreuz und quer durch die Küche und überlegte. Hatte er möglicherweise irgendetwas vergessen? Das Funkgerät und die scharfen Messer waren unter Verschluss, alle Gefahrenquellen schienen beseitigt. Doch dann durchfuhr es ihn siedend heiß. In einer Schublade des Küchenschranks lag noch immer die Waffe, die ihm sein Vater unmittelbar vor seinem Auszug überreicht hatte. Valentin kramte sie heraus, öffnete das Säckchen und starrte auf das totbringende Stückchen Metall. Niemals würde er die Worte seines gefühlskalten Erzeugers vergessen: Ich habe hier noch ein Abschiedsgeschenk für dich. Falls du deinem jämmerlichen Dasein mal spontan ein Ende bereiten willst, sollte das auf gar keinen Fall an der Umsetzung scheitern. Nimm sie, dann kannst du dir zu gegebenem Anlass eine Kugel in den Kopf jagen. Zunächst hatte er sie wütend in die Mülltonne geschmissen, um sie zwei Stunden später dann doch wieder herauszufischen. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte sie niemals zu benutzen, wurde sie trotzdem zu einem ständigen Begleiter. Valentin packte sie zu den anderen Dingen, verschloss den Schrank und steckte den Schlüssel in seine Tasche.
***
In der ersten Zeit weinte das Mädchen sehr viel, war störrisch wie ein Esel und lehnte sich ständig gegen ihn auf. Valentin kam nicht umhin, sie wieder und wieder mit Einzelhaft in dieser Kiste zu bestrafen. Erst nach einem knappen halben Jahr schien sie sich endlich mit ihrem Schicksal arrangiert zu haben und Valentin konnte die Zügel etwas lockerer lassen. Sie durfte sich frei auf der Insel bewegen, nur wenn das Postschiff kam, musste sie nach wie vor in den Keller.
Maja hatte das Geschirr vom Abendessen fertig gespült und wischte den Tisch ab, „Ich möchte ein Kleid.“
Valentin schaute sie verdutzt an, „Ein Kleid? Wozu brauchst du denn ein Kleid?“
„Ich will nicht immer nur deine Sachen tragen, die sind mir viel zu groß. Ich bin ein Mädchen und Mädchen tragen nun mal Kleider.“
„Was glaubst du was passiert, wenn ich auf dem Festland ein Kleid bestelle? Ich bin doch nicht irre. Du brauchst kein Kleid und du bekommst auch kein Kleid. Basta.“
Doch sie ließ nicht locker, „Du könntest mich in die Kiste sperren und selber aufs Festland fahren, dann würde niemand etwas merken.“
„Nein.“
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm seine Hand, „Dann möchte ich wenigstens ein paar Bücher. Bitte, … Bücher sind doch nicht so schlimm.“
Er entzog ihr seine Hand, „Nicht anfassen, Mädchen, das kann ich überhaupt nicht leiden.“
„Und was ist jetzt mit meinen Büchern?“
„Ich werde es mir überlegen. Und nun gib endlich Ruhe, sonst bekommst nämlich gar nichts.“
***
Zwei Wochen später erwischte er sie, wie sie sich gerade am Schloss der Seilwinde zu schaffen machte. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er zum Haus, holte die Axt und schlug ein großes Loch in den Bauch der Rosine. Das Mädchen versuchte ihn weinend davon abzuhalten, „Bitte hör auf damit. Ich wollte doch nur ans Festland fahren, um mir ein Kleid zu kaufen. Dann wäre ich auch ganz bestimmt wieder zurückgekommen.“
Er lachte verbittert, „Wer’s glaubt, wird selig.“ Wütend packte er sie bei den Haaren und zog sie hinter sich her.“
Sie schrie, trat ihm vors Schienbein und warf ihm ein Bündel Scheine vor die Füße, „Du bist ein blöder Idiot, hier hast du dein verdammtes Geld wieder.“
Für einen kurzen Augenblick starrte er ungläubig auf das kleine Geldbündel, doch dann setzte er seinen Weg fort. Er durfte ihr diese Eigenmächtigkeit auf keinen Fall durchgehen lassen. Sie musste endlich kapieren, dass auf dieser Insel nur ein Gesetz herrschte, nämlich seins.
