Читать книгу Willi Soter und die Wächter des Amuletts - Sylvia Helene Locke - Страница 2

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Wieder daheim – nur eine Verschnaufpause

„Ich werde dich bald wieder abholen. Erzähl bitte niemanden etwas von deinen Erlebnissen. Und jetzt ruh dich aus, du hast heute sehr viel erlebt. Oc wede sa“, sagte Macvol und verschwand im nächsten Augenblick.

„Ähm, ja.“

Mehr konnte er nicht mehr sagen. Willi war völlig erschöpft und ließ sich auf sein Bett plumpsen. Doch dann fiel ihm seine Menschenhülse ein, und er setzte sich so schnell wie eine Klappfeder wieder aufrecht hin. Wo mochte sie stecken? Hatte Macvol sie mitgenommen, oder war sie noch da? Hoffentlich hat niemand etwas bemerkt, dachte Willi. Er hörte seine Eltern unten miteinander reden und wollte gerade zu ihnen gehen, als sich die Tür öffnete und sein Ebenbild vor ihm stand.

Nach all dem, was Willi heute Nachmittag erlebt hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass es noch etwas gab, was ihn erschrecken konnte. Doch da hatte er sich offensichtlich getäuscht. Der Anblick seiner Hülse fuhr ihm wie ein Dolch zwischen die Rippen. Er bebte innerlich und wurde von einer schlagartig auftauchenden Schwäche überrumpelt. Die Hülse schien wenig von ihm beeindruckt zu sein, und kam schnurstracks auf ihn zu. Willi dachte, sie wolle ihn rammen und er konnte nicht mehr ausweichen. Ohne zu stoppen, ging sie geradewegs durch seinen Körper hindurch. Blitzartig schossen ihm alle Erlebnisse der Hülse während seiner Abwesenheit durch den Kopf und Willi wurde dabei fast ohnmächtig. Schützend hielt er sich seine Hände an die Stirn, doch das Gedankenwirrwarr trieb unablässig sein Unwesen.

„Willi, Willi, können wir rein kommen?“, hörte er seine Mutter schließlich mit bebender Stimme fragen, nachdem sie bereits mehrmals an die Tür geklopft hatte.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

In diesem Moment hörte der Spuk auf. Hastig blickte er sich nach seinem Doppelgänger um, doch der war verschwunden.

„Ja, klar, natürlich könnt ihr rein kommen“, antwortete Willi nervös und abgekämpft.

Sofort sprang die Tür auf und seine Eltern standen im Zimmer. Sie machten einen sehr besorgten Eindruck und wirkten hilflos. Sein Vater war ein großer, kräftiger Mann und in seinem Leben bestimmt nicht oft hilflos gewesen. Doch jetzt stand in seinem Zimmer ein ratloser, etwas blasser Mann, der sich vermutlich keinen Reim auf die Geschehnisse der letzten Stunden machen konnte.

„Willi, was ist denn mit dir los?“ Seine Mutter klang sehr ängstlich. „Wir haben dich bis unten in der Küche gehört. Es hörte sich an, als ob du dich mit jemandem duellierst.“

„Mir geht es gut, wirklich.“

Willi gab sich große Mühe so entspannt wie möglich zu klingen und zwang sich zu lächeln.

„Du hast den ganzen Nachmittag kein einziges Wort rausgebracht, hast nichts gegessen und nur ferngesehen. Willi, was ist los? Hast du Probleme in der Schule?“

„Vielleicht hat er ja Liebeskummer“, schlug sein Vater, der ihn bisher nur argwöhnisch angesehen hatte, als Grund für sein merkwürdiges Verhalten vor.

„Nein, nein, es ist alles in bester Ordnung, macht euch keine Sorgen um mich. Ich hab nichts, wirklich.“

„Du verschweigst uns was, ich spüre das“, sagte seine Mutter und sah ihm tief in die Augen.

Ihre Ratlosigkeit und die Sorge um ihren Sohn, der den ganzen Nachmittag kein Wort herausgebracht und es sich anstatt dessen vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, standen ihr ins Gesicht geschrieben. Willi sah, dass sie mit den Tränen kämpfte, und ihn überkam plötzlich ein flaues, mitleidiges Gefühl im Bauch. Doch er konnte ihr nicht erzählen, was heute Nachmittag passiert war.

„Mama, bitte, es ist echt alles ok!“, versuchte er sie abermals zu beruhigen.

