Читать книгу Willi Soter und die Wächter des Amuletts - Sylvia Helene Locke - Страница 1

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Über dieses Buch

Willi ist ein ganz normaler Junge. Müsste er nicht die häufigen Sticheleien in der Schule ertragen, hätte er mit seinem besten Freund Georg ein beinahe sorgenfreies Leben. Doch mit einem Schlag ändert sich alles. Mit dem Moment, als ein Zwerg in seinem Zimmer steht und ihn in die Zwergenwelt nach Stella Domus mitnehmen will. Dort soll er gegen den Zauberer Hobjark kämpfen, der die Macht über das gesamte Universum erlangen will. Willis unbekümmerte Teenager-Welt gerät völlig aus den Fugen. Mal abgesehen von dem Gefühlschaos, welches Therese bei ihm hinterlassen hat, führt er nun ein kräftezehrendes Doppelleben. Einerseits wird er von gefräßigen Bestien und vermummten Gestalten gejagt, andererseits soll er schön brav seine Hausaufgaben erledigen. Das Amulett, welches er einst von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, scheint zu alldem der Schlüssel zu sein. Der Schlüssel, den noch ganz andere, finstere Mächte begehren – die Wächter des Amuletts.


Über die Autorin

Sylvia Helene Locke ist ausgebildete Bankbetriebswirtin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Oberlausitz und schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte und Geschichten. Die Idee, diesen Fantasy-Roman zu veröffentlichen, entstand während ihres Schriftsteller-Studiums an der Cornelia-Goethe-Akademie Frankfurt.

Eine neue Welt

Willi drehte das goldene Amulett nun schon das fünfte Mal vor seinen blauen Augen und tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Was sollte er damit anfangen? Großvater Alfred hatte es ihm kurz vor seinem Tod geschenkt. In seiner Großzügigkeit hatte er Willi schon so manche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Sein Zimmer war inzwischen vollgestopft mit unzähligen Spielsachen und Büchern, die ihm sein Großvater im Laufe der Zeit geschenkt hatte. Willis Eltern, Richard und Ella Soter, gaben dagegen nicht viel Geld für Spielsachen aus. Sie sahen es lieber, wenn ihr Sohn ein Buch las, als das er mit der elektrischen Eisenbahn spielte, die auch von seinem Großvater war.

Überhaupt hatte er mit ihm viel Zeit verbracht. Immer wieder blätterte er in den alten Fotoalben und fragte Alfred Löcher in den Bauch. Willi lag dann oft auf dem alten Sofa und hörte sich seine Geschichten an, die er, wie er beteuerte, alle tatsächlich auch erlebt hatte. Sein Großvater sagte damals, dass er das Amulett seinerseits von seinem Großvater bekommen hatte und der wiederum von seinem. Ein echtes Familienerbstück also, dessen wahres Alter man nicht mehr so recht rekonstruieren konnte.

„Es kann dein Leben verändern, pass gut darauf auf!“, sagte sein Großvater damals.

Willi verstand nicht so recht, was er damit meinte, spürte aber dessen Einzigartigkeit, griff wie ferngesteuert danach und steckte es in seine Tasche.

Für längere Zeit hatte er nun schon nicht mehr an das letzte Geschenk seines Großvaters gedacht. Zu groß war die Trauer über dessen plötzlichen Tod. Immer noch nachgrübelnd legte er es zurück in das Schrankfach und kroch schlaftrunken aus seinem Bett.

Heute Morgen schlüpfte er, so gut es ging, in seine Hausschuhe, die mittlerweile viel zu klein waren. Willi war im letzten Jahr regelrecht in die Länge geschossen und seine Füße hatten dabei keine Ausnahme gemacht. Er wirkte nun noch schlaksiger. Seine schmalen Schultern lenkten ein wenig von seinem etwas kantig geratenen Gesicht ab. Besonders auffällig war sein Grübchen auf dem Kinn, was Willi von seinem Vater geerbt hatte.

Nachdem er seine widerspenstigen Füße in den Schuhen verstaut hatte, ging er die knarrende Treppe nach unten. Vom Duft aufgebackener Brötchen beflügelt, übersprang er gleich mehrere Stufen auf einmal und stand putzmunter vor dem Frühstückstisch. Seine Mutter wuselte aufgeregt in der Küche umher und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

„Ich muss gleich weg. Dein Pausenbrot liegt auf dem Küchentisch.“

Das letzte Wort hörte Willi nur noch leise, schon war seine Mutter aus dem Haus. Er schlürfte den heißen Kakao, aß seine Semmel und trödelte noch ein wenig vor sich hin. Seine Schildkröte Trude schaute ihn unzufrieden an, da sie wusste, dass sie nun wieder für die nächsten Stunden allein sein musste. So gemächlich, wie Trude aus ihrem Häuschen kroch, wusch er sich und schlüpfte in seine Sachen. Zum Abschied gab er ihr noch ein Stückchen Apfel, welches sie versöhnlich zu knabbern begann, dann machte er sich auf den Weg zur Schule.

Georg, sein bester Freund, wartete bestimmt schon an der Straßenkreuzung auf ihn. Meist sah ihn Willi schon von Weitem leuchten. Seine Mutter war Schneiderin und hatte einen sehr eigenwilligen Geschmack. Die schrillsten und buntesten Klamotten waren gerade gut genug für Georg. Ganz zu schweigen von den ausgefallenen Schnittmustern mit Seltenheitswert, die Georg nicht nur bewundernde Blicke bescherten.

Verständlicherweise war Georg davon nicht begeistert. Manchmal überlegte er ernsthaft, die Schule zu schwänzen, um nicht ausgelacht zu werden. Doch Willi hatte ihn bislang immer umstimmen können.

Georg war einen Kopf größer als Willi und hatte schwarze Haare, die ihm nicht nur ins Gesicht hingen. Fransig und zottelig reichten sie bis in seinen Nacken. Sein hübsches Gesicht und seine schwarze Hornbrille lenkten aber von seinem ungewöhnlichen Haarschnitt ab. Willi winkte ihm zu und musste sich das Lachen verkneifen. Auch heute hatte dessen Mutter ihrer Phantasie wieder freien Lauf gelassen, dabei aber den aktuellen, gemeinen Modegeschmack um mindestens 80 Kilometer verfehlt.

„Ich wette, bei euch gab’s heute früh ein paar Meinungsverschiedenheiten wegen deiner Garderobe, oder?“, stichelte Willi, als er ihn erreicht hatte.

„Mach dich nur lustig über mein Styling.“

Georg bedachte ihn mit einem halb genervten, halb zornigen Blick.

„Und wer hat gewonnen?“, kicherte Willi und zog an den bauschigen Ärmeln der bunt karierten Jacke.

„Wer schon? Ich natürlich. Die Jacke habe ich mir selbst ausgesucht. Ist zurzeit echt angesagt, dieser Paradiesvogel-Look“, brummte Georg und verdrehte die Augen.

„Ach komm, lass dich nicht runterziehen. Für mich bist und bleibst du mein bestgekleideter Freund auf der Welt.“

„Huh, ich bin ja auch dein einziger Freund, oder? Klar, sicher bin ich das“, sagte Georg schon wieder gut gelaunt.

Sie schlenderten gemächlich zur Schule und tauschten dabei die neuesten Fußballsticker aus.

Als er an diesem Nachmittag nach Hause kam, war Willi schlecht gelaunt und aufgekratzt. Grund waren natürlich nicht seine doch ganz passablen Zensuren, und auch der schwere Rucksack, den er kaum tragen konnte, war nicht schuld daran, sondern wegen Babbel steckte er in einem Stimmungstief. Babbel war ein dicker, großer, graublonder Schwachkopf aus der Parallelklasse, der es fertiggebracht hatte, noch drei weitere Hohlköpfe um sich zu scharen. Diese vier Chaoten ließen ungern einen geeigneten Moment aus, um Willi zu ärgern. Heute hatten sie ihn in der großen Pause in seinen Spind sperren wollen. Nur mit viel Gegenwehr und ein paar blauen Flecken mehr konnte er sich befreien. Leider hatte seine Hose nun einen klaffenden Dreiangel, weshalb seine Mutter bestimmt wieder nachfragen und Ärger machen würde.

Da auch sein bester Freund Georg ihn nicht aufheitern konnte, beschloss er, nach der letzten Stunde gleich nach Hause zu gehen. Erschöpft und sauertöpfisch schmiss er sich auf sein Bett. Da er eher zierlich war, konnte er so richtig Anlauf nehmen, ohne das Möbelstück zu beschädigen, obwohl es ihm heute egal gewesen wäre, wenn die Bettpfosten zerborsten wären. Direkt neben seinem Bett stand sein Nachttischschrank, dem er selten Beachtung schenkte – abgesehen davon, dass er seinen Wecker und seine Nachttischlampe beheimatete. Heute aber bahnte sich durch seine Ritzen plötzlich ein Lichtschein.