***
Acht Jahre waren seit der Entführung vergangen. Das kleine blonde Mädchen hatte sich zu einer hübschen jungen Frau entwickelt. Das Zusammenleben der beiden konnte man fast als normal bezeichnen. Sie aßen zusammen, sprachen und lachten sogar manchmal miteinander. Und das, obwohl Valentin nach wie vor absolute Strenge und Unnahbarkeit walten ließ. Noch bis vor wenigen Jahren, hatte sie ein paar Mal versucht, ihn in den Arm zu nehmen oder sich zu ihm ins Bett zu kuscheln. Doch für Valentin kam körperliche Nähe keinesfalls infrage, deshalb schob er sie rigoros von sich weg. Seine Worte waren dabei immer dieselben: Ich will nicht mit dir kuscheln, denn du bist nicht mein Kind.
In dieser schwülen Sommernacht versuchte sie es erneut. Sie kletterte nackt zu ihm ins Bett und drückte ihre weichen, gut ausgeprägten Rundungen fest an seinen verschwitzten Körper. Zunächst wollte er sie wegstoßen, doch dann erlag er ihren weiblichen Reizen und ließ es einfach geschehen. Nach dieser jahrelangen Abstinenz geriet er in einen regelrechten Rausch, erst in den frühen Morgenstunden ließ er erschöpft von ihr ab. Zärtlich strich sie mit ihren Fingern über das Kreuz auf seiner Brust, „Woher hast du das?“
Valentin brummte ungnädig, „Das geht dich nichts an.“
Sie legte den Kopf auf seine Schulter, „Ich liebe dich.“
Das war augenscheinlich zu viel für ihn. Er sprang auf und bedeckte seine Blöße mit dem vom Schweiß durchtränkten Laken, „Los raus, verschwinde aus meinem Bett! Nur weil wir einmal zusammen gevögelt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir jetzt einen auf Familie machen. Sieh zu, dass du Land gewinnst, Mädchen, ich will endlich schlafen.“
Sichtlich enttäuscht kam sie seiner Aufforderung nach, „Du bist und bleibst ein Arschloch, Valentin, und zwar ein riesengroßes. Du könntest mich wenigstens beim Vornamen nennen oder hast du schon vergessen, wie ich heiße? Dann sag ich es dir halt noch mal, … ich heiße Maja, hörst du, … Maajaa.“
Obwohl sie von da an regelmäßig miteinander schliefen, gelang es Valentin nicht, seinen gewaltigen Schatten zu überwinden. Im Gegenteil, außerhalb der geschlechtlichen Vereinigung ließ er bewusst extreme Kühle walten. Maja litt zwar unter diesem unmenschlichen Verhalten, kroch aber dennoch Nacht für Nacht in sein Bett. In diesen Momenten genoss sie schließlich seine volle Aufmerksamkeit, seine körperliche Nähe und die Zärtlichkeit seiner streichelnden Hände.
Natürlich kam es, wie es kommen musste. „Ich blute nicht mehr.“
Das volle Glas entglitt seiner Hand, „Wie meinst du das, … du blutest nicht mehr?“
„Na so, wie ich es sage. Ich blute eben nicht mehr.“
Ein Gefühl von Übelkeit machte sich langsam in ihm breit, „Wie lange, … ich meine, seit wann blutest du nicht mehr?“
Sie zuckte mit den Schultern, „Ich weiß nicht, anfangs habe ich nicht so drauf geachtet.“
„Wie lange?“
„Vielleicht so zwei oder drei Monate.“
Valentin hatte plötzlich das Gefühl, er müsse ersticken. Er brauchte dringend frische Luft und verließ fluchtartig das Haus. In seinem Innersten tobte ein Orkan, der ihn daran hinderte, einen klaren Gedanken zu fassen. Nach einer viertelstündigen rastlosen Rumrennerei setzte er sich schließlich auf einen Felsen. Er holte tief Luft und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Er wollte kein Kind mehr, da war er sich absolut sicher. Zudem hatte das Schicksal ihm all seine Kinder genommen und würde auch jetzt sicher einen Weg finden, es wieder zu tun. Oh nein, er war einfach zu alt für den ganzen Scheiß und nicht bereit noch irgendein Risiko einzugehen. Er rannte zurück ins Haus, „Das Kind muss weg.“
Ihr Blick wurde finster, „Bist du wahnsinnig, das Kind muss keinesfalls weg.“ Sie legte die Arme schützend auf ihren Bauch, „Ich werde dieses Kind bekommen, ob du nun willst oder nicht. Und wenn du es wagen solltest, irgendetwas dagegen zu unternehmen, dann werde ich dich mit den bloßen Händen erwürgen.“ Sie packte ihn am Kragen und starrte ihm fest in die Augen, „Hast du das verstanden, Valentin?“ Er wollte sich wegdrehen, doch sie ließ ihn nicht los, „Ich will wissen, ob du das verstanden hast?“