Willis Eltern waren nicht leicht aus dem Zimmer zu bekommen. Seine Mutter hätte gern noch mit ihm geredet. Da aber sein Vater merkte, dass er allein sein wollte, lotste er sie nach unten. Auf der Treppe unterhielten sie sich heftig und Willi machte sich Vorwürfe, dass sie sich seinetwegen stritten. Völlig erschöpft ließ er sich rücklings auf sein Bett fallen. Was für ein chaotischer Tag dachte er. Sein Doppelgänger hatte den ganzen Nachmittag vor der Glotze gehangen oder seine Eltern beobachtet. Tolles unauffälliges Verhalten! Wenn sich dieser Trottel immer so merkwürdig verhält, werden meine Eltern nicht lange brauchen, bis sie dahinter kommen, dass etwas mächtig daneben läuft. Willi schüttelte fassungslos seinen Kopf. Was der neue Gelegenheitsmitbewohner sonst noch so getrieben hatte, hatte er erfahren, als dieser durch ihn hindurchging. Eklig! Bei dem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken. Gelähmt vor Erschöpfung blieb er auf seinem Bett liegen und starrte an die Zimmerdecke.

Es war ein grandioser Sternenhimmel, der sich ihm bot. Jedoch sah er extrem ungewöhnlich aus. Die Sterne leuchteten grell, waren überdimensional groß und schienen greifbar nah zu sein. Man konnte ihre Oberfläche deutlich erkennen. Kleine und große Krater befanden sich auf der feinsandig anmutenden Außenschicht und wechselten sich wie auf einer Kette aufgefädelt ab. Dabei verliehen sie den Planeten eine übernatürliche Schönheit. Willi lag auf einer Wiese. Er griff mit beiden Händen in nasses Gras und starrte zum Himmel. Es war kalt und seine Kleider waren feucht. Er spürte bereits die Nässe auf seiner Haut und begann zu frösteln.

Seine Versuche aufzustehen scheiterten, er konnte sich überhaupt nicht regen. Was war mit ihm los? Wie versteinert lag er da. Panische Angst stieg in ihm auf und er fragte sich, wie er in diese missliche Lage kommen konnte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und mobilisierte alle Kräfte, die er hatte. Wieder und wieder versuchte er, sich aufzusetzen. Doch alles, was er bewegen konnte, waren seine Hände. Der Rest seines Körpers gehorchte ihm nicht. Stoßartig verdeckte sein heißer Atem die Sicht auf das Firmament. Auf einmal hörte er ein Geräusch. Heftig und laut atmend lief jemand über die Wiese.

Als ob er mit den Augen hören könnte, kniff er sie zusammen und wartete, bis er erneut etwas wahrnahm. Er glaubte Schritte zu vernehmen und dann drang ihm plötzlich ein Furcht einflößendes Schnauben, das nur von einem Tier kommen konnte, durch Mark und Bein. Unbändig, einem Raubtier gleich, spielte dieses unbekannte Wesen mit seiner Angst, wie die Katze mit einer Maus. Als ob sich Krallen in seine Haut bohrten, übermannte ihn das blanke Entsetzen. Willi wollte nicht atmen, um so leise und wachsam wie möglich zu sein. Sein Puls pochte wild in seinem ganzen Körper, dass er befürchtete, man könnte ihn meterweit hören. Es war nunmehr ein entsetzliches Keuchen, das näher und näher kam. Seine Augen tränten inzwischen – er wollte sie jetzt keine Sekunde mehr schließen. Es musste nun ganz nah sein, denn er konnte es riechen. Dieser Geruch, der ihm unweigerlich in die Nase stieg, war so widerlich, dass ihm übel wurde. Es stank nach verwestem Fleisch mit einer merkwürdig süßlichen Note. Auf einmal verstummte das Keuchen. Willi hielt den Atem an. Ganz langsam verdunkelte sich einer der großen Sterne, den er die ganze Zeit angeblickt hatte.

Ein riesiger Hundekopf schob sich drohend über sein Gesicht. Widerlicher, warmer, zähflüssiger Schleim tropfte auf seine Wangen. Willi schrie auf. Er erblickte riesige Zähne und ein noch größeres Maul. Ekliger Speichel hing über seinem Kopf. Als die roten Augen seinem Gesicht immer näherkamen, brüllte er aus Leibeskräften. Sein Körper wurde durchgeschüttelt und sein Name schallte in seinem Ohr.

„Willi, wach auf! Was ist mit dir los? Willi?“, schrie seine Mutter und rüttelte an ihm.

Willi erwachte schweißgebadet und sah in die angsterfüllten Augen seiner Mutter. Sie riss ihn an sich und umarmte ihn so fest, dass er kaum Luft bekam. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er nur geträumt hatte. Noch ganz benommen sah er sich in seinem Zimmer um. Nur ein Albtraum. Alles gut. Willi war froh, dieses Monster los zu sein.