Willi dachte zuerst, seine Sinne täuschten ihn. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich näher zu seinem Schrank hin. Als er mit dem Kopf kurz vor der Schublade war, riss er das Fach auf. Erschrocken fiel er rücklings auf sein Bett zurück. Was er erblickt hatte, ließ ihn derart erstaunen, dass er eine Weile mit offenem Mund in das noch aufgezogene Fach starrte. Es war das Amulett seines Großvaters, das dort so leuchtete.

Plötzlich hörte er ein eigenartiges Flüstern. Willi traute sich nicht, es in die Hand zu nehmen, geschweige denn es an sein Ohr zu halten. Er wollte das Fach schon mit dem Fuß zuschieben und sich einreden, dass ihm seine Nerven einen üblen Streich gespielt hatten, als er eine kratzige Stimme aus dem Off vernahm.

„Nimm es nur in die Hand, dir passiert schon nichts.“

Willi drehte sich so schnell in die Richtung, aus der die Stimme kam, dass sein Sportlehrer, Herr Specht, stolz auf seine Reaktionsfähigkeit gewesen wäre. Da er so viel Schwung genommen hatte, landete er nach unzähligen Armschwingern auf dem Teppich. Sein Herz raste vor Schreck und ihm wurde heiß und kalt zugleich. In diesem Moment ahnte er noch nicht, dass er genau die richtige Gesprächshöhe erreicht hatte. Willi starrte in die Ecke seines Zimmers und erblickte ein noch nie zuvor gesehenes, taumelndes Geschöpf, welches etwa einen Meter groß war.

Der auffällig große, spitze, golden glänzende Hut war tief in dessen Gesicht gezogen, sodass Willi die Vermutung hatte, der Hut hielte sich nur auf dem Kopf, weil er auf der krummen Nase aufsaß. Seine Ohren waren sehr groß, eng anliegend und nach hinten spitz zulaufend. Die Augen konnte er nicht erkennen, jedoch blitzten Zähne hervor. Die merkwürdige Gestalt lachte und zappelte dabei wie Wackelpudding. Wahrscheinlich war seine Pirouette so gut gewesen, dass nicht nur Herr Specht, sondern auch viele Zirkusartisten vor Erstaunen applaudiert hätten.

„Bist du fertig oder kommt noch der doppelte Rittberger?“

Das eigenartige Wesen hielt sich lachend den Bauch. Da Willi aber immer noch nichts sagen konnte, verstummte es nun auch und sah ihn bedächtig an.

„Wer bist du? Was machst du hier? Wie …“, stotterte Willi nach einer scheinbaren Ewigkeit.

Das zwergenhafte Geschöpf nahm seinen Finger vor seinen, mit einem grauen, kurzen Bart umrandeten Mund und zischte bedeutungsvoll.

„Ich bin Macvol und sehr froh, dich endlich gefunden zu haben.“

„Gefunden? Mich?“

„Ja, du bist doch der Erbe des Amuletts. Somit gehörst du zu unserer Gemeinschaft und es wird Zeit, dass du uns kennenlernst.“

Noch bevor Macvol weitersprechen konnte, sprang Willi auf und rieb sich seine Augen mehrmals, als ob er todmüde wäre. Nachdem er seine Hände das dritte Mal von seinen Augen entfernt hatte, begriff er langsam, dass es keine Halluzination oder ein Traum war. Rücklings nach seinem Hocker greifend, setzte er sich mit einem tiefen Seufzer hin.

„Ich habe noch nie etwas Seltsameres gesehen. Was bist du?“

„Ich bin ein Zwerg, siehst du das nicht?“

Nach einer längeren Pause holte er tief Luft und krächzte weiter. „Unsere Welt wird bedroht, wir verstecken uns alle vor einem mächtigen Zauberer und nur du kannst uns retten.“

„Ich bin eure Rettung? Wie soll ich denn das verstehen?“

Willi dachte, das sollte ein Witz sein, aber das Wesen stand ja tatsächlich noch immer taumelnd in seinem Zimmer. Wie konnte er ein Retter sein? Er war gerade einmal 15 Jahre alt und von nicht besonders kräftiger Statur. Selbst im Sportunterricht hatte er nur eine Drei.

„Du fragst dich bestimmt, warum wir gerade auf deine Hilfe angewiesen sind.“

Willi nickte und war gespannt wie ein Flitzebogen.

„Das ist ganz einfach“, sprudelte es aus dem Zwerg heraus. „Du bist der Erbe des Amuletts.“

„Dann habe ich es meinem Großvater Alfred zu verdanken, dass ich ein Retter für … ein Retter für Zwerge bin?“ und die Verwunderung stand Willi buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

„In gewisser Weise ja, denn er hat dir das Amulett geschenkt.“

„Schluss, aufhören!“, schrie Willi, sprang auf und rannte in Richtung Tür.

Als er jedoch die Tür passierte, stand er wieder in seinem Zimmer. Das ganze Spiel wiederholte sich noch zweimal, dann verstand er, dass er aus der Nummer nicht so schnell wieder herauskam, wie er eigentlich wollte, und ein Wegrennen zwecklos war.

Mit ruhiger, immer noch kratziger Stimme sprach Macvol weiter.

„Ich denke, es ist das Beste, wenn ich dich erst einmal mitnehme und dir unsere Welt zeige. Natürlich wirst du später auch meine Freunde kennenlernen. Sie freuen sich schon, wieder einmal einem Menschen zu begegnen.“

„Ah, natürlich, ich packe nur meinen Koffer“, spöttelte Willi und ging entnervt zum Schrank.

„Nicht nötig, alles, was du brauchst, bekommst du bei uns.“

Macvol zupfte an seinem roten Leibchen und faltete seine Hände vor seinem Bauch.

Willi rieb sich seine schweißnassen Hände und klatschte sie zusammen, als ob es losgehen könne. Seine Knie zitterten und er konnte keinen Satz mehr formulieren, obwohl er sonst nicht auf den Mund gefallen war. Er griff nach einem Paar Socken, als ob es ihm wichtig war, genau dieses mitzunehmen, schielte zu Macvol rüber und hoffte, der Zwerg würde so schnell wieder verschwinden, wie er gekommen war. Doch sein Wunsch ging nicht in Erfüllung, im Gegenteil, er kam auf ihn zu und brabbelte unverständliche Worte.

„Bist du bereit?“, erkundigte sich Macvol dann bei Willi.

„Bereit für waa …?“

Noch ehe er es aussprechen konnte, hob Willi vom Erdboden ab. Er hörte ein Rauschen und Zischen, dann wurde sein Körper einfach nur hin und her geschleudert. Eine Achterbahnfahrt war ein Streichelzoo gegen das, was sich in diesem Moment abspielte. Er sah regenbogenfarbene Luftwirbel um sich herum, dann kniff er seine Augen zu und hoffte, dass es bald vorbei wäre. Unerwartet sanft landeten sie Sekunden später auf ihren Füßen und Willi öffnete seine Augen. Sie standen auf einer blumenbedeckten Wiese, auf der noch nie gesehene Geschöpfe grasten.

„Beeindruckt?“, fragte Macvol und stupste Willi, der gerade noch dabei war, sein Gleichgewicht wieder zu finden, in die Seite.

„Beeindruckt? So etwas passiert mir jeden Tag.“

Willi konnte nun wieder geradestehen und sah sich verblüfft um.

In einiger Entfernung sah er Rauchschwaden, die aus krummen Essen dampften und kegelförmige, bunte Häuser mit runden Fenstern.

„Das ist deine Welt?!“, platze es aus Willi heraus.

„Ja. Allerdings wohnen viele bereits unter der Erde. Nur die zähsten leben noch oc va lerd.“

„Häh, oc va wie?“

„Oh, entschuldige, mir ist meine Muttersprache rausgerutscht, ich meinte „über der Erde“.“

Macvol blickte mit einem Mal traurig drein und Willi sah, wie sich seine Hutspitze nach unten knickte.

„Ihr lebt auch unter der Erde?“, fragte Willi entgeistert.

„Warte nur ab, du erfährst bald jede Menge über uns“, sagte Macvol.

Überwältigt von allem und völlig ahnungslos, wie er denn überhaupt jemanden retten sollte, starrte Willi zum Ende der Wiese hin. Beinahe ließ ihn diese scheinbar trügerische Idylle mit ihren Gärten und bunten Häusern alles andere vergessen.

„Meine Eltern werden mich bestimmt schon vermissen“, katapultierte sich Willi ins Hier und Jetzt zurück und rief es Macvol, der sich bereits in Richtung der Hütten in Bewegung gesetzt hatte, hinterher.