Er packte ihre Hände, „Ja, habe ich und jetzt lass mich endlich los.“
Sie lockerte den Griff, „Ich werde dich im Auge behalten, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.“
„Jetzt krieg dich wieder ein, ich hab’s ja kapiert. Krieg dein Kind und werd glücklich damit, aber von mir kannst du keine Hilfe erwarten.“
„Hey, es ist schließlich auch dein Kind.“
Valentin winkte ab, „Ich will es nicht, also lass mich damit gefälligst in Ruhe.“
***
Als Valentin drei Wochen später zum Steg kam, um die Vorräte abzuholen, erwartete ihn eine Überraschung. Zwischen zwei Paketen steckte ein offensichtlich handgeschriebener Brief ohne Absender. Neugierig öffnete er den weißen Umschlag, zog das gefaltete Blatt Papier heraus und begann zu lesen: Lieber Papa, ich habe erst nach dem Tod meines Stiefvaters vor einem halben Jahr erfahren, dass er gar nicht mein leiblicher Vater war. Auf mein Drängen hin hat meine Mutter mir schließlich von dir erzählt. Sie sagte, dass ihr damals unglaublich viel Spaß miteinander hattet, dass sie dich wirklich sehr geliebt hat und nur gegangen ist, weil du zu diesem Zeitpunkt nicht bereit warst, deinen Alkoholkonsum einzuschränken. Seit dem verspüre ich nur noch einen Wunsch, ich möchte dich unbedingt kennenlernen. Menschen können sich ändern und ich hoffe sehr, dass du genau das geschafft hast. Nach einigen leidvollen Erfahrungen meint es das Schicksal inzwischen wirklich gut mit mir. Ich habe einen wunderbaren Mann kennengelernt, den ich nächstes Jahr heiraten werde. Auf der Suche nach dir hat Thomas mich auch tatkräftig unterstützt. Wir haben ein wunderschönes Häuschen auf dem Lande gefunden und sind vor drei Wochen dort eingezogen. Wie uns der nette Mensch von der Behörde gesagt hat, lebst du immer noch alleine. Thomas schlug vor, dass wenn wir uns gut verstehen und die Chemie stimmt, du in unser Gästehaus ziehen könntest, um zukünftig in unserer Nähe zu sein. Du wirst nämlich ganz nebenbei auch bald Großvater. Wir können die vergangene Zeit zwar nicht zurückholen, aber wir könnten eine gemeinsame Zukunft erleben, wenn du es dir denn ebenso wünschst, wie ich. Du hast es mir wirklich nicht leicht gemacht, dich zu finden und ich war ziemlich überrascht, dass es dich ausgerechnet auf diese Insel im Atlantik verschlagen hat. Ich werde mit dem nächsten Postschiff rüberkommen und würde auch gerne ein paar Tage bleiben, wenn es dir recht ist. Ich möchte mir ein Bild davon machen, wie du die letzten Jahre gelebt hast. Ich freue mich wahnsinnig auf unser Zusammentreffen und hoffe so sehr, dass es dir genauso ergeht. Sei ganz lieb gegrüßt von deiner mit Sehnsucht erfüllten Tochter Isabell.
Vollkommen überwältigt vom Sinn dieser Zeilen, drückte er das Blatt Papier an seine Brust. Zum ersten Mal seit so vielen Jahren durchströmte ihn ein schier unbeschreibliches Glücksgefühl. Er durfte seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut, endlich kennenlernen und er könnte sein Enkelkind aufwachsen sehen. Sie wollte, dass er zu ihr zieht und seine noch verbleibenden Jahre mit ihr teilt. Er hätte niemals damit gerechnet, noch einmal soviel Glück erleben zu dürfen. Plötzlich verfinsterte sich sein Blick. Dunkle Wolken schoben sich langsam in seinen von Hochgefühlen überwältigten Geist. Wenn seine Tochter erfahren würde, was er getan hatte, würde sie ihm das garantiert niemals verzeihen. Innerhalb der nächsten Woche musste er eine tief greifende Entscheidung treffen. Wollte er sein restliches Leben mit dem Mädchen auf dieser inzwischen so verhassten Insel verbringen oder wollte er doch lieber im Kreise seiner echten Familie würdevoll altern? Sieben Tage, genau sieben Tage würden ihm bleiben, um über dieses Problem nachzudenken. Sieben Tage, … und ihm graute jetzt schon vor der Entscheidung.