„Du hast schlecht geträumt, mein Großer“, sagte seine Mutter und strich ihm über den Kopf.

„Ja, es geht schon wieder. Ich muss mich nur umziehen“, sagte Willi, als er bemerkte, dass die volle Montur, in der er eingeschlafen war, nun klitschnass geschwitzt war.

„Ist gut, ich gehe wieder runter in die Küche. Kommst du dann Abendessen?“, fragte seine Mutter.

„Wie spät ist es?“

„Halb acht, Zeit zum Essen“, sagte sie mit besorgter Stimme und schaute ihn bedrückt an. „Und du hast wirklich keine Probleme oder Sorgen, Willi?“

„Hab ich doch gesagt. Alles super.“

„Und Du fühlst dich auch nicht krank? Immerhin hast Du nachmittags noch nie mit Albträumen im Bett gelegen!“

„Nein, Mama, jetzt gib schon Ruhe. Es ist alles okay!“

Seine Mutter verließ sein Zimmer und Willi hatte ein bisschen Zeit sich zu sammeln und umzuziehen. Sein Kopf fühlte sich befremdlich gedankenleer an. Selbst die merkwürdigen Geschehnisse in der Zwergenwelt waren in diesem Moment verblasst und ihm beinahe entfallen. War das vielleicht ein Schutzmechanismus? Sollte er zur Ruhe kommen, so wie es Macvol ihm zum Abschied gesagt hatte? Wieso hatte er dann diesen abscheulichen Albtraum? Verwirrt darüber, keine Antworten auf seine vielen Fragen gefunden zu haben und müde schlich er die Treppe hinunter und setzte sich an den Abendbrottisch. Nach dem ungewöhnlich schweigsamen Abendessen verzog sich Willi gleich in sein Bett und ließ seine Eltern in dem Glauben, dass er von dem schulischen Stress einfach ausgelaugt und erschöpft war.

Am nächsten Morgen wollte Willi nicht aufstehen. Seine Beine fühlten sich wie Blei an. Er hatte furchtbaren Muskelkater in den Oberschenkeln und Kopfschmerzen. Doch er schaffte es irgendwie, sich aus dem Bett zu quälen. Seine Mutter hatte schon das Frühstück fertig, als er langsam die Treppe runter schlich.

„Oh Gott, wie siehst du denn aus?“, rief sie erschrocken. „Du bist ja ganz blass. Ich wusste doch schon gestern, dass Du etwas in Dir stecken haben musst!“

„Mutter, ich hab Kopfschmerzen, bitte nicht so viel reden, ok?“

Willi war gereizt und schlapp. Er kaute missmutig an seinem Brötchen rum und trank nur wenig von seinem Kakao. Seine Schildkröte Trude lag derweil dösend in ihrem Häuschen und blinzelte gelegentlich zu ihm heraus. Ich würde jetzt gern mit dir tauschen, dachte er und stapfte schweren Schrittes ins Bad. Als er vor dem Spiegel stand, glaubte er für einen Augenblick, dass er sich irgendwie verändert habe. Doch sein trübes Gemüt ließ ihn diesen Gedanken schnell wieder vergessen.

Auf dem Weg zur Schule holte er Georg ab, der es, so hatte es den Anschein, kaum erwarten konnte, zum Unterricht zu erscheinen. Er hatte einen so schnellen Schritt drauf, dass Willi Mühe hatte, ihm zu folgen. Das lag allerdings nicht nur an seinem Muskelkater, auch sonst war Georg immer der Schnellere von beiden. Mit seinen raumgreifenden Schritten, die aufgrund seiner Beinlänge möglich waren, konnte er fast jeden abhängen. Nicht umsonst war er Stürmer in der Schulfußballmannschaft.

„Warum rennst du so, wir haben noch genug Zeit?“, protestierte Willi nach einigen quälenden Metern.

„Ich laufe wie immer. Was ist los, lahme Kröte?“, lachte Georg und tätschelte Willi auf die Brust.

„Ich hab …, ach nichts“, stoppte Willi seinen Erklärungsversuch.

Beinahe hätte er sich verraten. Ich muss aufpassen, was ich sage, dachte er bei sich. Georg darf nicht merken, dass ich lahme. Willi schluckte einmal kräftig und lachte seinem Freund breit ins Gesicht. Es war ihm nicht wohl dabei, dass er Georg nichts erzählen konnte. Zu gern hätte er sein Erlebtes mit seinem besten Freund geteilt. Und sicher würde es ihm dann besser gehen.

Aber in seinem Ohr hallten noch die Worte von Macvol, niemandem etwas von seinen Erlebnissen zu erzählen. Ehrfürchtig und unsicher schwieg er und war dabei alles andere als glücklich.