„Keine Sorge, es kann nichts passieren. Ich habe eine Hülse für dich organisiert.“

Macvol drehte sich zu Willi um, der wie angewurzelt stehengeblieben war.

„Du hast eine Hülse organisiert? Und was genau hat das jetzt mit mir und meinen Eltern zu tun?“, prustete Willi heraus.

„Die Hülse vertritt dich, ohne dass jemand bemerken wird, dass du nicht da bist“, sprach Macvol in beruhigendem Tonfall. „Allerdings kann eine Hülse nicht sprechen. Aber sie kann sich wehren! Ich denke da zum Beispiel nur an deine Pausenaktivitäten in der Schule. Sie könnte also für dich auch sehr nützlich sein. Eine Hand wäscht schließlich die andere“, lachte der Zwerg und hüpfte ungeduldig von einem Bein zum anderen.

„Eine Hülse? Dann ist ja alles in bester Ordnung! Allerdings reden meine Eltern nur allzu gern mit mir. Was mache ich, wenn meine Mutter wissen will, wie mein Tag war? Sie fragt mich leidenschaftlich gern nach all meinen Erlebnissen – und zwar täglich!“

Willi war außer sich.

„Du machst gar nichts, du bist ja hier“, entgegnete Macvol lachend. „Deine Hülse wird sich schon etwas einfallen lassen, bleib mal locker.“

Das sagte ja genau der Richtige, dachte Willi. Der ständig taumelnde Zwerg war für seine Begriffe eine Spur zu locker. Willi hoffte immer noch, er würde bald aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Traum war. Da das Aufwachen aber auf sich warten ließ, lief er dem Zwerg hinterher. Je näher sie der Zwergenortschaft kamen, desto freudiger hüpfte Macvol über die Gräser. Willi verspürte zunehmende Wärme auf seiner Brust und griff instinktiv dorthin. Zu seiner Verwunderung hielt er das Amulett in seiner Hand. Er trug es an einer Kette um den Hals, war jedoch irritiert, da er sich nicht erinnern konnte, es je angelegt zu haben. Während Willi noch grübelte, gelangten sie zu einer Pforte. Macvol, der vorangeschritten war, blieb stehen und äußerte ihm gegenüber eine Geste, die wahrscheinlich „Stehen bleiben“ bedeuten sollte. Jedenfalls blieb Willi auf der Stelle stehen und blickte gespannt zum Tor.

Macvol krächzte aufgeregt und wedelte heftig mit seinen kurzen Armen. Willi erkannte, dass er sich mit einem grimmig drein schauenden Zwerg unterhielt. Hin und wieder blickte dieser skeptisch zu Willi hinüber und verzog dabei sein Gesicht so sehr, dass sich seine Hutspitze mit nach unten bog. Nach ein paar Minuten winkte ihm Macvol zu und lachte ihn aufmunternd an. Langsam setzte sich Willi in Bewegung. Er fühlte, dass der Eingangszwerg jeden seiner Schritte genau beobachtete. Als sie beide das Tor passierten, fragte Willi Macvol, was sie eben so eifrig besprochen hatten.

„Alle Zwerge sind in höchster Alarmbereitschaft. Pit, der Zwerg, mit dem ich eben gesprochen habe, vermutete, du könntest ein Agior sein.“

Macvol sprach in ruhigem, beinahe gelangweiltem Ton und lächelte verschmitzt vor sich hin.

„Ein AGIRO, ein AG …, was sollte ich sein?“, keuchte Willi hinter dem Zwerg.

„Ein A-g-i-o-r“, sagte der Zwerg fast jeden Buchstaben einzeln aussprechend. „Agiore sind die Spitzel des - “

Macvol hielt inne und blickte auf einmal wieder sehr traurig zu Willi hinauf. Willi fiel auf, dass dessen Hut schon viel besser passte und er erschrak ein wenig, weil er zum ersten Mal die Augen des Zwergs sah. Sie waren sehr klein und wirkten überaus klug. In ihnen spiegelte sich der Himmel, sodass Willi die Farbe nicht ausmachen konnte.

Macvol setzte erneut an und flüsterte beinahe:

„Agiore sind die Spitzel des mächtigen Zauberers Hobjark, der uns alle töten will. Sie können jede Gestalt annehmen und sind deshalb sehr schwer zu erkennen. Aber nun bist du da und alles wird gut“, munterte sich der Zwerg selbst auf.

Willi begriff noch immer nicht, welche Rolle er spielen sollte und dachte, dass Macvol sich wohl falsche Hoffnungen machte. Er wollte ihn jedoch nicht enttäuschen, weshalb er eine Weile schwieg. Sein Blick schweifte über die farbenfrohe Malerei an den Häusern und über die Gärten, in denen Blumen in allen Farben blühten und den holprigen Weg säumten. Und vor jedem Haus duftete es anders, mal nach Veilchen, mal nach Lavendel und dann nach Efeu.

„Du musst mir noch einiges erklären. Ich verstehe im Moment nur Bahnhof“, sprengte Willi die Stille zwischen beiden, während sie auf eine runde, fast baufällige Hütte mit einer überdimensional großen, ovalen Tür zugingen.

Willi hätte jede andere Hütte gern einmal von innen gesehen. Warum steuerten sie gerade auf diese zu? Sie war ockerfarben und hatte nichts Einladendes an sich. Über der riesigen Tür hingen tote Spinnen und getrocknete Kräuter, dessen Duft Willi unweigerlich einatmen musste. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass aus dem krummen Schornstein Rauch aufstieg, es also wenigstens warm sein würde.

„Keine Sorge Willi, du wirst auf viele deiner Fragen eine Antwort bekommen. Hab noch ein wenig Geduld. Jetzt sollten wir uns wirklich beeilen, pass aber auf, wo du hintrittst. Die kleinen Weckel sind unsere letzten Glücksbringer. Man kann sie leicht übersehen.“

Macvol sah in Willis fragendes Gesicht, setzte jedoch unverdrossen seinen federnden Gang Richtung Hütte fort. Vor der alten Kate angelangt, sprang die riesige Tür so schnell und leicht auf, dass der entstandene Luftzug Willis Haare zu Berge stehen ließ.

„Warte bitte kurz, ich will uns nur anmelden“, flüsterte Macvol Willi zu, der gerade eingetreten war.

Er ging zum Ende des langen Flurs, bis Willi ihn nicht mehr sah.

Willi wartete ihm Foyer. Als er sich umsah, blieb ihm der Mund vor Erstaunen offen stehen. Der Eindruck von außen hatte sich innen ins blanke Gegenteil verwandelt. Er stand auf einem wunderschönen orientalischen Teppich, auf dem er auch gern gesessen hätte, so weich und gemütlich sah er aus. An den Wänden hingen beeindruckende Bilder von Zwergen und mysteriösen Geschöpfen, Kerzenleuchter und silberne Teller. Willi bemerkte erst jetzt, dass es angenehm nach Orange und Zimt roch.

Von drinnen wirkte die Hütte sehr großzügig und hell. Willi schätzte sogar, dass hier mehr Platz war, als in seinem Elternhaus. Als er sich der Wand ein Stück näherte, entdeckte er winzige Wesen, die die Bilder malten. Er wich vor Schreck kurz zurück, betrachtete sie sich dann aber interessiert. Die kleinen Kreaturen lachten und schienen sehr zufrieden zu sein. Irgendwie sahen sie freundlich aus, dafür aber skurril. Sie hatten dicke Bäuche, waren beinahe rund und hatten dünne Ärmchen und Beinchen. Auf den sehr kleinen Köpfen saßen Hüte, die sich wie kleine, windige Würmer bewegten. Sie waren auffällig und unauffällig zugleich.

Willi erkannte auch plötzlich warum: Ihre Körper waren grau, komplett grau. Selbst ihre Augen, die Willi beinahe nur mit einer Lupe hätte wahrnehmen können. Mit nichts als einem Pinsel bewaffnet, zeichneten sie die schönsten Gemälde. Die Farbe schien aus den Pinseln selbst herauszutreten, denn Willi konnte keine Farbeimer oder -paletten sehen. Das sind bestimmt die Weckel, staunte Willi und bemerkte dabei nicht, dass sich ihm ein unbekannter Zwerg näherte.

„Ich bin Luhvs. Los! Mitkommen, schnell!“, ertönte eine blecherne Stimme.

Der Zwerg starrte Willi an, als ob er ein Gefangener war und nicht aus den Augen gelassen werden durfte. Er war kleiner als Macvol und hatte ein unfreundliches, zerfurchtes Gesicht. Sein Hut war graugrün und schon an manchen Stellen löchrig.

„Na, wenn du mich so nett bittest, werde ich dir mal hinterher traben“, polterte Willi gereizt.