Er las diesen Brief, den er unter seinem Kopfkissen aufbewahrte, mindestens zwei Mal am Tag. Die Zeit verging wie im Fluge und der ständig größer werdende Druck trieb ihn fast an den Rand der Verzweiflung. Er saß auf dem Steg und blickte sehnsüchtig Richtung Festland. Morgen würde das Postschiff kommen, er musste handeln und das sofort. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg zum Haus. Für die kommende Nacht hatten sie einen heftigen Sturm angekündigt, doch in seinem Innersten tobte dieser schon jetzt. Kurz bevor er das Haus betrat, zog er seinen Gürtel aus der Hose. Mit zitternden Händen öffnete er die Tür und trat ein. Sie saß am Küchentisch und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Wortlos legte er ihr die lederne Schlinge um den Hals und zog sie zu. Sie wehrte sich nicht, ließ es einfach geschehen. Ein Blatt Papier schwebte zu Boden, dann war alles vorbei. Ungläubig starrte er auf den Brief von seiner Tochter. Das Mädchen schien es die ganze Zeit über gewusst zu haben. Vermutlich ahnte sie bereits, was geschehen würde. Ihr war klar, dass sie keine andere Chance hatte, als sich ihrem Schicksal zu ergeben. Sie hatte ihn bereits erwartet und sich deshalb auch nicht gewehrt. Er fiel auf die Knie, legte den Kopf in ihren Schoß und weinte, „Verzeiht mir, … bitte verzeiht mir.“
Als er ihren leblosen Körper hinaustrug, frischte der Wind auf. Er zerrte an ihren Kleidern, als wolle er sie ihm entreißen. Genau in diesem Moment ertönte das Signalhorn des nahenden Postschiffs. In all den vielen Jahren war es nur drei Mal vorgekommen, dass der Fahrplan aufgrund eines Sturmes nicht eingehalten werden konnte und ausgerechnet jetzt kam es zu früh. Ihm blieb keine Zeit mehr das Mädchen zu begraben, deshalb trug er es zurück ins Haus. Sobald er seine Tochter in Empfang genommen hatte, würde er sie um etwas Geduld bitten, damit er seine Aufräumarbeiten noch schnell zu Ende bringen konnte.
Mit klopfendem Herzen lief er zum Steg. Das Boot hatte bereits angelegt. Der Kapitän half seinem einzigen Passagier beim Aussteigen, winkte Valentin zu und kappte die Leinen. Die Vorboten des angekündigten Orkans trieben ihn sichtlich zur Eile an. Da stand sie nun, eingehüllt in einen dunkelroten Mantel mit Kapuze und einem kleinen Koffer in der Hand. Als er auf sie zu ging, fühlte er sich wie ein kleiner Junge kurz vor der weihnachtlichen Bescherung. Gleich würde er sein eigen Fleisch und Blut in die Arme schließen und garantiert nie wieder loslassen. Sie entledigte sich des Koffers, zog die Kapuze vom Kopf und strahlte ihn an, „Papa, endlich. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich auf diesen Augenblick gefreut habe.“
Valentin sagte kein einziges Wort und schaute ihr ungläubig ins Gesicht.
Sie stutzte, „Was ist los, Papa? Freust du dich denn gar nicht mich zu sehen?“
Er machte wortlos auf dem Absatz kehrt und ließ sie einfach stehen.
Isabell war völlig perplex und verstand die Welt nicht mehr. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, da ließ sie ein lauter Knall zusammenzucken. Sie erstarrte für einen winzigen Moment, doch dann rannte sie los. Sie fand den leblosen Körper ihres Vaters auf dem Boden direkt neben dem Küchenschrank. Er hatte sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Aber warum, … warum hatte er das getan? Sie sank zu Boden und nahm seine Hand, „Warum, Papa, … warum jetzt, … ich würde so gerne verstehen …“ Ihr Blick fiel auf die weit geöffnete Schlafzimmertür und auf das Bett ihres Vaters. Sie erhob sich wie in Trance, setzte langsam, nahezu mechanisch, einen Schritt vor den anderen und versuchte krampfhaft die dargebotene Situation zu erfassen. Tausende und Abertausende Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Doch dann wurden all die verschwommenen Bilder plötzlich ganz klar, die schemenhaften Umrisse nahmen Gestalt an und der dichte Nebel, der sie all die Jahre umgeben hatte, löste sich auf. Während sie behutsam und zärtlich das blasse Gesicht ihrer Zwillingsschwester streichelte, weinte sie bittere Tränen, „Maja, … meine Maja. Endlich habe ich dich gefunden, … ich hab dich doch so sehr vermisst.“