„Lahme Kröte - das wollen wir sehen!“

Er klopfte Georg auf die Schulter und rannte davon. Schon nach ein paar großen Sätzen bereute er seinen Übermut. Aber nun konnte er nicht schlappmachen. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, Georg auf Abstand zu halten. Nicht daran denken, dann tut´s bestimmt nicht so weh, murmelte Willi vor sich hin. Und tatsächlich, mit jedem Schritt wurden die Schmerzen etwas erträglicher. Willi wurde immer schneller. Als sie bei der Schule ankamen, rächte sich sein falscher Stolz trotzdem unerbittlich. In jeder Faser seiner Beine spürte er nun ein starkes Brennen. Er schrie auf und hätte sich am liebsten hingesetzt. Auch Georg, der etwas später eintraf, keuchte heftig.

„Mann, du bist ja heute Rekordtempo gerannt. Hast wohl heimlich trainiert, Streber?“, hechelte Georg anerkennend und stützte sich dabei auf seine Oberschenkel.

„Wenn es zur Schule geht, kenn ich nichts. Da geb ich alles“, lachte Willi und freute sich über seine enorme Laufleistung.

„Sieh mal an, wen wir hier haben. Die Zwillinge Willi und Georg, die Tag und Nacht zusammenkleben“, stichelte Babbel, der gerade mit seiner Herde Trottel auf den Schulhof kam.

„Pass auf, was du sagst, Spinner“, fauchte ihn Georg an und richtete sich auf.

„Du stinkst schon, wenn du zur Schule kommst.“

Babbel rümpfte seine Nase auffällig und verzog angewidert sein Gesicht. Mit einer abfälligen Geste boxte Babbel Georg auf die Brust und sprang abwehrbereit zurück zu seinen Freunden, die ebenso dumm wie drollig aus der Wäsche schauten.

„Und du, Soter, stinkst wie zehn alte Ochsen. Er zeigte mit gestrecktem Mittelfinger auf Willi und spuckte ihm vor die Füße.

Stieg Willi vorhin das Blut vor lauter Anstrengung in den Kopf, war es nun die blanke Wut, die ihn in Rage brachte und seinen Kopf purpurrot leuchten ließ. Hätte es ein Ventil gegeben, würde dieses jetzt lautstark zischen. Er war so wütend wie lange nicht mehr. Entschlossen ging er auf Babbel zu und rammte ihm seinen Ellbogen in den schwabbeligen Bauch, sodass dieser nach Luft japste und sich krümmte.

„Lass uns in Ruhe du Pfeife und nimm deine Kriecher mit“, sagte Willi mit einer finsteren Miene und war bereit, einen möglichen Gegenangriff abzuwehren.

Babbel kniete inzwischen am Boden und gab nur prustende Laute von sich.

„Das hat noch ein Nachspiel, darauf kannst‘e wetten“, drohte Babbel nach einer Weile, doch es hörte sich nicht wie eine Drohung an.

Dazu war seine Stimme zu hoch und zu leise. Langsam halfen ihm seine Kumpels auf. Immerhin hatten sie viele Kilos zu stemmen, das brauchte etwas Zeit.

„Ich freu mich schon“, sagte Willi wenig beeindruckt. Gestützt von Jupp, Rex und Harm, blickte Babbel im Vorbeigehen drohend in Willis Gesicht, war aber nicht in der Lage, verbal zu kontern. Als die Vier davon geschlichen und im Schulgebäude verschwunden waren, kam Georg auf Willi zu und schaute ihn respektvoll an.

„Dem hast du´s aber gegeben. Wo hast du denn diesen Schlag hergenommen? Ich glaub, der lässt uns von nun an in Ruhe“, sprudelte es freudig aus Georg heraus.

„Das glaube ich nicht. Er wird sich rächen wollen“, war sich Willi sicher. „Komm, sonst verpassen wir noch was.“

Er zog Georg an der Jacke und gemeinsam gingen sie die Treppe zur Schule hinauf. Willi war aber nur dem äußeren Schein nach bereit für die Schule. Innerlich war er verwirrter denn je.

Noch vor zwei Tagen hätte er sich nie gewagt, Babbel die Stirn zu bieten, geschweige denn den Mut aufgebracht, ihm einen Schlag zu verpassen. Für einen Moment dachte er, nicht er, sondern jemand Fremdes hätte Babbel den Ellenbogenhieb versetzt. Irgendetwas hat sich verändert, ist mit ihm passiert. Tief in seinen Gedanken versunken stieß er plötzlich mit jemandem zusammen. Er hörte, wie Bücher zu Boden krachten und gleichzeitig eine hohe Stimme fluchte und schimpfte.