Der taumelnde, unfreundliche Gesell lief trotz seiner kurzen Beine sehr schnell, sodass Willi sich anstrengen musste, ihm auf den Fersen zu bleiben. Sie hetzten unzählige Gänge entlang und bogen mal nach links und mal nach rechts ab. Gern hätte er sich genauer umgeschaut, doch dafür schien keine Zeit zu sein.

Doch dann, wie aus heiterem Himmel blieb der alte Zwerg auf einmal stehen. Willi wunderte sich über den abrupten Halt und was er dann sah, verschlug ihm den Atem. Der zerzauste Zwerg stellte sich rücklings an eine Wand, brabbelte unverständliche Worte, zitterte, verdrehte die Augen und ging immer mehr in sie über. Es knirschte und krachte, als ob Steine zerbrechen und Wände verrückt würden. Nach und nach verschwand der Zwerg und es zeichnete sich eine alte, kleine Tür ab, die mehr und mehr hervortrat. Wo gerade eben noch der alte Zwerg gestanden hatte, befand sich nun eine Tür, die urplötzlich aufsprang.

„Willi komm doch bitte herein und steh nicht so lange im Gang herum“, erklang eine bekannte Stimme aus dem dunklen, eben zutage getretenen Raum.

Willi sah sich um. Er war mutterseelenallein. Ihm schien es so, als ob sich die Flure langsam auflösten und es immer dunkler wurde. Dieser gruselige Anblick gab ihm Mut, in das Zimmer zu treten.

„Darf ich vorstellen, Willi Soter, unser Retter“, ertönte es alsbald.

Willi erkannte Macvols Stimme, deren Tonfall nur so vor Freude und Optimismus strotzte.

„Hm, komm näher, ich kann dich nicht richtig sehen“, brummte es von irgendwo her.

Willi hatte mittlerweile Macvol gesehen und sich Hilfe suchend neben ihn gestellt. Außer kleinen blinkenden Fusseln, die im Raum herum schwebten, konnte Willi nichts erkennen. Es war nicht richtig dunkel, aber auch nicht hell. Macvol schob ihn von seinem Platz weiter in die Richtung, aus der das Brummen kam. Langsam ging Willi weiter. Als er ungefähr fünf Schritte gemacht hatte, begann sich eine Silhouette abzuzeichnen. Ein ziemlich großer, das heißt für seine Verhältnisse „großer“ alter Zwerg saß auf einem Holzstuhl, und je mehr sich Willi ihm näherte, umso mehr wurde auch alles andere im Raum erkennbar.

Der Zwerg blickte unentwegt zu Willi. Er hatte eine große krumme, spitz zulaufende Nase. Sein Gesicht war von einem langen, grauen Bart eingefasst und wirkte sehr freundlich. Seine kleinen Augen blitzten wie Edelsteine. Auf dem blauen Hut drehten sich silberne Sterne und es schien so, als ob die Hutspitze sie fangen wollte. Der auffällige, silberne Umhang war kunstvoll bestickt und so lang, dass er auf dem Boden schleifte.

„Setz dich bitte, Willi“, sagte der Zwerg und nickte ihm dabei aufmunternd zu.

Kaum war der Satz ausgesprochen, rutschten zwei Stühle und ein kleiner Tisch mit drei Gläsern heran. In der Mitte des Tisches befand sich eine Schüssel gefüllt mit etwas, das aussah wie weiße Federn.

„Bevor wir uns unterhalten, solltest du dich ein wenig stärken. Bedien dich nur!“

Ohne zu zögern, nahm Willi das Glas und setzte es zum Trinken an. Der Kakao schmeckte vorzüglich.

„Probiere auch unsere Flaumflocken, die werden dir bestimmt gut schmecken“, fügte der alte Zwerg mit einem erstaunten Blick hinzu, da Willi das Glas in einem Zug leer getrunken hatte.

Flaumflocken? Was soll das denn sein?, dachte Willi. Da er aber sehr großen Hunger hatte, griff er nach einer Flaumflocke. Macvol setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm sich das andere Glas. Dabei beobachtete er Willi und lächelte ein wenig. Willi drehte die Flaumflocke argwöhnisch vor seinen Augen hin und her und dachte an das plüschige Gefühl im Mund, welches ihn wohl gleich erwartete. Doch was war das? Kaum hatte er die Flaumflocke in den Mund gesteckt, überkam ihn das Gefühl, einen wundervollen Eierkuchen zu essen. Er machte einen genießerischen Seufzer und griff wie ausgehungert nach weiteren Flaumflocken.

Sein Schmatzen störte Macvol wohl nicht, denn er zupfte an seinem Hut herum und begann andächtig zu sprechen.

„Alwis, wir sollten uns ein wenig beeilen und Willi etwas über seine Aufgabe erzählen.“

Er blickte zu Willi hinüber, der sich genüsslich noch eine Flocke in den Mund steckte, obwohl eine andere an seiner Wange klebte und wackelte, als ob sie es nicht erwarten konnte, verspeist zu werden.

„Du hast Recht, Macvol, beginnen wir.“

Alwis sah zu Willi hinüber, der sich gerade über sein volles Glas Apfelsaft wunderte.

„Ich bin Alwis, der weiseste, älteste und größte aller Zwerge“, sprach er stolz.

„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die dir sicher einige Fragen beantworten wird. Hör und sieh mir genau zu!“

Alwis sah mit funkelndem Blick zur Mitte des Tisches. Es entstand ein nebelartiger Dunst und silbrige, zunächst noch undefinierbare Fäden entfalteten sich zu Figuren, die sich später in voller Farbenpracht bewegten. Willi fühlte sich wie im Kino in der ersten Reihe sitzend, als Alwis mit seiner brummigen Stimme zu erzählen begann:

„Es ist schon eine Ewigkeit her. Zwerge und Menschen lebten vor vielen, vielen Jahren friedlich nebeneinander her. Keiner wollte dem anderen etwas Böses. Man respektierte sich gegenseitig, hatte aber auch nicht viel miteinander zu tun. Eines Tages allerdings beauftragte König Gustavus einen Zwerg, ihm zur Hochzeit seiner Tochter ein Amulett zu fertigen, welches aus reinem Gold und mit Diamanten besetzt sein sollte. Er wusste, dass die Zwerge die schönsten Schmuckstücke fertigen konnten und seit jeher wie kein anderes Volk die Kunst des Goldschmiedens verstanden.

So trug es sich zu, dass Diemos, so hieß der beauftragte Zwerg, ein wunderschönes Amulett schmiedete. Es war mit drei Brillanten besetzt. Doch was dann geschah, sollte das Leben der Zwerge für immer verändern. Diemos verletzte sich beim Schleifen des letzten Diamanten am Finger, und Diamantstaub gelangte in seinen Körper. Doch das war noch nicht alles: In das Amulett floss ebenso Blut – Zwergenblut! Seit diesem Augenblick fühlte Diemos eine enge Verbundenheit mit dem Amulett. Er sollte es bald dem König überreichen, doch dieser Gedanke brachte ihn fast um den Verstand, so sehr war er bereits besessen von ihm.

Er bemerkte auch nicht, dass er gierig nach Reichtum geworden war. Am Tag der Übergabe ging Diemos, der durch die Gier in der kurzen Zeit sein jugendliches Aussehen komplett verloren hatte, schwermütig zum König. Als er mit dem Amulett in der Hand vor dem König stand, beging er einen großen Fehler. Er konnte das prachtvolle Schmuckstück einfach nicht aus der Hand geben und rannte mit ihm so schnell er konnte davon. Somit war aus ihm ein Dieb auf der Flucht vor des Königs Armee geworden.

Freilich, ein Zwerg hat im Wegrennen große Vorteile - er ist unglaublich schnell und imstande, sich vortrefflich zu verstecken, doch selbst ein noch so geschickter Zwerg kann nicht ewig davonlaufen. Die Garden von König Gustavus konnten ihm allerdings nicht folgen und fanden ihn auch nirgendwo.

Mit jedem Tag, der verging, ohne dass der diebische Zwerg gefunden wurde, wuchs der Zorn des Königs, sodass das ganze Land seine auf ein Unmaß angewachsene Bitterkeit zu spüren bekam. In seinem Groll verfluchte er die gesamte Zwergenwelt und beschloss, dass die Zwerge sich nicht mehr unter die Menschheit wagen sollten, oder man tötete sie.

Jedermann landauf landab wusste von dem Diebstahl des wertvollen Amuletts, aber nur wenige vermochten die Macht des Amuletts zu erkennen. Einer der Wenigen war der große und selbstsüchtige Zauberer Hobjark, dem nichts entging. Er wollte das Amulett natürlich unbedingt in seinen Besitz bringen und schickte seine Agiore durchs Land. Wochenlang durchforsteten sie jeden Winkel, folgten jedem noch so kleinen Hinweis und noch so spekulativen Spuren, doch ihre Suche blieb ebenfalls erfolglos. Niemand fand schließlich den gierigen Zwerg. Langsam vergaßen die Zwerge und die Menschen das Amulett und gingen wieder dem normalen Tagesgeschäft nach.