„Mann, kannst du nicht aufpassen, Idiot!“, fauchte ein Mädchen, das, wie Willi vermutete, eine Klassenstufe über ihm war.

Ihr schwarzes, fransig geschnittenes Pony fiel ihr frech ins Gesicht. Sie trug einen kurzen Zopf, der buschig nach oben stand. Willi musste innerlich ein wenig lachen, weil er ihren Zopf ungewollt mit einem Stimmungsbarometer verglich.

„Tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen“, entschuldigte sich Willi und bereute es, nicht einen besseren Spruch auf den Lippen gehabt zu haben.

Dabei blickte er ihr in die Augen und bekam in dieser Sekunde ein Kribbeln im Bauch, das sich wie eine Welle in Windeseile über seinen ganzen Körper ausbreitete. Sie hatte wunderschöne, grünbraune Augen, die gefährlich funkelten. Für ein paar Sekunden sahen sie sich wortlos an. Die Spannung zwischen ihnen war zu viel für seine Knie. Weicher und weicher wurden sie und drohten, vom Liebeswahn geschwächt nachzugeben. Doch plötzlich pulverisierte sie die aufkommende Romantik schroff:

„Ja, na klar. Ne blödere Anmache hab ich noch nie erlebt.“

Hektisch sammelte sie ihre Bücher und Zettel zusammen und kroch dabei vor Willi hin und her.

„Ich helfe dir“, schlug Willi versöhnlich vor.

„Lass mal, du hast schon genug durcheinandergebracht“, sprach sie nun freundlicher, aber immer noch ins Zettelsortieren vertieft.

Willi ließ es sich nicht nehmen und bückte sich nach ein paar losen Blättern. Als er sich umdrehte und sie ihr geben wollte, war sie aber schon auf und davon. Verwundert über ihr schnelles Verschwinden, sah er sich die Blätter an. Es waren sehr ordentliche Aufzeichnungen aus Geografie und Mathe. Terese Huf stand auf einem der Blätter. Willi sprach den Namen mehrmals leise vor sich hin, als ob er sich bei ihm noch einmal entschuldigen könnte. Sie gefiel ihm ausgesprochen gut. Sie hatte so zarte Gesichtszüge, eine kleine schmale Nase und einen dazu passenden regelrechten Kussmund. Erdbeerrot – himmlisch!

Und sie wirkte keineswegs hilflos oder scheu. Eher im Gegenteil - stark und irgendwie mystisch. Komisch, dass sie ihm noch nie aufgefallen war. Willi faltete die Blätter zusammen und steckte sie in seine Schultasche. Georg, der etwas weiter vorne lief, hatte vermutlich nichts von seinem Zusammenprall mitbekommen. Er kam zu ihm zurück und fragte Willi, mit wem er da grade gesprochen hatte.

„Terese Huf heißt sie. Du kennst sie auch nicht?“, fragte Willi etwas enttäuscht.

„Hab sie erst ein oder zweimal gesehen. Sie muss neu an der Schule sein, geht in die Zehnte“, sagte Georg und blickte Willi verschmitzt ins Gesicht.

„Ach, du weißt ja doch was“, sagte Willi, gierig nach mehr Informationen.

„Nein, mehr weiß ich nicht. Ist ja auch nicht so wichtig, oder?“, entgegnete Georg neugierig und verzog dabei seinen Mund.

„Ich finde sie jedenfalls ganz interessant.“

Willi errötete, als ihm das rausgerutscht war. Georg blickte ihn etwas komisch an und nickte dann langsam, als ob es ihm dämmerte, was plötzlich mit seinem Freund passiert war.

„Interessant findest du sie? Aha. Sag mal, bist du mein Kumpel Willi? Willi Soter? Der schüchterne Willi aus der Ministadt Drehbach, Kornweg 7?“, lachte ihm Georg frotzelnd ins Gesicht. „Hast wohl heute früh eine extra Portion Kakao von Muttern bekommen. Wenn der so wirkt, komm ich ab morgen zu euch frühstücken“, versuchte er die Wandlung seines sonst ziemlich schüchternen Freundes zu erklären. „Soll ich Philipp aus der Zehn fragen, ob sie mit dir gehen will?“

So wie Georg Willi ansah, wusste er, dass dieser Vorschlag nicht ernst gemeint war. Doch einen Spaß schien es ihm wert zu sein, ihn aus der Reserve zu locken.

„Natürlich nicht. Was ist das denn für eine blöde Idee! Ich will doch gar nichts von ihr. Komm, lass uns ins Klassenzimmer gehen, die Stunde geht gleich los“, lenkte Willi ab und beide setzten sich in Bewegung.

„Nun Willi, lies doch bitte die Hausaufgabe vor, die ich in der letzten Stunde aufgegeben hatte.“

Dieser Satz riss Willi jäh aus seinem Traum. Aus seinem Traum von dem schönsten Mädchen der ganzen Schule. Stand gerade eben noch Terese Huf vor seinem geistigen Auge, so war es nun Frau Weber, die leibhaftig, mit ihrer recht fülligen Figur, direkt an seinem Tisch haltgemacht hatte und ihn erwartungsfroh ansah. Willi hatte die Hausaufgaben nicht erledigt. Er hatte gestern schließlich etwas Wichtigeres zu tun - er war mit einem Zwerg unterwegs. Dadurch hatte er es vergessen, in sein Hausaufgabenheft zu sehen. Wenn ich ihr das erzähle, zerspringt sie vermutlich vor Rage in zwei Teile, dachte Willi.

„Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht.“

Jedes einzelne dieser Worte kroch staubtrocken seine Kehle hinauf und verließ seinen ehrfürchtig geschlitzten Mund nur zögerlich. Nichts Gutes ahnend wich Willi dem strengen Blick von Frau Weber aus und hoffte auf ihre Gnade. Doch das war so ziemlich der abwegigste Wunsch, den man bei dieser Lehrerin hegen konnte. Frau Weber wurde fast immer zum Ungeheuer, wenn jemand die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

„Du hast also die Hausaufgaben nicht erledigt! Darf ich den Grund dafür erfahren?“

Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Stimme nahm schon eine gefährlich drohende Tonlage an.

„Ich habe nicht daran gedacht. Entschuldigung.“

Noch immer hoffte er, dass sie nicht die Keule rausholte.

„Ich überlege gerade, ob ich dir gleich eine Sechs eintrage, oder ob ich dich lieber zur Leistungskontrolle an die Tafel hole.“

Sie schien sich fast zu freuen, wieder einmal ein Exempel statuieren zu können und runzelte dabei nachdenklich ihre Stirn.

„Willi geh doch bitte an die Tafel. Du bekommst eine zweite Chance.“

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte sie sich in dem Moment die schwierigsten Fragen aus. Aufgeregt stand Willi auf und trat vor die Klasse. Die anderen Schüler starrten ihn an und verzogen dabei keine Miene.

„Erzähle uns doch bitte etwas über London. Nenne einige Sehenswürdigkeiten und beschreibe uns die Lebensgewohnheiten der Menschen dort. Das steht übrigens alles in deinem Lehrbuch unter Lektion 8.“

Frau Weber schien darauf zu hoffen, dass Willi sich auch sein Buch noch nie angesehen hatte, so listig griente sie ihn an, während sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen, um die Schultische ging. Doch da lag sie daneben. Willi konnte diese Aufgabe sehr wohl gut lösen. Schließlich interessierte er sich schon immer für andere Länder und deren Kultur. Sein Englischbuch hatte er deshalb schon mehrmals durchgeblättert und sich glücklicherweise viel gemerkt.

Nachdem Frau Weber eine kurze Bedenkpause eingelegt hatte, pustete sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kam schweren Schrittes nach vorn an die Tafel.

„Ich denke, du hast heute noch einmal Glück gehabt. Du bekommst für deinen Kurzvortrag eine Zwei-minus. Ein bisschen genauer hättest Du Dir den Text zwar ansehen können, aber Deine Zwei im Zeugnis wird wohl nicht gefährdet sein, wenn Du Dich ein bisschen anstrengst. Setz dich wieder, ich möchte mit dem Unterrichtsstoff fortfahren.“

So gereizt Frau Weber noch vor zehn Minuten gewesen war, so entspannt schrieb sie nun die neuen Vokabeln an die Tafel. Willi atmete erleichtert auf und war stolz auf sich, dass er sich so gut aus der Klemme befreit hatte.

„Hey, grad noch mal gutgegangen. Wenn der Drachen richtig aufdreht, möchte ich nicht dabei sein.“

Georg stupste ihn an und lachte versteckt in seine Faust.

„Ja. Bloß gut, dass ich was wusste. Sonst wäre sie wahrscheinlich ausgerastet und ich meine Zwei wirklich los“, flüsterte Willi und wischte sich symbolisch mit der Hand den Schweiß von der Stirn.

„Machen wir heute Nachmittag was zusammen?“, fragte Georg leise.