So auch einer deiner Vorfahren, der Fredo hieß. Er war Töpfer und besaß damals eine kleine Töpferei in Kreiblich. Das Dorf existiert schon lange nicht mehr. Es lag ganz in der Nähe von Drehbach. Als er eines Tages mit seinem wackligen Leiterwagen Tonkrüge zum Basar fuhr, um sie feilzubieten, fiel einer der Töpfe vom Karren. Noch schimpfend über den Verlust von mindestens fünf Gulden, hob er die Scherben auf. Doch plötzlich sah er in den Trümmern etwas Glänzendes aufblinken. Es war das goldende Amulett.

Diemos wollte es wohl bei seiner Flucht schnell loswerden und hatte es in diesem Krug versteckt, um es später wieder zu holen. Fredo traute seinen Augen kaum. Er hatte von dem Verlust des Amuletts und auch, als einer der Wenigen, von dessen besonderer Macht gehört. Also steckte er es heimlich und unbemerkt in seine Tasche und erzählte niemanden etwas davon.“

„Und wieso soll ich der Erbe des Amuletts sein?“, unterbrach Willi den brummenden Zwerg voller Zweifel.

„Hab doch Geduld, Willi, ich muss dir noch mehr erzählen; dann wirst Du verstehen“, sagte Alwis ruhig und die Bilder auf dem Tisch begannen, sich wieder zu bewegen.

„Eines Tages suchte ein Zwerg Fredo auf, obwohl es untersagt war, dass Zwerge sich unter die Menschen mischten. Es war Diemos, der sein Amulett holen wollte. Er sah inzwischen uralt aus, trug zerfetzte Kleidung und einen löchrigen, modrig riechenden Hut. Sein Verlangen nach dem Amulett hatte ihn unstet werden lassen und machte ihn fast krank. Er hatte keine Wahl, er musste in die Menschenwelt zurück, um das Kleinod an sich zu bringen.

Erschrocken über den ungebetenen Besucher, war Fredo jedoch fest entschlossen, das Amulett zu behalten. Er verleugnete dessen Besitz standhaft und vehement, sodass Diemos unverrichteter Dinge wieder gehen musste.

Diemos war davon überzeugt, dass Fredo im Besitz des Amuletts sein musste, doch er war nicht in der Lage, es ihm zu entwenden, auch wenn er aus tiefstem Herzen danach verlangte. Der Besitzer des Amuletts ist für Zwerge nämlich unantastbar und unbesiegbar. Auch könnte kein anderer Zwerg der Welt, außer Diemos, das Amulett tragen, ohne dass er sofort zu Stein würde. Der Grund dafür liegt in der beim Schmieden gewonnenen Macht.

Dabei hatte sich Diemos, wie du weißt, verletzt und sein Blut war auch in das Amulett geflossen. Zwergenblut hat unvorstellbare Kräfte, und diese Kräfte stecken nun in diesem wertvollen Schmuckstück.

In seiner rasenden Wut verfluchte Diemos Fredo und prophezeite ihm, dass einer seiner Nachfahren eines Tages eine große Bürde übernehmen und sich großen Gefahren stellen müsse.“

„Woher konnte er das wissen, und warum soll ich nun derjenige sein, der die Ehre hat, sich mit diesem Zauberer rumzuschlagen?“, fragte Willi verärgert und ängstlich zugleich.

Alwis zupfte sich an seinem langen grauen Bart und legte einen

„Unterbrich-mich-nicht-immerzu-Blick“ auf.

„Diemos ist irgendwann dem mächtigen Zauberer Hobjark über den Weg gelaufen, oder besser gesagt, Hobjark hatte ihn endlich aufgespürt. Er folterte Diemos solange, bis dieser ihm versprach, das Amulett zu finden und ihm zu bringen. Hobjark sprach die Drohung aus, dass, wenn er es nicht schaffen sollte, seine Seele für immer dem Zauberer gehörte. Folglich also alle Zauberkräfte von Diemos auf den mächtigen Hobjark übergehen. Diemos wusste, was Hobjark mit dem Amulett vorhatte.

Mithilfe der Kraft des Amuletts wollte er alle magischen Kräfte der Zwerge an sich bringen, und so die Herrschaft über alle magischen Wesen und schließlich auch die Herrschaft über alle Menschen und das Universum erlangen.“

Alwis hielt kurz inne und sprach dann in gewohnt brummigem Ton weiter:

„Zwerge können gelegentlich in die Zukunft blicken. Diemos erkannte, dass eines Tages der Besitzer des Amuletts gegen Hobjark kämpfen werde. Denn nur der Besitzer des Amuletts hätte gegen ihn eine reelle Chance. Nur er könnte verhindern, dass die Menschheit dem bösen Zauberer eines Tages zum Opfer fiele.“

Alwis machte eine bedächtige Pause und sprach dann mit zusammengefalteten Händen weiter. Willi gewann den Eindruck, als wollte Alwis den Moment nicht verpassen, wenn seine Gesichtszüge entgleisten. „Willi, du bist hier bei uns, weil wir denken, dass du der Richtige für diese schwere Aufgabe bist.“

„Ich soll der Richtige sein? Ich?“, platzte es aus Willi heraus.

„Ich bin der Richtige, wenn es ums Rasenmähen geht. Im Sport wählen sie mich immer zuletzt in die Mannschaft. Ich kann nicht der RICHTIGE sein! Das ist unmöglich! Hier handelt es sich um einen großen Irrtum, eine Verwechslung, ganz bestimmt.“

Willi keuchte geradezu und blickte abwechselnd von Macvol zu Alwis. Was war das hier? Steckte er in einem schlechten Film? Verzweifelt blickte Willi um sich, in der Hoffnung alles werde sich als schrecklicher Albtraum erweisen, der ihm zwar einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, aber ebenso reinste Fiktion war. Doch die brummige Tonlage von Alwis zerstörte unerbittlich den zaghaft herangewachsenen Keim der Hoffnung in ihm.

„Willi, du bist, wenn man so sagen kann, unsere erste Wahl.“ Alwis lächelte in Übereinstimmung mit Macvol und nahm sich eine Flaumflocke. „Du bist unsere einzige Wahl und Chance!“

„Darf ich den Grund dafür erfahren?“, fragte Willi, nachdem er eine Weile gebraucht hatte, sich zu sammeln.

„Ich nenne es mal zwergische Intuition. Mehr möchte ich dazu an dieser Stelle nicht sagen.“

Alwis zwinkerte Willi zu und lachte so schallend, dass die Schüssel mit den Flaumflocken auf dem Tisch zu tanzen begann.

Mit dieser Antwort musste sich Willi wohl erst einmal zufriedengeben, aber er konnte sie nicht verstehen und war fest entschlossen, Macvol später noch einmal zu fragen.

„Was ist aus Diemos geworden?“, fragte Willi und dachte am Rande der Verzweiflung: nur noch 999 offene Fragen.

„Diemos, der es nicht geschafft hatte, das Amulett zurück zu bekommen, versteckte sich eine Weile vor Hobjark. Doch die grenzenlose Gier nach Reichtum war letztendlich sein Verhängnis. Er wollte sich selbst zu Gold verwandeln. Dabei versteinerte er und Hobjark fing schließlich seine Seele ein. Ganz in der Nähe von Picabo steht er nun als Skulptur, als abschreckendes Mahnmal, wenn man so will.“

„Und wo ist Hobjark jetzt?“

Willi flüsterte beinahe und blickte mit großen Augen in die kleine Runde. Der brummige Zwerg blickte finster zu Macvol.

„Hobjark sucht noch immer unnachgiebig und wie besessen nach dem Amulett. Er kann es kaum ertragen, das ihm Heiligste nicht zu besitzen; seine Gier nimmt für die ganze Zwergenwelt gefährliche Züge an. Ich nehme an, er weiß nicht, dass sich das Amulett bisher in der Menschenwelt befand. Allerdings ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch dort danach suchen wird und dann schwebst du in Lebensgefahr.“

Alwis machte eine Pause und blickte finster zu Willi. Dann sprach er weiter:

„Seit jener Zeit, als das Amulett verschwand, versetzt er Stella Domus in Angst und Schrecken. Doch niemand kann Hobjark besiegen. Ein paar Zwerge aus Picabo und Nihela, Macvol und ich sind zwar in der Lage, ihn so einigermaßen in Schach zu halten, aber mehr auch nicht. Wenn Hobjark das Amulett in die Hände bekommt, bist nicht nur du in Gefahr. Wenn er das Amulett bekommt, sind wir alle, die Menschen und die Zwerge dem Untergang geweiht. Würde ihm das gelingen, wäre er der mächtigste Zauberer des Universums.“

„Was geschieht, wenn ich das Amulett zerstöre?“, fragte Willi Macvol verzweifelt.

Er dachte, dass es vielleicht eine Lösung sein könnte.

„Du kannst das Amulett nicht zerstören. Wie ich dir schon sagte, floss beim Schmieden Zwergenblut in das Amulett. Und Zwergenblut steckt voller Zauberkräfte, es hat eine unvorstellbare Energie. Diese steckt nun in dem Amulett und ist verantwortlich dafür, dass Du mit keiner Macht und keinem Werkzeug der Menschen das Amulett zerstören könntest.“

„Und was würde dann mit dem Amulett passieren, wenn ich den Zauberer besiegt habe?“

Alwis lachte auf diese Frage hin plötzlich so heftig, dass das ganze Zimmer wackelte, und bebte. Macvol verschluckte sich dadurch an einer Flaumflocke und hustete aus Leibeskräften. Dieser Riesenzwerg ist ja nicht gerade zuversichtlich, dachte Willi bei sich, doch er verkniff sich, diesen Gedanken laut zu äußern.

„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist“, sagte Alwis, nachdem er sich wieder zurechtgerückt hatte.

„Ich denke, du hast ihm für heute genug erzählt.“

Macvol räusperte sich kräftig und strich sich über seine, eben noch vom Husten geplagte Kehle. Dann hob er seinen Arm und klopfte Alwis vermutlich zu kräftig auf seine Schulter, denn seine Kutte spie mit jedem Klaps eine Staubwolke aus.

„Lass uns ein anderes Mal weiterreden.“

Macvol wedelte mit seinen Händen den Staub vor seinem Gesicht weg und nickte Alwis zu.

„Du hast vermutlich recht, lieber Macvol. Bring ihn erst einmal in seine Kate zurück.“

Kate?, dachte Willi und blickte entgeistert zu Macvol herüber, der ihn anblinzelte, als ob er wusste, was Willi gerade dachte.

„Ich darf mich dann wohl verabschieden“, brummte Alwis und war augenblicklich verschwunden.

Sogar seinen Sessel hatte er mitgenommen. Es flimmerten nur noch Tausende Staubfussel in der Luft, an der Stelle, wo Alwis eben gesessen hatte.

„Luhvs!“, rief Macvol, und Willi war gar nicht begeistert, den unfreundlichen Zwerg von vorhin wieder zu sehen.

Sogleich knarrte und krachte es, und wie aus dem Nichts erschien die alte Tür wieder. Dieser imposante Zauber beeindruckte Willi enorm und es erfreute ihn um so mehr, dass nur die Tür und nicht Luhvs aufgetaucht war.

„Verrückte Welt!“, sagte Willi schwer beeindruckt leise vor sich hin.

„Ja, du wirst noch vieles kennenlernen“, lachte Macvol. „Und ganz nebenbei lerne ich dabei auch ein wenig von deiner Welt kennen. Das wird bestimmt lustig, ich mag Menschenkram“, kratzte Macvol und wackelte vor Freude.

Willi blickte Macvol an, schaute jedoch gedankenverloren durch in hindurch, denn er dachte in diesem Augenblick an die vielen Ereignisse der letzten Stunden und an diese unbekannte Zwergenwelt, die er heute betreten hatte. Sie war fantastisch, verrückt und geheimnisvoll zugleich. Die Zwerge folgten ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, die denen der Menschenwelt nicht unähnlich, dann aber wiederum auch ganz anders waren. Es reizte Willi ungemein, noch mehr über all das zu erfahren. Gleichzeitig hatte er Angst vor dem Zauberer.

Bis heute hatte er unbekümmert in den Tag hinein gelebt. Dass die Welt in Gefahr war, hatte er nicht ahnen können. Doch nun wusste er es und genau deshalb war sein sorgloses Leben mit einem Schlag vorbei. Was dem Ganzen aber die Krone aufsetzte, und was ihm auch fast die Fassung raubte, war, dass nur er allein in der Lage sein sollte, die Welt zu retten. Irgendwie vermochte er all das noch nicht zu glauben. Innerlich brodelte es in ihm. Es waren Alwis’ Worte, die nun wie ein massiger, scharfkantiger Felsbrocken auf ihm lasteten und ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Was erwarteten die Zwerge von Willi und was passierte, wenn er scheiterte?

„Bist du bereit für den Rückmarsch?“

Macvol durchbrach Willis tiefe Grübeleien und schaute irgendwie allwissend zu ihm, als ob er ahnte, was ihn in diesen Minuten beschäftigte.

„Rückmarsch? Werden wir nicht zurückgewirbelt, das fände ich wesentlich spannender“, sagte Willi leicht enttäuscht.

Macvol lachte und ging durch die gerade gewachsene Tür in den Flur.

„Komm erst einmal hier raus, sonst wirst du mit aufgesaugt“, sprach Macvol, und deutete dabei auf das sich langsam auflösende Zimmer.

Als Willi sich umdrehte, war er schlagartig bereit, der Bitte von Macvol nachzukommen. Denn der Anblick, der sich ihm bot, war äußerst gespenstisch und Angst einflößend zugleich. Der Raum schien in ein Abflussrohr zu strömen und alles wurde mitgerissen, was sich darin befand. Mit einem kraftvollen Sprung katapultierte sich Willi durch die Tür und knallte dabei mit dem Kopf an die gegenüberliegende Wand im Flur.

„Das ist die falsche Richtung, durch diese Wand müssen wir nicht“, lachte Macvol.

Willi drückte mit seiner Hand gegen das gerade entstandene, sich wölbende Horn an seiner Stirn und konnte gar nicht lachen.

„Verschwinden die Zimmer hier immer, wenn man sich verabschiedet hat? Ich will es nur für künftige Gespräche wissen. Vielleicht ist es dann besser, sich an der frischen Luft zu unterhalten.“

Willi musste nun selbst lachen und blickte in Macvols amüsiertes Gesicht.

„Nun sagen wir mal so: Wenn es sich um explosiven Gesprächsstoff handelt, ist es gesünder, die Verabschiedung nicht in die Länge zu ziehen“, antwortete Macvol und machte eine Geste zu Willi, die bedeutete, sich in Bewegung zu setzen.

„Komm, wir müssen zuerst einmal hier raus finden, denn Luhvs wird uns wahrscheinlich nicht helfen“, sagte Macvol und rannte los.

„Wieso nicht?“, keuchte Willi beim Versuch, mit dem hohen Zwergentempo mitzuhalten.

„Luhvs ist ein unfreundlicher Gesell. Aber er kann nichts dafür. Alle Zwerge werden unfreundlich und hässlich, wenn sie zu Dienern gemacht werden. Sie sind ungepflegt, tun nur das Nötigste und knurren den ganzen Tag vor sich hin. So weise Alwis auch ist, so unmöglich war es selbst ihm, Luhvs zu einem kooperativen, solidarischen Diener zu erziehen.“

„Ok, mein künftiger Butler wird kein Zwerg sein“, hechelte Willi hinter Macvol.

Der Rückweg kam Willi viel länger vor als der Hinweg. Sicher hatten die beiden an manchen Flurgabelungen die falsche Richtung eingeschlagen. Willis Orientierung spielte hier sowieso verrückt, als seien die Pole seines inneren Kompass’ funktionsuntüchtig geworden. Nach unzähligen Abbiegungen und langen Fluren gelangten sie endlich zu dem Eingangsbereich.

„Halt, halt!“, zischte Macvol und blieb abrupt stehen. Gleichzeitig streckte er seine Arme seitlich aus, sodass Willi nicht an ihm vorbeigehen konnte.

„Was ist los?“, flüsterte Willi erschrocken, und seine Beine drohten butterweich zu werden.

„Die Weckel sind weg“, sprach Macvol mit beängstigter Stimme und schaute dabei zur Wand.

„Meinst du die kleinen, grauen Männchen, die an den Bildern hingen?“ Schreckensbleich atmete Willi so heftig, dass er die Worte nur pulsartig aussprechen konnte.

„Ja! Sie sind nicht da“, sagte Macvol.