„Heut nicht. Ich bin irgendwie kaputt. Vielleicht bekomme ich ja ne Erkältung oder so was. Wenn´s mir besser geht, können wir ja morgen mit den Rädern an den See fahren, was meinst du?“

„Iss ne gute Idee. Ich kann ja …“

Georg unterbrach seinen Satz und starrte erschrocken in das zur Faust geballte Gesicht von Frau Weber. Sie nickte bedeutungsvoll, da sie erkannte, dass ihre wortlose Botschaft, endlich ruhig zu sein, verstanden wurde.

Als Willi von der Schule nach Hause kam, war er noch immer erschöpft und müde. Seine Beine brannten bei jedem Schritt, dafür waren aber wenigstens seine Kopfschmerzen verflogen. Schlapp setzte er sich mit einem tiefen Seufzer aufs Sofa und legte seine Beine auf den danebenstehenden Hocker. Seine Eltern waren nicht zu Hause. Mutter arbeitete halbtags in einer Postfiliale und sein Vater verkaufte Autos. Er kam immer spät heim und war dann meist auch geschafft vom Tag. Seine Mutter hingegen strotzte selbst spät abends noch vor Energie.

Als er den Fernseher einschalten wollte, erblickte er auf der Glasfläche des noch ausgeschalteten Apparates eine menschliche Gestalt. Er erschrak so sehr, dass er ruckartig seine Beine vom Hocker riss, sich kerzengerade aufsetzte und heftig ein- und ausatmete. Rasch drehte er sich um, zum Aufsprung bereit. Schon wieder hatte es seine Hülse geschafft, ihm einen mittleren Herzinfarkt zu bescheren. Sie stand lächelnd in der Stube und blickte unschuldig zu Willi hinüber.

„Mann, kannst du mich erschrecken“, fauchte Willi ihr sehr ärgerlich zu.

Scheinbar ohne die Worte zu verstehen, setzte sich sein Doppelgänger auf das bequeme Sofa und schaltete das Gerät an.

„Na klar, fernsehen. Was anderes fällt dir nicht ein“, sagte Willi und winkte ab.

Sein Ebenbild reagierte überhaupt nicht und hatte vermutlich schon das Programm seiner Wahl gefunden. Zufrieden starrte es in die Flimmerkiste.

„Deine Hülse ist von eurem Fernseher schwer begeistert. Die gibt es bei uns nicht. Ach, übrigens schön, dich wieder zu sehen. Sei gegrüßt, Willi“, krächzte Macvol leise, der ebenso unerwartet wie überraschend in der Stube stand, als ob er die Hülse beim Glotzen nicht stören wollte.

„Hallo. Du bist schon wieder da?“, fragte Willi reichlich konsterniert. „Ja. Bin ich. Gehen wir in dein Zimmer. Hier unten ist es zu gefährlich.“ Macvol ging die Treppe hoch und wartete oben auf Willi, der immer noch stocksteif auf dem Sofa saß.

Er dachte an den gestrigen anstrengenden Tag. Ihm fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu und er hätte sich am liebsten nur ausgeruht. Erschöpft stieg er schließlich die kleine Treppe hinauf in sein Zimmer. Macvol hatte es sich auf seinem Bett bereits bequem gemacht und blätterte in einem Buch über Modelleisenbahnen.

„Wozu braucht man diese kleinen Wägelchen? Man kann darin doch gar nichts transportieren?“

Macvol blätterte kopfschüttelnd weiter und riss gelegentlich seine Augen weit auf.

„Das ist Spielzeug, was für Liebhaber. Für den Transport von Gütern ist das nicht gedacht“, erklärte Willi ein wenig verwundert über die Frage und setzte sich an seinen Schreibtisch.

„Hast du in deiner Kindheit nicht mit Eisenbahnen oder Autos gespielt?“

Willi war sehr gespannt auf Macvols Antwort.

„Oh, nein. Zwergenkinder! Ist das schon lange her. Ich bin mittlerweile 166 Jahre alt, aber an eines in meiner Kindheit kann ich mich gut erinnern – Autos oder Eisenbahnen gab es nicht.“

Macvol blickte ein wenig neidisch in das Buch.

„Was hast du denn heute vor?“, unterbrach Willi ihn bei seinem Studium. „Von mir aus können wir auch mit meiner elektrischen Eisenbahn spielen“, sagte er in einem hoffnungsvollen Tonfall.

„Hm, ja, ein anderes Mal vielleicht. Jetzt sollten wir uns besser auf den Weg machen“, sagte Macvol und sprang schlagartig auf.