„Wir sollten so schnell es geht von hier verschwinden. Leider können wir aber von hier aus nicht in die Menschenwelt saltieren. Wir müssen erst das Dorf verlassen.“

Macvol stand stocksteif vor ihm, doch seine Augen blickten hektisch im Raum umher. Er schien angespannt zu grübeln und Willi blieb nichts anderes übrig, als völlig aufgelöst und nichts ahnend, was noch alles geschähe, zu warten. Dabei hörte er, dass ein kräftiger Sturm aufkam. Mit lautem Klappern und Knarren stellte sich die alte Hütte dem brausenden Ungetüm tapfer entgegen. Doch dieser Kampf schien ausweglos zu sein. Immer stärker toste es draußen und Willi hatte Angst, dass die Hütte jeden Moment zusammenfiele und sie schutzlos im Freien ständen.

Doch raus mussten sie auf jeden Fall, raus aus der Hütte und raus aus dem Dorf, so wie es Macvol gesagt hatte. Und dann – urplötzlich - schien ihm jemand an die Kehle zu greifen und zuzudrücken. Panikartig griff Willi an seinen Hals, drehte sich und wollte sich aus der Umklammerung befreien. Er bekam fast keine Luft mehr, geschweige denn ein Wort heraus. Das Amulett pulsierte um seinen Hals und schnürte ihm dabei immer fester die Kehle zu. Alles um Willi verdunkelte sich, der Sturm war nicht mehr zu hören und der Boden unter seinen Füßen löste sich mehr und mehr auf, als der Druck schlagartig nachließ. Sekunden vergingen, in denen Willi sich mühsam wiederfindend umsah und tief ein- und ausatmete.

„Oh nein! Nein!“ Macvol, der von Willis jähem Überlebenskampf nichts bemerkt hatte, sah durch einen Spalt nach draußen und schüttelte seinen Kopf. „Die Wächter sind unterwegs und suchen nach dem Amulett. Bei deinem Eintritt in unsere Welt müssen sie es gehört haben. Das hat uns gerade noch gefehlt.“

„Die Wächter? Was, was wollen die Wächter? “, fragte Willi immer noch halb benommen.

Davon hatten die beiden ihm doch gar nichts erzählt. Er glaubte, hier von einem Schock in den nächsten zu geraten, dabei hatte er noch nicht einmal verdaut, dass er gegen einen bösen Zauberer kämpfen musste.

„Diemos hatte in seiner entsetzlichen Gier die Namen dreier Wächter in philomäsischer Sprache, das ist unsere Sprache, in das Amulett graviert. Arador, Millo und Pugno. Sie sollten verhindern, dass das Amulett in die Hände des Königs, oder in andere Hände gelangt. Nach Diemos Versteinerung sehen sich nun die Wächter als rechtmäßige Eigentümer des mächtigen Amuletts. Auch sie suchen nach ihm, um die Herrschaft über alle magischen Wesen zu erlangen und gehen dabei über Leichen. Sie haben auch keine andere Wahl, denn sie sind durch die Gravur auf ewig an das Amulett gebunden und gezwungen, es in ihren Besitz zu bringen.

Solange sie es nicht gefunden haben und besitzen, werden sie nach ihm trachten. Unglücklicherweise können die Wächter das Amulett förmlich riechen, wenn es in unserer Welt ist. Was es uns nicht gerade einfacher macht.“

„Dann nehme ich es eben nicht mehr mit“, sprudelte es aus Willi heraus.

„Ohne das Amulett ist es für dich nicht möglich, hierher zu kommen“, entgegnete Macvol nun wie beiläufig und gedanklich abwesend.

Es schien, als ob er im Moment keine weiteren Fragen beantworten wollte, sondern schon wieder angestrengt überlegte, wie sie sich aus dieser brenzligen Situation befreien konnten.

Nach ein paar Minuten, die Willi wie eine Ewigkeit vorkamen und in denen Macvol gespenstisch ruhig und regungslos verharrte, griff er in seine Hosentasche und sprach so leise, dass er fast von dem tosenden Wind übertönt wurde:

„Willi, wir werden jetzt gleich aus dem Haus gehen. Sieh nicht nach oben, auch wenn engelsgleiche Stimmen nach dir rufen werden. Behalte mich immer im Blick und folge mir, egal wohin ich gehe. Iss bitte vorher diese Flaumflocke. Schnell!“

Macvols Stimme klang sehr besorgt und eindringlich. Für Fragen oder Zögern schien keine Zeit mehr zu bleiben.

Willi nahm die Flaumflocke und steckte sie eilig in seinen Mund. Während er versuchte, den merkwürdigen Geschmack zu deuten, überkam ihn ein noch nie erlebtes, fremdes und beängstigendes Gefühl. Eine Welle, die Übelkeit und Schmerzen mit sich trug und alles und jeden mitriss, überwältigte ihn, und es schien, als durchtränkte sie jede Faser seines Körpers mit tödlichem Gift. Er meinte, sterben zu müssen. Nahezu ohnmächtig krümmte er sich und schrie und es kam ihm vor, als ob sich sein Innerstes nach außen drehte. Jedoch so plötzlich die Schmerzen seinen gesamten Körper ergriffen hatten, so schnell waren sie wenige Augenblicke später komplett verschwunden.

Aber sie mussten irgendetwas in Willi zurückgelassen haben. Noch immer angsterfüllt und von den eben erlittenen Schmerzen gezeichnet blickte er an sich herunter und wäre vor Entsetzen beinahe erstarrt. Seine Schuhe wurden zu Stiefeln, seine Beine schrumpften - er machte in Windeseile eine Metamorphose zum Zwerg durch.

„Was, was hast du mir gegeben?“, schrie Willi entsetzt und riss seine Augen weit auf.

„Hätte ich doch bloß nicht dieses Ding gegessen.“

Macvol, der schon bei der Tür stand, rannte zu ihm zurück und hielt ihm den Mund so fest zu, dass es schmerzte. Seine Augen waren bedrohlich schwarz, komplett schwarz, und Willi lief bei diesem Anblick ein eiskalter Schauer den Rücken herunter.

„Sie dürfen dich nicht als Menschen ausmachen“, zischte Macvol kräftig, als ob Willi es anders ausgesprochen nicht verstanden hätte. „Sei leise und folge mir jetzt. Denk daran, nicht nach oben zu sehen.“

Macvol ging hastig zur Tür und öffnete sie. Er machte einen Satz nach vorn und war nicht mehr zu sehen. Willi hatte furchtbare Angst. Er wollte nicht hinaus. Aber er hatte keine Wahl, er musste Macvol hinterher. Hektisch suchten seine Augen nach Macvol, als er aus der Hütte getreten war. Doch der tosende Wind hatte so viel Staub aufgewirbelt, dass er kaum noch zu sehen war. So schnell er konnte, rannte er los. Die Übermacht der Naturgewalt, die um ihn wütete, spielte mit seinem Körper, als sei er leicht wie eine Feder. Immer wieder wurde Willi umgerissen, und es kostete ihn enorme Kraft, wieder aufzustehen. Er durfte Macvol auf keinen Fall aus den Augen verlieren.

Die Luft war unerwartet kühl und der Staub peitschte in seine Augen und seinen Mund. Bei aller Anstrengung blieb er Macvol so gut es ging auf den Fersen. Doch eine weitere Gefahr lauerte im Verborgenen. Sie waren etwa hundert Meter gelaufen, da geschah das, wovor Macvol ihn gewarnt hatte: Ihn überkam plötzlich das unbändige Verlangen, zum Himmel zu schauen. Jemand hatte nach ihm gerufen. Nie hatte er eine schönere Stimme gehört, als diese. Willi verlor sich im Liebestaumel und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Wie benommen, begann er zu straucheln. Als ob sein Körper ihm nicht mehr gehorchte und sein Geist verreist wäre. Er war schon einmal verliebt gewesen und kannte das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Was er dagegen in diesem Moment verspürte, war noch hundert Mal schöner, betörender und intensiver. Er wollte nur noch fühlen, fühlen und genießen. Wie fremdgesteuert stoppten seine Beine und er starrte geradeaus. In seinem Rausch hörte er eine dumpfe, kratzige Stimme, die immer wieder einen Satz wiederholte.

„Nicht nach oben sehen! Bitte! Nicht nach oben sehen! Mir nach, Willi! Willi! Folge mir!“

Willi wollte sie nicht hören, er wollte sie verdrängen. Sie überdeckte das zarte Flüstern und rüttelte an ihm, als ob er aufwachen sollte. Aber das wollte er nicht, noch nicht. Und dann, wie aus dem Nichts, sah er plötzlich Macvol vor sich stehen. Sein Verstand wurde von einem Moment zum nächsten wieder glasklar, als ob er nie vernebelt gewesen wäre.

„Nicht nach oben sehen, nicht nach oben sehen!“

Macvol legte seine Hand auf Willis Stirn und im gleichen Moment befahl Willi es sich selbst.

„Los komm weiter jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“, sagte Macvol und zog Willi schmerzhaft am Arm.

Beide liefen nun schneller als vorher durch das kleine Dorf. Durch die gewaltige Staubwand war kaum etwas zu sehen, aber dennoch hatte Willi den Eindruck, in dem sandig, grauen Dunst Reiter ausgemacht zu haben, die vom Boden abhoben und wieder landeten. Mal dicht neben ihm, mal weiter weg. Jedoch konnte er nichts hören. Nur das Brausen des ungeheuerlichen Sturmes, das alles überdeckte und sich ungehindert, in übermächtiger Manier in seinem Gehör ausgebreitet hatte. Macvol lief unbeirrt weiter, vorbei an den letzten Zwergenhütten. Irgendwann stolperte Willi, fing sich im letzten Moment ab und erkannte plötzlich und zu spät, dass sie in einen Sumpf geraten waren. Warme neblige Schwaden überdeckten seine Stiefel und jeder Schritt wurde schwerer.

„Halt! Zurück!“, schrie Willi panisch. „Wir kommen hier nicht weiter! Wir kommen nicht mehr raus!“

„Weiter, los! Nicht stehen bleiben! Mir nach! Wir haben es gleich geschafft“, rief Macvol in unnachgiebigem Befehlston und ohne sich umzudrehen. „Nein, bitte, wir müssen zurück.“

Willi konnte kaum noch Kraft für seine Stimme aufbringen.

Mit rudernden Armbewegungen schob er seinen Körper durch die brodelnde, stinkende Masse, vorbei an wuchernden Schlingpflanzen und abgestorbenem Gehölz. Er sah, dass Macvol immer weiter einsank und er hatte höllische Angst, im Moor zu ersticken. Doch unerklärlicherweise folgte er Macvol immer weiter ins Moor, bis er selbst schon fast bis zum Hals im warmen Schlamm steckte.

„Ich will nicht sterben, Macvol! Halt! Bitte warte“, schrie Willi verzweifelt und sein Mund berührte dabei den blubbernden, sumpfigen Morast.

Sein ganzer Körper musste zittern, doch das konnte Willi nicht mehr fühlen; wie eingegossen steckte er fest. Macvols Hutspitze versank bereits im Moor und Willi spürte in diesem Moment blanke Todesangst. Er war völlig aufgelöst, konnte sich in der zähflüssigen Masse kaum mehr bewegen und hatte sich schon fast aufgegeben. Als er einen letzten Versuch startete, um um Hilfe zu schreien, war es zu spät. Sein Mund war bereits durch den Schlamm verschlossen. Wie eine braune, klebrige Hand drückte er auf sein Gesicht und prahlte höhnisch mit seiner Übermacht. Willi schloss seine Augen, versank langsam wie in Zeitlupe und bekam keine Luft mehr. Dass Einzige was sich noch bewegte, war sein Herz, das unermüdlich und so heftig schlug, als ob es nicht wüsste, dass es keinen Sinn mehr hatte.

Im gleichen Moment zog jemand an seinen Beinen. Willi rutschte ruckartig nach unten und knallte hart auf. Er spürte wieder Boden unter den Füßen und konnte endlich wieder Luft holen. Luft! Lebensnotwendiges Elixier! Tief und erleichtert atmete er ein und schaute sich halb zitternd und halb überrascht um. Er war in einer Art Höhle gelandet, die mannshoch war und an deren feucht schillernden Wänden brennende Fackeln hingen. Macvol stand über ihn gebeugt und blickte auf ihn nieder.

„Du hast ganz schön festgesteckt. Beim nächsten Mal brauchst du dich nur durchrutschen lassen.“

Macvol lächelte ein bisschen überheblich und schnipste mit seinem Zeigefinger die letzten Erdklümpchen von seinem goldenen Hut. Willi kniff sich in seinen Arm.

„Bin ich im Himmel? Nein, wie Himmel sieht das hier nicht aus. Doch nicht etwa …?“

„Hey. Du lebst! Nichts mit Himmel oder Hölle.“

„Ich lebe. Ich lebe! Ich bin nicht im Sumpf erstickt!“, platze es aus ihm heraus. „Juhu, ich lebe! Ich lebe!“

Noch konnte er diese Situation kaum erfassen.

„Wie sind wir plötzlich hier hergekommen? Und wo sind wir eigentlich?“, fragte Willi, während er sich aufrappelte.

„Direkt unter dem Moor. Und, naja, diesen Weg kennen nur die wenigsten und fast niemand benutzt ihn“, sprach Macvol bedächtig.

Dabei blinzelte er Willi an, zwinkerte mit seinem linken Auge und rückte seinen Hut zurecht.

„Ich habe auch schon eine Idee, warum wohl kaum jemand diesen Weg nimmt“, lachte Willi, der sich über seine wiedergewonnenen Lebensgeister noch immer freute.

Als er sich den Schlamm von den Sachen abstreifen wollte, bemerkte er, dass er seine menschliche Gestalt wieder angenommen hatte.

„Die Wirkung der Flaumflocke hat nachgelassen, warten wir noch, bis dein Hut ganz verschwindet“, kratzte Macvol und deutete auf Willis Kopf.

Reflexartig griff sich Willi an seinen Kopf und spürte einen samtig weichen Stoff in der Hand.

„Schade, dass es hier keinen Spiegel gibt, ich hätte zu gern gesehen, wie ich als Zwerg aussehe“, sagte Willi, während er sich mit zwei Fingern über sein noch etwas zwergenhaftes, spitzes Kinn strich.

„Oh, Zwergenhimmel, bist du vielleicht eitel! Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich dich in Prinz Cardival verwandelt.“

„Wer ist Prinz Cardival?“

„Ein schöner Prinzzwerg. Alle Zwerginnen schwärmen von ihm. Ich finde ja, er hat zu starke Oberarme, aber mich fragt ja keiner“, lästerte Macvol und griff sich dabei an seine eigenen, die eher sehnig und dünn waren.

„Oh Mann, ich bin beruhigt, dass nicht nur wir Menschen solche Probleme haben“, scherzte Willi und musste plötzlich an seinen etwas schrägen Freund Georg denken.

Eine Zeitlang war es still, nur das Blubbern des Moores war zu hören, was Willi eine unangenehme Gänsehaut bescherte. Unweigerlich musste er an die eben erlebten, schrecklichen Minuten im Schlamm denken und an die Atemnot, die ihn fast umgebracht hätte.

„Ich glaube, ich habe da vorhin im Dunst fliegende Reiter gesehen. Was waren das für Geschöpfe?“, erinnerte sich Willi und durchbrach das Schweigen.

„Das waren die Wächter, sie haben die Legoven aufgescheucht. Wir können froh sein, dass sie dich nicht erkannt haben. Die Legoven haben mit ihrem Gesang zu viel Staub aufgewirbelt, das hätten die Wächter eigentlich wissen müssen. Nun ja, es war unser Glück“, erklärte Macvol.

„Die Legoven?“

„Gefährliche Wesen kann ich dir sagen. Ihre Antlitze sind abscheulich. Glaub mir, du willst keine davon sehen. Sie haben die Form einer halben Kugel, die mit einer hauchdünnen, adrigen Haut überspannt ist. Tausende dünne Fühler hängen an ihnen, die sich im Wind bewegen. Wenn sie aufgebracht sind, singen sie und verursachen damit einen heftigen Sturm. Für manch einen ist der Gesang unglaublich schön, man denkt, man hätte noch nie etwas Schöneres gehört. So wie du eben auch. Doch genau das ist ihre heimtückische Waffe. Derjenige, der sich durch ihren Gesang angesprochen fühlt und nach oben sieht, wird von einem Giftblitz getroffen und stirbt, wenn er nicht unverzüglich Hilfe bekommt. Wenn die Legoven jedoch in Ruhe gelassen werden, treiben sie hoch am Himmel umher und tun niemandem etwas zuleide“, sagte Macvol und Willi sah, wie er ihn von oben bis unten musterte.

„Was ist? Bin ich ein Gespenst?“, fragte Willi.

„Nein, ich denke, wir können die Rückreise antreten, du bist wieder hergestellt“, krächzte Macvol und ließ einen lauten Gähner los. „Ich bin froh, wenn ich heute in mein Bett kann. Es war ein langer Tag. So, dann lass uns mal losgehen.“

Von wegen gehen! Im nächsten Moment wurde Willi schon durch die Luft gewirbelt. Wie ein Spinnrad beim Fadenspinnen drehte er sich und diesmal überkam ihn eine leichte Übelkeit. Bei seiner ersten Reise in diese fremdartige Welt hatte er den Schleudertrip angenehmer empfunden. Willi riss trotzdem die Augen auf, um kein Detail zu verpassen. Es war wie beim ersten Mal spektakulär. Als er schneller als geahnt wieder auf seinen Füßen stand, befand er sich neben Macvol in seinem Zimmer.

Willi Soter und die Wächter des Amuletts

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