Scheinbar fiel ihm erst in diesem Augenblick wieder ein, weswegen er eigentlich hergekommen war. Hastig fügte er hinzu:

„Bevor du gegen den Zauberer Hobjark kämpfen kannst, brauchst du Verbündete, nein, Freunde, um überhaupt - um eine Chance zu haben. Und die musst du zunächst finden. Es wird nicht einfach werden, aber es ist möglich.“

Macvol sah Willi fest in die Augen. Ohne seinen Blick zu lösen, sprach er weiter:

„Ehe wir jedoch wieder in meine Welt reisen, gebe ich dir eine Schachtel mit Flaumflocken. Wenn du eine davon verspeist, kannst du allein in unsere Zwergenwelt saltieren. Du könntest auch mit dem Amulett zu uns saltieren, allerdings wird dich das Amulett immer in die Nähe der Wächter bringen, und das könnte sehr gefährlich werden. Übrigens nennt man die gesamte Zwergenwelt ‚Stella Domus‘, sie umfasst viele Planeten. Das kleine Örtchen, wo Alwis wohnt, hast du ja schon kennengelernt. Das heißt übrigens ‚Picabo‘. Picabo befindet sich auf dem Planeten ‚Schabis‘. Hab ich bis jetzt noch gar nicht erwähnt, entschuldige diese Vergesslichkeit, naja auch ich werde nicht jünger.“

Macvol setzte eine halbwegs bemitleidenswerte Miene auf und zupfte sein Leibchen zurecht.

„Ich soll allein saltieren, nach Stella Do …, zu, zu euch?“

Willi war entsetzt. Plötzlich brach alles über ihm zusammen. Seine Nerven hielten den Anforderungen, die ihm wie selbstverständlich aufgetragen wurden, nicht mehr stand. Sein Stuhl am Schreibtisch war sein letzter Halt, sonst wäre er ganz sicher in Ohnmacht gefallen. Wie in einem Rauschzustand, begann sich alles um ihn zu drehen. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Magen wollte sich vermutlich ebenfalls von dieser Last befreien und rebellierte in ihm.

„Ja“, sagte Macvol in stoischer Ruhe, als ob er Willis Beinahe-Zusammenbruch übersah.

„Ich kann dich doch nicht immer abholen. Bei meinem nächsten Besuch werde ich es dir zeigen.“

Er schaute ihn an, als ob das die gewöhnlichste Sache der Welt sei.

„Okay, ich werde bald allein zu euch saltieren. Und was kommt als Nächstes? Glaubst du echt, dass ich das alles schaffe? Da irrst du dich aber! Ihr alle irrt euch gewaltig. Diese Aufgabe ist eine, nein, zehn Nummern zu groß für mich. Warum merkt ihr das nicht?“, platzte es aus Willi heraus.

Er fühlte sich überfordert und überfahren. Er war sich sicher, dass er den Anforderungen nicht gewachsen war. Wie konnte Macvol so eigenständig über ihn bestimmen, ohne dass er zumindest eingewiesen und vorbereitet würde. Wieder schien Macvol Willis völlig aufgelösten Zustand zu übersehen und seine Frage überhört zu haben. Er stellte statt dessen gelassen die Schachtel mit den Flaumflocken in Willis Schrank, faltete seine Arme vor dem Bauch und lächelte ihm aufmunternd zu. Dann machte er drei Schritte auf ihn zu und sprach bedächtig:

„Wenn du Freunde gefunden hast, wird es dir besser gehen. Was die schweren Aufgaben betrifft, die wir dir stellen, kann ich nur sagen, dass sie dir keiner abnehmen kann. Leider. Ich würde es gern tun, wenn ich dazu in der Lage wäre. Nur du kannst deine Welt – die Erde und Stella Domus retten. Aber wo ich kann, werde ich dir helfen, versprochen.“

Macvol legte Willi seine Hand auf die Schulter, schnaufte, als ob das, was ihm gerade auf der Seele gedrückt hatte, nun gesagt sei, und blickte Willi wieder tief in die Augen.

Mit dieser Berührung wurde alles besser. Willi fühlte sich von Sekunde zu Sekunde stärker. Seine Ängste waren nicht komplett verflogen, aber sie schienen kleiner, überwindbar und nahezu bedeutungslos zu werden. Seine Aufgaben dagegen rückten wie in einem dreidimensionalen Bild wieder in den Vordergrund. Klar und unmissverständlich wusste er, dass er nicht davonlaufen konnte. Er musste, er wollte sie lösen. Es gab keine Alternative.

„Ich will es versuchen.“

Mehr konnte Willi noch nicht sagen, doch es freute Macvol, die Entschlossenheit in Willis Stimme zu erkennen. Er zeigte sein charmantestes Lächeln und schnipste mit den Fingern seiner rechten Hand.

Willi Soter und die Wächter des Amuletts

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